HUK 331 September 2020
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Das Hamburger<br />
Straßenmagazin<br />
Seit 1993<br />
N O <strong>331</strong><br />
Sep.20<br />
2,20 Euro<br />
Davon 1,10 Euro für<br />
unsere Verkäufer*innen<br />
5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />
Meine neue<br />
Heimat<br />
Wie Zahra und andere Geflüchtete<br />
ihr Leben in Hamburg meistern.
25 Jahre Hinz&Kunzt – 25 Tage unser Restaurant auf Zeit:<br />
Ein kulinarisches Dankeschön an die Hamburger*innen.<br />
Mit 25 Drei-Gänge-Menüs von Sterneköch*innen, jungen<br />
Wilden und anderen Küchengöttern.<br />
Unser Kochbuch ist ein edel gebundenes<br />
Hardcover mit 194 Seiten, vielen farbigen<br />
Fotos und 180 inspirierenden Rezepten.<br />
Sie können es für 15 Euro online bestellen<br />
unter www.hinzundkunzt.de/shop oder<br />
im Buchladen (ISBN 978-3-00-060526-0).<br />
Das Kochbuch ist für 35 Euro auch<br />
als Bundle zusammen mit der Schürze<br />
„KunztKüche“ (siehe Seite 59) erhältlich.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Inhalt<br />
„Wir schaffen das!“<br />
„Wir schaffen das!“ Natürlich bewegt auch uns<br />
dieser Satz und dieses Motto von Angela Merkel aus<br />
dem Jahr 2015. Gemeint war die Aufnahme von<br />
knapp einer Million Geflüchteter. Wir trafen uns mit<br />
Karim, Maroof und Zahra, die unser Titelblatt<br />
schmückt (Seite 12). Wir wollten wissen, wie es ihnen<br />
in den vergangenen Jahren ergangen ist.<br />
Mein Kollege Ulrich Jonas hat für Sie viele<br />
Zahlen, Karten und Infos aufbereitet, sodass Sie sich<br />
selbst ein Bild machen können (Seite 18). Unser<br />
He rausgeber Dirk Ahrens hat eine Sommertour<br />
unternommen und mit Behördenmitarbeiter*innen,<br />
Richtfest fürs Hinz&Kunzt-<br />
Haus in St. Georg:<br />
In einem Jahr zieht unser<br />
Projekt voraussichtlich<br />
um – zusammen mit<br />
24 Obdachlosen, die<br />
dort wohnen werden.<br />
Auf dem Bild (von links):<br />
Johannes Jörn und<br />
Annika Gürtler (beide<br />
Amalie Sieveking-Stiftung),<br />
Jörn Sturm (Hinz&Kunzt),<br />
Sozialsenatorin Melanie<br />
Leonhard, Landespastor<br />
Dirk Ahrens und Holger<br />
Cassens (Mara & Holger<br />
Cassens-Stiftung).<br />
Initiativen und Geflüchteten darüber gesprochen,<br />
wo es noch Baustellen gibt (Seite 26). Was haben wir<br />
schon geschafft? Was sagen Sie dazu?<br />
Aber zum Denken braucht man einen klaren<br />
Kopf: Um den mal richtig freizubekommen,<br />
können Sie sich einfach aufs Fahrrad schwingen.<br />
Anregungen bekommen Sie von meinen Kollegen<br />
Benjamin Laufer, Christian Hagen und Jonas Füllner<br />
(Seite 32). Zur Not kann man auch den Bus nehmen.<br />
Ihre Birgit Müller Chefredakteurin<br />
(Schreiben Sie uns doch an info@hinzundkunzt.de)<br />
TITELBILD UND FOTO OBEN: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Inhalt<br />
Stadtgespräch<br />
04 Gut&Schön<br />
28 Billbrookdeich: Saga will eine Villa<br />
zum Höchstpreis verkaufen<br />
30 Keine Hilfe: Ein Obdachloser stirbt<br />
Haben sie’s<br />
geschafft?<br />
Was Geflüchtete<br />
wie Maroof seit<br />
2015 erreicht<br />
haben (ab S. 12).<br />
Raus aus der Stadt: Redakteur Benjamin Laufer nimmt<br />
Sie auf dem Fahrrad mit in die Lüneburger Heide (S. 32).<br />
24 „Positive Effekte“: Arbeitsagentur-<br />
Chef Detlef Scheele über Geflüchtete<br />
25 Euphorie weicht Skepsis: Khaled<br />
Almaani sieht einen Stimmungswandel<br />
26 Klar schaffen wir das!<br />
Fazit einer Sommertour von<br />
Landespastor Dirk Ahrens<br />
5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />
08 Leitartikel: Freude, Hoffnung, Neid<br />
12 Angekommen: Maroof, Karim und Lust auf Radeln&Sport<br />
Zahra über ihre neue Heimat Hamburg<br />
18 Zahlen & Fakten: Europa und die<br />
Geflüchteten 2015 und heute<br />
Freunde<br />
32 Tipps für Fahrradtouren im Umland<br />
40 Discgolf spielen in der City Nord<br />
44 Gerhardt Höpker spendet uns<br />
seine Rentenerhöhung<br />
Kunzt&Kult<br />
48 Literaturfestival: Harbour Front<br />
52 Tipps für den <strong>September</strong><br />
56 Hamburger Geschichte(n)<br />
58 Momentaufnahme<br />
Rubriken<br />
05 Kolumne<br />
29 Meldungen<br />
46 Leser*innenbriefe<br />
57 Rätsel, Impressum<br />
Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk
Schiffsrückkehr<br />
Peking gucken!<br />
Großer Bahnhof für eine Heim -<br />
keh rerin: Am 7. <strong>September</strong> wird die<br />
aufwendig restaurierte, 109 Jahre<br />
alte Viermastbark „Peking“ als viertes<br />
Museumsschiff Hamburgs nahe<br />
dem Hafenmuseum festmachen – im<br />
Rahmen einer großen Schiffsparade.<br />
Schiffsbesuche sind möglich ab<br />
Frühjahr 2021, ein 40-minütiger<br />
Film über die Restaurierungsarbeiten<br />
ist schon jetzt gratis zu sehen. JOC<br />
•<br />
Film: www.huklink.de/peking
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Gut&Schön<br />
50 Jahre JesusCenter<br />
Nächstenliebe<br />
in der Schanze<br />
Sozialarbeiter Holger Mütze<br />
FOTOS: PICTURE ALLIANCE / AP PHOTO / CDITTMAR/MARK LENNIHAN (S. 4), FREUNDE DER SCHLUMPER E.V. REPRO: PEGGY KAHL (OBEN),<br />
PROJEKT LEBENDIGE ALSTER / MAIKE BUCHWALD (UNTEN LINKS), NORDKIRCHE (UNTEN RECHTS), JESUSCENTER<br />
Die Schlumper<br />
Inklusive Kunst im Herzen der Stadt<br />
Sie stellten schon in Berlin, Brüssel und Chicago aus,<br />
jetzt feiern sie 40-jähriges Ateliergemeinschafts-<br />
Jubiläum: Die inklusive Künstler*innengemeinschaft<br />
„Die Schlumper“ (www.schlumper.de) von Menschen<br />
mit Beeinträchtigungen zeigt sich mit einer großen<br />
Ausstellung in ihrer Galerie – zu bestaunen noch bis<br />
15.11. in der Marktstraße 131 in Hamburg. JOC<br />
•<br />
Lebensraum Grüne Schute<br />
Neue Heimat für tierische Wasserund<br />
Landlebewesen sowie Refugium<br />
für pflanzliche Binnenwasser-<br />
Vielfalt: An der Schaartorschleuse<br />
nahe des Rödingsmarktes bietet<br />
jetzt eine 23 Meter lange stillgelegte<br />
Lastenschute viel Platz für bedrohte<br />
Lebensformen in den Alsterfleeten.<br />
Fische können hier laichen, Enten im<br />
Röhricht brüten, Bienen, Schwebfliegen<br />
und Falter Nahrung finden.<br />
Die Schute dient auch als Umweltbildungsort<br />
für Schulklassen. JOC<br />
•<br />
Mehr Infos: www.lebendigealster.de<br />
Segel zu Taschen<br />
Rückenwind ahoi für diese Unikate:<br />
Aus dem 63 Quadratmeter großen<br />
alten Segel des Nordkirchenschiffs<br />
„Artemis“ sind jetzt 380 Taschen<br />
gefertigt worden, mit deren Kauf<br />
man das griechische Flüchtlingshilfe-Projekt<br />
„Naomi“ unterstützt. Die<br />
NGO ist eine ökumenische Werkstatt<br />
in Thessaloniki, die Geflüchtete<br />
bei der Bewältigung ihres täglichen<br />
Lebens unterstützt. Unter anderem<br />
werden Frauen für eine bezahlte<br />
Arbeit als Näherinnen ausgebildet.<br />
Dabei entstanden auch die Taschen<br />
im Kulturbeutel-Format. JOC<br />
•<br />
Bestellung: www.huklink.de/taschen<br />
JesusCenter – der Name<br />
klingt irgendwie nach Sekte.<br />
Holger Mütze meint: „Na, da<br />
guckt man genauer hin!“ Und<br />
tatsächlich verbirgt sich hinter<br />
dem einst von der Evangelisch<br />
Freikirchlichen Gemeinde<br />
Christuskirche gegründeten<br />
Verein im Schanzenviertel<br />
fachlich qualifizierte christliche<br />
Sozialarbeit. „Immer mit<br />
dem besonderen Blick auf soziale<br />
Not, Einsamkeit, Orientierungs-<br />
und Arbeitslosigkeit“,<br />
so der Sozialarbeiter.<br />
Und das seit 50 Jahren.<br />
Herzstück ist das Café<br />
Augenblicke, Anlaufstelle für<br />
viele Wohnungs- und Obdachlose,<br />
Drogenkranke und<br />
immer mehr alte Menschen,<br />
die mit ihrer geringen Rente<br />
nicht auskommen. Hier bekommen<br />
sie eine warme<br />
Mahlzeit, Lebensmittelspenden<br />
und die Geborgenheit einer<br />
sozialen Gemeinschaft –<br />
egal, ob gläubig oder nicht.<br />
Manche Gäste würden vor<br />
den kurzen Andachten an<br />
Freitagen „rechtzeitig flüchten,<br />
andere kommen extra<br />
deswegen“, so Mütze. „Das ist<br />
alles völlig in Ordnung.“<br />
Auch in der Jugend- und<br />
Familienhilfe sind die Mitarbeitenden<br />
aktiv. Unter anderem<br />
betreuen sie acht Wohngemeinschaften,<br />
in denen<br />
auch junge Geflüchtete muslimischen<br />
Glaubens leben. Missionieren<br />
will hier niemand,<br />
nur Nächstenliebe zählt. ABI •<br />
Mehr Infos: www.jesuscenter.de<br />
5
Wir<br />
schaffen<br />
das!<br />
Vor fünf Jahren sagte Angela Merkel diesen Satz, voller Vertrauen in die<br />
Stärke unserer Wirtschaft und unseres Sozialstaates, der uns Mut machen<br />
und anspornen sollte: Wir schaffen das, rund eine Million vor Hunger und Krieg<br />
geflüchtete Menschen in Deutschland zu integrieren. Was ist seitdem passiert?<br />
Und wie hat Hinz&Kunzt diese Zeit erlebt? Wir sprachen mit<br />
Geflüchteten, schauen auf Zahlen und Fakten und hören die Einschätzung<br />
von Arbeitsagenturchef Detlef Scheele.<br />
FOTO: PICTURE ALLIANCE / DPA / DANIEL REINHARDT
Ein herzliches Willkommen: Am 5. <strong>September</strong><br />
2015 kommen zahlreiche Geflüchtete am<br />
Bahnhof in Hamburg-Harburg an.<br />
Auch dieser Junge, der mit Geschenken im Arm<br />
staunend an den jubelnden Hamburger*innen<br />
vorbei in sein neues Leben geht.
