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Drama Stasi-Mord Leseprobe XXL

Kalter Regen und eisiger Wind jagen durch die Straßen der Stadt, wo Sebastian in seiner Gefängniszelle sitzt – ahnungslos auf ein Wunder hoffend. Leipzig 1970: Sex, Drugs, Mord, Machtspielchen der Stasi. Dem 20-jährigen Sebastian Mahler wird der Mord an seiner Lehrerin Alice – die obendrein seine Geliebte ist – untergeschoben. Geplant bis ins Detail, brutal und atmosphärisch. – Die spannende und bildhafte Erzählung eines Zeitzeugen, die unter die Haut geht. – Ebook, Taschenbuch, 412 Seiten, überall erhältlich. – Besuchen Sie den Autor auf seiner Page: autoraxelstarke.blogspot.com

Kalter Regen und eisiger Wind jagen durch die Straßen der Stadt, wo Sebastian in seiner Gefängniszelle sitzt – ahnungslos auf ein Wunder hoffend.
Leipzig 1970: Sex, Drugs, Mord, Machtspielchen der Stasi. Dem 20-jährigen Sebastian Mahler wird der Mord an seiner Lehrerin Alice – die obendrein seine Geliebte ist – untergeschoben. Geplant bis ins Detail, brutal und atmosphärisch. – Die spannende und bildhafte Erzählung eines Zeitzeugen, die unter die Haut geht. – Ebook, Taschenbuch, 412 Seiten, überall erhältlich. – Besuchen Sie den Autor auf seiner Page: autoraxelstarke.blogspot.com

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Axel Starke

STASI

MORD

ALICE

Nach einer wahren Begebenheit

Roman


. .

. XXL-Leseprobe .

»STASI-MORD: Alice«

+++ Nach einer wahren Begebenheit +++

E-Book bei Amazon erhältlich.

Taschenbuch, 412 Seiten, bei epubli und allen bekannten

Online-Händlern erhältlich und im Buchhandel bestellbar.

Deutsche Erstausgabe November 2020

Copyright: © Axel Starke, Leipzig

https://autoraxelstarke.blogspot.com

Alle Rechte, einschließlich die der vollständigen oder

teilweisen Kopie in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Lektorat & Buchsatz: Petra Weymar, www.lektorat-ps.com

Covergestaltung: H.-S. Damaschke, www.sheep-black.com

Coverbilder: pixabay

Verlag & Druck der Taschenbuchausgabe: epubli – ein Unternehmen der

Neopubli GmbH, Köpenicker Str. 154a, 10997 Berlin


Prolog

Sebastian fühlte sich wie gelähmt. Erst das sich

entfernende Motorengeräusch von Samanthas Wagen

holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Von seinem

Standort aus – einem malerisch vor dem Hintergrund eines

Nadelwaldes in die Landschaft drapierten und von unten

aus der Stadt kaum sichtbaren Felsplateau – verfolgte er

die rasante Fahrt Samanthas, die sich rasch von diesem Ort

entfernte. Während das Motorengeräusch ihres Wagens

vernehmlich unter einer Staubwolke dröhnte, erinnerte

sich Sebastian daran, wie er auf ihr Fahrzeug gelauscht

hatte, als sie das erste Mal um den Berg herum gefahren

kam. Er hörte auch jetzt auf das Summen der kleinen Stadt

am Harz, das wie ein fernes Geräuschgespinst, ähnlich

einem Bienenschwarm, verschwommen zu vernehmen

war. Die Stadt wirkte verlassen wie ein Friedhof – nicht

unähnlich seinen eigenen Empfindungen.

Der aufgewirbelte Straßenstaub senkte sich nur

langsam zu Boden. Unten in der Stadt konnte er den alten

Kirchturm wieder sehen.

Sie fuhr in raschem Tempo davon und ließ einen

konsternierten jungen Mann zurück, der noch gar nicht

begriffen hatte, was in den letzten Stunden geschehen

war.

3


I

Sebastian gehörte zu jenen jungen Männern, die sich

gern mit hübschen Frauen umgaben. Zwangsläufig

ergaben sich dadurch immer wieder Gelegenheiten,

mit der einen oder anderen ein intimeres Verhältnis zu

beginnen und oft auch bald wieder zu beenden. Seine

Beziehungen hielten deshalb nie lange, weil er zu viele

Gelegenheiten mit den Mädchen aus seinem Umfeld

auskostete.

In seiner Freizeit beschäftigte er sich am liebsten mit

Musik. Ende der 60er-Jahre spielten viele ein Instrument

in einer der zahlreichen Rockbands. So auch Sebastian. Die

Band nannte sich Sun-Club und besaß dank begnadeter

Musiker ein breites Spektrum an Musikalität, angefangen

beim Dreisatzgesang bis hin zur Imitation der Originale:

The Beatles, The Who, The Rolling Stones, The Byrds, The

Animals und einiger mehr. Den Jungs der Gruppe machte

es offensichtlichen Spaß, an den Wochenenden an allen

möglichen Orten ihr Können zu zeigen und sich bejubeln

zu lassen. Wenn Sebastian auf der Bühne stand und in die

Saiten seiner Gitarre griff, war er in seinem Element. Er

hatte viel Freude daran, Woche für Woche die neuesten

Hits live und gekonnt zu interpretieren.

*

Sebastian war gerade dabei, seine Aufnahmeanträge im

Sekretariat der Fakultät abzugeben, als eine Frau zur

Tür hereinstürmte. Sie schien es sehr eilig zu haben und

4


wollte etwas erfragen. Die Sekretariatsvorsteherin heftete

sofort ihre Augen unverhohlen auf die Hereinstürmende.

Sebastian sah sich genötigt, sie oder wie sie ihm als Alice

Kießling vorgestellt wurde, eingehend unauffällig zu

betrachten. Sie war eine imposante Erscheinung, wirkte

recht groß durch die Absätze an ihren Schuhen und war

sehr schlank. Als Sebastian in ihr Gesicht sah, trafen sich

ihre Augen. Er erkannte sofort, was ihn an dieser Frau

faszinierte: Ein offener Blick aus großen blauen Augen,

ein feines Lächeln umspielte ihren halbgeöffneten Mund.

Als die Sekretärin Sebastian als neuen Studenten in

ihren Kursen Spanischer Flamenco und Russische Klassik

vorstellte, begrüßte sie ihn ausgesprochen freundlich und

schien tatsächlich auf diesen Hinweis einzugehen. Auf

einmal war ihr hektischer Auftritt wie weggeblasen. Sie

mochte etwa Ende dreißig sein. Was ihm deutlich auffiel,

war, dass diese Frau eine unglaublich vitale, lebhafte

Jugendlichkeit ausstrahlte.

Bei diesem Ersteindruck merkte Sebastian nicht, dass

er ihre zur Begrüßung gereichte Hand länger als nötig

in der seinen hielt. Diese Kleinigkeit entlockte ihr ein

weiteres Lächeln und Sebastian wurde es warm ums Herz.

*

Monate harter und angestrengter Arbeit vergingen, in

denen er lernen musste, seinen Körper zu beherrschen

und ihn auch zu trainieren, wo es wehtat.

Seine Lehrerin Alice verstand es ausgezeichnet,

Sebastian auf die Palme zu bringen. Sie hatte ein

unschlagbares Gespür dafür, wenn er unaufmerksam

oder nicht gut drauf war, weil der Abend zuvor länger als

geplant verlaufen war. Jedenfalls ließ sie keine Gelegenheit

aus, ihn immer in diesen Momenten zu piesacken, ihn im

Unterricht bloßzustellen. Vielleicht lag es auch zum Teil

daran, dass er fast zwei Jahre älter war als seine Mitschüler

5


und ihr damit, zumindest vom Alter her, näher. Was sie

aber nicht davon abhielt, ihn erziehen zu wollen. Sie rügte

ihn, wenn er albern war, wenn er sich über die anderen

lustig machte, wenn seine Gedanken abdrifteten. Auch

wenn sich Sebastian über sie ärgerte, hatte er Respekt vor

ihrer Autorität als Lehrerin und vor ihrer Fachkenntnis.

*

So verstrichen die ersten beiden Semester – bis zu

jenem Tag im Dezember, als die Weihnachtsfeier der

Schule stattfinden sollte. Es war schon die zweite, und

da wollten sie ordentlich feiern. Sebastian hatte am

folgenden Tag seinen zwanzigsten Geburtstag, den er

mit seinem Freund Eddi, der noch im Internat wohnte,

entsprechend begehen wollte. Für Sebastian war ein Bett

reserviert, weil die meisten Bewohner am Wochenende

nach Hause fuhren.

Eddi war ein schlanker Typ mit schmalem Gesicht und

hohen Wangenknochen, hatte eine dunkelblonde Elvis-

Frisur und sprach mit markant kratziger Stimme, die zu

seinem Markenzeichen wurde. Graue Augen, die beständig

erstaunt um sich blickten, sowie ein permanentes Grinsen

gehörten zu seinen auffälligsten Eigenschaften.

Die Freunde waren bereits auf einige Studentinnen

fixiert, mit denen sie die Nacht verbringen wollten. Alles

schien perfekt geplant, wenn da nicht die gestrenge Alice

gewesen wäre, die kurz nach Mitternacht das Signal

zum Aufbruch für alle Nicht-Internats-Bewohner gab

und damit alles verdarb. Entsprechend groß war die

Verblüffung bei denen, die sich für diese Nacht etwas

Besonderes vorgenommen hatten. Bei fast allen, die zur

Party eingeladen waren, stellte sich augenblicklich große

Ernüchterung ein, verbunden mit einem großen Groll auf

Alice. Jetzt half nur noch ein starkes Getränk. Sie kippten

hastig Wodka gemischt mit Cola herunter.

6


Sebastian wurde kurze Zeit später angetrunken und

mit viel Wut im Bauch in ein Taxi geschoben, das er

nicht bestellt hatte. Sein Gezeter half nichts, das Taxi

fuhr mit ihm, Alice und noch einem Lehrer in schneller

Fahrt davon. Sebastian hatte kaum Zeit gehabt, sich von

seinen Gästen zu verabschieden, was einen Minuspunkt

mehr auf Alices Konto brachte. Während der Fahrt sprach

keiner ein Wort, bis das Taxi am Ziel ankam. Sebastian

wusste zunächst nicht, wo er sich befand, es war zu

dunkel, um Einzelheiten zu erkennen. Aber er entdeckte

auf der anderen Straßenseite ein Gebäude, das ihm nicht

unbekannt war. Außerdem fuhr hier eine Straßenbahn,

was seinen Orientierungssinn auf Vordermann brachte.

Wenn ihm auch noch nicht bewusst war, in welchem

Stadtteil er sich befand, war ihm jedoch klar, dass es nicht

sein Zuhause war!

Er wurde in eine Wohnung geführt. Die Selbstverständlichkeit,

mir der sich Alice bewegte, ließ keinen

Zweifel daran, dass es ihre war. Sie dirigierte ihn über

den Flur in die Küche und bat ihn zu warten. Als er dann

endlich eintreten durfte, brannten auf dem mitten im

Wohnzimmer stehenden Flügel zwanzig Kerzen.

Die beiden Lehrer sangen ihm ein Geburtstagsständchen

und Alice küsste ihn auf die Wange. Sie prosteten sich

mit Sekt zu, was den bereits lädierten Zustand Sebastians

nicht unbedingt vorteilhaft beeinflusste.

Als er seine Fassung wiedererlangte, konnte er zumindest

ein leises „Danke“ stammeln. Nach dem bisherigen Verlauf

des Abends war mit solch einer Wende nicht zu rechnen

gewesen. Seine anfängliche Wut verflüchtigte sich schnell.

Smalltalk und eine Alice, die er so nicht kannte. In der

Schule kühl und unnahbar, schien sie jetzt nett und lieb

und zu mancherlei Späßen aufgelegt.

Irgendwann war es an der Zeit zu gehen, der Kollege

von Alice rüstete bereits zum Aufbruch. Sebastians

Zeitvorstellung hatte sich zwar im Laufe des Abends

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verabschiedet, der Aufenthalt bei Alice erschien ihm aber

doch recht kurz. Als er ging, wusste er bereits, dass sich der

Abend als angenehme Erinnerung in ihm festsetzen würde.

