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18 KULTUR JOKER KULTOUR

Ein Experte für die Zeitenwende

Philipp Blom: „Das große Welttheater – Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs“

Nicht nur das große Welttheater

der Salzburger Festspiele,

weltweit bedeutendstes Festival

für klassische Musik und darstellende

Kunst, welches diesen

Sommer sein 100-jähriges Jubiläum

hatte, ist hier gemeint.

Aus diesem Anlass war der Historiker

und Philosoph Philipp

Blom beauftragt worden, etwas

beizutragen. Er hatte seitens der

Veranstalter freie Hand und hat

alles in die Waagschale geworfen,

was ihm zur Verfügung

steht. Seine Überlegungen und

Betrachtungen gehen weit über

die unmittelbaren Fragen der

Bühnenkunst hinaus. Die Festtagsschrift

wurde zu einem brillanten

und äußerst anregenden

Essay.

Bloms Ansatz: „Das große

Welttheater ist ein Ort, an dem

die Welt sich neu erfinden

kann“. In dem schmalen Bändchen

öffnen sich weite Räume

für neue Ideen und gedankliche

Experimente. In einem

spannend geführten dramaturgischen

Bogen wird uns das

Schauspiel der 4000-jährigen

Menschheitsgeschichte vorgeführt,

dessen Hintergrund, wie

könnte es anders sein, zwielichtig

gestimmt ist. Denn: „Nach

dem klassischen Verständnis

des Dramas ist die Welt längst

in der Krisis angekommen. Was

aber danach kommen mag, eine

Katastrophe oder der Schimmer

einer Katharsis, ist völlig

offen. Das Welttheater wartet

auf Akteure, um eine andere

Erzählung zu beginnen.“ Einen

Abstand zur derzeitigen Lage

schafft Philipp Blom dadurch,

dass er drei entscheidenden,

weit zurückliegenden historischen

Menschheitskrisen mit

ihren Zäsuren und Umbrüchen,

den daraus hervorgegangenen

Bewusstseinswandlungen und

Entwicklungsschüben nachgeht.

Das ist die sogenannte Kleine

Eiszeit um die zweite Hälfte des

16. Jahrhunderts, die Epoche

der Aufklärung und der Erste

Weltkrieg. Mit diesem historischen

Abstand wird der Blick

auf unsere Gegenwart präzisiert

und erhellt. Im Vergleich zur gegenwärtigen

Krise eröffnen sich

überraschende Perspektiven.

Wie damals, so müssten auch

heute neue Ansätze des Denkens,

Lebens und Überlebens

gefunden werden.

„Das große Welttheater“ beschwört

die Magie der Bühne

als eine Projektionsfläche, einen

Ort der gemeinsamen Imagination,

wo Selbstergründung und

Selbstfindung stattfinden können.

Als Theaterkenner zeigt

Philipp Blom auf, dass William

Shakespeare zwar geahnt habe,

dass er in einer Zeit des Umbruchs

lebte, aber seine Stücke

beschrieben eine Weltsicht, die

sich seit der griechischen Tragödie

nicht wesentlich geändert

hatte. Seine Figuren zerbrechen

an unumstößlichen Verhältnissen

und sterben oft am Ende

schön, aber sie sterben eben.

Fast zweihundert Jahre nach

Shakespeare würden die Helden

von Friedrich Schiller zwar

auch tragisch scheitern an der

Macht der Verhältnisse, doch

mit einem entscheidenden Unterschied:

„Sie wollen die Welt

verändern, sie rebellieren nicht

gegen ihr persönliches Unglück,

sondern gegen die Ungerechtigkeit

der herrschenden Ordnung,

sie fordern Freiheit, Gleichheit

und Brüderlichkeit für alle.“

Obwohl sie sich selbst dafür

opfern, seien sie doch Vorboten

für eine neue Zeit, da sie einen

Anspruch erheben auf die Veränderung

der Gesellschaft, in

der alles ganz anders zugehen

könnte. Mit Schillers Dramen

im Klima der Aufklärung eröffnen

sich völlig neue Denkräume

und Bilder, und so müssten auch

mit der heutigen Krise wieder

neue Geschichten entstehen.

Als mögliche Versionen eines

solchen Erzählens nennt Philipp

Blom zum Beispiel Hygienedemonstrationen

und das Auftreten

von Globalisierungsgegnern.