8<br />
In den Messehallen entstand 2015<br />
Deutschlands größte und lebendigste<br />
Kleiderkammer. In einer der Hallen wurden<br />
Geflüchtete untergebracht.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Titelthema<br />
5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />
Freude, Hoffnung und<br />
eine Portion Neid<br />
Die ganze Stadt hat 2015 eine immense Kraftanstrengung unternommen,<br />
um Geflüchteten eine neue Heimat zu bieten. Eine wundervolle Aufbruchstimmung!<br />
Allerdings wurden die Obdachlosen nicht mitbedacht. Im Gegenteil: Die beiden<br />
Gruppen in Not wurden gegeneinander ausgespielt. Und auch sonst lief einiges schief.<br />
Eine Analyse von Chefredakteurin Birgit Müller.<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE (S. 8), PICTURE ALLIANCE / DPA / DANIEL REINHARDT<br />
Fünf Jahre ist es her, dass<br />
Deutschland eine Million Geflüchtete<br />
aufnahm und dass<br />
Kanzlerin Angela Merkel den<br />
denkwürdigen Satz „Wir schaffen das!“<br />
sagte. Und dass an den Bahnhöfen in<br />
der Republik Einheimische die Fremden<br />
mit Freuden willkommen hießen,<br />
sie beklatschten und sie mit Wasser und<br />
Lebensmitteln versorgten. Es herrschte<br />
eine welteinmalige Willkommenskultur.<br />
Hamburg nahm mehr als 22.000<br />
Menschen auf, viele Hamburger*innen<br />
enga gierten sich in Flüchtlingsinitiativen,<br />
wollten so den Menschen helfen,<br />
hier anzukommen.<br />
Freund*innen fragten mich damals,<br />
ob es mich nicht frustriere, dass sich<br />
jetzt alle für die Geflüchteten engagierten.<br />
Dass es sogar dieses Motto gab:<br />
„Wir schaffen das!“ Wir schaffen es, sie<br />
unterzubringen, zu integrieren und<br />
ihnen eine neue Heimat zu bieten.<br />
So viel Engagement hatte es für Obdachlose<br />
nie gegeben.<br />
Nein, dieses Engagement frustrierte<br />
mich nicht. Im Gegenteil: Es war wie<br />
ein Märchen, wie ein Traum, eine gelebte<br />
Utopie. Ein wenig trugen wir alle<br />
dazu bei, die Welt ein bisschen besser<br />
zu machen. Die Menschen, egal ob in<br />
der Politik, in den Behörden, in den<br />
Unterkünften und auch Freiwillige – sie<br />
alle arbeiteten bis an den Rand der Erschöpfung.<br />
Detlef Scheele (SPD) (siehe<br />
auch das Interview auf Seite 24), der im<br />
<strong>September</strong> 2015 noch Sozialsenator<br />
war, platzte in der Bürgerschaft sogar<br />
der Kragen, als die ignorante AfD<br />
die Not der Geflüchteten kleinredete:<br />
„Machen Sie die Augen auf, Himmel,<br />
Arsch und Zwirn!“<br />
Diese Meisterleistung einer ganzen<br />
Stadt, dieses „Himmel, Arsch und<br />
Zwirn“ begeisterten mich und viele in<br />
unserem Projekt. Es machte uns Mut.<br />
Ein Kollege war ganz aktiv in der<br />
Flüchtlingshilfe. Auch viele Obdachlose<br />
und ExObdachlose engagierten sich.<br />
Wie Hinz&Künztler Gerrit. Er hatte<br />
an seinem Verkaufsplatz viele Klamotten<br />
bekommen, die er verteilen sollte.<br />
Er brachte sie in die Messehallen, die<br />
größte und lebendigste Kleiderkammer<br />
der Stadt. „Ich bin da quasi hängen<br />
geblieben und habe zwei oder drei<br />
Wochen lang mitgeholfen, Klamotten<br />
in Regale zu sortieren“, erzählt Gerrit.<br />
Warum? „Weil die Flüchtlinge nichts<br />
hatten – und ich bin St.PauliFan, da<br />
Harburger Bahnhof 2015: Hamburger*innen heißen Geflüchtete willkommen.<br />
9<br />
ist Helfen selbstverständlich.“ Wir waren<br />
Teil der Willkommenskultur, allerdings<br />
hatten wir die Illusion, dass<br />
sie vielleicht alle umfassen könnte: Geflüchtete<br />
wie Obdachlose – auch die<br />
auf Hamburgs Straßen gestrandeten<br />
Wanderarbeiter *innen aus Osteuropa.<br />
Denn die Obdachlosen waren nicht<br />
erst durch die Ankunft der Geflüchteten<br />
ins Hintertreffen geraten. Sie waren<br />
es schon lange vorher. Aber jetzt wurde<br />
so richtig deutlich, was alles möglich ist,<br />
wenn eine ganze Stadt sich anstrengt.<br />
Und wenn man es nur will.<br />
„Wer es schafft, 26.000 Menschen<br />
unterzubringen, der schafft auch 2000<br />
mehr“, sagte unser Sozialarbeiter<br />
Stephan Karrenbauer. Auf diese Zahl<br />
schätzten wir damals die Obdachlosen –<br />
maximal.
5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />
Titelthema<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />
Herbst 2015, zu<br />
Besuch in den<br />
Messehallen:<br />
Geschockt sind<br />
viele Hinz&Künztler <br />
*innen darüber, wie<br />
die Geflüchteten<br />
untergebracht sind.<br />
Aber sie freuen sich,<br />
dass die Kleiderspenden<br />
auch für<br />
Obdachlose gedacht<br />
sind. Unten:<br />
Sommer <strong>2020</strong>. Sozialarbeiter<br />
Stephan<br />
Karrenbauer in<br />
einem der gesponserten<br />
Hotelzimmer<br />
für Obdachlose.<br />
„Das war wie ein<br />
Sechser im Lotto.“<br />
Aber ziemlich schnell stellte sich heraus,<br />
dass diese Kraftanstrengung, dieser<br />
politische Wille nicht ausgedehnt<br />
wurde auf die Obdachlosen und gestrandeten<br />
Wanderarbeiter*innen.<br />
„Finanziell nicht leistbar“ sei es, sie unterzubringen,<br />
sagte Sozialsenator Detlef<br />
Scheele damals. Und das, obwohl<br />
viele der Obdachlosen sogar ein verfassungsmäßiges<br />
Anrecht auf Unterbringung<br />
hatten und haben. Von<br />
Perspektiventwicklung ganz zu schweigen.<br />
Nicht mal dafür reichten die Energie<br />
und Kraftanstrengung – und auch<br />
bei anderen Senator*innen hatten sie<br />
nie gereicht.<br />
Und so wurde eine Gruppe von<br />
Menschen in Not gegen die andere ausgespielt.<br />
Damals wie heute werden mal<br />
die Geflüchteten, mal die Obdachlosen<br />
besser oder schlechter behandelt. Ein<br />
Beispiel: In der Erstaufnahme für<br />
Flüchtlinge dürfen die Menschen den<br />
ganzen Tag drinbleiben. Für Obdachlose<br />
gab es vor Corona nur im Winter<br />
ein Notprogramm, da mussten sie<br />
morgens raus und durften erst abends<br />
wieder rein. „Dank“ Corona hat sich<br />
das etwas geändert: Das Notprogramm<br />
läuft auch im Sommer weiter. Tagsüber<br />
raus müssen sie trotzdem.<br />
Dafür habe ich damals Erstaufnahmen<br />
gesehen, in denen Geflüchtete auf<br />
engstem Raum untergebracht waren –<br />
da waren sogar viele Obdachlose geschockt.<br />
In dem Baumarkt, in dem ich<br />
Karim (siehe auch Seite 14) kennengelernt<br />
habe, lebten um die 100 Menschen in<br />
einer riesigen Halle. Männer und Frauen<br />
gemischt. Solche Zustände gibt es<br />
zum Glück nicht mehr.<br />
Später wurden für die Geflüchteten<br />
Siedlungen und Expressbauten errichtet,<br />
wir fanden das hervorragend. Aber<br />
auch hier wurden die Obdachlosen<br />
nicht mitgedacht.<br />
10<br />
Das schürt den Neid. „Für viele obdachlose<br />
Bekannte von mir war es<br />
ganz schön hart“, sagte Hinz&Künztler<br />
Ronni. „Die hatten den Eindruck: Die<br />
Flüchtlinge bekommen plötzlich alles.“<br />
Er selbst sei nicht neidisch gewesen.<br />
„Ich hatte damals schon eine Wohnung.“<br />
Neulich sprach ich mit Viktor,<br />
der vor vielen Jahren als russischer<br />
Wanderarbeiter in Hamburg gestrandet<br />
war und bis heute obdachlos ist.<br />
„Deutschland wollte damals die ganze<br />
Welt retten“, sagte er bitter. „Sie hätten<br />
ja auch uns retten können. Aber ich<br />
werde nicht gerettet – nicht mal
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Titelthema<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE (S. 10), PICTURE ALLIANCE /DPA / CHRISTIAN CHARISIUS<br />
die deutschen Obdachlosen werden<br />
gerettet.“<br />
Und was dann gar nicht mehr<br />
nachvollziehbar war: Irgendwann standen<br />
Wohncontainer leer, in denen vorher<br />
Geflüchtete untergebracht waren –<br />
und wurden nicht den Obdachlosen zur<br />
Verfügung gestellt.<br />
Dass eine Gruppe neidisch auf<br />
eine andere ist, sind wir gewohnt.<br />
Hinz&Kunzt ist ein Kooperationsprojekt<br />
– viele haben vom Leben bislang<br />
wenig Gutes bekommen. Binsenweisheit:<br />
Je weiter unten einer steht, desto<br />
größer der Wunsch, dass unter ihm<br />
noch einer stehen möge. Das mag ihm<br />
Sicherheit geben. Das alles können<br />
wir verstehen, aber nicht tolerieren.<br />
Schlimm ist, wenn dann der Frust an<br />
denen ausgelassen wird, die ja nichts dafür<br />
können. Wenn wir wüste Beschimpfungen<br />
miterleben, bekommt jemand<br />
auch schon mal Hausverbot. In jenen<br />
Monaten kam das oft vor.<br />
Nicht nur bei uns wurde mehr gepöbelt.<br />
Auch in der Bevölkerung machte<br />
sich Unmut breit. Besonders bitter:<br />
Auch in betuchteren Stadtteilen wollten<br />
manche Anwohner*innen die Geflüchteten<br />
nicht in ihrer Nachbarschaft<br />
haben – schon gar nicht Obdachlose.<br />
Die Ungleichbehandlung und die<br />
steigende Zahl von Obdachlosen hat<br />
auch dazu geführt, dass die Verteilungskämpfe<br />
auf der Straße härter und brutaler<br />
wurden. Die Zahl der Gewalttaten<br />
hat zugenommen. Oft streiten sich Obdachlose<br />
untereinander. Erschreckenderweise<br />
geht es manchmal „nur“ um<br />
einen trockenen Schlafplatz.<br />
Politisch kommen wir uns manchmal<br />
vor wie Dauernörgler*innen, wenn<br />
wir gebetsmühlenartig wiederholen,<br />
dass es keine bezahlbaren Wohnungen<br />
oder Unterkünfte mehr gibt. Und mit<br />
den Jahren streiten wir auf einem immer<br />
niedrigeren Niveau. Früher forderten<br />
wir bezahlbaren Wohnraum für<br />
Obdachlose, dann wenigstens Einzelzimmer<br />
in Unterkünften. Der Tiefpunkt:<br />
Aus Mangel an Alternativen setzen<br />
wir uns oft dafür ein, dass sie in<br />
einer verdreckten Ecke liegen bleiben<br />
dürfen, weil die immerhin überdacht ist.<br />
Ausgerechnet Corona hat da für<br />
kurze Zeit etwas für uns verändert: Die<br />
Alimaus, die Diakonie und wir bekamen<br />
eine Großspende, mit der wir rund<br />
170 Obdachlose für drei Monate in Einzelzimmern<br />
in leer stehenden Hotels<br />
unterbringen konnten. Es war das erste<br />
Mal seit Jahren, dass wir die Möglichkeit<br />
hatten, vielen Obdachlosen einfach<br />
eine gute Unterkunft anzubieten. Ein<br />
Zimmer, in dem sie willkommen waren<br />
und in dem sie Ansprech partner*innen<br />
hatten. Drei Monate Urlaub von der<br />
„Wir können<br />
es uns nicht<br />
leisten, frustriert<br />
zu sein.“<br />
Straße, in denen sie Kraft sammeln<br />
konnten. Plus drei Monate eine einmalige<br />
Willkommenskultur.<br />
„Dass wir Obdachlosen etwas zu<br />
bieten hatten, ohne Vorbedingung –<br />
das war wie ein Sechser im Lotto“, sagte<br />
unser Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer.<br />
Natürlich sollen Menschen<br />
nicht ewig im Hotel wohnen, aber es<br />
könnte der Anfang für eine neue Ausrichtung<br />
sein. Aber noch gibt es ihn<br />
eben nicht, den politischen Willen zur<br />
Ehrenamtlicher Erfrierungsschutz: Der Kältebus bringt im<br />
Winter Obdachlose in Unterkünfte.<br />
11<br />
Veränderung. Und so sind die meisten<br />
Obdachlosen trotz Corona inzwischen<br />
wieder zurück auf der Straße.<br />
Fazit: Wie wirkungsvoll es ist, wenn<br />
ein ganzer Staat, eine ganze Stadt und<br />
viele Freiwillige einer Gruppe von Menschen<br />
helfen, zeigen unsere Zahlen (ab<br />
Seite 18). Schon nach fünf Jahren haben<br />
viele Geflüchtete Deutsch gelernt, eine<br />
Ausbildung gemacht oder sie arbeiten.<br />
Aber natürlich gibt es auch noch viele<br />
Baustellen (siehe Seite 26).<br />
Bei den Obdachlosen hat sich die<br />
Situation eher verschlechtert. Auch<br />
schon vor Corona. Der rot-grüne Senat<br />
will sich nicht mal darauf festlegen, wie<br />
viele Obdachlose er mit Perspektive in<br />
Wohnungen unterbringen will. Weil die<br />
Not auf der Straße so sichtbar ist, gibt es<br />