Am nächsten Morgen wurde er durch heftige

Kopfschmerzen in die Realität zurückgeholt. Die Fakultät

stand wie ein Fremdkörper überdimensional vor ihm und

schien ihm nicht real.

„Eddi, was war gestern los?“

Eddi schmunzelte vielsagend und wollte seinerseits von

Sebastian wissen, wie es bei ihm gewesen war.

„Was soll schon gewesen sein“, meinte er forsch. „Mir

fehlt ein Stück Film, hilf mir mal auf die Sprünge. Wollten

wir nicht was mit den Mädchen veranstalten?“

Ein Grinsen umspielte Eddis Gesicht, als er antwortete:

„Wir haben die letzte Nacht gut zusammen verbracht!“

Verärgert über Eddis Antwort wandte sich Sebastian

ab und verließ das Zimmer. Sein Freund konnte ganz

offensichtlich weiterfeiern, als Alice mit Sebastian im

Schlepptau das Internat verlassen hatte.

Auf dem Flur begegnete er Jasmin. Sie war ein fröhliches,

zu manchem Unfug bereites, attraktives Mädchen. Langes

braunes Haar glitt ihr in ungebändigter Fülle über die

Schultern. Ihr sinnlicher Mund wirkte sehr verlockend. Mit

dunklen Augen hinter dichten Wimpern, umrahmt vom

zarten Teint ihres Gesichts, zog sie die bewundernden Blicke

der Männer auf sich. Sie genoss es, wenn sich alle nach ihr

umdrehten. Jasmin gehörte zu seinem Bekanntenkreis, sie

studierte Schauspiel- und Theaterkunst.

Sie sprach ihn schmunzelnd an:

„Na, wie war denn dein Abend noch?“

Das war zu viel. Seinen Frust reagierte er in diesem

Augenblick bei Jasmin ab.

„Bei dir und Eddi scheint ja alles ganz toll gelaufen zu

sein“, antwortete er gereizt und ließ sie einfach stehen.

Jasmin schüttelte nur den Kopf und flüsterte leise vor

sich hin:

8


„Was für ein Arsch! Was ist denn mit dem passiert?“

Sebastian ging zur Straßenbahnhaltestelle und fuhr

nach Hause. Das war heute nicht sein Tag.

Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, nahm er seine

Gitarre zur Hand und spielte ein paar Akkorde, woraufhin

sich seine miese Laune verbesserte. Nach wenigen Minuten

dachte er nicht mehr an den Grund seines Ärgers.

*

„Warum kommst du nicht zum Unterricht?“

Alice sprach Sebastian energisch und doch auch besorgt

an, denn er hatte sich drei Tage nicht in der Schule blicken

lassen. Eine heftige Magenverstimmung, körperliches

Unbehagen und offensichtliche Übermüdung hatten seine

Lernbereitschaft auf ein Minimum herabgefahren.

Dass Sebastian keine Lust hatte, sich in diesem Zustand

den spöttischen Bemerkungen seiner Kommilitonen

auszusetzen, war die eigentliche Ursache dafür, eine Auszeit

zu nehmen, die er mit seiner Band auf einem zweiten Gig

verbrachte. Er täuschte gegenüber Alice eine Erkältung

vor und war damit erst einmal aus dem Schneider.

„Wenn du dich besser fühlst und du möchtest, kannst

du heute Abend zu mir kommen. Ich könnte uns was

Leckeres kochen.“

Alice war recht locker und sprach ganz selbstverständlich

mit Sebastian, der nach kurzem Zögern die Einladung

dankend annahm. Die aufkommen wollende Irritation

schaffte es nicht ganz in sein Bewusstsein.

„Wann soll ich denn da sein?“

„Sagen wir, gegen acht Uhr, wäre dir das recht?“

Sebastian, der schon lange nichts Gutes mehr zwischen

die Zähne bekommen hatte, freute sich. Und solch eine

Einladung ist sicher nichts Alltägliches.

Auch auf die Gefahr hin, dass Alice ihn mit

unangenehmen Fragen bombardieren würde, machte

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er sich aufgeregt fertig. Nachdem er sich geduscht hatte,

holte er seinen feinsten Zwirn aus dem Schrank. Mit seiner

äußeren Erscheinung war er zufrieden. Schnell noch Haare

kämmen und Rasierwasser ins Gesicht, fertig!

Am Hauptbahnhof musste er umsteigen. Dabei nutzte

Sebastian die Gelegenheit, einen Strauß Blumen zu kaufen.

Schließlich wollte er nicht mit leeren Händen kommen …

Mit klopfendem Herzen klingelte er, in der einen

Hand die gelben Rosen, in der anderen einen Kamm, um

schnell noch seine erneut zerzausten Locken zu richten.

Wie würde ihn seine Lehrerin empfangen? Er kam nicht

mehr dazu, darüber nachzudenken. Alice hatte ihn schon

erwartet und öffnete die Wohnungstür. Sie bat ihn,

einzutreten.

Ihre Art nahm ihm sofort seine Unsicherheit. Dass die

Wohnung so riesig war, war Sebastian bei seinem ersten

Besuch gar nicht aufgefallen. Wohnte sie hier etwa allein?

Alice kam seiner Frage zuvor:

„Hier wohnt noch eine Familie, für mich allein wäre

die Wohnung nicht zu halten. Und was hier zu sehen ist,

reicht für meinen Pudel und mich allemal.“

Der Pudel war offenbar im Gartenbereich hinter dem

Haus unterwegs, Sebastian konnte das Tier jedenfalls

nicht wahrnehmen.

Er betrat den Wohnbereich mit der Veranda, die er an

seinem Geburtstag auch nicht registriert hatte. Alice bat

ihn, Platz zu nehmen, was er dankend tat. Er sah sich um.

Das Zimmer war geschmackvoll und üppig eingerichtet,

manches zu üppig, schien ihm. Auf den Fensterbänken der

Veranda standen Blumen und Grünpflanzen. Sebastian

fühlte sich wohl und entspannte sich. Er zog seine Schuhe

aus und machte es sich auf dem Sofa bequem. Er blickte

verstohlen durch die leicht geöffnete Küchentür, hinter

der Alice geräuschvoll mit Töpfen und Geschirr hantierte.

Als sie nach einer Weile mit einer dampfenden Schüssel

hereinkam, fragte Sebastian, ob er etwas helfen könne.

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„Wenn du willst, kannst du die Gläser und den Wein

holen, dann können wir auch gleich essen.“

Das einfache Gericht, bestehend aus Spaghetti, gut

vermischt mit Thunfisch und klein geschnittenem Lauch

sowie einem Schuss Olivenöl, roch herrlich. Und genauso

schmeckte es auch. Dazu tranken sie einen roten Burgunder,

der das Mahl abrundete. Sebastian mit großem Appetit,

auch Alice hielt sich nicht vornehm zurück. Sie brachten

es fertig, den Inhalt der großen Schüssel leerzuessen.

Satt und zufrieden setzten sie sich nebeneinander

auf die Couch. Die wohlige Wärme, die Sebastian jetzt

empfand, ließ ihn in die Kissen zurücksinken. Und jetzt

kommt sicher das dicke Ende, dachte er. Doch Alice machte

keine Anstalten, ihn mit Fragen zu quälen.

„Zieh doch das Jackett aus und mach es dir bequem.

Du musst nicht so verkrampft sitzen.“

Während Sebastian sich seines Jacketts entledigte,

verschwand Alice in der Küche, um die Schürze, die sie

während des Essens anbehalten hatte, abzulegen. Erst jetzt

entdeckte Sebastian, dass sie einen sehr kurzen Rock trug,

der ihr fantastisch stand. Ihre Beine waren wohlgeformt

und lang. So zeigte sie sich nicht in der Öffentlichkeit,

schon gar nicht im Unterricht. Dort trug sie beständig

lange Kleider, die ihr fast bis zu den Knöcheln reichten,

oder enge Jeans. Doch niemals zuvor hatte Sebastian die

Beine von Alice gesehen.

Während er sie verstohlen betrachtete und sich

Gedanken darüber machte, zündete sie eine Kerze an, die

ein warmes Licht in den Raum warf.

Alice war, wie Sebastian inzwischen erfahren hatte,

doppelt so alt wie er, was man ihr aber nicht ansah. Sie sah

umwerfend gut aus.

„Darf ich Sie was fragen?“ Er wartete ihre Antwort

gar nicht erst ab, sondern sprach gleich weiter: „Sie leben

doch alleine hier, oder?“ Sebastian sagte nur irgendetwas,

um von seiner eigenen Unsicherheit abzulenken. Er wollte

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nicht, dass sie ihm unangenehme Fragen stellte, die er

dann ehrlich beantworten müsste.

„Ja, ich lebe allein“, antwortete sie ihm ganz offen

und vorbehaltlos. „Mein geschiedener Mann ist in einer

Nervenklinik untergebracht. Vor einigen Jahren hatte

er einen Motorradunfall, er trug keinen Helm und hat

schwere Kopfverletzungen davongetragen. Es war ein

Glück, dass er überhaupt überlebt hatte, aber durch seine

geistige Beeinträchtigung war an ein Weiterführen der

Ehe nicht zu denken. Er hat auch einen beträchtlichen

Teil seines Gedächtnisses verloren.“

Sebastian war betroffen.

„Oh, es tut mir leid, das ist sehr bedauerlich. Aber

warum haben Sie dann nie wieder geheiratet? Sie können

sich doch vor Männern bestimmt kaum retten?“

Alice schaute Sebastian lange und nachdenklich an,

bevor sie antwortete:

„Tja … Es gibt viele Gründe, aber eigentlich möchte

ich nicht darüber sprechen.“ Das Thema war ihr ganz

offensichtlich unangenehm. Sie lenkte ab: „Willst du mir

nicht etwas aus deinem Leben erzählen? Was machst du

in deiner Freizeit, welche Bücher liest du, wer sind deine

Freunde?“

Komplexe Fragen, die auch in kompakter Form nicht

einfach zu beantworten waren. Mit einem Blick auf die

Uhr wurde ihm schlagartig bewusst, dass seine Freunde

auf ihn warteten.

Alice merkte, dass er unruhig war und fragte ihn:

„Du hast dir doch den Abend für mich freigehalten,

oder?“

„Äh, natürlich“, stammelte er unbeholfen.

Warum fiel es ihm nur immer so schwer, die Wahrheit

zu sagen? Alice hätte doch bestimmt verstanden, wenn er

jetzt gehen müsste. Aber stattdessen log er und es blieb ihm

nichts anderes übrig, als sich ihren unausgesprochenen

Wünschen zu fügen.

12


Sebastian wusste nicht, worüber er sich mit Alice

unterhalten sollte. Trotz ihrer Fragen, die ihm nicht ganz

ernstgemeint erschienen, war doch nun alles gesagt, das

Essen war gut, der Wein schwer, die Gespräche erschöpft,

und eigentlich war der Abend beendet. Dennoch begann

er über seine Band und die Auftritte an den Wochenenden

zu berichten. Was seine Freunde so machten und wer sie

waren – über Liebschaften hielt sich Sebastian zurück. Sein

noch immer unruhiger Blick zur Uhr blieb Alice auch jetzt

nicht verborgen. Er hatte sie nicht berücksichtigt. Sie hatte

ihre eigenen Pläne.

Während Sebastian mit sich haderte, tafelte Alice

gebrannte Mandeln und Cracker auf sowie eine Flasche

Krim-Sekt.

Ade, du schöner Abend! Von nun an werden wir Löcher

in die Luft starren und nicht wissen, worüber wir uns

unterhalten sollen. In Sebastians Gedanken zeichneten

sich düstere Visionen ab.

Doch Alice unterbrach ihn in seiner Grübelei:

„Was hattet ihr, du und Eddi, eigentlich am Vorabend

deines Geburtstages im Internat vor?“

Da war sie nun, diese Frage. Also doch. Die Einladung

war ein Vorwand! Die Antwort kannst du haben, dachte

Sebastian.

