50 BackstageDenkanstößedurch PunkDie neueBiographie vonCampinoFoto: Daniel HoferCampino ist DeutschlandsbekanntesterPunkrocker. Jetzt istseine Autobiografie“Hope Street” erschienen.Darin erzählt derDüsseldorfer von seinerLiebe zu Englandund zum Liverpool FC,von seiner Familieund den Toten Hosen,mit denen er denSoundtrack zuseinem Buch aufgenommenhat.Mit einem gut gelauntenCampino aliasAndreas Frege sprachunser MitarbeiterOlaf Neumann.Campino, kannst du nachvollziehen, dass esFans gibt, die sich jedes einzelne Konzert derToten Hosen anschauen?Campino: Das kann ich sehr wohl nachvollziehen,weil ich selber Bands wie den Clash, den Adictsund den Vibrators ständig hinterhergefahren bin,auch in andere Länder. Bei dieser Art von Fantumgeht es gar nicht mehr nur um die Konzerte, sondernum eine Abenteuerreise mit Gleichgesinnten.Das ist eine Insider-Geschichte. So ist es auch beimFußball. Man kann schon im Zug auf dem Weg insStadion großen Spaß haben. Dabei könnenFreundschaften entstehen, die unter Umständenjahrelang halten.Was fasziniert dich am Liverpool FC so sehr,dass du möglichst alle Spiele live anschauenwillst?Campino: Man kann sich da hineinsteigern. Es istwie bei einem Sammler. Je besser du einen Vereinkennst, desto mehr zieht es dich rein, so dass duein regelrecht schlechtes Gewissen hast, wenn du
Backstage51mal nicht im Stadion bist. Du redest dir ein, dassdu als treuer Fan mit deiner Energie eine Rollespielen könntest, was den Spielausgang betriff.Du nimmst die Glücksgefühle und Niederlagenzu 100 Prozent wahr.Hat deine Faszination für den LFC auch etwasdamit zu tun, dass Liverpool eine ausgesprocheneMusikstadt ist?Campino: Ganz klar ja. Als Neunjähriger konnteich nicht ahnen, was Liverpool wirklich für eineStadt war. Ich wusste nicht, ob sie hübsch oder rau,arm oder reich war. Aber je besser ich sie und ihreMenschen kennenlernte, umso näher war mir dieserVerein. Humor spielt dort eine große Rolle.Die Tatsache, dass die Beatles aus Liverpoolkamen, hat mich noch mehr begeistert. Diese vierJungs stammen aus schlichten Verhältnissen undhaben in den zehn Jahren ihrer Existenz viele zeitlose,lebenskluge Lieder herausgehauen. Ein einmaligesZusammenkommen von Talent, Glückund positiver Lebenseinstellung.Der Stürmer Kevin Keegan vom Liverpool FCwar ein Held deiner Jugend. Warst du von ihmsehr enttäuscht, als er zur Hoch-Zeit des Punkmit Smokie die Schlager-Pop-Ballade “HeadOver Heels In Love" aufnahm?Campino: Mit seinen Locken sah er durchaus wieein Sänger aus. Für mich war er 1971/72 ein Popstar.Als er später zum HSV wechselte und Singlesrausbrachte, habe ich ihm immer noch die Daumengedrückt. Da war es mir egal, was er sang, eswar halt Kevin Keegan.Punk war der Sound der Unzufriedenen.Womit warst du 1977 nicht einverstanden?Campino: Mit überhaupt nichts. Für mich warPunk lebensbejahend mit einer total positivenEnergie. Natürlich haben die Bands mit ihren Textenprovoziert, von Zerstörung geredet und “NoFuture” zur Parole erhoben, aber es war alles andereals das. Wir hatten unheimlich viel Spaß ander Provokation und Destruktion. Wir wollten unsnicht nur von unserer Elterngeneration absetzen,sondern auch von den Hippies. Punk entwickeltesich aber schnell in eine konstruktive Richtung.Bands wie The Clash benutzten die eigene Kraft,um Dinge zu bewegen, siehe “Rock Against Racism”.Diese Ideologie gefiel mir sehr. Das Klassenbewusstseinin England war viel krasser als in derBundesrepublik. Die Working-Class-Attitudesprach mir aus dem Herzen.1978, mit 16, wurdest du Sänger der Band ZK,aus der 1982 die Toten Hosen hervorgingen.Warum wolltest du unbedingt auf die Bühne?Campino: Es hat mir unglaublich viel Spaß gemacht,mit ein paar anderen Pappnasen irgendwoim Keller zu stehen und einen Mordsradau zu machen.Jeder hatte eine Plastiktüte mit drei FlaschenAltbier mitgebracht. Niemand von uns trug sichmit irgendwelchen Karrieregedanken. Dass manmit Musik auch Geld verdienen konnte, entwickeltesich erst sehr spät. Wer damals nicht in einerBand spielte, schrieb für ein Fanzine oder machteFotos. Wir waren sehr eng mit der DüsseldorferKunstszene verbunden, Leute wie Immendorffund Knoebel mochten das Dadaistische am Punk.Und wir wiederum bekamen von ihnen Denkanstöße.Daraus entstanden dann Parolen wie “Wirsind die Türken von morgen” oder “Zurück zumBeton”.Deine englische