inzwischen viele ehrenamtliche Initiativen,<br />
aber weder die Profis noch sie können<br />
auffangen, was der Staat versäumt.<br />
Trotzdem: Wir können es uns nicht<br />
leisten, frustriert zu sein. Im Gegenteil:<br />
Diese Bilanz muss ein neuer Ansporn<br />
sein. Wir alle – der Bund, der Senat und<br />
unsere Gesellschaft – müssen den unbedingten<br />
Willen haben, es zu schaffen.<br />
Erst recht in Zeiten von Corona: Wir<br />
brauchen einen Schutzschirm für alle,<br />
die in Not sind. Nach dem Motto: „Wir<br />
schaffen das! Himmel, Arsch und<br />
Zwirn!“ •<br />
Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de
12
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Titelthema<br />
5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />
Meine neue<br />
Heimat<br />
Im Lauf der Jahre haben wir viele Geflüchtete kennengelernt, die uns<br />
beeindruckt und berührt haben. Lukas Gilbert und Birgit Müller haben drei<br />
von ihnen wiedergetroffen, um zu hören, wie es ihnen ergangen ist.<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Maroof, 24, hat zwei Jobs, aber lebt im Wohnheim.<br />
Maroof, 24, hat<br />
Todesangst, wenn er<br />
an seine Heimat<br />
Afghanistan denkt.<br />
Kennengelernt haben wir Maroof inmitten<br />
der Hochphase der Coronakrise.<br />
Der afghanische Geflüchtete lebt in einer<br />
städtischen Wohnunterkunft und infizierte<br />
sich mit dem Coronavirus. Vom<br />
Unter kunftsbetreiber und den Behörden<br />
fühlte er sich im Stich gelassen mit<br />
seiner Krankheit.<br />
Mittlerweile ist er zum Glück wieder<br />
genesen. Im Stich gelassen fühlt er<br />
sich aber immer noch. Nicht nur wegen<br />
Corona – die Erkrankung ist im erneuten<br />
Gespräch mit ihm nicht viel mehr<br />
als eine Randnotiz. Im Stich gelassen<br />
fühlt er sich von den Strukturen in<br />
Deutschland, die es ihm unmöglich machen,<br />
hier anzukommen. Auch nach<br />
fünf Jahren noch.<br />
Trotzdem sagt er: „Ich würde gern<br />
hierbleiben. Ich kann jetzt Deutsch<br />
sprechen. Ich kenne die Kultur, ich arbeite,<br />
ich habe viele Freunde hier.“<br />
Maroof kam im Herbst 2015 aus<br />
Afghanistan nach Deutschland. Zwar<br />
gilt das Land den deutschen Behörden<br />
als sicher genug, um Geflüchtete dorthin<br />
abzuschieben, Asylanträge von<br />
Afghan*innen gelten als wenig aussichtsreich.<br />
Maroof hat trotzdem Todesangst,<br />
wenn er an seine Heimat<br />
denkt. Und jedes Mal, wenn er in Hamburg<br />
die Polizei auf der Straße sieht,<br />
fürchtet er, abgeschoben zu werden.<br />
Der heute 24-Jährige kommt aus<br />
der Provinz Herat. Die Lage dort ist instabil,<br />
die Taliban ringen um Einfluss.<br />
2013 haben sie Maroof entführt, erzählt<br />
er, um ihn als Kämpfer zu rekru-<br />
13<br />
tieren. Dank guter Kontakte seines Vaters<br />
sei es damals gelungen, mit den<br />
Kämpfern auszuhandeln, dass Maroof<br />
nochmals für einige Tage nach Hause<br />
könne. Diese Gelegenheit nutzten<br />
Vater, Mutter, Schwester und Maroof<br />
zur Flucht. Erst nach Pakistan, dann in<br />
den Iran. Doch die iranische Armee war<br />
auf der Suche nach afghanischen<br />
Geflüchteten im wehrfähigen Alter, um<br />
sie in den Krieg nach Syrien zu schicken.<br />
Zehntausende von ihnen kämpfen heute<br />
dort. Um dem zu entgehen, floh Maroof<br />
„Was soll ich<br />
noch tun, um<br />
einen Aufenthalt<br />
zu bekommen?“<br />
MAROOF<br />
alleine weiter. Zunächst in die Türkei,<br />
dann nach Griechenland und zu Fuß<br />
über die damals noch geöffnete Balkanroute<br />
bis nach Hamburg. „Ich bin ohne<br />
Erwartungen nach Deutschland gekommen.<br />
Es ging nur um mein Leben“,<br />
erinnert sich Maroof. „Als ich dann ankam,<br />
habe ich gesehen: Deutschland ist<br />
ein tolles Land, die Deutschen helfen<br />
allen Leuten.“<br />
Doch auch in Hamburg kommt der<br />
junge Mann, damals 18 Jahre alt, nicht
5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />
Titelthema<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />
zur Ruhe. Die erste Zeit verbrachte er<br />
in einer Erstaufnahme am Osdorfer<br />
Rugenbarg – zusammen mit 3000 anderen<br />
Geflüchteten in einem ehemaligen<br />
Baumarkt. Einen Platz in einem<br />
Sprachkurs bekam er nicht. Stattdessen<br />
begab er sich schnell auf die Suche<br />
nach einem Job. Um Geld zu verdienen,<br />
um Deutsch zu lernen – und um<br />
sich abzulenken: „Jede freie Sekunde<br />
geht auf meinen Kopf. Mama, Schwester,<br />
Papa. Was passiert, wenn sie zurück<br />
nach Afghanistan müssen?“<br />
Was passieren kann, wenn sie<br />
zurückgehen, erfuhr Maroof vor drei<br />
Jahren. Sein Vater unternahm eine Reise<br />
in die alte Heimat – und wurde von den<br />
Taliban erschossen, wie Maroof erzählt.<br />
Seinen damaligen „Verrat“ hätten sie<br />
nicht vergessen. Maroof fürchtet, dass<br />
ihm das gleiche Schicksal blühen würde.<br />
Seinen Asylantrag lehnte Deutschland<br />
dennoch ab. Weil er einen Job hatte,<br />
bekam er immerhin eine auf drei<br />
Monate befristete Duldung. Seitdem<br />
hangelt er sich von einer Verlängerung<br />
zur nächsten.<br />
Das hindert ihn nicht nur daran,<br />
seinen Traum von einer Ausbildung zu<br />
verwirklichen, und lässt ihn in ständiger<br />
Angst vor einer Abschiebung leben – er<br />
findet auch keine Wohnung auf dem<br />
freien Markt: „Spätestens wenn die<br />
Vermieter meine Duldung sehen, sagen<br />
sie ab.“ Sein festes Einkommen aus<br />
zwei Jobs hilft da nicht.<br />
Im Gegenteil: Das kleine Doppelzimmer<br />
in der städtischen Unterkunft,<br />
das er sich mit einem anderen Geflüchteten<br />
teilt, hat ihn bislang 210 Euro im<br />
Monat gekostet. Weil er einen zweiten<br />
Job angenommen hat, soll er nun knapp<br />
600 Euro monatlich zahlen. Für Maroof<br />
völlig unverständlich: „Ich hätte<br />
genug Geld für eine Wohnung. Durch<br />
meine zwei Jobs könnte ich 1000 Euro<br />
zahlen. Aber 600 Euro für ein Doppelzimmer?<br />
Das ist nicht ehrlich.“<br />
Auf die Menschen in Deutschland<br />
blickt er positiv. Sie hätten ihn von Beginn<br />
an willkommen geheißen: „Als ich<br />
in München ankam, haben sie uns begrüßt<br />
und uns Essen gemacht. Wenn<br />
ich Pakete ausliefere, werde ich immer<br />
wieder gefragt, aus welchem Land ich<br />
komme und wie lange ich schon hier<br />
bin. Manche wollen mir sogar bei der<br />
Wohnungssuche helfen.“ Es sind die<br />
Strukturen, die ihn verzweifeln lassen:<br />
„Was soll ich noch machen, um einen<br />
Aufenthalt zu bekommen? Ich weiß es<br />
nicht. Ich bin von innen kaputt.“<br />
Immerhin etwas Sicherheit hat Maroof<br />
nun: Weil er seit Jahren in Deutschland<br />
arbeitet und die Sprache gut<br />
spricht, hat er eine Arbeitsduldung bekommen.<br />
Die gilt für zweieinhalb Jahre.<br />
Doch eine eigene Wohnung hat er bislang<br />
auch damit nicht gefunden. •<br />
Karim, 26, hat eine Wohnung, ist psychosozialer Berater und arbeitet an der Kasse.<br />
Oktober 2016. Eine dieser berühmt-berüchtigten<br />
Erstaufnahmen: ein ehemaliger<br />
Elektromarkt in der Kieler Straße.<br />
Um die 100 Betten in einem Raum.<br />
Männer, Frauen und Kinder bunt gemischt.<br />
Ein paar Geflüchtete haben Laken<br />
zwischen die Betten gehängt, um<br />
einen Hauch von Privatsphäre zu simulieren.<br />
Die Kinderhilfsorganisation Plan<br />
International ist hier aktiv: Sie will die<br />
Geflüchteten, die in der Regel zum<br />
Nichtstun verdammt sind, fördern und<br />
ihnen das Ankommen erleichtern.<br />
Wir platzen in eine Art Inte grationskurs:<br />
Etwa 20 Menschen aus allen<br />
möglichen Ländern sitzen im Kreis zusammen.<br />
Für jede Gruppe gibt es<br />
eine*n Dolmetscher*in. Karim, ein<br />
22-jähriger Syrer, erzählt gerade, dass<br />
er bei der Handwerkskammer war und<br />
sich erkundigt habe, ob Geflüchtete auf<br />
dem Arbeitsmarkt eine Chance hätten.<br />
„Wir haben eine Chance“, sagt Karim<br />
enthusiastisch und mit Nachdruck. Er<br />
sagt das in fließendem Englisch. „Aber<br />
wir müssen die Sprache lernen, die<br />
Sprache ist der Schlüssel zu allem.“<br />
Später im Interview wirkt er so bemüht,<br />
so positiv. Eins ist klar: Karim will es<br />
schaffen, unbedingt. Am Ende, da habe<br />
ich mich schon fast verabschiedet, frage<br />
ich ihn noch fast beiläufig: „Ach, Karim,<br />
aus welcher Stadt kommst du noch<br />
„Ich arbeite und<br />
zahle Steuern –<br />
ganz normal wie<br />
jeder Deutsche<br />
auch.“ KARIM<br />
mal?“ Und er, dieser strahlende junge<br />
Mann, zerbricht förmlich vor meinen<br />
Augen, nur mühsam kann er die Tränen<br />
zurückhalten, als er fast stotternd<br />
sagt: „Aleppo.“<br />
August <strong>2020</strong>: Wiedersehen mit Karim,<br />
es kommt mir so vor, als hätten wir<br />
14<br />
uns vor ein paar Tagen erst verabschiedet.<br />
In Wirklichkeit sind vier Jahre vergangen.<br />
Auch Karim ist unsere Begegnung<br />
noch in deutlicher Erinnerung.<br />
„Mir ging es damals gar nicht gut“, sagt<br />
der 26-Jährige. Auf Deutsch! „Am<br />
schwersten war, dass ich damals keinen<br />
Aufenthaltstitel hatte, ich konnte die<br />
Sprache nicht lernen, ich durfte nichts<br />
machen. Ich war ein Jahr in dieser<br />
Flüchtlingsunterkunft, schlafen, essen<br />
und trinken – ohne etwas zu tun. Das<br />
will niemand.“ Zumal sich Karim ablenken<br />
wollte …<br />
In Aleppo hatte er Englisch und Betriebswirtschaft<br />
studiert. Was er allerdings<br />
wegen des Krieges nicht abschließen<br />
konnte. Der Krieg dauerte schon Jahre.<br />
„Es war schlimm: Bomben, Bomben,<br />
Bomben.“ Drei Mal wurde das Haus, in<br />
dem die Familie lebte, bombardiert.<br />
Und er wusste, dass er selbst auch<br />
zum Militär eingezogen werden würde.<br />
„Ich wollte nicht zum Militär gehen,<br />
und ich war von meiner Mama und meinem<br />
Vater auch unter Druck, die wollten,<br />
dass ich das Land verlasse.“ Es war
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Titelthema<br />
schwer für ihn zu gehen. Aleppo, Libanon,<br />
Türkei, dann übers Meer … Griechenland,<br />
Mazedonien, „so viele Länder“,<br />
sagt er und schüttelt den Kopf. Er<br />
ging ohne seine Eltern, ohne Familienangehörige<br />
und Freunde. Ganz allein.<br />
Die Bombardierungen, die Ängste,<br />
die Flucht – alles Gründe, warum er<br />
traumatisiert war. „Ich hatte immer eine<br />
Spannung im Körper, Albträume,<br />
wenn ich geschlafen habe, und es war<br />
immer so laut …“<br />
Was ihm geholfen hat? Außer einer<br />
Therapie auch Plan International. Die<br />
Kinderhilfsorganisation hat ihn zu<br />
einem ihrer Youth Advocates (in diesem<br />
Fall: Vertreter für die Belange junger Geflüchteter)<br />
gemacht. Er durfte etwa beim<br />
UN-Flüchtlingshilfswerk von der Situation<br />
der Geflüchteten erzählen und sagen,<br />
was man braucht. „Beispielsweise<br />
Deutschunterricht und einen Aufenthaltstitel<br />
– und die Möglichkeit, so<br />
schnell wie möglich etwas zu machen.“<br />
Endlich, 2017, wird Karim als<br />
Flüchtling anerkannt. Von da an wird alles<br />
anders: Er darf Sprachkurse besuchen<br />
und arbeiten. Was er in den drei<br />
Jahren gemacht hat: die Sprache so gut<br />
gelernt, dass er in einem Affenzahn<br />
Deutsch spricht. Er hat eine Ausbildung<br />
zum psychosozialen Berater am UKE<br />
absolviert. Jetzt hat er dort einen Teilzeitjob,<br />
und er sitzt bei Netto an der Kasse.<br />
Und sein Trauma, das habe er auch<br />
überwunden, sagt er – und zögert etwas,<br />
weiß nicht, ob er das erzählen soll: Vor<br />
einem Jahr bekam er Hassmails bei<br />
Facebook – und eine Morddrohung. Vor<br />
seiner Haustür fand er einen Zettel:<br />
„Entweder du verlässt Hamburg oder<br />
du stirbst.“<br />
Er schaltete sofort die Polizei ein.<br />