„Nichts Besonderes, nur etwas Spaß“, antwortete er

wahrheitsgemäß.

„Mit einer Auswahl junger Damen, wie ich annehme?“

Ihre Stimme klang spitz und spöttisch.

Unvermittelt blickte Sebastian ihr in die Augen. Aber da

sah er nichts Spöttisches, nur die reine Neugier. Und dieses

hintergründige Funkeln in ihren Augen. Beeindruckend,

womit die Natur diese Frau ausgestattet hatte. Wenn sie

ihn so ansah wie gerade, hatte er das Gefühl, dass sie ihn bis

auf den Grund seines Wesens durchschaute. Seine Unruhe

nahm zu. Jede Frage, die sie ihm stellte und die er stotternd

beantwortete, verursachte ihm mehr Unbehagen.

13


Ein Scheißspiel ist das, dachte er. Sebastian versuchte,

äußerlich gelassen zu bleiben. Vor einiger Zeit hätte er

sich überhaupt keine Gedanken gemacht, aber das hier

erforderte eine andere Einstellung. In der Gegenwart von

Alice wurde es zunehmend ungemütlich. Am liebsten wäre

er sofort gegangen. Er tat es nicht! Eine leichte Berührung

in seinem Nacken, scheinbar rein zufällig, ließ ihm den

Atem stocken. Sie war nicht zufällig. Alice kraulte ihm

den Hinterkopf.

„Entspann dich ein wenig, du bist völlig verkrampft.“

Ein kalter Schauer jagte den nächsten. Sebastian

verstand die Welt nicht mehr. Zuerst belegte sie

ihn mit peinlichen Fragen und dann bekam er eine

Entspannungskur frei Haus. Er wusste nicht, was er

davon halten sollte. Es war ja nicht unangenehm, aber

fraglich merkwürdig schon. Alice war schließlich seine

Lehrerin. Was sollte er tun? Aufstehen und gehen? Oder

lieber sitzenbleiben und abwarten, wohin das Ganze noch

führen sollte? Er entschied sich zu bleiben, seine Neugier

hatte gesiegt.

„Können wir vielleicht ein Fenster öffnen, es ist ganz

schön warm hier drin.“ Sebastian glaubte, ersticken zu

müssen. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.

Alice stand auf und öffnete die Tür zur Veranda, von

der eine Treppe in den Garten führte. Als sie zurückkam,

lächelte sie ihn an und fragte, ob er noch etwas zu trinken

haben wollte. Um Zeit zu gewinnen, bat Sebastian um

ein Glas Wasser. Alice verschwand in der Küche und

kam mit einer eisgekühlten Flasche wieder. Sie schenkte

ihm ein, Sebastian schüttete es in einem Zug herunter.

Die kühle Abendluft, die durch die geöffnete Verandatür

hereinströmte, ließ ihn wieder klarer denken. Aber ruhiger

wurde er dadurch nicht.

Alice setzte sich wieder neben ihn und machte dort

weiter, wo sie zuvor aufgehört hatte, füllte die Sektgläser

und sagte:

14


„Lass uns auf den heutigen Abend anstoßen. Und ich

möchte, dass du Alice zu mir sagst, wenn du hier bist! In

der Schule sollte das aber besser niemand hören …“

Sebastian war nicht wohl in seiner Haut. Den richtigen

Zeitpunkt zum Gehen hatte er jedoch verpasst. War es der

Krim-Sekt oder lagen die Gründe anderswo? Er fühlte

sich völlig hilflos und ausgeliefert. Alice ließ nicht locker.

Wieder war es sein Hinterkopf, dem eine besondere

Behandlung zugutekam. Das war Sebastian weniger recht,

weil seine Frisur darunter zu leiden hatte. Alice störte das

nicht, was nicht verwunderte, ahnte sie wahrscheinlich

von Sebastians Bedenken nichts. Er war zur Salzsäule

erstarrt, nicht fähig, sich zur Wehr zu setzen. Als ihr

Gewühle in seinem Haar aber drängender wurde, traute

er sich zu fragen:

„Was machst du eigentlich mit mir?“

Statt einer Antwort, näherte sich ihr Gesicht

bedenklich. Langsam, aber unaufhaltsam kam sie näher,

bis sie schließlich ihre Lippen auf seine presste. Der Angriff

gipfelte in einem leidenschaftlichen Kuss. Sebastian war

erschrocken, dann verwundert, aber auch etwas stolz

darauf, dass sie, die schöne Lehrerin, offensichtlich an ihm

Gefallen fand.

Die Situation hatte bald ihre Harmlosigkeit verloren.

Alice ließ ihn nicht mehr los. Sebastian saß wie ein Tier

in der Falle und musste alles mit sich geschehen lassen.

Sie tobte sich an ihm aus. Darauf war er nicht gefasst. Sie

packte ihn mit ihrem ganzen Wesen und ließ ihm keine

Chance, sich zu wehren. Sie ist wie ausgehungert, dachte er,

so weit Denken noch möglich war. Aber damit war es bald

vorbei. Alice wurde immer hemmungsloser.

*

15


Im Forsthaus Raschwitz, am anderen Ende der Stadt, saßen

Sebastians Freunde Richie, Genti, Eddi und ein paar

andere, die langsam ungeduldig wurden.

„Wo der nur wieder bleibt?“

Richie – der mit richtigem Namen Reginald Rauch

hieß, kein Mensch außer seiner Mutter traute sich aber,

ihn so zu nennen – war ziemlich ungehalten. Sie hatten

sich für das Wochenende viel vorgenommen. Nicht

umsonst hatte Sebastian seine Freunde dorthin bestellt.

Wer nun nicht anwesend war, war Sebastian. Natürlich

waren inzwischen alle ziemlich sauer, hatten aber auch

nicht vor, sich den Abend verderben zu lassen. Sie ahnten

ja nicht, dass Sebastian sehr wohl bei ihnen sein wollte,

doch in Alices Fängen schmorte.

*

Sebastian hatte inzwischen resigniert.

Weil er sich in Alices Reich befand und an ein

Entrinnen nicht zu denken war, versuchte er, seine Lage

etwas positiver zu sehen. Jetzt hieß es mitspielen, den

Spieß umdrehen und selbst die Initiative zu ergreifen.

Sebastian machte sich Mut, dachte, so viel könne er sicher

nicht falsch machen, wenn er seine Hände benutzte. Und

kaum hatte er begonnen, hauchte Alice erregt:

„Hör nicht auf …“

Sebastian berührte ganz sanft ihren Rücken, weiter

traute er sich nicht. Doch bald ging ihr ungleichmäßiger

Atem in ein lustvolles Stöhnen über. Nun wurde auch

Sebastian mutiger.

*

Während des Abends hatten Sebastians Freunde beschlossen,

diesen am nächsten Morgen einfach zu überfallen. So

trafen sie sich bei ihm zu Hause, doch da war er nicht. Es

16


herrschte ziemliche Ratlosigkeit. Auch Sebastians Mutter

hatte keine Ahnung, wo ihr Sohn steckte.

Also setzten sie sich alle ins Wohnzimmer und warteten.

*

Es war früh am Morgen, als Sebastian Alices Wohnung

verließ. Die Straßen waren menschenleer. Ihn fröstelte.

Sein Weg führte ihn durch den nahe gelegenen Park.

Er sog die morgendliche Luft tief in seine Lungen und

versuchte, seine Gedanken zu sortieren.

Er setzte sich auf eine Bank und sah den Eichhörnchen

zu.

Er wusste nicht genau, wie lange er dort gesessen hatte,

aber er bemerkte die feuchte Kühle, die an seinen müden

Gliedern heraufkroch. Es wurde ungemütlich. Mühsam

erhob er sich. Alles tat ihm weh, trotzdem lief er jetzt

schneller, um die Müdigkeit und die Kälte aus seinen

Knochen zu bekommen. Die Sonne, die sich malerisch

über der Rennbahn erhob und ihre ersten wärmenden

Strahlen über der Stadt ausgoss, nahm er kaum wahr.

Auch dass er ziellos umherirrte, merkte er nicht.

Er dachte an die Nacht mit Alice. Wo sollte er das alles

einordnen? Doch letztlich war das das kleinere Problem.

Er musste es geheim halten. Besser noch: Er musste das,

was zwischen ihm und Alice war, sofort beenden, bevor

es richtig beginnen konnte. Sollte die Schulleitung Wind

davon bekommen, würden beide fliegen. Und was sollte

dann werden? Diese und andere Fragen zermarterten ihn, er

hatte keine Antwort darauf. Woher auch, so kurz nach einer

Nacht, die einen nachhaltigen Beigeschmack haben würde.

Schwerfällig und ausgepumpt erklomm er schließlich

die Treppen zu seiner Wohnung. Das Stimmgewirr im

Wohnzimmer holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

Richie umklammerte eine Bierflasche, den kritischen

Blick von Sebastians Mutter ignorierte er. Er war unfähig,

17


einen klaren Gedanken zu fassen. Genti glotzte blöd

vor sich hin. Einzig Eddi schien ausgeschlafen und

entsprechend fit zu sein.

„Habt ihr schon einmal in Erwägung gezogen, die

Polizei anzurufen?“, formulierte er in seiner typisch

trockenen Art. Auf einmal schienen alle wieder hellwach

und schauten ihn mit unverhohlenem Spott an. „Na ja,

ich meine ja nur … Habt ihr eine bessere Idee?“ Eddi tat,

was er in solchen Situationen immer tat, er war beleidigt.

„Oh, der arme Junge, wir sollten ihm eine Runde

Mitleid spenden“, stichelte Samantha.

Samantha, die beste Freundin von Jasmin, war

väterlicherseits Asiatin. Ihr Vater kam aus China und führte

mit seiner deutschen Frau einen Gebrauchtwarenhandel.

Samantha studierte an der gleichen Fakultät wie Jasmin

und Sebastian und war durch ihr exotisches Aussehen der

Hingucker schlechthin.

Niemand hatte den inzwischen lautlos eintretenden

Sebastian bemerkt, der sich belustigt den Rest der Debatte

anhörte, bis er durch ein Räuspern auf sich aufmerksam

machte.

Fast gleichzeitig blickten sich alle nach ihm um und

sahen ihn an, als sei er ein Gespenst. Genti fing sich als

Erster.

„Du siehst scheiße aus. Hast du in der Gosse

genächtigt?“

Dann plapperten alle durcheinander. Als sich der Lärm

wieder gelegt hatte, begrüßte Sebastian die Anwesenden

mit einem belustigten: „Guten Morgen, meine lieben

Freunde“.

Mehr sagte er nicht, machte auf dem Absatz kehrt und

zog sich in sein Zimmer zurück. Was er jetzt brauchte, war

Ruhe und sein Bett. Keine Fragen, keine Vorwürfe. Nichts

Wichtiges konnte es mehr geben. Nur noch schlafen und

das Erlebte auf Abstand bringen. Was seine Freunde über

ihn dachten, war im Augenblick nicht wichtig.

18


II

Sebastian duschte und rasierte sich, zog sich was

Bequemes an und verließ hastig das Haus. Sein

Freund Richie erwartete ihn bereits. Und zwar recht

ungeduldig. Noch bevor Sebastian sich setzen konnte,

sprudelte Richie los:

„Erzähl mal, wo du dich gestern rumgetrieben hast.

Hast uns ja ganz schön sitzenlassen, eine Erklärung wäre

nett.“

„Kann ich vielleicht erst mal was zu trinken haben?“

Während Richie für sich und Sebastian ein Bier in

der Küche holte, überlegte dieser, ob er seinem Freund

alles sagen sollte. Bislang hatten sie noch nie Geheimnisse

voreinander gehabt.

„Nun fang endlich an“, sagte Richie und reichte

Sebastian eine Flasche. Sebastian war sich noch immer

unschlüssig, hielt sich an seinem Bier fest und nahm viel zu

schnell den nächsten Schluck, um nicht reden zu müssen.