Mutter schämte sich anfangsfür deine punkige Haltung und dein Aussehen,weshalb du jahrelang nicht mehr mitihnen gemeinsam frühstückte. Hast du je versucht,ihr zu erklären, was dir Punk bedeutet?Campino: Das Problem war, dass ich das nichtgroß erklären musste, weil sie die Texte ja verstand.Wenn man als 14Jähriger “If It Ain't Stiff, It Ain'tWorth A Fuck” auf der Jacke stehen hat, dann istklar, dass eine Mutter dieses Kleidungsstück nichtgerne wäscht. Auch “God Save The Queen / HerWir hatten unheimlich vielSpaß an der Provokationund DestruktionFascist Regime” war ein Angriff auf die Wertvorstellungenmeiner Mutter. Sie hat den Schalk unddie Ironie dahinter nicht verstanden, sondernmachte sich Sorgen, dass unsere englische Familiemit mir plötzlich ein schwarzes Schaf hatte unddie Nase rümpfen könnte. Ende der 1970er bekammeine Schwester von meiner Mutter sogar verboten,mein Zimmer aufzusuchen. Ich hatte ihrimmer Platten vorgespielt und sie musste raten,welche Band gerade zu hören war. Meine Mutterhat versucht, zu retten, was zu retten war. Esbrauchte eine gewisse Zeit, bis sie verstandenhatte, dass Punk nicht nur destruktiv ist. Nachdemes bei meinen Eltern einmal klick gemacht hatte,war es auch gut.In den USA hattest du vor einiger Zeit ein gruseligesErlebnis mit Waffen. Während derDreharbeiten zu der Dokumentation “Desperado"über Wim Wenders wurde auf das Teamgeschossen. Was war da los?Campino: In Texas wollten wir eine Aufnahmevon der Kleinstadt Terlingua aus der Luft machen.Für die Drohne hatten wir keine Genehmigung.Sofort wurde von irgendwoher geballert - abernicht auf die Drohne, sondern auf die Kameraleute.Wir können uns in Deutschland nicht vorstellen,dass viele Amerikaner eine Flinte nebendem Bett stehen haben. In Texas kann es gefährlichwerden, in der Dunkelheit über Felder zu laufen.Wenn du privates Land betrittst und beiAufforderung nicht sofort parierst, kann es durchauspassieren, dass du niedergeschossen wirst. InAmerika wird die Verteidigung von Leib undSeele ganz anders definiert als hier.Warum war es dir wichtig, auch die Geschichtedeiner Eltern und Großeltern zu erzählen?Campino: Ursprünglich wollte ich nur darüberschreiben, wie ich als Fan eine Saison lang meinenVerein begleite und was drumherum geschieht.Aber dann wurde mir klar, dass ich die deutscheSeite daneben stellen wollte. Ich habe mich tief inunsere Familiengeschichte hineingegraben. MeinVater und mein Großvater haben die Briefe, die siesich gegenseitig schickten, alle aufgehoben. Ichhabe über diesen Briefwechsel viel über meineenglischen und deutschen Großeltern erfahren.Auf diese Weise bin ich mir meiner Wurzeln mehrbewusst geworden.Das Hörbuch “Hope Street” beinhaltet auchsechs Lieder aus oder über Liverpool, gesungenund gespielt von dir und Tote-Hosen-GitarristKuddel.Campino: Ich fand den Gedanken sympathisch,mit dem Buch auf Lesereise zu gehen und dabeiakustische Lieder zu spielen, die mit Liverpool zutun haben. “Penny Lane” von den Beatles zum Beispielist die Beschreibung einer Location in Liverpool.“Ferry Cross The Mersey” ist eineLiebeserklärung an die Stadt von Gerry & ThePacemakers - neben unserem selbstgeschriebenLied “Long Way To Liverpool” von 1994. Im Proberaummerkten wir, dass die eine oder andereNummer auch für die ganze Band funktionierenkönnte. Die anderen waren dann sehr schnell entflammt.Ein schönes Zeichen, dass die Band gernemit mir teilt, was ich gerade mache. Das Buch istdadurch kein Soloausflug mehr.Den Soundtrack zu “Hope Street” bildet dasTote-Hosen-Album “Learning English Lesson3: Mersey Beat! The Sound of Liverpool”. Esenthält Songs von etlichen Beatles-Zeitgenossen.Waren das die Vorläufer des Punk?Campino: Für mich absolut. Der Rock’n’Roll unddie Beat-Musik Anfang der 1960er Jahre klangenrevolutionär. Auf Fotos von damals sieht man fürheutige Verhältnisse ganz ordentliche Frisuren.Aber alleine schon Haare über den Ohren zuhaben, war zu dieser Zeit ein Skandal. Weil Bandswie The Searchers, Gerry and the Pacemakers,Rory Storm and the Hurricanes und The SwingingBlue Jeans über nichts anderes als Lust undLiebe sangen, machten die Elternsich Sorgen, dass die Jugendihre Ausbildung und ihrLeben nicht mehr ernstnimmt. Um 1960 gab es weitüber 300 Bands in Liverpool.Die Hafenstädte Liverpoolund Hamburg sind seelenverwandt.Es gab einen großenAustausch.