„Ich habe mir immer wieder gesagt:<br />
‚Das ist nicht ernst, das ist nicht ernst!‘<br />
Aber ein paar Tage später hatte ich<br />
dann eine Riesenpanik.“ Fast einen Monat<br />
lang habe er nicht arbeiten können.<br />
Er zog vorübergehend zu einem Freund.<br />
Einige der Verfasser der Hassmails würden<br />
jetzt beobachtet, habe die Polizei<br />
gesagt. Der oder die Verfasser*in des<br />
Drohbriefs wurde nicht ermittelt. Es<br />
dauerte Wochen, bis Karim sein normales<br />
Leben wieder aufnehmen konnte.<br />
Karim, 26. Drei Mal<br />
wurde das Haus, in dem er<br />
und seine Familie lebten,<br />
bombardiert. Auf keinen<br />
Fall wollte der Syrer in<br />
diesem Krieg kämpfen.<br />
Und was sagt er? Haben wir’s geschafft?<br />
„Heute sieht man keine Flüchtlingsunterkunft<br />
mehr wie damals. Die Unterkünfte<br />
sind jetzt wirklich viel, viel besser<br />
als vorher. Jetzt ist es wichtig, über Bildung<br />
zu reden – und über Rassismus<br />
und Diskriminierung weltweit“, sagt<br />
Karim. Und es dauere zu lange, bis<br />
jemand einen Aufenthaltstitel bekomme<br />
– und somit die Gelegenheit, selbst<br />
für sich zu sorgen. Er kennt Geflüchtete,<br />
deren Duldung alle drei Monate verlängert<br />
würde. „Sie können keine Kurse<br />
besuchen, haben kaum Chancen auf einen<br />
Job oder gar auf eine Wohnung.“<br />
Trotzdem: Er kann jetzt „mit Frau Merkel<br />
sagen: ‚Wir haben es geschafft!‘ Ich<br />
würde sagen, wir als Geflüchtete haben<br />
es geschafft, uns zu integrieren,<br />
und auch die Regierung hat es geschafft.<br />
Aber die Gastgebergemeinschaft<br />
hat auch viel geschafft.“ So viel<br />
Hilfe hätten sie bekommen!<br />
Auch Karim ganz persönlich hat<br />
schon viel geschafft: „Ich habe inzwischen<br />
eine kleine Wohnung, arbeite<br />
und zahle Steuern – ganz normal wie<br />
jeder Deutsche auch.“ •<br />
15
5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />
Titelthema<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />
Auf der Flucht hatte Zahra<br />
Angst, ihre Familie nie<br />
wiederzusehen, und sie<br />
weinte stundenlang.<br />
Zahra, 20, wohnt noch in einer öffentlichen Unterkunft, studiert bald Medizin.<br />
Typisch Zahra: Sie besucht einen Vorbereitungskurs<br />
für angehende Medizinstudierende.<br />
Organe sollen seziert werden.<br />
„Will mal jemand?“, fragt der Prof.<br />
Und während die anderen noch etwas<br />
angeekelt zögern, steht Zahra schon<br />
vorne und greift beherzt zu.<br />
Die 20-Jährige lacht, als sie die<br />
Anek dote erzählt. Zahra will Ärztin<br />
werden und keine Zeit verlieren. Dabei<br />
hatte sie als Kind Angst vor Blut, ist<br />
schon mal umgekippt, als sie sah, wie<br />
doll ihr Finger blutete. „Da habe ich<br />
mich hilflos gefühlt“, sagt sie ernst.<br />
„Aber ich weiß, dass ich als Ärztin<br />
Menschenleben retten kann.“ So zielstrebig<br />
und willensstark war sie immer<br />
in ihrem Leben, sonst hätte sie es wahrscheinlich<br />
auch nicht bis nach Hamburg<br />
geschafft.<br />
Bewältigt hat sie aber nicht nur ihre<br />
Flucht. Sie ist auch angekommen in der<br />
16<br />
Hansestadt. Hat Deutsch gelernt, hat ihr<br />
Abitur mit einem Schnitt von 1,8 gemacht.<br />
Sie will Ärztin werden, weil sie<br />
anderen helfen will. Am liebsten Geflüchteten.<br />
„Ich weiß, was sie durchmachen“,<br />
hatte sie uns diesen März erzählt,<br />
als wir sie kennenlernten. Damals machte<br />
sie ihr Freiwilliges Soziales Jahr bei der<br />
Hilfsorganisation Medical Volunteers<br />
International (MVI), half bei der Koordination.<br />
Sie hatte auch einen Einsatz
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Titelthema<br />
ENGAGIEREN<br />
TAufEN<br />
SINGEN<br />
als Dolmetscherin im berüchtigten Lager<br />
Moria, wo sie und ihre Familie selbst<br />
gestrandet waren. Und wenn ihr Freiwilliges<br />
Soziales Jahr vorbei ist, wird sie<br />
mit einem Minijob bei MVI bleiben.<br />
2015 ist sie mit ihren Eltern vor den<br />
Taliban aus Afghanistan geflohen. „Für<br />
die Taliban sind Frauen Sklaven“, sagt<br />
Zahra. Die Gewalt, die Frauen in Afghanistan,<br />
im Krieg und bei der Flucht,<br />
ja selbst in den Flüchtlingslagern angetan<br />
wird, beschäftigten sie so, dass ihr<br />
„Ich will so viele<br />
Menschenleben wie<br />
möglich retten.“<br />
ZAHRA<br />
Berufswunsch schnell feststand: Ärztin.<br />
„Ich will so viele Menschenleben wie<br />
möglich retten.“<br />
Monatelang hing die Familie – ihre<br />
Eltern, ihre beiden Brüder, ihre kleine<br />
Schwester und sie – in Griechenland<br />
fest. Erst in Moria, dann in Athen. Immer<br />
in der Angst, geschnappt und ins<br />
Gefängnis gesteckt zu werden. Bei einem<br />
Fluchtversuch verloren sie ihren<br />
damals 15-jährigen Bruder. Wochenlang<br />
wussten sie nicht, ob er noch lebte.<br />
Als Familie, das stand fest, schafften sie<br />
es nicht weiter. Verzweifelt beschloss<br />
Zahra, es alleine zu versuchen, um die<br />
Familie zu retten, wie sie sagt. „Damals<br />
wusste ich nicht, ob ich das überleben<br />
würde – und ob ich meine Eltern lebend<br />
wiedersehen würde.“ Aber es gab<br />
keine Alternative. Auf der Flucht ging<br />
es ihr fürchterlich. „Ich hatte Angst und<br />
fühlte mich so einsam, dass ich stundenlang<br />
geweint habe.“<br />
Aber inzwischen sind alle wieder<br />
zusammen. Die Eltern machen einen<br />
Deutschkurs. Wenn der absolviert ist,<br />
wird der Vater wieder arbeiten können.<br />
Und eine bezahlbare Wohnung haben<br />
sie auch in Aussicht. Dann kann die Familie<br />
auch finanziell bald auf eigenen<br />
Beinen stehen. Noch leben sie in der öffentlichen<br />
Unterkunft. Die Miete beträgt<br />
pro Kopf 590 Euro. „Das können<br />
wir ja nicht aufbringen“, sagt Zahra.<br />
Wenn Zahra über ihren Alltag<br />
spricht, hat man den Eindruck, sie trage<br />
vielleicht etwas zu viel Verantwortung<br />
für ihr Alter. Gibt es in der Schule einen<br />
Elternabend, ist sie dabei, wenn<br />
Papierkram ansteht, versucht sie sich<br />
durchzukämpfen. Manchmal, da fühlt<br />
sie sich „etwas müde“.<br />
Müde – es ist ein Wort, hinter dem<br />
sich verbirgt, wie tapfer sie ist. Denn in<br />
Wahrheit holt sie immer wieder die<br />
Vergangenheit ein, dann hat sie Albträume<br />
und Panikattacken. Was ihr da<br />
hilft? Meditation, sagt sie, und Sport –<br />
und einige liebe Menschen. Als Zahra<br />
alleine nach Hamburg kam, durfte sie<br />
vom Jugendamt aus Sport machen. Sie<br />
entschied sich für Kung-Fu, „um mich<br />
immer verteidigen zu können“. Ihr<br />
Trainer nahm sie unter seine Fittiche,<br />
übernahm die Kosten für ihre Ausstattung<br />
und fuhr sie zu den Wettkämpfen.<br />
Und bei einem Förderprogramm bekam<br />
sie eine afghanische Mentorin. Eigentlich<br />
sollte es „nur“ um Hausaufgaben<br />
gehen. Aber die Mentorin erkannte, was<br />
Zahra wirklich brauchte. „Sie sagte mir:<br />
‚Ich hab immer ein offenes Ohr, wenn<br />
du mich brauchst.‘ Dabei ist sie selbst<br />
noch jung.“<br />
Und sie hat Wort gehalten. „Immer<br />
wenn ich etwas auf dem Herzen habe,<br />
hört sie mir zu. Und ich kann ihr vertrauen,<br />
weil sie gezeigt hat, dass sie jemand<br />
ist, auf den ich mich wirklich verlassen<br />
kann.“<br />
Auf sich selbst kann sie sich übrigens<br />
auch verlassen. Dass sie die Sprache<br />
so schnell lernen würde, ein so gutes<br />
Abi und tatsächlich die Voraussetzungen<br />
für ein Medizinstudium schaffen<br />
würde, daran glaubte sie ganz fest. Aber<br />
Freund*innen und Bekannte waren besorgt,<br />
dass sie sich vielleicht übernehmen<br />
würde. Um sie vor sich selbst zu<br />
schützen, haben sie ihr wiederholt geraten,<br />
doch einen Plan B ins Auge zu fassen.<br />
„Aber einen Plan B gibt es nicht“,<br />
hatte sie immer wieder betont. Und den<br />
braucht sie jetzt wirklich nicht mehr. •<br />
Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />
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17
Europa und die<br />
Geflüchteten 2015<br />
65 Millionen Menschen sind 2015 weltweit auf der Flucht. Nur die wenigsten erreichen<br />
Europa. Die meisten lebten (und leben) laut UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) als<br />
Vertriebene im eigenen Land oder such(t)en Schutz in Nachbarregionen.<br />
Doch Kriege, Hunger und Klimakatastrophen sorgen dafür, dass sich immer mehr<br />
Menschen auf den lebensgefährlichen Weg zu uns machen.<br />
REDAKTION: ULRICH JONAS<br />
ILLUSTRATIONEN: GRAFIKDEERNS<br />
Norwegen<br />
Estland<br />
Schweden<br />
Lettland<br />
Russland<br />
Dänemark<br />
Litauen<br />
Großbritannien<br />
Irland<br />
Niederlande<br />
Polen<br />
Belarus<br />
Belgien<br />
Deutschland<br />
Tschechien<br />
Ukraine<br />
Slowakei<br />
Frankreich<br />
Schweiz<br />
Österreich Ungarn<br />
Slowenien<br />
Kroatien<br />
Rumänien<br />
Moldawien<br />
Italien<br />
Bosnien-<br />
Herzigowina<br />
Serbien<br />
Montenegro<br />
Kosovo<br />
Bulgarien<br />
Mazedonien<br />
Portugal<br />
Spanien<br />
Albanien<br />
Griechenland<br />
Annähernd 9000 Menschen ertranken allein in den<br />
Jahren 2015/2016 bei dem Versuch, über das<br />
Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Hinzu kommt<br />
eine unbekannte Zahl Geflüchteter, die auf den<br />
Fluchtrouten durch Afrika Richtung Mittelmeer<br />
sterben, etwa weil sie in der Wüste verdursten.<br />
Quellen: UNHCR, IOM<br />
Hier lebten 2015 im Verhältnis<br />
zu den Einheimischen<br />
die meisten Geflüchteten<br />
Libanon: 1 : 5<br />
Jordanien: 1 : 11<br />
Türkei: 1 : 31<br />
Zum Vergleich Deutschland: 1:260<br />
Quellen: UNHCR, Statistisches Bundesamt<br />
18
Neben Kriegen in Syrien, Afghanistan und Irak war es auch<br />
die katastrophale Lage in den Geflüchtetenlagern,<br />
die vielen den Anstoß gab, sich auf den Weg nach Europa<br />
zu machen. Mehrere reiche Nationen hatten Hilfszusagen<br />
nicht eingehalten, die Versorgung syrischer Geflüchteter<br />
war 2015 nur noch zu 41 Prozent finanziert –<br />
mit der Folge, dass die ohnehin bescheidenen<br />
Essensrationen nochmals verkleinert werden mussten.<br />
Quelle: UNHCR<br />
Mit dem EU-Türkei-Abkommen machten die Europäische<br />
Union und die Türkei im März 2016 die Grenzen weitestgehend<br />
dicht. Kern der Vereinbarung: Alle in Griechenland<br />
ankommenden Geflüchteten werden zurück in die Türkei<br />
gebracht, sofern sie kein Asyl beantragen oder ihr Antrag<br />
abgewiesen wird. Und für jede*n zurückgebrachte*n Syrer*in<br />
nimmt die EU eine*n syrische*n Geflüchtete*n mit Aussicht<br />
auf Asyl auf. Zudem sagte die EU der Türkei Milliardenhilfen<br />
zu. In der Folge sank die Zahl der Asylanträge deutlich<br />
(von 1,26 Millionen in 2015 auf rund 620.000 in 2017) –<br />
auch weil die Bundesregierung eine Reihe von Ländern<br />
wie den Kosovo und Albanien zu sogenannten sicheren<br />
Herkunftsstaaten erklärte.<br />
Quellen: Bundesregierung, Eurostat<br />
Asyl-Erstanträge in<br />
Deutschland:<br />
441.899<br />
(= 35 % aller Asyl anträge in der EU)<br />
davon Herkunftsländer mit den<br />
meisten Asylbewerber*innen<br />
Syrien 158.657<br />
Albanien 53.805<br />
Kosovo 33.427<br />
Afghanistan 31.382<br />
Irak 29.784<br />
Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge<br />
Asyl-Erstanträge<br />
gesamt in der EU:<br />
1.255.640<br />
davon Herkunftsländer mit den<br />
meisten Asylbewerber*innen<br />
Syrien 362.775<br />
Afghanistan 178.230<br />
Irak 121.535<br />
Kosovo 66.885<br />
Albanien 65.935<br />
Quelle: Eurostat<br />
Kasachstan<br />
Türkei<br />
Turkmenistan<br />
Tadschikistan<br />
Volksrepublik<br />
China<br />
Libanon<br />
Syrien<br />
Iran<br />
Afghanistan<br />
Irak<br />