Die dabei entstandene Pause war nichts für Richie. „Jetzt

fang doch endlich an! Du kannst einen aber auch auf die

Folter spannen!“

Sebastian holte tief Luft, dann erzählte er von Anfang

an. Er ließ kein Detail aus. Staunend hörte Richie

zu, wartete das Ende der Geschichte ab, war zunächst

sprachlos, doch dann klopfte er seinem Freund auf die

Schulter.

„Du bist ja ganz schön ausgekocht.“

„Du hast mir nicht richtig zugehört. Ich war völlig

machtlos, hilflos wie ein Baby!“

19


Sebastian rang nach Worten, um Richie begreiflich

zu machen, wie ernst ihm die Lage war. Doch dann

klingelte es an der Tür. Genti rettete ihn vor weiteren

Diskussionen.

Das Telefon klingelte und Richie reichte Sebastian den

Hörer.

„Ist dir eigentlich klar, dass wir gestern Probe in

Wiederitsch hatten?“

Sebastian hielt den Hörer des Telefons auf Armeslänge

weg und konnte trotzdem jedes Wort, das ihr Band-Chef

Max in den Apparat brüllte, gut verstehen.

„Ach, du dickes Ei!“, stammelte Sebastian. Er versuchte

gar nicht erst, nach einer Ausrede zu suchen, er hatte es in

dem Durcheinander tatsächlich vergessen.

Max erinnerte ihn an ihren Auftritt im Anker in der

kommenden Woche.

„Und schreib’s dir auf. Außerdem habe ich zwei neue

Titel, die du bis dahin unbedingt einüben musst. Am

besten, du holst sie heute noch bei mir ab. Es reicht, wenn

du die Harmonien draufhast, den Gesang machen Ari

und Fuzzi. Es sind Stücke von den Bee Gees, die einfach

nur geil klingen!“

Sebastian versprach, später vorbeizukommen.

Er verabschiedete sich von seinen beiden Freunden.

*

Als er kurze Zeit später bei Max war, hörten sie sich die

Stücke an. Sie waren einfach zu spielen, klangen aber

trotzdem kompliziert. Der Gesang musste ganz sauber

kommen. Sebastian summte die Melodien der Songs

mit, weil er sich so die Harmonienfolge besser einprägen

konnte.

Max drückte ihm, als sie sich verabschiedeten, die

Schallplatten in die Hand, damit Sebastian später seine

Gitarre in der richtigen Tonlage bedienen konnte.

20


„Ich will Originaltöne von dir hören. Es wird besser

sein, wenn wir uns am Donnerstag noch einmal treffen,

um das Ganze vorher zusammen durchzuspielen.“

Sebastian lief entspannt nach Hause. Bis Donnerstag

würde er allemal fit sein, dachte er. Und so war es dann

auch.

*

Der Donnerstag kam und die Band traf sich im Anker.

„Der Erfolg der Gruppe steht und fällt mit unserem

Repertoire und der Qualität unseres Gesanges! Das sind

die Pfunde, mit denen wir wuchern können, denn es

gibt weit und breit keine andere Band, die uns, was den

Gesang angeht, auch nur annähernd das Wasser reichen

kann!“

Die Ansprache des Sun-Club-Chefs ließ die übrigen

Mitglieder schweigen.

„Wie ihr wisst“, fuhr Max fort, „hängt von diesem

Auftritt ziemlich viel für uns ab. Irgendein Heini von der

Einstufungskommission wird uns mit seiner Anwesenheit

beglücken. Jeder weiß, dass wir das nicht brauchen,

niemand braucht das, weil diese Kontrollen nicht das

Geringste mit Musik zu tun haben. Aber es ist wichtig.

Also Jungs, versuchen wir uns gut zu benehmen, bis er

wieder weg ist. Nachher macht, was ihr wollt.“

Der Saal war gut besucht, nicht einmal auf der Galerie

gab es freie Plätze. Als die Jungs die Bühne betraten,

entstand ein lautes Getöse. Sie wurden, wie immer,

lautstark von ihren Fans begrüßt. Niemand der Besucher

merkte ihnen ihr Lampenfieber an, das sich aber nach den

ersten verhalten gespielten Tönen legte. Das Publikum

war klasse. Instinktiv schienen sie zu spüren, dass auch

sie sich zusammenzureißen hatten. Unruhe und laute

Unmutsäußerungen wären der Todesstoß für die Band

gewesen. Bis zur großen Pause wurde der Sun-Club wie

21


mit Argusaugen beobachtet und jedes kleine Detail zu

Papier gebracht.

Eine halbe Stunde später waren sie wieder unter sich,

der Wahnsinn konnte beginnen … Der Besuch der

„Offiziellen“ hatte ihnen zwar die Daumenschrauben

angelegt, doch nicht für lange Zeit.

22


III

Die neue Woche begann für Sebastian nicht sehr

angenehm. Was er bis dahin verdrängen konnte,

holte ihn gleich am Morgen brutal ein.

„Sebastian, ich möchte dich bitte nach dem Unterricht

sprechen! Und mach dich bitte nicht wieder einfach so aus

dem Staub.“

Der sachliche Tonfall ließ keinen Zweifel darüber

aufkommen, dass es sich hier nicht um eine Bitte

handelte. Bislang konnte Sebastian den Kontakt mit ihr

erfolgreich vermeiden, er wich sogar ihren Blicken aus, die

ihn immer wieder suchten. Jetzt blieb ihm keine Wahl, als

sich einem Gespräch zu stellen. Er legte sich vorsorglich

einige Ausreden zurecht, die er Alice präsentieren konnte.

„Warum gehst du mir aus dem Weg?“, fragte sie ihn

ohne einen Vorwurf. „Habe ich dir etwas getan? Habe

ich dich verletzt? Oder war es zu viel für dich? Vielleicht

habe ich dich ja in eine Situation gebracht, mit der du

überfordert warst?“ Alice machte eine kurze Pause, um zu

sehen, wie ihre Worte auf Sebastian wirkten. Als dieser keine

Reaktion zeigte, fuhr sie fort: „Du musst verstehen …, du

hast mich wahnsinnig gemacht mit deiner schüchternen

Zurückhaltung. Da ist es mit mir durchgegangen!“

Sebastian war erstaunt, wie ruhig und normal Alice mit

ihm redete. Ein Fünkchen Hoffnung auf einen friedlichen

Ausgang des Gespräches blieb ihm also.

„Warum antwortest du mir nicht?“

„Ich höre dir zu, und außerdem weiß ich nicht, was ich

dazu sagen soll. Das hat nichts mit dir zu tun, die Woche

23


war einfach voll. Ich hatte Probe und musste mich bei

meinen Freunden sehen lassen“, sagte Sebastian.

Seine Ausrede machte keinen besonderen Eindruck auf

Alice, die ihn nachdenklich betrachtete. Sie holte tief Luft,

bevor sie ihm sagte:

„Gut, dann sehen wir uns heute Abend zwanzig Uhr

bei mir!“

„Äh, heute ist schlecht, morgen würde es mir

besser passen“, stotterte Sebastian – wie meist in ihrer

Gegenwart.

Zu seinem Erstaunen schien Alice mit seiner Antwort

zufrieden, verabschiedete sich von ihm und ließ ihn

verärgert über sich selbst zurück. Sie hatte ihn mal wieder

festgenagelt.

*

So fühlte er sich auch noch, als er am Tag ihrer Verabredung

vor ihrer Tür stand.

„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben“, sagte

Alice und bat Sebastian in ihre Wohnung. Sie stellte ihm

ein Bier auf den Tisch und fuhr fort: „Hältst du mich für

einen Vamp? Ich will doch nur, dass du in meiner Nähe

bist, um mit mir zu reden und mich abzulenken. Es ist

niemand hier, mit dem ich mich austauschen kann“, sagte

sie etwas wehmütig.

Sebastian dachte nach. Klar, sie war alleine, aber

warum suchte sie sich dann nicht einen gleichaltrigen

Gesprächspartner? Was wollte sie ausgerechnet von ihm?

Zum ersten Mal dachte er über den Altersunterschied

zwischen ihnen nach.

Der Abend bei Alice war dann doch sehr angenehm,

sie lachten viel, unterhielten sich ganz ungezwungen, was

Sebastian als sehr wohltuend empfand. Er entspannte sich.

Und das blieb auch so, bis er sich zwei Stunden später von

ihr verabschiedete.

24


„Das sollten wir bei Gelegenheit mal wiederholen“,

sagte er und meinte es ernst. „Der Abend hat mir gutgetan.

Ich bringe dann auch was zum Trinken mit, damit ich dir

nicht andauernd auf der Tasche liege!“

Alice musste lächeln, es war hinreißend.

„Bekomme ich keinen Kuss?“, fragte sie, als Sebastian

sich zum Gehen wendete.

Er küsste sie flüchtig auf die Wange und hatte es

plötzlich sehr eilig. Schnell verließ er das Haus und ging

zur Straßenbahnhaltestelle.

*

Jasmin und Sebastian hatten sich für den folgenden Tag in

der Milchbar verabredet. Es war noch früher Nachmittag

und sie hatten genügend Zeit, bis die Abendvorstellung

begann. Jasmin wollte unbedingt diesen Film mit Robert

Redford sehen, und Sebastian sollte sie begleiten. Er tat es

gern, denn sie gefiel ihm außerordentlich – und er sonnte

sich in ihrer Gegenwart. Bei ihr hatte er das Gefühl, er

könne über sich hinauswachsen.

„Hallo Basti“, begrüßte sie ihn, „schön, dass du da

bist.“

Ihre Begrüßung glich einer filmreifen Szene, ebenso

ihr Äußeres: ein etwas zu knapp sitzendes buntes T-Shirt,

ein kurz über dem Po endender Jeansrock. Ihre Kleidung

betonte ihre tolle Figur, die auch von Frauen anerkennend

beäugt wurde.

Sebastian hatte sich schon bei ihrer Bitte um die

Verabredung gewundert, dass sie mit ihm allein sein

wollte. Vor allem ohne Samantha, die sonst nicht von

ihrer Seite wich.

„Dann erzähl doch mal“, begann er, als die Kellnerin

ihm einen Milchshake gebracht hatte, „was es so Wichtiges

gibt. Dass wir uns ohne Samantha treffen, hat doch sicher

einen Grund?“

25


„Na ja, um Samantha geht es. Aber du darfst ihr nie

erzählen, was ich dir jetzt sage.“

Sebastian versprach es und rutschte unruhig auf

seinem Stuhl hin und her, was von Jasmin mit einem

Lächeln quittiert wurde. Irgendwie erinnerte sie ihn an

Alice, die ihn auf eine ähnliche Art nervös zu machen

verstand.

„Wie gefällt dir eigentlich Samantha, was hältst du von

ihr?“, fragte sie.

„Wie soll ich das verstehen? Wenn du wissen willst,

ob ich sie gutaussehend finde …, ja klar. Sie hat etwas

Exotisches an sich, etwas Unergründliches, verstehst du.

So was, was Männer verrückt macht. Ist es das, was du

hören wolltest?“ Da Jasmin nicht antwortete, fügte er

verunsichert hinzu: „Aber weißt du, so richtig Gedanken

über sie habe ich mir bislang nicht gemacht. Ich meine,

wir sind schließlich Freunde und so.“ Jasmin reagierte

noch immer nicht. Sebastian war verunsichert und

plapperte weiter drauflos. „Mir scheint, dass Sam nicht

genau weiß, was sie will. Zumindest macht sie keinen

stabilen Eindruck auf mich.“

„Du kannst sie nicht leiden, stimmt’s?“

„Natürlich kann ich sie leiden. Und ich finde, dass sie

eine fabelhafte Erscheinung ist. Wolltest du vielleicht das

hören?“

„Nein!“ Jasmin rückte sich auf ihrem Stuhl zurecht

und fragte dann: „Könntest du dir vorstellen, mit ihr ins

Bett zu gehen?“

Sebastian verschluckte sich fast und prustete etwas

Erdbeermilch in den Becher.

