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6 KULTUR JOKER Theater

Vogelgezwitscher trifft auf einen

zarten Akkord im Klavier.

Zwei Schlagzeuger beklopfen

behutsam den Konzertflügel

auf der Bühne des Freiburger

E-Werks. Jay Schwartz‘ Kammeroper

Jay Schwartz‘ „Narcissus

& Echo“ (2003/2009)für Sologesang,

Viola, Schlagzeug und

E-Orgel beginnt fließend. Klaus

Simon hat mit seiner Opera Factory

Freiburg das nicht nur wegen

der Kleinstbesetzung coronataugliche

Werk entdeckt. Der

US-amerikanische, in Deutschland

lebende Komponist (Jahrgang

1965) schafft aus einem

begrenzten musikalischen Material

eine Fülle von Emotionen:

Sehnsucht nach Nähe, flüchtige,

selige Momente des Einklangs,

Verzweiflung, Wut und auch

tiefe Einsamkeit bis hin zur Depression.

Themen, die gerade in

Coronazeiten besonders nahe

gehen. Die der Oper zugrunde

liegende Geschichte aus den

„Metamorphosen“ von Ovid ist

schnell erzählt. Die Nymphe

Echo, die wegen eines Fluchs

nur noch die Worte ihres Gegenübers

wiederholen kann, verliebt

sich in Narcissus, der sie aber

nach anfänglichem Werben zurückweist.

Der schöne Jüngling

liebt viel mehr sein Spiegelbild.

Als ihm die Täuschung klar

wird, nimmt er sich das Leben.

Für die Gesangspartie, der einzelne

lateinische, häufig extrem

Olivier Messiaens einzige Oper

„Saint François d‘Assise“ verfolgt

laut Komponist nur das Ziel, „die

fortschreitenden Stadien der Gnade

in der Seele des heiligen Franziskus

zu schildern. Alles, was

keine Farben, keine Wunder, keine

Vögel, keine Frömmigkeit und

keinen Glauben enthielt, habe ich

ausgespart.“ Am Theater Basel

gibt es keine Farben, keine Wunder,

keine Vögel, keine Frömmigkeit

und keinen Glauben. Der neue

Intendant Benedikt von Peter hat

die Geschichte vom Italien des

13. Jahrhunderts in eine düstere

Zukunft verlegt. Márton Ághs

Bühnenbild umfasst den gesamten

Schlicht – und ergreifend

Die Opera Factory Freiburg unter Klaus Simon mit einer

berührenden Premiere von „Narcissus & Echo“ im E-Werk

gedehnte Sätze zugrunde liegen,

hat Jay Schwartz eigentlich einen

Countertenor vorgesehen. In

Freiburg singt Hélène Fauchère

mit ihrem kristallinen, wie an

der Schnur gezogenen Sopran

die mal ganz schlichten, dann

weit ausholenden Linien des

Narcissus, dem Aida-Carmen

Soanea an der Viola als Echo

gegenübergestellt ist. Die musikalische

Annäherung der beiden

unterstützt Regisseur Heiko

Aida Carmen Sonae, Hélène Fauchere Foto: Klaus Simon

Hentschel auch szenisch, indem

die am Anfang ganz hinten im

Zuschauerraum postierte Bratschistin

allmählich näherkommt.

Schon die vom Komponisten

zitierte Opernarie von Antonio

Cesti vereint Gesang und Viola

im engen Dialog – den absteigenden

Passacaglia-Bass spielt

Dirigent Klaus Simon an der

Orgel. Auch körperlich kommen

sich die beiden näher, umkreisen

sich und lehnen sich kniend

Theaterraum. Drei Strommasten

mit schlaffen Kabeln sind Relikte

der Zivilisation. Eine Supermarkt-

Baracke und zerfetzte Plakatwände

erinnern an vergangene Normalität.

Alles ist kaputt und unbehaust.

Selbst die Vögel, von denen so viele

in der Partitur zu hören sind, haben

nicht überlebt, sondern müssen von

Franziskus aus Papier gefaltet werden.

Einige Sitze sind im Parkett

herausgerissen, viele Bereiche mit

Flatterband abgesperrt. Die Isolation

des Publikums, die bereits

Bestandteil der vor zwei Jahren

konzipierten Bühnenkonzeption

war, hat durch die coronabedingten

Auflagen eine neue Bedeutung erhalten.