Israel<br />
Jordanien<br />
Saudi-Arabien<br />
Pakistan<br />
Indien<br />
Europäische Union<br />
Haupt-Herkunftsländer<br />
19
Europa und die<br />
Geflüchteten 2019/<strong>2020</strong><br />
Gegenüber 2015 hat sich die Zahl der Geflüchteten, die Europa erreichen, halbiert.<br />
Weltweit sind dagegen so viele Menschen wie nie zuvor auf der Flucht: 79,5 Millionen<br />
Menschen. 85 Prozent von ihnen leben laut UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR)<br />
als Vertriebene im eigenen Land oder suchen in Nachbarstaaten Schutz.<br />
REDAKTION: ULRICH JONAS<br />
ILLUSTRATIONEN: GRAFIKDEERNS<br />
Norwegen<br />
Schweden<br />
Estland<br />
Dänemark<br />
Lettland<br />
Litauen<br />
Russland<br />
Großbritannien<br />
Irland<br />
Niederlande<br />
Polen<br />
Belarus<br />
Belgien<br />
Deutschland<br />
Tschechien<br />
Ukraine<br />
Slowakei<br />
Frankreich<br />
Schweiz<br />
Österreich Ungarn<br />
Slowenien<br />
Kroatien<br />
Rumänien<br />
Moldawien<br />
Italien<br />
Bosnien-<br />
Herzigowina<br />
Serbien<br />
Montenegro<br />
Kosovo<br />
Bulgarien<br />
Nordmazedonien<br />
Portugal<br />
Spanien<br />
Albanien<br />
Griechenland<br />
Türkei<br />
Ende Februar <strong>2020</strong> öffnete die Türkei kurzzeitig die Grenzen zu<br />
Griechenland. Tausende Geflüchtete machten sich daraufhin auf den<br />
Weg und leben seitdem unter menschenunwürdigen Bedingungen<br />
in völlig überfüllten Camps auf den griechischen Inseln.<br />
Nachdem die EU der Türkei neue Hilfszahlungen in Höhe von<br />
485 Millionen Euro zusagte, machte die die Grenzen wieder dicht.<br />
Die Türkei wirft der EU vor, Versprechen nicht eingehalten zu haben.<br />
Diese hat bislang nur gut die Hälfte der 2016 zugesagten<br />
sechs Milliarden Euro ausbezahlt.<br />
Ägypten<br />
Quellen: Europäische Union, Auswärtiges Amt<br />
20
Asyl-Erstanträge in<br />
Deutschland:<br />
142.509<br />
(= 23 % aller Asyl anträge in der EU)<br />
davon Herkunftsländer mit den<br />
meisten Asylbewerber*innen<br />
Syrien 39.270<br />
Irak 13.742<br />
Türkei 10.784<br />
Afghanistan 9.522<br />
Nigeria 9.070<br />
Quelle: Eurostat (für 2019)<br />
Bei der Flucht über das Mittelmeer sind seit 2014 mehr als<br />
20.000 Menschen ums Leben gekommen. Dieses Jahr sind es<br />
bislang mindestens 441 (Stand 20. August), 2019 wurden<br />
1319 Tote und Vermisste gezählt. Nachdem die Coronapandemie<br />
dafür sorgte, dass sich im Frühjahr weniger Menschen auf den<br />
Weg machten, steigt die Zahl nun wieder deutlich an. Bis Mitte<br />
August erreichten dieses Jahr 16.840 Geflüchtete Italien und<br />
Malta über den Seeweg – im Vergleichszeitraum 2019 waren es<br />
5500 Geflüchtete gewesen. Laut eines UNHCR-Sprechers<br />
treiben derzeit vor allem „weitere Menschenrechtsverletzungen,<br />
gerade in Libyen, wo es wieder schlimmer geworden ist“, und<br />
„die entsetzliche Situation in Syrien“ die Menschen zur Flucht.<br />
Quellen: IOM, UNHCR<br />
Hier lebten 2019 im Verhältnis<br />
zu den Einheimischen die<br />
meisten Geflüchteten<br />
Libanon: 1 : 7<br />
Jordanien: 1 : 15<br />
Türkei: 1 : 23<br />
Zum Vergleich Deutschland: 1 : 73<br />
Quellen: UNHCR, Statistisches Bundesamt<br />
Asyl-Erstanträge<br />
gesamt in der EU:<br />
612.700<br />
davon Herkunftsländer<br />
mit den meisten<br />
Asylbewerber*innen<br />
Syrien 74.400<br />
Afghanistan 52.500<br />
Venezuela 44.800<br />
Kolumbien 31.800<br />
Irak 26.800<br />
Quelle: Eurostat (für 2019)<br />
Afghanistan<br />
Das Land ist von 40 Jahren Konflikt und Vertreibung geprägt.<br />
Mehr als zwei Millionen Menschen leben als<br />
Binnen vertriebene im eigenen Land, Gewalt beherrscht<br />
das Leben. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden<br />
allein in den ersten neun Monaten 2019 mindestens<br />
2563 Zivilist*innen getötet und 5676 verletzt.<br />
Auch nach dem Friedensabkommen zwischen den USA und<br />
den Taliban im Februar dieses Jahres gab es immer wieder<br />
Anschläge mit Dutzenden Toten.<br />
Quellen: Amnesty International, UNHCR<br />
Syrien<br />
Die UN-Flüchtlingshilfe nennt es „die größte humanitäre<br />
Krise unserer Zeit“: Seit 2011 herrscht in Syrien Krieg,<br />
6,6 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Auch weil<br />
Russland, die Türkei, der Iran und die USA den Krieg befeuern,<br />
ist ein Ende nicht in Sicht. Zuletzt sorgten Russland und<br />
China dafür, dass Geflüchtete im Land nur noch über<br />
einen Grenzübergang versorgt werden können – für die<br />
Notleidenden eine Katastrophe.<br />
Quellen: Amnesty International, UNHCR<br />
Irak<br />
Kämpfe zwischen der Armee und Milizen, etwa des<br />
Islamischen Staates, zwingen immer mehr Menschen zur Flucht.<br />
Massenhinrichtungen, Vergewaltigungen und andere Gewalttaten<br />
sind weit verbreitet. 1,4 Millionen Menschen sind im eigenen<br />
Land auf der Flucht, hinzu kommen Geflüchtete aus Syrien.<br />
Mehr als 6,3 Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen.<br />
Quellen: Amnesty International, UNHCR<br />
Libanon<br />
Syrien<br />
Irak<br />
Iran<br />
Afghanistan<br />
Israel<br />
Jordanien<br />
Saudi-Arabien<br />
Pakistan<br />
Indien<br />
Europäische Union<br />
Haupt-Herkunftsländer<br />
21
Angekommen?!<br />
Wo die Integration von Geflüchteten gelingt – und wo nicht.<br />
REDAKTION: ULRICH JONAS<br />
ILLUSTRATIONEN: GRAFIKDEERNS<br />
Deutschland: Arbeitsmarkt<br />
Jede*r zweite Geflüchtete<br />
im erwerbsfähigen Alter geht fünf Jahre nach Ankunft in<br />
Deutschland einer Arbeit nach (Gesamtbevölkerung: 67 Prozent).<br />
Gut zwei Drittel davon haben einen Voll- oder Teilzeitjob, 17 Prozent<br />
machen eine Ausbildung, 3 Prozent ein bezahltes Praktikum und<br />
12 Prozent sind geringfügig beschäftigt. Und: Rund jede*r zweite<br />
Geflüchtete arbeitet als Fachkraft. Allerdings sind nur 29 Prozent der<br />
Frauen erwerbstätig (Männer: 57 Prozent).<br />
Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Bundesagentur für Arbeit<br />
Deutschland: Solidarität<br />
55 Prozent<br />
aller Bürger*innen haben<br />
seit 2015 Geflüchtete<br />
in irgendeiner Weise<br />
unterstützt – von Geld und<br />
Sachspenden bis hin zur<br />
Mitarbeit in einer Initiative.<br />
Quelle: Institut für<br />
Demoskopie Allensbach/BMFSFJ<br />
Deutschland: Zusammenhalt<br />
236 Millionen Euro<br />
haben nach Deutschland geflüchtete Syrer*innen ihren Familien<br />
geschickt, um deren Not in der Heimat zu lindern. Nach Schätzungen des<br />
Welternährungsprogramms haben rund 9,3 Millionen Syrer*innen nicht<br />
mehr genug zu essen – 1,4 Millionen mehr als vor sechs Monaten.<br />
Damit leidet inzwischen die Hälfte der Gesamtbevölkerung des Landes an Hunger.<br />
Quellen: Deutsche Bundesbank, Welternährungsprogramm<br />
Hamburg: Wohnungsnot<br />
3,5 Jahre<br />
lang leben Geflüchtete in Hamburg<br />
im Schnitt in einer städtischen<br />
Unterkunft, so der Senat.<br />
Rund 25.000 Geflüchtete befinden<br />
sich in sogenannter öffentlich-rechtlicher<br />
Unterbringung – weil sie keinen<br />
Anspruch auf eine Wohnung<br />
haben oder auf dem<br />
freien Markt nichts finden.<br />
Quelle: Bürgerschafts-<br />
Drucksache 21/20009<br />
Hamburg: Ausbildung<br />
2758<br />
Geflüchtete* befanden sich im Schuljahr 2018/2019<br />
in Hamburg in Ausbildung (Azubis gesamt: 40.000).<br />
Sie lernten vor allem in den Bereichen Gesundheit,<br />
Soziales, Lehre und Erziehung (608),<br />
Produktion und Fertigung (582) sowie Handel,<br />
Vertrieb und Tourismus (548).<br />
Gut 2500 machten eine duale Ausbildung,<br />
233 besuchten eine Berufsfachschule.<br />
* Als Geflüchtete definiert die Bundesagentur für Arbeit hier Menschen aus<br />
den acht Haupt-Herkunftsländern von Asylbewerber*innen der Jahre 2018/2019:<br />
Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Somalia, Syrien und Türkei.<br />
Quellen: Bürgerschafts-Drucksache 21/20144, Schuljahresstatistik.<br />
Daten für das Schuljahr 2019/<strong>2020</strong> lagen bei Redaktionsschluss nicht vor.<br />
22
Hamburg: Arbeitsmarkt I<br />
Hamburg: Herkunftsländer<br />
57.500<br />
Geflüchtete lebten im Mai <strong>2020</strong> in Hamburg.<br />
Rund 15.000 stammen aus Afghanistan,<br />
11.500 aus Syrien, es folgen mit Abstand die<br />
Herkunftsländer Iran (4450), Irak (3500),<br />
Russland (2900) und Eritrea (2300).<br />
Quelle: Bürgerschafts-Drucksache 22/546, neuere Daten liegen<br />
nicht vor. Als Geflüchtete definiert der Senat hier alle Menschen mit<br />
Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen, humanitären oder<br />
politischen Gründen sowie solche mit Niederlassungserlaubnis,<br />
Aufenthaltsgestattung oder Duldung.<br />
Hamburg: Solidarität<br />
Mehr als 90<br />
Gruppen engagierter<br />
Bürger*innen schlossen<br />
sich 2016 zum Bündnis<br />
Hamburger Flüchtlingsinitiativen<br />
zusammen.<br />
Ihr Selbstverständnis:<br />
nicht über Geflüchtete reden,<br />
sondern mit ihnen,<br />
um gemeinsam etwas<br />
zu lernen.<br />
Quelle: Bündnis Hamburger<br />
Flüchtlingsinitiativen,<br />
http://bhfi.de/<br />
Afghanistan 15.000<br />
Syrien 11.500<br />
Iran 4450<br />
Hamburg: Weniger Chancen<br />
4500<br />
Kinder von Zuwander*innen<br />
zwischen 0 und 6 Jahren leben<br />
in öffentlichen Unterkünften.<br />
Rund 1550 von ihnen, also jedes<br />
dritte Kind, besuchen eine Kita.<br />
Zum Vergleich: Betrachtet<br />
man alle Hamburger Kinder,<br />
liegt die Quote bei 80 Prozent.<br />
Quellen: Bürgerschaftsdrucksachen 22/546,<br />
Sozialbehörde<br />
Hamburg: Musterprojekt<br />
850<br />
Wohnungslots*innen engagieren sich bei der Wohnbrücke<br />
Hamburg ehrenamtlich dafür, dass Geflüchtete eigene<br />
vier Wände finden. Sie helfen bei der Bewerbung, begleiten<br />
den Umzug und stehen auch danach als Ansprechpartner*innen<br />
bereit. Seit November 2015 konnte das Projekt mehr als<br />
2000 Geflüchtete in Wohnungen begleiten.<br />
Quelle: Wohnbrücke Hamburg, www.wohnbruecke-lawaetz.de<br />
23<br />
Irak 3500<br />
Russland 2900<br />
Eritrea 2300<br />
Geflüchtete in Hamburg<br />
haben geschätzt einen Job.<br />
Aktuelle und vollständige<br />
Daten liegen nicht vor,<br />
die neuesten stammen<br />
aus Dezember 2019.*<br />
Demnach gingen 15.633 einer<br />
sozialversicherungspflichtigen<br />
Beschäftigung nach,<br />
3337 hatten einen Minijob und<br />
2256 befanden sich in<br />
Ausbildung. Ende 2018 zählte die<br />
Bundesagentur für Arbeit noch<br />
18.000 Geflüchtete in Job oder<br />
Ausbildung, gut 10.000 mehr<br />
als Ende 2015.<br />
Weitere knapp 3000 Geflüchtete<br />
nahmen im März<br />
dieses Jahres an<br />
qualifizierenden Programmen<br />
der Arbeitsagentur oder<br />
des Jobcenters, etwa an<br />
Eingliederungsmaßnahmen<br />
(1136) oder beruflichen Weiterbildungen<br />
(614) teil. Neuere<br />
Daten liegen auch hier nicht vor.<br />
* Als Geflüchtete definiert die Bundesagentur für<br />
Arbeit hier hilfsweise Menschen aus den acht<br />
Haupt-Herkunftsländern von Asylbewerber*innen<br />
Ende 2019: Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran,<br />
Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien.<br />
Quellen: Bundesagentur für Arbeit,<br />
Lebenslagenbericht der Sozialbehörde.<br />
Arbeitsmarkt II<br />
der in Hamburg neu ankommenden<br />
Geflüchteten verfügen über<br />
eine akademische Ausbildung,<br />
71 Prozent über eine mindestens<br />
zweijährige Berufserfahrung.<br />
Gut 56 Prozent haben elf oder<br />
mehr Jahre die Schule besucht,<br />
13 Prozent neun bis<br />
zehn Jahre, 18 Prozent fünf bis<br />
acht Jahre und 4 Prozent<br />
bis zu vier Jahre.<br />
Quelle: Bürgerschafts-Drucksache 22/682 auf<br />
Grundlage von Befragungen des Projekts W.I.R.