„Sag mal, Jasmin, willst du mich verarschen? Was

bezweckst du mit deiner ganzen Fragerei? Wozu hat sie

denn ihren Rudi? Der besorgt es ihr doch, oder etwa

nicht?“

„Na ja, der ist leider schwul, und Samantha nur sein

Alibi“, sagte Jasmin trocken. Während Sebastian noch

26


nach einer Antwort suchte, fuhr Jasmin fort: „Auch

wenn der sehr männlich aussieht, täuscht das noch lange

nicht über seine tatsächlichen Ambitionen hinweg. Und

darüber ist Samantha nicht besonders glücklich, wie du

dir vielleicht denken kannst. Sie weiß nicht, wie sie sich

verhalten und was sie tun soll.“

„Und was hab ich damit zu tun? Soll ich vielleicht den

Zuchtbullen spielen und Samantha entjungfern?“

„Na ja, so ähnlich“, flüsterte sie und sah sich dabei

besorgt im Lokal um. „Du hast doch einige Erfahrung auf

diesem Gebiet.“

Sebastians Gesicht zog eine hässliche Grimasse, als er

antwortete:

„Du hast mich wohl beobachtet oder woher stammen

deine Informationen? Den größten Teil meiner Zeit

verbringe ich mit euch …, also gut, hin und wieder bin

ich auch mit einer Frau zusammen, aber … Ich meine, die

übrige Zeit gehört doch der Musik!“

Jasmin strahlte.

„Also wirst du es tun?“

„Du willst wohl dabei die Kerze halten?“

„Warum eigentlich nicht, vielleicht kann ich ja was

lernen …“

Die Zeit war vorangeschritten. Sebastian wies Jasmin

darauf hin, dass sie sich ins Kino aufmachen sollten, wenn

sie den Film noch sehen wollte. Er legte auch kaum Wert

darauf, dieses verwirrende Gespräch fortzuführen.

Nach der Vorstellung begleitete Sebastian Jasmin ins

Internat zurück und wollte sich von ihr verabschieden,

als sie ihn umarmte. Sie presste ihren Körper ganz eng

an seinen. Er spürte ihre straffen Brüste. Das Blut schoss

ihm in den Kopf. Es war zu dunkel, als dass Jasmin seine

Verwirrung bemerkt hätte. Sie küsste ihn beherzt auf den

Mund und bedankte sich für die schönen Stunden, die sie

miteinander verbracht hatten. Im selben Augenblick war

sie im Dunkel des Flurs verschwunden.

27


Leicht benommen bewegte sich Sebastian durch die

menschenleeren Straßen.

Als er endlich in seinem Bett lag, ließen ihn die

Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Stunden wälzte er

sich hin und her, bis er schließlich doch einschlief.

*

Am Morgen fühlte sich Sebastian wie gerädert. Es half

aber nichts, er musste aufstehen. Eddi und der Unterricht

warteten auf ihn. Der Spiegel im Bad zeigte ein Abbild der

vergangenen Nacht. Ein furchtbarer Anblick.

„Gegen welchen Panzer bist du denn gelaufen?“,

begrüßte ihn Eddi eine Stunde nach Sebastians mühsamen

Rettungsversuchen, die ihm offenbar misslungen waren.

Da der Unterricht begann, konnte Sebastian die

Antwort schuldig bleiben.

Frisch und gut gelaunt kamen einige Zeit später auch

Jasmin und Samantha in den Seminarraum getänzelt.

Jasmin sah einfach blendend aus. Sie tat so, als hätte es den

gestrigen Abend nicht gegeben. Sie bewegte sich in ihrer

typischen Art, dass einem warm ums Herz werden konnte.

Sebastians Augen hingen wie hypnotisiert an ihr. Auch

Samantha strahlte über das ganze Gesicht und ging betont

aufreizend auf ihren Platz. Dort nahm sie ihre üblichen

Sticheleien mit Eddi auf. Jasmin sah Sebastian hinreißend

an und dieser verfluchte den Tag und wünschte sich schon

jetzt, dass er schnell enden möge.

Der Tag entwickelte sich aber doch noch im Laufe der

Zeit. Am Nachmittag gingen die Freunde zusammen in den

Zoo, der gleich um die Ecke des Internats lag. Sie ulkten

durch die Zooanlagen, bestaunten die verschiedenen Tiere

und fütterten verbotenerweise die Affen im Freigehege.

Sie lachten viel und waren entspannt.

Wenn Sebastian sich unbeobachtet wähnte, versuchte

er einen Blick von Jasmin zu erhaschen, um etwas in

28


ihren Augen zu finden. Was genau, wusste er selbst nicht.

Wahrscheinlich ein Zeichen dafür, dass seine Verwirrtheit

wegen des vergangenen Abends auch sie getroffen hatte.

Doch Jasmin kicherte die ganze Zeit nur mit Samantha.

Sebastian fühlte sich vernachlässigt und zog sich in sich

zurück, was Eddi nicht lange verborgen blieb und ihm

gehörig auf die Nerven ging.

„Was ist los mit dir? Du sprichst kein Wort, machst ein

langes Gesicht und glotzt scheinbar desinteressiert in die

Gegend. Ist irgendetwas nicht in Ordnung? Und übrigens

siehst du immer noch ziemlich scheiße aus!“ Eddi beeilte

sich, in Deckung zu gehen, weil Sebastian nach ihm griff,

um ihn zu würgen.

„Blöder Hund, lass mich einfach nur in Ruhe!“, wetterte

er hinter Eddi her, der bereits aus sicherer Entfernung

Grimassen zog.

„Lass dich nicht so hängen, Kerl, wir wollen doch

heute nicht streiten“, versuchte Richie einzulenken.

„Wir streiten nicht, ich versuche nur, Sebastian ein

bisschen hochzunehmen, weil der stocksteif rumhängt

und mir die Laune verdirbt!“, rechtfertigte sich Eddi aus

sicherer Entfernung.

Als sie ihren Spaziergang durch die weitläufige

Anlage des Zoos beendet hatten, Sebastian trottete noch

immer unlustig hinterher, tranken sie im Biergarten des

Restaurants noch etwas und ließen den Tag langsam

ausklingen. Sie verabschiedeten sich am großen Portal,

Eddi nahm die jungen Damen mit zurück ins Internat. Als

Sebastian ihnen zuwinkte, bedachten ihn beide Mädchen

mit einem nachdenklichen Blick, den Sebastian aber nicht

deuten konnte. Zu einer Besserung seiner Laune konnte

das zumindest nicht beitragen.

„Willst du, dass wir über dein Problem reden?“, fragte

Richie seinen Freund.

Sebastian schüttelte den Kopf, er wollte nicht reden,

jedenfalls jetzt noch nicht.

29


„Ich bin heute einfach nicht gut drauf, morgen erzähle

ich dir vielleicht, was los ist, aber ich brauche noch etwas

Abstand. Kannst du das verstehen?“

Richie konnte nicht.

Sie liefen schweigend nebeneinander her, bis sie am

Hauptbahnhof angelangt waren. Dort trennten sie sich,

nachdem sie Genti vom Zug abgeholt hatten, und fuhren,

wie so oft, in entgegengesetzter Richtung davon. Sebastian

fuhr zu Alice.

*

Als er bei ihr klingelte und sie die Wohnungstür einen

Spalt weit öffnete, fragte sie erstaunt:

„Sind wir heute verabredet?“

„Nein, keine Angst, ich bin nur hier, um mit einem

vernünftigen Menschen ein paar Worte zu wechseln. Aber

wenn du keine Zeit hast, gehe ich sofort wieder, das macht

mir nichts.“

Alice bemerkte, dass Sebastian etwas bedrückte.

„Komm nur rein, ich freue mich, dass du da bist. Ich

muss nur schnell etwas fertig machen, wenn es dir nichts

ausmacht.“

Sebastian machte es sich auf der Couch bequem und

sah Alice bei der Arbeit zu. Sie bügelte. Nach ein paar

Minuten sah sie auf und bat Sebastian, etwas zu trinken

zu holen.

Er brachte ihr aus der Küche eine Cola mit und

ließ sich dann wieder in die Kissen fallen. Er seufzte

erleichtert. Es ging ihm besser. Die Nähe von Alice hatte

eine beruhigende Wirkung auf ihn.

„Na, wie war dein Tag?“, fragte Alice, nur um ein

Gespräch zu beginnen.

Sebastian schwieg eine Zeit lang, bevor er antwortete:

„Ach, ganz gut, wir waren im Zoo.“

„Wer ist wir?“

30


„Na, unsere Clique, du kennst sie doch“, sagte er

verständnislos.

Alices Gesichtsausdruck hatte sich geändert. Verfinstert

irgendwie. Sie wirkte beleidigt, fragte danach, ob auch

Mädchen mit von der Partie waren. Sebastian bejahte,

wunderte sich, zählte die Namen seiner Freundinnen auf.

„Sicher war dein Nachmittag in solch erlauchter

Gesellschaft unheimlich interessant, ganz besonders mit

den Mädchen“, gab Alice spitz von sich. „Wenn mich

nicht alles täuscht, sollten die heute Probe in der Oper

haben?“

„Woher soll ich das wissen?“, antwortete er leicht

gereizt.

„Du musst nicht gleich überreagieren, ich habe dir

nur eine ganz harmlose Frage gestellt, die eine normale

Antwort verdiente. Oder war da noch mehr, verschweigst

du mir etwas?“

Oh, diese merkwürdige Frau! Sebastian ärgerte sich über

sich, und vor allem über sie. Was zum Teufel ging es sie

denn an, mit wem er seinen Nachmittag verbrachte? Und

was hatte ihn dazu gebracht, hierher zu gehen? Sebastian

erhob sich und signalisierte, dass er sich verabschieden

wolle.

„Das war aber ein kurzer Besuch!“, zeigte sich Alice

enttäuscht.

„Na ja, ich wollte auch nur mal kurz vorbeischauen!“

Alice blickte ihm hinterher, Sebastian spürte ihre Blicke

in seinem Rücken. Dann schloss sie die Wohnungstür.

*

Sebastian empfand die Kühle des Hausflures als angenehm,

war es doch draußen ein noch immer heißer Juniabend.

Er quälte sich in die dritte Etage, wo er und seine Familie

lebte – leider ohne seinen Vater, den er schmerzlich

vermisste, seit er neun Jahre alt war. Seine Eltern waren

31


geschieden und seither war Sebastian mit seinen jüngeren

Schwestern bei Oma und Mutter aufgewachsen.

Den Part des Ernährers hatte seine ewig jung

erscheinende Großmutter übernommen, während seine

Mutter, eine Künstlerin, ihre Kinder größtenteils sich

selbst überließ. So wuchs Sebastian inmitten von vier

Frauen auf, die ihm jedoch keine häusliche Wärme

vermitteln konnten. Seine Schwestern litten unter dem

gleichen Problem. Es gab nie eine heile Familie, jeder tat

das, was er für richtig hielt und jeder konnte mehr oder

weniger tun und lassen, was er wollte. Es fragte ihn selten

einmal jemand, wo er war oder was er vorhatte. So war

es auch nicht verwunderlich, dass seine Mutter, die ihn,

als er endlich oben angelangt war, wie einen Fremden

taxierte.

„Lässt du dich auch mal wieder blicken? Ich hatte

beinahe vergessen, wie du aussiehst!“, scherzte sie.

Normalerweise kümmerte sie sich nicht um seine

Angelegenheiten, sorgte sich eigentlich nie, wenn er nach

Hause kam, derlei Gescherze bekam er auch nicht oft zu

hören. Ausgerechnet heute war ihm zudem überhaupt

nicht danach.

„Lass mich bitte in Ruhe, mein Tag war zum Kotzen!“,

antwortete er deshalb genervt.

„Das sehe ich auch ohne den freundlichen Hinweis auf

deinen Gemütszustand!“, sagte sie in ähnlichem Tonfall.

Sebastian wollte nur ins Bett und verabschiedete sich

kurz angebunden von ihr.