Szenisch musste deshalb

gar nichts verändert werden. Nur

das Orchester wurde auf ein Drittel

der Besetzung reduziert. Diese reduzierte

Orchesterfassung fertigte

der argentinische Komponist Oscar

Strasnoy innerhalb weniger Monate

an, indem er gerade bei den

Bläsern die Zahl der Instrumente

minimierte und beispielsweise

statt sieben Flöten und Klarinetten

jeweils nur zwei verwendete. Die

instrumentalen Farben dagegen

blieben weitgehend unverändert,

so dass das auf der Bühne postierte

Sinfonieorchester Basel unter der

präzisen Leitung von Clemens

Heil dem vielschichtigen Messiaenschen

Klangkosmos sensibel

nachspüren konnte. Die inklusive

Pause knapp vierstündige Schweizer

Erstaufführung des Werkes

wird so auch zur Uraufführung der

reduzierten Orchesterfassung.

Die Streicher entfalten trotz ihrer

kleinen Besetzung seidigen

Glanz. Die Blechbläser verlieren

nichts von ihrer Schärfe. Der ständige

Wechsel zwischen weichen,

lyrischen und nervösen, scharf

akzentuierten Passagen gelingt

kontrastreich. Regisseur Benedikt

von Peter bricht die allmähliche

innere Erleuchtung des heiligen

Franziskus auf eine freudlose

für einen Moment aneinander,

ehe sich Narcissus zurückzieht

und Aida-Carmen Soanea mit

wilden Arpeggien Echos Verzweiflung

zum Klingen bringt.

Lee Ferguson und Seorim Lee

schaffen am Schlagzeug nicht

nur Verbindungen zwischen

den Szenen durch sanfte Wirbel

oder auch den regelmäßigen

Puls eines Woodblocks, sondern

sind wichtige Impulsgeber und

wie im gewaltigen 5/4-Marsch

Nathan Berg

und spannungsarme Geschichte

im Obdachlosenmilieu herunter.

Selbst der Engel, den Messiaen

musikalisch entrückt, kocht sich

seine Tomatensuppe auf dem Gaskocher.

Zumindest musikalisch

kann Alfheiour Erla Guomundsdóttir

mit ihrem schlackenlosen

Sopran und dem wunderbaren

Legato ein wenig Licht verbreiten.

Nathan Berg ist als heiliger Franziskus

in seinem blutgetränkten

Oberteil (Kostüme: Márton Ágh)

ein echter Schmerzensmann, dem

jedes Lachen aus dem schmutzigen

Gesicht verschwunden ist. Von Peter

erzählt an der Hauptfigur eine

Geschichte des Niedergangs, bis

Franziskus am Ende im Müll verreckt.

Die Wärme, die die Regie

am Ende des ersten Akts auch

Gefühlsverstärker. Regisseur

Heiko Hentschel bezieht sie in

seiner klaren Inszenierung auch

immer wieder szenisch mit ein.

Die ruhigen Schwarz-Weiß-Videos

(Heiko Hentschel und Sébastian

Brohier) von vorbeiziehenden

Landschaften und einer

glitzernden Wasseroberfläche

ersetzen das fehlende Bühnenbild.

Der analog gebaute zweite Akt

beginnt mit sphärischen Klängen

von gestrichenen Gläsern.

Hélène Fauchères Sopran härtet

sich in den dramatischen Ausbrüchen.

Aida-Carmen Soanea

spürt an der Viola Narcissus‘

Spiegelbild nach und schafft mit

den häufigen Glissandi Übergänge.

Am Ende bewegt sich

die auch darstellerisch präsente

Bratschistin mit ruhigen Schritten

zum Klavier, um, sensibel

begleitet von Klaus Simon, Benjamin

Brittens „Lachrymae. Reflections

on a Song of Dowland“

zu interpretieren. Erst am Ende

des Variationswerks erklingt der

Song von John Dowland, mit

dem der Abend auch begann.

„If my complaints could passions

move“ - könnten doch meine

Klagen Dein Verlangen werden.

Ein zartes Lamento über das

Leiden an der Liebe. Schlicht –

und ergreifend!

Georg Rudiger

Keine Farben, keine Wunder, keine Vögel

Der neue Intendant Benedikt von Peter mit einem düsteren „Saint François d‘Assise“ am Theater Basel

Foto: Ingo Höhn

negiert, liegt in Bergs Stimme,

wenn er etwa im sechsten Bild

die im Orchester gespielten Vogelstimmen

beschwört. Die finale

Erlösung findet nur in der Musik

statt durch das vom unsichtbaren,

in der Galerie des Theaterturms

aufgestellten Basler Opernchors

(Chorleitung: Michael Clark) intonierte

Halleluja. Die Mönche sind

in Benedikt von Peters Inszenierung

heruntergekommene Saufbrüder,

die ihre Zeit totschlagen,

Dosenbier trinken und zusammen

abhängen. Am Ende ist Franziskus

tot. Und die Welt bleibt so trostlos,

wie sie war.

Weitere Vorstellungen: 1./6./8.11.

www.theater-basel.ch

Georg Rudiger

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