5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />
Titelthema<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />
Arbeitsagenturchef Detlef Scheele<br />
war zwischen 2011 und 2015<br />
Sozialsenator in Hamburg.<br />
Ausländer von der Krise am stärksten<br />
betroffen: Es sind häufig Männer, häufig<br />
ungelernt, oft in Zeitarbeitsfirmen,<br />
häufig in befristeten Jobs. Da ist auf<br />
jeden Fall ein Schaden eingetreten. Das<br />
liegt eben an der Kombination aus<br />
ungelernter Tätigkeit, aus Zeitarbeit<br />
und befristeten Verträgen.<br />
„Positive Effekte“<br />
Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für<br />
Arbeit, über Geflüchtete auf dem Arbeitsmarkt.<br />
INTERVIEW: BIRGIT MÜLLER<br />
FOTO: DPA / DANIEL KARMANN<br />
Hinz&Kunzt: Herr Scheele, was geht<br />
Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an<br />
„5 Jahre ‚Wir schaffen das!‘“ denken?<br />
DETLEF SCHEELE: Wir haben in der Tat einiges<br />
geschafft. Aber die ersten Monate,<br />
als ich als Sozialsenator noch für die<br />
Unterbringung zuständig war, waren<br />
sehr aufregend. Weil wir am Ende doch<br />
den Parkplatz mit Zelten genommen<br />
hatten, was wir nie wollten. Ich erinnere<br />
mich noch an einen Besuch dort, und<br />
die Menschen lagen in dreistöckigen<br />
Betten in Zelten, und der ganze Parkplatz<br />
war nass. Das fühlte sich auf den<br />
ersten Blick nicht so an, als ob wir das<br />
schaffen würden.<br />
Im selben Jahr sind Sie ja in den Vorstand<br />
der Bundesagentur für Arbeit gewählt<br />
worden, deren Chef Sie seit 2017 sind.<br />
Insbesondere im Bereich der jugendlichen<br />
Flüchtlinge haben wir am Arbeitsmarkt<br />
und bei den Ausbildungen<br />
eher einen Zugewinn als eine Belastung<br />
gehabt. Die Flüchtlinge haben dazu<br />
beigetragen, die Ausbildungsplatzlücke<br />
weiter zu schließen. Und vor allem im<br />
Um und Angelerntenbereich haben<br />
wir zuletzt 360.000 Menschen aus den<br />
Hauptherkunftsländern in sozialversicherungspflichtiger<br />
Beschäftigung. Die<br />
haben niemandem einen Arbeitsplatz<br />
weggenommen, und wir hätten die Arbeitsplätze<br />
nicht besetzen können.<br />
Gab es Probleme, die Sie anfangs<br />
unterschätzt haben?<br />
Ich habe die positiven Aspekte auf<br />
dem Arbeitsmarkt erst mit der Zeit<br />
gesehen. Ich habe nicht gedacht,<br />
dass es uns gelingt, eine so große<br />
Zahl von Flüchtlingen nach den<br />
schleppenden Deutschkursen und den<br />
sehr schwierigen Fragen der Integrationskurse<br />
in den Arbeitsmarkt zu<br />
integrieren.<br />
Gibt es noch eine große Baustelle?<br />
Ehrlicherweise kann ich das zurzeit<br />
nicht sagen, weil die CoronaKrise alles<br />
überlagert. Am Arbeitsmarkt sind nicht<br />
nur Flüchtlinge, sondern generell<br />
Da ist es wohl auch schwierig,<br />
eine Prognose zu wagen?<br />
Wir gehen davon aus, dass wir das Beschäftigungsniveau<br />
aus der Zeit vor<br />
Corona im übernächsten Jahr wieder<br />
erreichen können. Und dann werden<br />
wir die Menschen auch wieder brauchen.<br />
Daran hat sich nichts geändert.<br />
Die Chancen werden schon wiederkommen,<br />
aber kurzfristig und mit Blick<br />
auf den Winter und das erste Halbjahr<br />
nächsten Jahres eher nicht.<br />
Gibt es etwas, was Sie bei diesem Thema<br />
besonders bewegt oder bewegt hat?<br />
Was mich wirklich bewegt hat:<br />
Die staatlichen Einrichtungen haben<br />
etwas geschafft, der Senat, andere Landesregierungen,<br />
Kommunen. Aber in<br />
Wahrheit war es eine großartige Leistung<br />
der Zivilgesellschaft. Die wurde<br />
dann etwas überlagert durch die unsäglichen<br />
Töne rund um die AfD. Denn in<br />
Wahrheit hat sich das Land den Flüchtlingen<br />
gegenüber geöffnet – und wir<br />
hätten doch in den ersten Monaten gar<br />
nichts geschafft ohne die ehrenamtlichen<br />
Deutschkurse und ohne dass Freiwillige<br />
in die Unterkünfte gegangen wären<br />
und etwas für die Kinder getan<br />
hätten. Das war doch staatlicherseits<br />
gar nicht vorzubereiten in der Kürze<br />
der Zeit. •<br />
Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de<br />
Detlef Scheele (SPD) war von 2011<br />
bis 2015 Sozialsenator in Hamburg,<br />
danach Mitglied im Bundesvorstand der<br />
Arbeitsagentur, deren Vorsitzender er<br />
seit 2017 ist.<br />
24
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Titelthema<br />
Euphorie weicht Skepsis<br />
Khaled Almaani kam als Flüchtling nach Hamburg –<br />
und beobachtet einen Stimmungswandel in der Gesellschaft.<br />
TEXT: JONAS FÜLLNER<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
A<br />
ls Khaled Almaani im August 2015 nach Hamburg<br />
kam, verbrachte der Syrer die ersten Wochen auf<br />
einem Feldbett in einer Messehalle und war auf Hilfe<br />
angewiesen. Fünf Jahre später hilft er selbst Geflüchteten<br />
und jungen Deutschen bei der Arbeits- und Wohnungssuche:<br />
Als sogenannter Kulturmittler arbeitet er Vollzeit für einen<br />
privaten Träger und studiert obendrein Soziale Arbeit. Ein<br />
volles Programm. „Aber Ende des Jahres bin ich dann ein<br />
richtiger Sozialarbeiter“, sagt Khaled nicht ohne Stolz.<br />
Sein Vorteil: Im Unterschied zu anderen Geflüchteten<br />
sprach er bereits vor seiner Ankunft Deutsch. Ende der<br />
2000er-Jahre studierte Khaled einige Semester in Münster.<br />
Zurück in Syrien brach er schließlich aus Angst vor dem sich<br />
ausbreitenden Krieg erneut Richtung Deutschland auf und<br />
landete schließlich auf St. Pauli. Ich selbst engagierte mich<br />
damals als Anwohner in der Geflüchteteninitiative im Karoviertel<br />
und lernte dabei Khaled kennen, der als Übersetzer<br />
zwischen Helfer*innen und Geflüchteten in der Messehalle<br />
fungierte.<br />
Während er selbst inzwischen einen unbefristeten Aufenthaltstitel<br />
vorweisen kann, hatten es andere schwerer.<br />
Wenn er beruflich Geflüchtete auf Behördengängen begleite,<br />
erlebe er viel zu oft, wie den Menschen unnötig Steine in den<br />
Weg gelegt werden, statt ihnen zu helfen. Khaled spricht von<br />
Alltag bei Feiern wie Silvester oder auch Karneval. Nur hätten<br />
plötzlich Nationalität und Kultur der Täter eine übergeordnete<br />
Rolle gespielt, und durch die Medien wurden die Ereignisse<br />
seiner Meinung nach immer weiter „hochgepuscht“.<br />
Dabei gebe es doch echte Erfolge der Integration. Allein,<br />
dass viele Geflüchtete inzwischen Arbeit gefunden hätten<br />
und Sozialabgaben zahlten. Doch statt solche Erfolge zu<br />
benennen, würde Populist*innen eine viel zu große Bühne<br />
geboten. Khaled beklagt: „Politiker der AfD sind inzwischen<br />
regelmäßig Gäste in Talkshows, während Geflüchtete kaum<br />
zu Wort kommen.“ •<br />
Kontakt: jonas.fuellner@hinzundkunzt.de<br />
„Geflüchtete kommen<br />
kaum zu Wort.“<br />
KHALED ALMAANI<br />
einer Schein-Integration. Gleichzeitig betont er die<br />
Stärke des hiesigen Sozialstaates: Schließlich könne jede*r<br />
das bekommen, was ihr oder ihm zustehe. „Und sei es, dass<br />
ich mein Recht notfalls mit Anwälten durchsetze.“<br />
Probleme mit dem Jobcenter hätten schließlich auch<br />
zahlreiche Deutsche. Was ihm daher wirklich Sorge bereite,<br />
sei vielmehr die alltägliche Stimmung. „Vor fünf Jahren waren<br />
alle euphorisch, und jetzt überwiegt eine Skepsis – auf<br />
beiden Seiten“, sagt der 38-Jährige. „Es wird mehr geschaut,<br />
was falsch läuft und nicht, was man erreicht.“<br />
Ein Wendepunkt sei wohl die Silvesternacht 2015 gewesen.<br />
Damals verübten auf dem Vorplatz des Kölner Hauptbahnhofs<br />
überwiegend arabische junge Männer sexuelle<br />
Übergriffe und Diebstähle. „Ich war nicht überrascht“, sagt<br />
Khaled rückblickend. Übergriffe wären schließlich trauriger<br />
25
5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />
Titelthema<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />
„Mit voller Energie an<br />
die noch ausstehenden<br />
Aufgaben gehen“:<br />
Diakoniechef und Hinz&Kunzt-<br />
Herausgeber Dirk Ahrens.<br />
„Eine Ermutigung<br />
für unsere europäischen<br />
Nachbarn und uns!“<br />
Eine Woche lang sprach Diakoniechef und Hinz&Kunzt-Herausgeber Dirk Ahrens mit Mitarbeitenden<br />
von Beratungsstellen und Behörden sowie mit Geflüchteten. Hier sein Fazit der Sommertour.<br />
W<br />
ir schaffen das!“ Dieser<br />
Satz wird für die Kanzlerschaft<br />
von Angela Merkel<br />
historisch der prägendste<br />
sein. Sie positionierte sich mit<br />
dieser Aussage nicht nur zugunsten Hunderttausender<br />
Flüchtlinge, sondern stellte<br />
sich auch an die Seite einer Zivilgesellschaft,<br />
die sich überwältigend engagierte.<br />
Es war wohltuend, die Spitze der Politik<br />
zupackend optimistisch zu erleben. Bundespräsident<br />
Roman Herzog hatte 1997<br />
das Wort vom „Ruck“ geprägt, der durch<br />
Deutschland gehen müsse.<br />
2015 im Sommer war dieser Ruck<br />
zu spüren. Und Angela Merkel hatte<br />
die Parole dazu ausgegeben: „Wir<br />
schaffen das!“ Natürlich kamen dann<br />
FOTOS: ANNETTE SCHRADER (OBEN), CHRISTIANE WOLTER<br />
bald jene, die ihre Energie lieber in ihre<br />
Sorgen und Vorurteile investierten,<br />
während sich große Teile der<br />
Zivilgesellschaft, aber auch Polizei,<br />
Ämter und Kommunen für das gute<br />
Ziel aufrieben. Alexander Gauland rief<br />
die Gegenparole am 7. Oktober 2015<br />
in Erfurt aus: „Wir wollen das gar nicht<br />
schaffen!“<br />
Die Politik begann zu schwanken,<br />
und Flüchtlinge und Engagierte fühlten<br />
sich bald alleingelassen. Heute schauen<br />
wir zurück und fragen uns, ob wir das<br />
geschafft haben. Ich habe mir eine<br />
Woche Zeit genommen und das<br />
Gespräch mit Geflüchteten, engagierten<br />
Haupt- und Ehrenamtler*innen und<br />
Politiker*innen gesucht. Alle waren der<br />
26<br />
Meinung, dass wir enorm viel geschafft<br />
hätten, auch wenn noch große Probleme<br />
zu bewältigen seien.<br />
Tatsächlich sind wir seit 2015 deutlich<br />
besser geworden, zum Beispiel was<br />
das Angebot von Sprachkursen und Integrationsmaßnahmen<br />
betrifft. Auch<br />
der Zugang zu Arbeit und Bildung wurde<br />
deutlich erleichtert. Allerdings gilt<br />
das nur für Geflüchtete mit anerkanntem<br />
Aufenthaltsstatus. Das Aufenthaltsrecht<br />
selbst wurde seit 2015 deutlich<br />
verschärft, was wieder jahrelange, zermürbende<br />
und integrationsfeindliche<br />
Anerkennungsverfahren nach sich<br />
zieht. Genau das wollten wir doch endlich<br />
überwinden! Insbesondere weil die<br />
Erfahrung zeigt: Die meisten Menschen
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Titelthema<br />
können letztlich aus diesen oder jenen<br />
Gründen in Deutschland bleiben.<br />
Mir scheint es menschenfreundlicher<br />
und auch volkswirtschaftlich<br />
sinnvoller, von Anfang an in Integration<br />
zu investieren, statt in eine teure,<br />
menschenfeindliche und am Ende<br />
nutzlose Abschreckungs und Abschiebepolitik,<br />
die viele gebrochene und<br />
desintegrierte Menschen her vorbringt.<br />
Tatsächlich ist es nicht so wichtig, wie<br />
viele Menschen Deutschland aufnimmt.<br />
Wichtig ist, ob diese Menschen sich hier<br />
einbringen und ihr Potenzial entfalten<br />
können. Davon profitieren alle am<br />
meisten, und dafür braucht es<br />
gelingende Integration.<br />
Neben dem rigiden Aufenthaltsrecht<br />
besorgt mich außerdem die Situation<br />
der vielen Familien und Kinder in den<br />
öffentlichrechtlichen Unterkünften.<br />
Rund 13.000 Geflüchtete in Hamburg<br />
haben das Recht, sich eine eigene<br />
Wohnung zu mieten, scheitern aber<br />
Wir sollten die<br />
guten Geschichten<br />
herausstellen.<br />
gemeinsam mit vielen anderen<br />
Benachteiligten am Wohnungsmarkt.<br />
Also verbleiben sie oftmals für Jahre in<br />
öffentlicher Unterkunft. Insbesondere<br />
für Kinder ist das kein guter Lebensort:<br />
zu eng, zu laut, zu wenig Privatsphäre.<br />
Ihre Eltern haben uns gesagt, dass sie<br />
Treffpunkt<br />
Beruf bei der<br />
Diakonie:<br />
Landespastor<br />
Dirk Ahrens im<br />
Gespräch mit<br />
Projektleiterin<br />
Nina Foik und<br />
Hebah Alhaj,<br />
die sich hier<br />
beraten lässt.<br />
hoch besorgt sind, weil sie nicht sähen,<br />
wie sie ihre Kinder dort ausreichend<br />
schützen und fördern könnten.<br />
Möglicherweise lässt sich das nicht<br />
schnell ändern, aber dass gleichzeitig<br />
frei werdende Unterkünfte abgebaut<br />
werden, statt insbesondere Familien den<br />
frei werdenden Raum zu geben und<br />
damit eine strukturelle Benachteiligung<br />
der Kinder zumindest zu mildern,<br />
erscheint mir völlig widersinnig.<br />
Dennoch ist mein Fazit eindeutig<br />
positiv. Insbesondere vor dem Hintergrund<br />
der aktuellen Lage in Syrien,<br />
Afghanistan oder im Flüchtlingslager<br />
Moria in Griechenland: Wir haben<br />
Hunderttausenden ein Leben in Sicherheit<br />
ermöglicht, und keines der von den<br />
Kassandren prognostizierten Katastrophenszenarien<br />
ist eingetroffen. Die<br />
Kriminalität ist nicht gestiegen, die<br />
Arbeitslosigkeit war bis zur Coronapandemie<br />
auf niedrigstem Niveau, Kinder<br />
gehen zur Schule und viele machen Ausbildungen<br />
oder haben längst Arbeit.<br />
Ganz klar: Wir haben das geschafft.<br />
Oder viel wichtiger: Wir haben Hunderttausenden<br />
die Chance gegeben, es<br />
zu schaffen! Das bleibt wahr, trotz<br />
manch haarsträubenden Scheiterns,<br />
erschreckenden Erfahrungen mit dem<br />
deutschen Behördendschungel und<br />
einer gewachsenen populistischen<br />
Rechten. Wir sollten uns diesen großen<br />
Erfolg nicht nehmen lassen, sondern<br />
die guten Geschichten herausstellen, als<br />
Ermutigung für unsere europäischen<br />
Nachbarn und uns. Aber auch, um mit<br />
voller Energie an die noch ausstehenden<br />
Aufgaben zu gehen. Nicht angstgetrieben,<br />
sondern konstruktiv hoffnungsvoll:<br />
Wir schaffen das! •<br />
Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Landespastor Dirk Ahrens zu Besuch im<br />
Fluchtpunkt, einer der wichtigsten Rechtsberatungen<br />
für Geflüchtete in der Stadt.<br />
Links: Wandgemälde im Begegnungszentrum<br />
Alte Schule Niendorf.