Als er dann aber endlich im Bett lag, war an Schlaf

nicht zu denken. Die Ereignisse des Tages ließen ihn

nicht zur Ruhe kommen. Seine Gedanken umkreisten

die Mädchen, die ihn wieder einmal verwirrt hatten. Kein

neuer Zustand. Und immer wieder verfiel er dann, wenn

seine Unsicherheit Besitz von ihm ergriff, in schlechte

Laune, die er an allen ausließ. Und das tat ihm leid. Ich

muss mich ändern, dachte er. Aber wie? Was soll ich tun? Die

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Ruhe wollte nicht einkehren, und so griff er nach einer

Weile seine Gitarre und spielte verhalten „Lady Jane“.

Eigentlich hatte Sebastian vorgehabt, die Schule zu

schwänzen, quälte sich aber dennoch hin, auch wenn

er bereits zwei Stunden verpasst hatte. Seine Freunde

begrüßten ihn entsprechend und Sebastians Laune

war sofort wieder im Keller. Nach ein paar frotzelnden

Bemerkungen von Eddi sah er sich gezwungen, einen

Apfel nach ihm zu werfen, der aber sein Ziel verfehlte

und stattdessen auf dem Tisch von Jasmin und Samantha

landete. Beide stoben erschrocken auseinander, der Apfel

hinterließ deutliche Spuren auf ihren Büchern.

„Eh, spinnst du? Schau dir die Schweinerei mal an!“,

hörte er Samantha schimpfen. „Sieh zu, dass du das wieder

sauber kriegst, sonst kannst du was erleben!“

„Sorry. Ihr habt was gut bei mir“, murmelte Sebastian,

während er den Tisch und die Bücher säuberte.

Jasmin grinste.

„Okay, du lädtst uns heute Abend ins Kino ein. Und

danach gehen wir in die Milchbar.“

„Ist das nicht ein bisschen übertrieben?“, fragte

Sebastian. „Was glaubt ihr, wie hoch mein Stipendium

ist?“

„Ach komm, du verdienst doch noch nebenbei mit

Musikmachen eine Stange Geld, du wirst schon nicht

gleich pleite gehen!“

Sebastian lachte und willigte ein.

*

Nach dem Kino gingen sie in die Milchbar. Jasmin steuerte

zielsicher denselben Tisch an, an dem sie Tage zuvor

gesessen hatten. Auf Jasmins Anspielungen ging Sebastian

nicht ein, zumal Samantha bereits fragend von einem

zum anderen schaute. Als sich die Kellnerin allerdings

erkundigte, ob es dasselbe sein dürfte wie das letzte Mal

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und sie die ihr unbekannte Samantha nach ihrem Wunsch

fragte, hatte diese den Braten gerochen.

„Ach, ihr wart schon einmal hier? Reizend, dass ich

das auch erfahre. Wieso habt ihr mir nichts davon erzählt?

Habt ihr etwas zu verbergen?“

Beide sahen sich an, schüttelten aber nur den Kopf,

denn leugnen war zwecklos, darüber reden konnte

Sebastian aber auch nicht und Jasmin wollte offensichtlich

nicht.

„Samantha, erzähle uns doch mal was über deinen

Rudi, wir wissen ja eigentlich fast nichts von ihm.“

Sebastian schlürfte seinen Milchshake und versuchte

dabei, so harmlos wie möglich auszusehen.

Samantha plapperte einfach drauf los.

„Ach, wisst ihr, das ist so eine Sache mit Rudi. Anfangs

war ich Feuer und Flamme, bis er lieber mit anderen

Männern im Operncafé rumhängt, als mit mir zusammen

zu sein. Ich hatte auch heute den Eindruck, dass es ihm

eigentlich ganz lieb war, dass wir verabredet sind. Was

meint ihr? Soll ich ihn vielleicht nachher noch abholen?

Er ist wieder in diesem Café“, sagte sie seufzend.

„Gute Idee, und wir kommen natürlich mit, nicht

wahr, Sebastian?“, warf Jasmin freudig ein.

„Ich weiß nicht“, erwiderte Sebastian wiederwillig,

„die Typen dort gehen mir tierisch auf den Geist, die tun

immer so tuntig und übertrieben, das mag ich nicht!“

„Ach, komm doch mit. Es wird ganz bestimmt lustig.“

Jasmin flehte mit unwiderstehlichem Augenaufschlag,

dem Sebastian kaum etwas entgegenzusetzen hatte.

Also gab er nach und sie machten sich zusammen auf

den Weg zur Oper.

Als sie die Kantine betraten, schlug ihnen eine Wolke

rauchgeschwängerter Luft entgegen. Im Saal herrschte

sprachliches Durcheinander, gelegentlich war ein Lachen

zu hören, fast alle Tische waren belegt. Rudi war nicht

zu entdecken. Sie standen eine Weile unschlüssig an der

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Eingangstür und sahen sich suchend um – bis schließlich

Rudi sie sah und sie an seinen Tisch holte. Dort saßen

auch einige Kommilitonen aus ihrer Klasse.

Sebastian nahm neben Rudi Platz, Jasmin ihm

gegenüber. Sie schaute ihn wortlos über den Tisch an,

sagte aber nichts.

„Was trinkt ihr?“, fragte Rudi. Die Mädchen

entschieden sich für Rotwein, Sebastian für Bier. Rudi

orderte bei der Kellnerin die Getränke und führte sich

dabei auf, als wäre das sein Laden. Offenbar genoss er es,

viele Leute um sich zu haben.

Sebastian war etwas genervt, sah sich dann verstohlen

die Anwesenden an. Einige kannte er vom Sehen,

durch einen Pfeiler fast verdeckt, hinten in der äußeren

Ecke, blickte ihn dafür ein sehr bekanntes Gesicht mit

strahlenden Augen an. Alice! Sebastian erstarrte. Sie hatte

ihn gesehen und winkte ihm lächelnd zu. Oh nein! Sein

Gruß zurück fiel recht halbherzig aus.

„Wem winkst du denn da?“, wollte Jasmin wissen.

„Alice ist hier!“

„Das ist nicht dein Ernst! Dann können wir uns

morgen auf was gefasst machen!“

„Uns hat sie vorhin ganz freundlich begrüßt“, sagte

Rudi, um Jasmin zu beruhigen. „Sie kam an unseren

Tisch und wäre auch hier geblieben, wenn sie nicht in

Begleitung gewesen wäre. Also beruhige dich. Was soll sie

denn dagegen haben, dass wir hier sind?“

Sebastian hatte ganz andere Probleme. Ihm war gar

nicht wohl dabei. Nun sah sie ihn hier mit zwei Frauen

und sie selbst hatte von einer Verabredung auch nichts

gesagt.

Jasmin aber ließ nicht locker.

„Ach, sie braucht dafür keinen Grund. Das hat

bestimmt wieder ein Nachspiel, wie ich sie kenne!“

Trotz der Bedenken blieben sie noch kurze Zeit

beisammen. Doch dann herrschte allgemeiner Aufbruch.

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Sebastian verabschiedete sich, wollte nur noch schnell hier

raus, aber Samantha hielt ihn zurück.

„Willst du Jasmin etwa alleine ins Internat laufen

lassen?“

Sebastian machte auf der Stelle kehrt.

„Entschuldigung, ich wollte nur schnell hier raus, ich

hätte schon noch gewartet“, rechtfertigte er sich, ging

dann aber hinaus und achtete nicht darauf, ob Jasmin ihm

folgte. Diese trat ihm in den Weg und sah ihn empört an.

„Mach mir jetzt bloß keine Szene“, sagte er. „Ich

habe gedacht, du gehst mit Sam und dass Rudi euch

zurückbringt!“

Jasmin sah, dass Sebastian leichenblass war.

„Ist dir nicht gut?“, fragte sie ernsthaft besorgt. Sie kam

näher und hakte sich bei ihm unter.

„Frag nicht, es geht ja schon wieder.“ Sebastian fühlte

ihre festen Brüste an seinem Arm und musste lächeln,

woraufhin Jasmin den Druck verstärkte, als hätte sie

gespürt, dass es ihm nicht unangenehm war.

Sie liefen durch die laue Frühlingsnacht, Jasmin

plapperte wie ein Wasserfall, während Sebastian stumm

zuhörte.

„Samantha und ich“, sagte sie dann, „bekommen bald

ein eigenes Zimmer in der Kantstraße. Wie findest du

das?“

Jasmin freute sich sehr darauf und erwartete eine

zumindest ähnliche Begeisterung von Sebastian, der aber

brummte nur:

„Toll, und wann?“

„Wir müssen noch bis zu den Semesterferien warten,

weil erst dann die Mädchen vom fünften Studienjahr

ausziehen“, antwortete sie.

Er hörte ihr gar nicht richtig zu, seine Gedanken

waren anderswo. Jasmin spürte es, ließ sich jedoch nichts

anmerken und redete fröhlich weiter:

„Du wirst uns doch beim Renovieren helfen?“

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„Selbstverständlich, wenn ich da bin, gerne!“, gab er

schnell zur Antwort. Es waren noch gut zwei Monate bis

zum Semesterende, und über einen solchen Zeitraum

konnte er nicht planen. Manches konnte passieren.

Sie waren am Internat angelangt, ohne es richtig

realisiert zu haben. Jasmins Redefluss endete jäh. Sie

verabschiedeten sich ohne große Worte. Sebastian machte

kehrt, um seine Straßenbahn zu erreichen. Jasmin schaute

ihm aus dem Dunkel des Hausflures nach, wie er sich

schnellen Schrittes entfernte. Das Klappern seiner Schuhe

hallte noch lange in ihren Ohren nach, bis es sich mit den

Geräuschen der Nacht vermischte und Sebastian ein Teil

derselben wurde.

37


IV

Der Sommer begann in diesem Jahr lange vor

dem kalendarischen Sommeranfang. Es war

unerträglich heiß und windstill. Dadurch litten

viele Menschen unter Herz-Kreislauf-Problemen und

der Dunstglocke über der Stadt. Die Luft war kaum zum

Atmen geeignet, erschwerend kam hinzu, dass sie sich nur

gering bewegte. Die Aktivitäten vieler Menschen sanken

auf ein Minimum herab.

Sebastian besaß, seit er seinen Führerschein hatte, noch

kein eigenes Auto, daher nahm er öfter als es seiner Mutter

lieb war, deren Fahrzeug, um die Seen außerhalb der Stadt

schnell zu erreichen. Er nutzte fast jeden freien Nachmittag,

um in den zahlreichen Baggerseen Abkühlung zu finden.

Seine Freunde begleiteten ihn, sooft sie es ermöglichen

konnten und ihr Stundenplan es zuließ.

Samantha und Jasmin nahmen gewöhnlich im Fond

Platz, während es sich Eddi auf dem Beifahrersitz bequem

machte. Sie hatten heute Nachmittag keine Probe. Darum

entschlossen sie sich spontan, an einen Kiessee zu fahren.

Sebastian holte sie vom Internat ab.

„Habt ihr euch genügend mit Proviant eingedeckt?

Wir bleiben dort, bis es dunkel wird!“

Sebastian hatte vorsorglich ausreichend für alle

eingepackt, denn wie er aus Erfahrung wusste, bekommt

man nach einiger Zeit ziemlichen Hunger. Die

Einkaufsmöglichkeiten dort draußen waren recht mager.

Es gab zwar eine kleine Kneipe, in der man preiswert

und gut essen konnte, aber dazu musste man sich wieder

38


ankleiden und ein Stück fahren. Das wollte er vermeiden,

darum war seine Kühltasche mit reichlich Nahrung und

Getränken obligatorisch. Er war mit einem Netzhemd

luftig gekleidet, trotzdem lief ihm der Schweiß den Rücken

hinab. Als sie am See angelangt waren, klebte sein Hemd

am Körper und die Rückenlehne des Autos war pitschnass.

„Lasst uns drüben an den Bahnschienen ein Plätzchen

suchen, da haben wir unsere Ruhe. Falls doch jemand aus

der Schule auftauchen sollte, sind wir unsichtbar!“

Eddis Vorschlag war einleuchtend und fand allgemeine

Zustimmung. Sie nahmen ihre Decken und sonstigen

Badeutensilien und liefen auf die andere Seite des Sees.