Wo sich eigentlich nichts

mehr bewegt, alles in einem

Status quo stecken zu bleiben

scheint, kann ja jeder kleine

Anstoß schon von Bedeutung

sein. Mit Scharfsinn führt uns

der Historiker vor Augen, dass

die westliche Welt nicht trotz,

sondern gerade wegen ihres

Friedens und Wohlstands - der

auf Sklaverei, Ausbeutung,

Unterstützung von Diktatoren

und vor allem auf massiver

Umweltzerstörung basiert -, in

einer Krise steckt. Durch seine

Ansichten wurde Philipp Blom

schon als Untergangsprophet

bezeichnet, obwohl er nur konsequent

versucht, Fakten zu analysieren.

In seinem Essay „Das

große Welttheater“ erweist er

sich als ein Experte für die Zeitenwende,

der von Klarsicht und

Liebe zur Vernunft geleitet ist,

es auch an Ironie und Wärme

nicht fehlen lässt. Bereits für

den Philosophen Ludwig Wittgenstein

war die Welt vor allem

die Summe aller Tatsachen.

Aber Blom bleibt bei Tatsachen

und Fakten nicht stehen, denkt

sie auch weiter auf eine bisher

noch nicht vernommene Weise.

Das Internet und die Sozialen

Medien sieht er als einen

bedenklich faktenfreien Raum,

wo jeder Nutzer sich Fakten zurechtschustern

und Verschwörungstheorien

verbreiten kann.

Das unterwandere gefährlich die

eigentlichen, auch wissenschaftlich

belegbaren Tatsachen.

Neben seinen bisweilen meditativen

Betrachtungen, kommen

in Philipp Bloms großartigem

Essay auch die nackten Zahlen

nicht zu kurz. Zahlen etwa zum

angewachsenen CO2-Ausstoß

und zur Plastikvermüllung des

Planeten. Er rechnet vor, dass

1970, in seinem Geburtsjahr,

weltweit 35 Millionen Tonnen

Plastik produziert wurden.

Schon 2015 sind es 381 Tonnen

gewesen, und 2016 wurden

allein 480 Milliarden PET-

Flaschen verkauft. Die Zahlen

machen es überdeutlich: Der

Mensch ist weiter denn je davon

entfernt zu begreifen, dass

er ein Teil der Natur ist, die er

zerstört. Die Ordnung, in der

wir heute leben, führt Blom

zurück auf das biblische Gebot:

„Mach dir die Erde untertan.“

Diese Geschichte sei an

ihr Ende gekommen. Denn wie

sollte die Ausbeutung der Erde,

ein unendlich fortschreitendes

Wirtschaftswachstum bei endlichen

Ressourcen, auf Dauer

möglich sein? Es lässt sich nicht

mehr leugnen, dass die Zeichen

auf Sturm stehen, der Kampf

um die Zukunft begonnen hat.

Auf die Bühne seines Welttheaters,

ins Spotlight, stellt Philipp

Blom den Homo Sapiens

als ein Zwitterwesen zwischen

Hell und Dunkel, Gut und Böse.

Überdeutlich wird: Die „Krone

© ArtMediaVerlag

der Schöpfung“ (der Mann als

Macher) ist ins Wanken geraten.

Laufend verwandelt sich die

Welt als Bühne, in größerer

Geschwindigkeit denn je. Bei

nie dagewesenen, rasanten Entwicklungen

kommt die Politik

mit ihrem Parteiengezänk, ihren

Machtkämpfen und ausufernden

Debatten längst nicht mehr hinterher.

Auf Warnzeichen wird

zwar reagiert, aber kaum vorausschauend

gehandelt, zaghafte

Ansätze versanden schnell

im Tagesgeschäft. Es sind zähe,

oft lähmende Prozesse der Auseinandersetzung,

doch gibt es

für unsere parlamentarische,

demokratische Regierungsform

keine Alternative. Aber

auch eine Demokratie müsse

sich wandeln, in ihrem Selbstverständnis

ändern können. In

komplizierten Zeiten gibt es

nun einmal keine einfachen Lösungen,

und alle die das in der

Politik versprechen, möchten

zuallererst Wahlen gewinnen.

„Populistische Politiker“, stellt

Blom fest, „haben weltweit bewiesen,

dass große Teile ihrer

Gesellschaft es vorziehen, an

alten Geschichten festzuhalten,

anstatt sich neuen Realitäten zu

stellen.“ Gleichzeitig schwinde

damit die Möglichkeit in einer

akuten Krise angemessen zu

handeln und zu tun, was notwendig

ist. Im Zweifel sei ein

Rüstungsdeal wichtiger als eine

Uno-Resolution. Die kollektive

Erzählung von Wachstumsökonomie,

industrieller Moderne

und hemmungsloser Ausbeutung

unserer natürlichen Grundlagen

sei vorbei. „Neue Bilder

zu finden für diese Herausforderung

ist das Friedensprojekt

der Gegenwart“.

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