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />
Nadja (oben), Becki,<br />
Jana und Christoph<br />
(von links) befürchten,<br />
dass in der alten<br />
Saga-Villa in Billbrook<br />
jetzt Luxuswohnungen<br />
entstehen.<br />
Spekulation am<br />
Billbrookdeich?<br />
2014 überführte der Senat alle städtischen Wohnungen an<br />
die Saga. Klare Maßgabe: Keine weitere Privatisierung.<br />
Sechs Jahre später stehen drei Wohnungen plötzlich zum Verkauf.<br />
TEXT: JONAS FÜLLNER<br />
FOTO: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />
W<br />
er reichlich gespart hat und<br />
raus ins Grüne will, der<br />
könnte sich unweit der<br />
Boberger Dünen jetzt seinen Traum<br />
erfüllen: In Billbrook steht eine Gründerzeitvilla<br />
zum Verkauf. Das allerdings<br />
hat die Nachbarn auf den Plan gerufen.<br />
„Was hier passiert, stinkt nach Spekulation“,<br />
sagt Jana, die gleich nebenan in<br />
einem Wohnprojekt wohnt.<br />
Eine gewagte These angesichts der<br />
Lage: Der Weg ins Grüne führt durch<br />
ein Industriegebiet. Zum nächsten Supermarkt<br />
läuft man fast zwei Kilometer,<br />
und umsäumt wird das Gelände von<br />
einem Lkw-Wendeplatz. Kein Wohnparadies.<br />
Und trotzdem: Weil die Preise<br />
für Eigentumswohnungen allein in<br />
den vergangenen fünf Jahren um fast<br />
40 Prozent in die Höhe schossen, werden<br />
wohl sogar für solchen Lagen<br />
horrende Preise geboten.<br />
Dabei waren sich Jana und ihre<br />
Mitbewohner*innen Nadja, Becki und<br />
Christoph sicher, dass nebenan niemals<br />
Luxuswohnungen entstehen. 2014<br />
überführte die Stadt das Grundstück im<br />
Paket mit 900 anderen Wohnungen an<br />
die städtische Saga, „um sicherzustellen,<br />
dass die Wohnimmobilien … auch<br />
in Zukunft nicht an private Eigentümer<br />
verkauft werden“, wie es in einer Senatsmitteilung<br />
heißt. Sechs Jahre später<br />
fühlt man sich bei der Saga daran nicht<br />
mehr gebunden. Ein Sprecher erklärt<br />
gegenüber Hinz&Kunzt trocken, dass<br />
die alte Villa „nicht in das Bestandsportfolio<br />
des Unternehmens“ passe.<br />
Dass das Haus überhaupt leer steht,<br />
liegt laut Nachbarin Nadja wiederum<br />
daran, dass die Saga den Mieter*innen<br />
attraktive Alternativen bot. Das ist nicht<br />
verwerflich. „Uns war daher aber schon<br />
länger klar, dass hier peu à peu entmietet<br />
wird“, sagt die 36-Jährige. Nachdem<br />
die letzte Mieterin auszog, hätten<br />
sie sich selbst um einen Kauf bemüht.<br />
„Wir wollten bezahlbaren Wohnraum<br />
erhalten“, sagt Nadja. Aber die Saga<br />
lehnte ab. Man biete zwar für soziale<br />
Projekte zu angemessenen Konditionen<br />
Raum an, teilt das Unternehmen<br />
Hinz&Kunzt mit. Ein entsprechendes<br />
Konzept hätte das Wohnprojekt aber<br />
nicht vorgelegt. Man gehe daher davon<br />
aus, „dass das überwiegende Interesse<br />
in der privaten Wohnnutzung liegt“.<br />
Ein Vorwurf mit skurrilen Zügen:<br />
Schließlich dürfte erst das jetzt durchgeführte<br />
Gebotsverfahren die Preise in<br />
die Höhe treiben. Und hohe Kaufpreise<br />
führen zu hohen Mieten. Dabei sind<br />
günstige Wohnungen rar. Nadja und<br />
ihre Mitbewohner*innen hoffen deswegen<br />
weiterhin, dass die Saga im Fall der<br />
Villa nicht nach dem höchsten Gebot,<br />
sondern der besten sozialen Idee bei<br />
der Vergabe entscheidet. •<br />
Kontakt: jonas.fuellner@hinzundkunzt.de<br />
28
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Meldungen<br />
Politik & Soziales<br />
FOTO: SEAWATCH<br />
29<br />
Im August<br />
rettete die<br />
Sea-Watch 4<br />
knapp 200<br />
Geflüchtete<br />
innerhalb von<br />
48 Stunden<br />
aus Seenot.<br />
Die Hilfsmission<br />
wird<br />
fast ausschließlich<br />
durch kirchliche<br />
Spenden<br />
finanziert.<br />
Nach Gerichtsurteil<br />
Hamburg entschärft seine Abschiebepraxis<br />
Die Innenbehörde wird vorerst keine Geflüchteten ohne richterlichen Beschluss aus<br />
ihren Unterkünften holen, um sie abzuschieben. Damit reagiert die Behörde auf ein<br />
Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts (Az: 4 Bf 160/19). Das hatte eine<br />
Entscheidung der Vorinstanz bestätigt, nach der solche Zimmer eine Wohnung im<br />
Sinne des Grundgesetzes sind – und ohne Einwilligung der Betroffenen nur aufgrund<br />
richterlicher Anordnung betreten werden dürfen, um eine Abschiebung durchzuführen.<br />
Nach der Entscheidung der Vorinstanz hatte die Behörde zunächst an ihrer<br />
Praxis festgehalten. Unklar ist allerdings, welche langfristigen Folgen das Urteil haben<br />
wird, denn die Große Koalition hat das Aufenthaltsgesetz inzwischen verschärft. Die<br />
Innennehörde teilte mit, sie wolle die Urteilsbegründung daher genau prüfen. UJO<br />
•<br />
Langzeitstudie<br />
Wie wirkt das<br />
Grundeinkommen?<br />
Wie verändert ein bedingungsloses<br />
Grundeinkommen die Gesellschaft?<br />
Antworten soll eine Studie geben,<br />
erstellt vom Deutschen Institut für<br />
Wirtschaftsforschung und finanziert<br />
durch private Spenden. Drei Jahre lang<br />
bekommen 120 zufällig ausgewählte<br />
Teilnehmer*innen 1200 Euro monatlich<br />
ausbezahlt. Sie müssen keine<br />
Bedürftigkeit belegen und können unbegrenzt<br />
hinzuverdienen. Befragungen<br />
sollen zeigen, ob und wie sich ihre<br />
Berufstätigkeit verändert, ob sie<br />
zufriedener sind und ob sie sich stärker<br />
gesellschaftlich engagieren. UJO<br />
•<br />
www.pilotprojekt-grundeinkommen.de<br />
Bildungs- und Teilhabepaket<br />
Gericht: Bund muss<br />
nachbessern<br />
Das Bildungs- und Teilhabepaket ist in<br />
Teilen verfassungswidrig. Das hat das<br />
Bundesverfassungsgericht entschieden<br />
(AZ: 2 BvR 606/12). Mit dem Paket<br />
hatte der Bund die Unterstützung von<br />
Kindern aus armen Familien 2011 ausgeweitet<br />
– etwa für Nachhilfe, Mittagessen<br />
und Schulausflüge. Dabei habe<br />
er den Kommunen „unzulässig“ neue<br />
Aufgaben übertragen, so die Richter.<br />
Bis Ende 2021 muss der Bund jetzt die<br />
geltenden Regelungen korrigieren. UJO<br />
•<br />
Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />
www.hinzundkunzt.de<br />
Neue Wohnunterkünfte<br />
Hilfe für Corona-Erkrankte<br />
Bewohner*innen in öffentlichen<br />
Unterkünften leben oft beengt und<br />
müssen sich ihren Wohnbereich<br />
meist mit anderen teilen. Um<br />
Kranke besser betreuen und die<br />
Ausbreitung des Coronavirus eindämmen<br />
zu können, hat die Stadt<br />
Hamburg Mitte August zwei neue<br />
Quarantäne-Unterkünfte mit insgesamt<br />
180 Plätzen in Langenhorn<br />
und Schnelsen eröffnet. JOF<br />
•<br />
Schlafplätze von Obdachlosen<br />
Vertreibung trotz Corona<br />
Etwa jeden vierten Tag wird<br />
aktuell trotz der Coronapandemie<br />
in Hamburg ein Schlafplatz von<br />
Obdachlosen geräumt. Das zeigen<br />
Hinz&Kunzt-Recherchen. Dabei<br />
hatten mehrere Bezirke noch Ende<br />
März erklärt, Obdachlose wegen<br />
Corona nicht von ihren Platten zu<br />
vertreiben. Doch allein in Altona,<br />
Eimsbüttel und Mitte gab es 37<br />
Räumungen. Unklar ist allerdings,<br />
wie viele Obdachlose man dabei<br />
vertrieb. Denn nach Angaben der<br />
Bezirksämter waren die meisten<br />
Platten „bereits verlassen“. JOF<br />
•<br />
Sicherer Hafen<br />
Hamburg nimmt bislang nur<br />
elf Geflüchtete auf<br />
Trotz Corona erklärte sich Hamburg<br />
im April bereit, Minderjährige<br />
und ihre Familien aus überfüllten<br />
Flüchtlingslagern in Griechenland<br />
aufzunehmen. Da erst elf statt<br />
der angekündigten 150 Menschen<br />
in Hamburg eingetroffen sind,<br />
wirft die Linksfraktion dem<br />
Senat mangelnden Einsatz vor.<br />
Man habe keinen Einfluss auf<br />
die Verteilung durch den Bund,<br />
rechtfertigt sich der Senat. JOF<br />
•
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />
Durchs<br />
Raster gefallen<br />
Anwohner*innen stellten<br />
im Lohmühlenpark<br />
Kerzen für Frank auf.<br />
Ein 33-jähriger Obdachloser stirbt im Park – nachdem am Tag zuvor<br />
Rettungskräfte und Polizei gerufen wurden, ihm aber nicht halfen.<br />
Der dramatische Fall deckt eine Versorgungslücke im Hilfesystem auf.<br />
TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />
FOTO: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />
Wieso Frank mit 33 Jahren<br />
in einem Hamburger<br />
Park sterben musste, ist<br />
bislang unklar. Auch ob<br />
er noch leben würde, wenn die gerufenen<br />
Rettungskräfte und Polizisten ihm<br />
am 12. August mehr geholfen hätten,<br />
weiß niemand. Was aber feststeht: Der<br />
33-jährige Obdachlose wollte Hilfe, aber<br />
wie dringend er sie brauchte, war wohl weder<br />
den Rettungskräften noch der Polizei<br />
klar. Einen Tag später war er tot.<br />
Anwohner Andreas Pick wählt den<br />
Notruf, als er den bewusstlosen Frank<br />
im Lohmühlenpark liegen sieht, umgeben<br />
von Fliegen. „Man stumpft ja auch<br />
30<br />
ein bisschen ab gegenüber den Obdachlosen“,<br />
sagt Pick. Deswegen habe<br />
er zunächst gezögert. Aber dieser Fall<br />
war anders, Frank wirkte besonders hilfebedürftig:<br />
„Er war so richtig verwahrlost,<br />
unheimlich schmutzig.“<br />
Ein Rettungswagen kommt, stellt<br />
aber offenbar fest, dass kein Notfall vor-
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
liegt. Denn Frank reagiert jetzt doch,<br />
berichtet Pick, ist ansprechbar. Sagt,<br />
dass er keine Schmerzen habe, sich aber<br />
schwach fühle. Also fährt der Rettungswagen<br />
wieder. Nachfragen dazu beantwortet<br />
die zuständige Feuerwehr nicht –<br />
auch nicht, ob ein Arzt dabei war oder<br />
Sanitäter die Entscheidung trafen.<br />
„Hast du genug getrunken?“, fragt<br />
Pick ihn. „Schon länger nicht mehr“,<br />
sei die Antwort gewesen. Es sind an diesem<br />
Tag 31 Grad, die Stadt leidet seit<br />
einer Woche unter Dauerhitze, öffentliche<br />
Wasserspender sind wegen Corona<br />
geschlossen, Hilfseinrichtungen haben<br />
aus demselben Grund nur ein eingeschränktes<br />
Angebot. Also besorgt Pick<br />
Essen und Trinken.<br />
Weil Frank sagt, dass er in die städtische<br />
Notunterkunft in der Friesenstraße<br />
möchte, aber zu schwach ist, um hinzugehen,<br />
wählt Pick erneut den Notruf.<br />
Diesmal kommt die Polizei – und stellt<br />
fest, dass Frank selbstständig stehen<br />
kann, isst und trinkt. Den gewünschten<br />
Transport in die zweieinhalb Kilometer<br />
entfernte Einrichtung lehnt sie ab. „Irgendwo<br />
endet die polizeiliche Zuständigkeit“,<br />
erklärt Polizeisprecher Florian<br />
Abbenseth.<br />
„Ich schlafe hier heute Nacht und<br />
gehe dann morgen in die Friesenstraße“,<br />
soll Frank gesagt haben, bevor er<br />
dann sein Nachtlager in Sichtweite der<br />
Asklepiosklinik St. Georg aufgeschlagen<br />
habe. Er kommt nie in der Notunterkunft<br />
an, stirbt vorher im Park.<br />
Ist er Opfer einer Versorgungslücke<br />
geworden? Dass Obdachlosen in Hamburg<br />