Hinter hohem Schilf und einigen vertrockneten

Sträuchern fanden sie ein vor neugierigen Blicken geschütztes

Fleckchen, das jedoch ungeschützt in der prallen Sonne lag.

„Meint ihr, dass uns die Hitze hier bekommt?“, wollte

Jasmin wissen, worauf Eddi antwortete:

„Klar doch, wir müssen nur öfter ins Wasser gehen!“

„Na ja, ich weiß nicht so recht, ob wir das hier

aushalten“, ergänzte Sebastian zweifelnd.

„Papperlapapp, wir sind jetzt hier, da bleiben wir, bis es

nicht mehr geht. Und wenn es schlimm kommt, können

wir uns immer noch auf den Präsentierteller direkt ans

Wasser legen!“

Samantha hatte sich inzwischen ihrer Kleidung

entledigt, die ungeordnet auf der Decke ausgebreitet lag.

Die Sache war damit für sie entschieden. Die anderen

folgten etwas widerstrebend ihrem Beispiel, was Eddi

ironisch kommentierte:

„Also gut, bleiben wir hier, man weiß ja nie, was sich

daraus noch entwickeln kann.“

Jasmin und Samantha sahen ihn fragend an, während

Sebastian beinahe laut losgelacht hätte. Er wusste genau,

worauf Eddi anspielte.

Sebastian kannte die Mädchen, wenn sie im Trikot

trainierten, aber im Bikini waren ihre geschmeidigen

39


Körper noch eine Nummer besser. Seine Augen sogen sich

bewundernd an ihnen fest, dass er bei seiner Betrachtung

sogar vergaß, sich hinzulegen. Sein Starren wurde auch

bald von Jasmin kommentiert, die ihn bereits ein Weilchen

beobachtet hatte.

„Benötigst du eine Extraeinladung oder besser ein

Foto von uns? Du siehst uns an, als kämen wir von einem

anderen Stern. Mach den Mund zu und kriege dich

wieder ein. Wenn du uns noch nicht genug angesehen

hast, dann ist das jetzt eine einmalige Chance, es zu tun!“

Jasmin legte sich in eine verführerische Position, während

Sebastian nach Worten rang.

„Na ja, das soll ein normaler Mensch aushalten, wie ihr

euch präsentiert!“

Mit einem müden Lächeln drehten sich die beiden um

und zeigten ihm ihre zauberhaften Rückseiten.

Sie hatten alle ihren Spaß und einen wirklich

schönen Nachmittag. Entspannt lagen sie auf ihren

Decken, versteckt zwischen hohem Schilf, und immer

wieder sprangen sie ins Wasser. Vor allem Jasmin und

Sebastian alberten herum, neckten sich, verstanden sich

ausgezeichnet.

„Wer zuerst im Wasser ist, darf sich was wünschen!“

Eddi hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als er bereits

losstürmte. Die anderen hatten ihre liebe Mühe, ihm zu

folgen. Sie tobten im kühlen Nass. Danach verschanzten

sie sich wieder auf ihren Decken hinter dem Schilf.

„Das war einfach nur gut!“, sagte Jasmin, während sie

sich mit einem Handtuch die Haare trocknete.

„Du solltest einen Frisör mit dieser Aufgabe betrauen,

der weiß vielleicht, wie man durch das Gestrüpp kommt,

ohne sich zu verletzen!“, lästerte Sebastian, als er sie bei

ihrem Tun beobachtete.

„Na warte, wenn ich dich kriege, kannst du was

erleben!“ Sebastian schnitt ihr aus sicherer Entfernung

Grimassen und Jasmin war unterwegs, ihn zu fangen.

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„Hüte dich, ich meine es ernst!“, brachte sie keuchend

hervor. Gegen Sebastians Schnelligkeit hatte sie keine

Chance. Aber sie nutzte eine Unachtsamkeit, als er mal

wieder nach fremden Frauen sah, und griff sich ihn.

„Hilfe, die bringt mich um!“, schrie er, dass es über

den ganzen See schallte. Samantha und Eddi zeigten

sich hinter dem Schilf und sahen vergnügt dem Treiben

der beiden zu. Die neckten sich noch eine Weile, bis sie

endlich zusammen ins Wasser sprangen. Die Abkühlung

war nötig und kam genau im richtigen Augenblick. Jasmin

hatte bemerkt, dass Sebastian, als sie ihm wie zufällig über

den Bauch fuhr, zusammengezuckt war und sich kaum

noch beherrschen konnte.

„Bist du verrückt, mich hier vor allen so anzumachen?“,

presste er zwischen den Zähnen hervor.

Jasmin sah ihn belustigt an.

„Ich wollte doch nur testen, ob deine Reflexe noch

funktionieren!“

„Du weißt wohl immer ganz genau, was du willst?“

„Kann sein!“, antwortete Jasmin, bevor sie vor ihm

wegtauchte.

Sebastian bemühte sich, ihr zu folgen, was ihm jedoch

nicht gelang, weil Jasmin als gute Taucherin lange unter

Wasser bleiben konnte. Sie war aktive Schwimmerin und

Sebastian sah gegen sie keinen Stich. Er war erleichtert, als

sie laut prustend in einiger Entfernung wieder auftauchte

und ihm zurief, dass sie an Land möchte. Sebastian

schwamm zu ihr und gemeinsam liefen sie zu ihren

Decken, auf denen sie sich erschöpft niederließen.

„Du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt, als

du so lange unter Wasser geblieben bist. Mach das nicht

noch einmal!“, schimpfte Sebastian mit ihr.

„Du hattest doch nicht etwa Angst um mich?“

„Wie kommst du denn darauf? Früher oder später

wärst du sowieso aufgetaucht, mit aufgedunsenem Körper,

bläulich und hässlich!“

41


„Du bist aber eklig zu mir! Wieso rede ich eigentlich

noch mit dir, wo du doch so blöd bist?“

Eddi und Samantha hörten sich belustigt den

Wortwechsel an.

Jasmin blickte auf und sah sich zu einem „Was ist?“

genötigt, erntete aber nur ein breites Grinsen.

„Das ist unterhaltsam, macht ruhig weiter, so können

wir wenigstens noch etwas für’s Fach Improvisation

lernen!“, spottete Eddi.

Samantha sah sich genötigt, auch ihren Senf

dazuzugeben:

„Eddi hat recht, ihr seid ein echter Leckerbissen, hört

bitte nicht auf!“

„Sebastian, komm! Die sind doof! Ich will zu den

Wacholderbüschen. Dort sind wir außer Sicht und können

ungestört weitermachen.“ Jasmin erhob sich.

Sebastian folgte ihr, bis sie von Eddi und Samantha

nicht mehr gesehen werden konnten.

„Das ist aber ein lauschiges Plätzchen“, stellte Sebastian

anerkennend fest und ließ sich theatralisch fallen. „Sollen

wir die anderen rufen?“

„Bist du verrückt? Warum, glaubst du, bin ich mit dir

hier?“

„Okay, ich halte schon meinen Mund!“

Sebastian war etwas verunsichert, sagte aber nichts

mehr. Lange jedoch hielt er es nicht aus, die Hitze war

unerträglich und so nah neben Jasmin zu sein, ebenso. Als

Jasmin auch noch ihr Bikinioberteil auszog, floh er rasch

Richtung See. Die Abkühlung war nur von kurzer Dauer.

Die Hitze wurde hingegen schlimmer. Weiter ungeschützt

in der Sonne zu liegen, wäre glatter Selbstmord gewesen.

Sie entschieden sich zu verschwinden. Da keiner von

ihnen Lust hatte, sich zu all den anderen Besuchern des

Sees in den Schatten zu legen, fuhren sie wieder in die

Stadt und ließen den Tag in einem Biergarten ausklingen.

Immer wieder sah Sebastian vertohlen zu Jasmin. Die

42


prickelnde Atmosphäre, die noch am See zwischen ihnen

geherrscht hatte, war nun einem kameradschaftlichen

Umgang gewichen. Er war verwirrt, versuchte aber, es sich

nicht anmerken zu lassen.

*

In dieser Nacht konnte Sebastian keinen Schlaf finden.

Kälteschauer und Hitzewellen lösten sich einander ab.

Und als er sich zuguterletzt noch übergeben musste,

war ihm klar, dass er sich einen handfesten Sonnenstich

eingefangen hatte, der ihn für einige Tage ans Bett fesselte.

Als er erstmals versuchte, wieder aufzustehen, waren

seine Knie butterweich. Er konnte nichts tun, darum

verbrachte er die meiste Zeit des Tages auf der Couch,

um seinen fehlenden Schlaf nachzuholen. Ein Drei-Tage-

Fieber hatte ihn völlig ausgelaugt.

In der Zwischenzeit fehlten ihm seine Freunde. Richie

sah als Erster nach ihm und gab auch sofort seinen

Kommentar ab:

„Dich kann man unmöglich irgendwohin lassen, ohne

dass du Ärger machst …!“

An die Art seines Freundes, tröstende Worte zu finden,

war Sebastian seit vielen Jahren gewöhnt.

Genti war ähnlich strukturiert und konnte sich wenig

später eine nette Bemerkung nicht verkneifen:

„Schuld sind nur die Weiber, die blockieren deine

Hirnströme, und was von dem bisschen Grips noch übrig

ist, sitzt einen Meter tiefer!“

In dieser Art und Weise fielen die Genesungs -

bekundungen seiner Freunde aus. Einen schüchternen

Versuch dagegen machte Jasmin, die sich ernsthaft nach

Sebastians Befinden erkundigte. Das war Balsam für ihn

und gab seiner arg gebeutelten Seele Auftrieb.

Als später auch noch der halbe Sun-Club seine

markigen Sprüche abgelassen hatte, war Sebastian froh,

43


endlich wieder allein zu sein. Bei so viel Mitgefühl kann

man ja nicht gesund werden, stellte er fest.

Als er endlich wieder in die Schule gehen konnte, war

ihm nur der Besuch der Lehrveranstaltungen möglich, in

denen kein körperlicher Einsatz erforderlich war. Aber

Alice zeigte Verständnis und aufrichtiges Mitgefühl. Sie

ließ ihn in Ruhe.

*

Erst am Wochenende war Sebastian wieder relativ fit.

Zum Glück, denn die Band hatte einen Auftritt, den er

nicht verpassen durfte.

Hans Ullrich, von seinen Freunden nur Fader genannt,

stand in der linken Ecke der Bühne und hielt sich an seiner

Bass-Gitarre fest. Peter saß auf einer seiner Boxen, wo er

sich von deren Vibrationen inspirieren ließ, wie er stets

betonte. Seine langen Finger glitten wie Tentakel über die

Gitarre und entlockten ihr dabei erstaunliche Töne. Die

langen, dünnen Haare fielen ihm wirr ins Gesicht.

„Let spend the night together“ von den Stones

gehörte seit Neuestem zu ihrem Repertoire. Ari mühte

sich aus voller Kehle, Fuzzi hämmerte auf dem Klavier

und Sebastian bearbeitete seine Gitarre, während er den

Background sang. Er verzichtete auf akrobatische Einlagen

und exstatische Ausfälle und konzentrierte sich lieber auf

sein Spielen. Durch seine Bewegungsarmut hinter dem

Mikrofon wirkte er immer etwas steif.

Gegen halb elf machten sie eine Pause. Sebastian hatte

sich an die Bar gesetzt und eine Cola bestellt.

„Du bist ja schon wieder ganz schön fit!“, vernahm

er eine ihm wohlbekannte Stimme. Sebastian zuckte

zusammen. Als er sich umdrehte, blickte er in Alices blaue

Augen. Mit ihr hatte er am wenigsten gerechnet. „Es tut

mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken“, begrüßte sie

ihn lachend.

44


„Wie kommst denn du hierher? Du hättest mir ruhig

sagen können, dass du herkommst, dann hätte ich einen

Tisch reserviert“, sagte er etwas verlegen.

„Ich wollte dich überraschen!“

Alice würde ihm von nun an auf die Finger sehen, was

Sebastian ein leichtes Unbehagen verursachte.

Da die Pause bald beendet war, ging er zurück hinter

die Bühne. Dort atmete er tief durch. Doch die Aufregung

blieb. Allerdings spielten sie als nächstes „Pictures of Lilly“

von The Who, genau der richtige Einstieg nach der Pause.

Alice hielt sich die Ohren zu, Lautstärke war nicht ihr

Ding. Dafür waren die Fans umso begeisterter. Danach

wurde es verhaltener, die leisen Töne dominierten – sehr

zur Freude von Alice und einiger Paare, die endlich ihrem

lang ersehnten Körperkontakt nachgehen konnten.

Erst weit nach Mitternacht entließen die Fans, die

immer wieder Zugaben gefordert hatten, den Sun-Club.

Die Band war noch mit dem Abbau beschäftigt, doch

Sebastian registrierte die wartende Alice, die ihn nicht aus

den Augen ließ und schließlich gemeinsam mit Sebastian,

Richie und Eddi in ein Taxi stieg, um heimwärts zu

fahren.

Es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Sie ulkten

herum und benahmen sich wie Betrunkene, was zumindest

auf Richie und Eddi auch zutraf. Während der Fahrt hatten

sie entschieden, noch auf einen Schlummertrunk mit zu

Alice zu gehen. Sebastian wurde es immer unangenehmer,

er wusste aber nicht, wie er sich aus dieser Situation

herausreden konnte. Beruhigend war, dass seine Freunde

dabei waren und Alice sich vor ihnen sicherlich benehmen

würde.

Alice hatte für jeden ein Bier bereitgestellt. Sie brachte

das eiskalte Getränk und stellte Chips und Cracker auf

den Tisch.

„Na, dann Prost!“, sagte Richie und hob sein volles

Glas.

45


„Das war wirklich eine gute Idee, uns einzuladen.

Vielen Dank“, sagte Eddi.

Sebastian ergänzte augenzwinkernd:

„Ansonsten würden wir wohl jetzt schon im Bett

liegen.“

„Fragt sich nur, in welchem Bett?“ Eddis Bemerkung

löste Gelächter bei den Jungs aus.

Alice dagegen schaute zu Sebastian, der sich verkrampft

an seinem Bier festhielt und hoffte, dass die Jungs nichts

mitbekamen. Das taten sie nicht, amüsierten sich im

Gegenteil großartig und erst um drei Uhr brachen die

Freunde gutgelaunt auf.

„Wollen wir laufen oder hat jemand einen besseren

Vorschlag?“, wollte Sebastian wissen, während sie bereits

in Richtung Park unterwegs waren.

„Du kennst doch den Weg, wenn ich mich nicht irre?“,

erwähnte Richie wie beiläufig, wofür er eine Kopfnuss

bekam.

„Lasst uns laufen, wir waren heute lange genug im

Mief!“, bekräftigte Eddi.

„Außerdem haben wir jetzt die Möglichkeit, die Sonne

mal aufgehen zu sehen!“, sagte Richie und schaute dabei

Sebastian provokativ an.

*

Eddi übernachtete bei Sebastian. Er wurde zuerst wach

und glaubte, schemenhaft Jasmin und Samantha im

Zimmer stehen zu sehen.

„Wann sind die denn ins Bett gegangen? So wie die

pennen, kann das noch nicht lange her sein?“, fragte Jasmin

Sebastians Oma, die die beiden offenbar hereingelassen

hatte.

Nun glaubte Eddi seinen Sinnen, schlug die Augen

ganz auf, zwinkerte den Mädchen zu und weckte Sebastian

mit einem rüden Schlag in die Seite.

46


Während sich die Jungs in der Küche stärkten, schlugen

Jasmin und Samantha einen Kinobesuch vor. Sebastian

blickte verstohlen auf seine Armbanduhr und erschrak.

„Meine Güte, so spät schon! Ich muss los, um beim

Verladen der Technik zu helfen. Wenn ihr wollt, dann

kommt mit. Unternehmen können wir danach noch

etwas.“ Sebastian wartete die Antwort gar nicht ab, er zog

sich bereits die Schuhe an und war fertig. „Los jetzt, ich

will nicht schon wieder zu spät kommen!“, drängte er die

anderen.

„Erst pennst du bis in die Puppen, dann lässt du uns

hier stundenlang warten, und auf einmal kann es dir

nicht schnell genug gehen!“, schimpfte Samantha pampig.

„Und außerdem: Wo seid ihr gestern nach dem Konzert

eigentlich hin verschwunden? Wir haben auf euch

gewartet.“

„Was geht dich das an? Ich bin dir keine Rechenschaft

schuldig! Und woher sollten wir wissen, dass ihr so spät

noch vorbeikommen wollt? Ich hab euch den ganzen

Abend jedenfalls nicht gesehen.“

„Nun streitet doch nicht“, versuchte Jasmin zu

beschwichtigen.

Eddi verhielt sich ruhig und ging schon mal zur Tür.

Er hielt diese offen und das wirkte scheinbar mehr als

das Gehetze von Sebastian, denn nun verließen auch die

Mädchen ohne einen weiteren Kommentar die Wohnung.

In der Straßenbahn entschuldigte sich Sebastian für

seinen rüden Tonfall.

„Wenn ich unter Zeitdruck bin, reagiere ich manchmal

etwas heftig. Verzeiht, ihr Hübschen, es soll nach

Möglichkeit nicht wieder vorkommen. Ich werde in mich

gehen!“

„Dann fang schon mal damit an. Am besten, wir

vergessen deinen Ausfall und du lädst uns von deiner Gage

zu einem kleinen Imbiss ein!“

Sebastian war nicht begeistert, sagte aber nichts mehr.

47


Das Abräumen der Anlage verlief reibungslos, alles war

flott in den Fahrzeugen verstaut.

Beim obligatorischen Nachmittagskaffee wurde der

Vorabend noch einmal diskutiert, auch Verbesserungen, was

die Qualität einiger Stücke betraf, lang und breit erörtert.

Ein nerviges, von Max gern zelebriertes Prozedere, das den

Mädchen gehörig stank und sich bis zum Abend hinzog.

Eddis gelegentliche Blicke zur Uhr, die er demonstrativ

nah an sein Gesicht hielt, unterstrichen den allgemeinen

Unmut, den Sebastian dann auch aussprach:

„Wie lange wollen wir denn noch debattieren? Es ist

doch nun wirklich alles gesagt, jeder weiß, was er zu tun

hat, den Rest können wir auf der nächsten Probe klären!“

„Du hast ja recht, ich denke auch, wir sollten jetzt

zum Ende kommen. Oder gibt es noch Einwände?“ Max

blickte in die Runde.

„Nein, ist gut jetzt. Lasst uns endlich gehen, sonst

bekommen wir noch Stress mit Sebastians Mädels“,

beendete Peter den Nachmittag, der bereits ein Abend war.

*

„Das wurde aber auch Zeit!“, atmete Eddi auf, als sie

endlich wieder draußen standen.

„Tut mir leid, Leute“, entschuldigte sich Sebastian.

„Jetzt gehör ich ganz euch. Was machen wir noch?“

Er sah die Mädchen an und erst jetzt fiel ihm auf, dass sie

sich in Schale geschmissen hatten. Seine Augen hingen an

Jasmin. Deren Haarpracht war zu einem Knoten gesteckt,

was ihren schlanken Hals und die abfallenden Schultern

besonders betonte. Sie ähnelte einer Spanierin, die sich für

den Flamenco herausgeputzt hatte. Ein eleganter Anblick,

von dem Sebastian nicht unbeeindruckt blieb.

Als Samantha mitbekam, wohin Sebastian starrte, trat

sie ihm kurzerhand gegen das Schienbein und zischte ihn

an:

48


„Vor lauter Jasmin bemerkst du mich gar nicht? Ich bin

auch noch da, sieh mich gefälligst an!“

Sie war in der Tat einen Blick wert. Ihr schwarzes Haar

hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und sie trug

ein tief ausgeschnittenes, einfarbiges Kleid, das kurz unter

dem Hintern endete.

„Wow!“, entfuhr es Sebastian anerkennend.

„Wollen wir nicht langsam aufbrechen?“, unterbrach

Eddi die Himmelei. „Die Nacht ist noch jung und für

Heldentaten wie geschaffen!“

Sie fuhren mit einem Taxi in die City, schlenderten

über den Marktplatz und kehrten in Auerbachs-Keller ein,

wie schon zweihundert Jahre vor ihnen der junge Goethe.

[...]

49


XVI

[...]

Am Nachmittag des nächsten Tages plagte Sebastian aber

doch das schlechte Gewissen. War er gestern noch froh,

ihr entkommen zu sein, so zog es ihn jetzt erneut zu ihr.

Er wollte nach Alice schauen und ein klärendes Gespräch

mit ihr führen. Vielleicht half ihnen das, doch in Frieden

auseinanderzugehen …

Er überdachte noch einmal den Zustand von Alice, als

sie ihn an seinem Aufbruch hindern wollte. Auch dachte

er daran, was ihren Wahnsinn ermöglicht haben könnte.

Was sollte er tun?

„Ich sollte mich kümmern und zu ihr fahren“, flüsterte

er leise. „Ich habe irgendwie ein ungutes Gefühl!“

Es bedurfte einiger Kämpfe, dass Sebastian sich

überwinden konnte, zu Alice zu fahren.

Gegen 14 Uhr traf er in ihrer Wohnung ein. Aus

irgendeinem unerklärlichen Grund wählte Sebastian

den Weg durch den Garten, um von dort über die

Hintertreppe in Alices Wohnung zu gelangen. Die

Tür war nicht abgeschlossen und Sebastian klopfte

zaghaft an die Fensterscheibe, bevor er eintrat. Ivan

sprang ihm winselnd entgegen und rannte zielstrebig

ohne Begrüßung an ihm vorbei die Treppe hinunter.

Sebastian sah ihm verwundert nach. Dann setzte er sich

wieder in Bewegung und nahm ganz nebenbei wahr,

dass das Radio lief. Auch war die Deckenbeleuchtung

eingeschaltet. Er fand dies eigenartig, weil es im

50


Wintergarten und in den anderen Räumen hell und

sonnendurchflutet war.

In der Wohnung hing ein süßlicher Geruch, ein wenig

Alkohol und Zigarettenqualm, aber auch noch etwas anderes,

was Sebastian nicht einzuordnen wusste. Es erinnerte ihn

irgendwie an Kirschkompott oder frische Mandeln. Genau

konnte er die Mischung nicht beschreiben. Das war beim

Anblick der gewaltigen Unordnung, die ihm jetzt erst

auffiel, auch gar nicht möglich.

Die sonst penibel eingerichtete Wohnung glich einem

Schlachtfeld! Überall auf dem Fußboden lagen Alices

Kleidungsstücke verstreut – achtlos über den Tisch

geworfen oder zerknittert auf den Stühlen, ja, sogar auf

dem Flügel lag ausgebreitet ein Wintermantel, der jedoch,

wie Sebastian erkannte, nicht zu Alices Garderobe gehörte.

Für einen Augenblick war er geschockt.

„Was ist nur in Alice gefahren?“, sagte er leise zu sich

selbst. Der Zustand ihrer Wohnung und der eindringliche

Geruch, der ihm erst jetzt wieder bewusst wurde, passten

nicht zu ihr.

Wie in Trance bewegte er sich im Wohnzimmer und

ging zum Lichtschalter hinüber, um die überflüssige

Beleuchtung im Schlafzimmer zu löschen, dabei fiel sein

Blick zufällig hinter den Flügel. Dort lag Alice. Räuspernd

und mit einem kaum hörbaren „Hallo?“ versuchte

Sebastian, auf sich aufmerksam zu machen, doch sie

reagierte nicht.

Achselzuckend wollte er sich abwenden, doch plötzlich

traf es ihn wie ein Schlag auf den Hinterkopf. Alices

Körperhaltung sah unnatürlich aus, wie sie so dalag. Etwas

stimmte nicht. Sebastian atmete tief durch und ging

vorsichtig zu ihr hinüber.

„Alice, was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?

Aufwachen!“

Alice konnte ihm nicht antworten – Alice war tot!

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+++ Ende der Leseprobe +++

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