zu wenig Versorgung und kein<br />
Transport angeboten wird, wenn sie<br />
zwar hilfsbedürftig sind, aber nicht als<br />
Notfall anerkannt werden, beklagen<br />
Sozialarbeiter*innen schon lange. Im<br />
Winter fahren die Ehrenamtlichen vom<br />
Kältebus seit 2019 Obdachlose in die<br />
Unterkünfte. Ein spendenfinanziertes<br />
Angebot, das im Sommer fehlt.<br />
Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan<br />
Karrenbauer kritisiert, dass Rettungskräfte<br />
und Polizist*innen nun die Versäumnisse<br />
der Politik ausbaden müssten.<br />
„Immer häufiger wird etwa der<br />
„Irgendwo<br />
endet die<br />
polizeiliche<br />
Zuständigkeit.“<br />
FLORIAN ABBENSETH, POLIZEI<br />
Krankenwagen gerufen in der Hoffnung,<br />
dass er die Person zumindest erst<br />
einmal mitnimmt und sie richtig versorgt“,<br />
sagt er.<br />
Sieht die Sozialbehörde von Senatorin<br />
Melanie Leonhard (SPD) Handlungsbedarf<br />
? Bis Redaktionsschluss äußert<br />
sie sich trotz Nachfragen dazu<br />
nicht. Anders die Grünen, die gemeinsam<br />
mit der SPD die Landesregierung<br />
stellen: „Der tragische und traurige Fall<br />
zeigt, dass das Leben auf der Straße für<br />
die Obdachlosen immer auch ein hohes<br />
Risiko bedeutet und Hilfen so niedrigschwellig<br />
wie möglich ansetzen müssen“,<br />
sagt Mareike Engels, sozialpolitische<br />
Sprecherin der Grünen Bür gerschaftsfraktion.<br />
Für erkrankte und<br />
sehr schwache Obdachlose müsse „die<br />
Versorgung durch unser Hilfenetz<br />
besser werden“, erklärt sie gegenüber<br />
Hinz&Kunzt. Wie das konkret aussehen<br />
könnte, ließ sie offen.<br />
Auch in der Opposition hat man<br />
das Problem erkannt, etwa in der CDU.<br />
Dort bleiben Lösungsvorschläge bislang<br />
aber aus. Stephanie Rose, sozialpolitische<br />
Sprecherin der Linksfraktion, sagt:<br />
„Der Fall ist dramatisch und zeigt die<br />
Lücken des Hamburger Hilfesystems<br />
auf.“ Sie glaubt: „Vermutlich hätte der<br />
Tod verhindert werden können, wenn<br />
die Zuständigkeiten klar wären.“<br />
Fragt man den Juristen Karl-Heinz<br />
Ruder, sind die Zuständigkeiten aber<br />
eigentlich klar. Obdachlose hätten gegenüber<br />
der Polizei einen Anspruch<br />
auf Einweisung in eine Notunterkunft,<br />
schreibt er in einem Gutachten für die<br />
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe.<br />
Dazu gehöre auch der Transport<br />
dorthin, unterstreicht er gegenüber<br />
Hinz&Kunzt: „Da führt kein Weg dran<br />
vorbei.“ Die Polizei entgegnet, eine Gefahr<br />
für Leib und Leben habe nicht<br />
bestanden. Also auch kein Grund für<br />
sie, einzuschreiten. Wir schildern dem<br />
Rechtsanwalt den Fall und bitten ihn<br />
um eine Einschätzung. „Ich habe starke<br />
rechtliche Zweifel, ob die Polizeibeamten,<br />
die den Obdachlosen in dem<br />
Park ‚kontrolliert‘ haben, sich ihrer<br />
gesetzlichen Verpflichtung zum Schutz<br />
der Grund- und Menschenrechte des<br />
Obdachlosen überhaupt bewusst<br />
waren“, schreibt er. Politikerin Rose will<br />
nun prüfen lassen, „inwieweit es<br />
Schulungsbedarfe bei der Polizei und<br />
den Rettungsdiensten im Umgang mit<br />
obdachlosen Menschen“ gibt.<br />
Bei der Feuerwehr hat sich<br />
unterdessen das Qualitätsmanagement<br />
eingeschaltet, will den Fall prüfen. Ein<br />
Ergebnis lag bis Redaktionsschluss noch<br />
nicht vor. Auch das Obduktionser gebnis<br />
stand noch aus. Die Staatsanwaltschaft<br />
hat einen „Vorprüfvorgang in Hinblick<br />
auf das Handeln der Rettungskräfte<br />
und Polizeibeamten“ ein geleitet. Zwar<br />
gebe es noch keinen Anfangsverdacht,<br />
sagt Staatsanwältin Liddy Oechtering<br />
eine Woche nach Franks Tod. „Der<br />
Sachverhalt hat sich aber so dargestellt,<br />
dass man sich das noch mal angucken<br />
muss.“<br />
Helfer Andreas Pick stellt sich inzwischen<br />
grundsätzliche Fragen: „Wieso<br />
lassen wir es als Gesellschaft zu, dass<br />
sich jemand auf die Straße setzt, und<br />
wir wissen nicht, ob er noch lebt oder<br />
schon tot ist?“ Sozialarbeiter Karrenbauer<br />
beobachtet, dass sich durch die<br />
Corona-Pandemie die Situation der<br />
Hamburger Obdachlosen sogar noch<br />
verschlechtert habe. „Wir brauchen<br />
dringend vor dem Herbst neue Konzepte,<br />
damit die Verelendung nicht<br />
noch schlimmere Züge annimmt.“<br />
Für Frank kommt das alles zu spät.<br />
Andreas Pick ist sich sicher: „Aus dem<br />
hätte was werden können, wenn er die<br />
richtige Betreuung gehabt hätte.“ •<br />
Kontakt: benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />
31
Heide, so weit das Auge reicht:<br />
Anfang August begannen die Pflanzen<br />
gerade erst zu blühen. Mit Glück stehen sie<br />
bis Mitte <strong>September</strong> in voller Pracht.<br />
Wenn Sie es genau wissen wollen, schauen<br />
Sie aufs Heideblüten-Barometer unter<br />
www.huklink.de/heidebluete
Aufs Rad und<br />
durch die Heide<br />
Wer sein Rad liebt, der schiebt? Von wegen! Im Hamburger Umland<br />
gibt es mit dem Fahrrad herrliche Naturlandschaften zu entdecken.<br />
Wir haben’s für Sie getestet und sind auf dem Leine-Heide-Radweg von<br />
Buchholz bis nach Soltau gefahren. Unterwegs haben wir Tipps gesammelt,<br />
wo Sie in und um Hamburg per Velo auf kürzeren und längeren<br />
Strecken dem Alltagsstress entfliehen können.<br />
TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE,<br />
BENJAMIN LAUFER (2),<br />
MARKUS SCHOLZ (1)
Von Hamburg durch Europa radeln<br />
Von Hamburg aus können Sie auf zahlreichen Fernradwegen auf<br />
ausgiebige Touren bis ins europäische Ausland starten. Allen voran<br />
natürlich auf dem Elbe-Radweg, auf dem Sie vom tschechischen<br />
Riesengebirge bis zur Elbmündung in Cuxhaven radeln können –<br />
mehr als 1200 Kilometer, durch Prag, Dresden und Magdeburg.<br />
Nur in Övelgönne müssen sie schieben … Das reicht Ihnen nicht?<br />
Dann nehmen Sie doch die EuroVelo 3 in Angriff: Auf mehr als<br />
5300 Kilometern geht es entlang bekannter Pilgerwege durch sieben<br />
Länder, von Santiago de Compostela bis hoch nach Dänemark.<br />
Ab Hamburg übrigens auf dem historischen Ochsenweg, auf dem<br />
seit der Bronzezeit dänisches Vieh auf nordfriesische Weiden<br />
getrieben wurde. Und auch die EuroVelo 12 läuft durch Hamburg,<br />
hält sich sonst aber recht strikt an den Verlauf der Nordseeküste –<br />
und zwar von Schottland über England, Frankreich und Benelux, bis<br />
nach Norwegen. Fast 6000 Kilometer! Achtung, in den Niederlanden<br />
radeln Sie sogar unter dem Meeresspiegel. BELA<br />
Infos: www.elberadweg.de; de.eurovelo.com<br />
34
Lust auf Radeln<br />
Der Büsenbach staut<br />
sich südlich von Buchholz<br />
zu einem kleinen Teich.<br />
Zum Schwimmen reicht’s<br />
aber leider nicht.<br />
Abkürzen mit dem Fahrradbus – nicht nur in der Lüneburger Heide<br />
Kostenlos kutschiert der „Heide-Shuttle“, ein Omnibus mit Fahrradanhänger,<br />
Radler*innen und ihre Gefährte durch die Lüneburger Heide. Vier Ringlinien verbinden<br />
vom 15. Juli bis 15. Oktober täglich Buchholz mit Bispingen, Schneverdingen und Co.<br />
Zwischen Egestorf und Lüneburg verkehrt außerdem zwischen August und Oktober<br />
an den Wochenenden der Heide-Radbus – ebenfalls kostenlos. Ein Service, den es nicht<br />
nur in der Heide gibt: Vom S-Bahnhof Bergedorf aus startet von April bis Oktober an<br />
Wochenenden und Feiertagen der Elb-Shuttle, der Radfahrer*innen bis zum Ilmenau -<br />
radweg und wieder zurück bringt. Durch den Regionalpark Rosengarten kreist<br />
wochenends zwischen Neugraben und Buchholz der kostenlose Regionalpark-<br />
Shuttle. Und mit dem Elbe-Radwanderbus können Sie von Finkenwerder aus ins<br />
Alte Land starten – wegen Corona allerdings erst wieder ab Frühjahr 2021. BELA<br />
Infos: www.heide-shuttle.de, www.huklink.de/radwanderbusse<br />
D<br />
er Leine-Heide-Radweg<br />
führt 410 Kilometer von<br />
der Leinequelle in Thüringen<br />
nicht nur bis in die<br />
Heide, sondern sogar bis nach Hamburg.<br />
Man kann direkt am Alten Elbtunnel<br />
in Richtung Süden losfahren. Oder,<br />
wenn man sich wie wir die steilen Harburger<br />
Berge sparen will, eine halbe<br />
Stunde mit dem Metronom nach Buchholz<br />
fahren, um von dort in die Nordheide<br />
zu starten. Eine Viertelstunde in<br />
die Pedale getreten, und schon ist man<br />
vom Bahnhof im Grünen. Etwa zehn<br />
Kilometer führt der Radweg uns auf<br />
Asphalt und Schotter durch Wald und<br />
Wiesen, entlang des Seppensener Mühlenteichs<br />
und des Hangquellmoors.<br />
35<br />
Kurz vor Holm verlassen wir den Radweg<br />
und machen einen Abstecher ins<br />
Büsenbachtal – um schon mal Heideluft<br />
zu schnuppern und im dortigen<br />
„Schafstall“ einzukehren. Heidschnucken-Burger<br />
(13 Euro), Räucherfischstulle<br />
mit Meerrettich (7,50 Euro)<br />
und Heidjer Kirschkuchen schmecken<br />
prima und geben uns Kraft für die<br />
kommenden Kilometer. Möglichkeiten<br />
zur Stärkung gibt es übrigens an der<br />
ganzen Strecke: Jede Menge Landgasthöfe<br />
werben zum Beispiel mit frischen<br />
Blaubeeren und vielen anderen regionalen<br />
Produkten.<br />
Zurück auf dem Leine-Heide-Radweg<br />
führt dieser die nächsten zwölf Kilometer<br />
an mäßig befahrenen Landstraßen<br />
entlang. Wer mehr Ruhe<br />
braucht, kann sich mit einem geländegängigen<br />
Fahrrad aber auch Wege<br />
abseits der Straßen suchen. Je weiter<br />
wir kommen, desto mehr riecht es aber<br />
auch rechts und links der Asphaltpisten<br />
nach den blühenden Heidepflanzen.<br />
In Undeloh steigt Fotograf Mauricio<br />
Bustamante in den Heideexpress,<br />
einen Linienbus mit Fahrradanhänger,<br />
der ihn zurück nach Buchholz bringt.<br />
Vier Linien kreisen durch die Heide,<br />
fahren Radwander*innen wieder zurück<br />
zu ihrem Tourstart und ermöglichen<br />
so jede Menge Abkürzungen. Und<br />
das kostenlos (siehe Infokasten)!<br />
Wir fahren weiter in Richtung<br />
Süden – und kurz hinter Undeloh fängt
Lust auf Radeln<br />
dann die Heidelandschaft so richtig an.<br />
Ganz ohne Autoverkehr, dafür teilt man<br />
sich die sandigen Wege mit zahlreichen<br />
Pferdekutschen. Bis wir das nächste<br />
Auto sehen, gehen 14 Kilometer ins<br />
Land – und wir genießen die Ruhe und<br />
die weitläufigen Heidelandschaften im<br />
Naturschutzgebiet.<br />
Unterwegs stoßen wir auf Schilder<br />
der zahlreichen anderen Radwege in<br />
der Gegend, vom Wümme-Radweg<br />
oder den Radwanderwegen der Stadt<br />
Bispingen zum Beispiel. Wir aber bleiben<br />
dem Leine-Heide-Radweg treu,<br />
verlassen ihn nur für kurze Abstecher<br />
auf urige Wanderpfade im Unterholz.<br />
Ab Schneverdingen geht es wieder an<br />
einer Straße entlang, bis wir nach<br />
knapp 60 Kilometern in Soltau ankommen.<br />
Erschöpft, aber glücklich. Von<br />
hier fährt ein Zug nach Hamburg –<br />
aber wir wollen noch weiter: erst nach<br />
Schwarmstedt und dann in einer dritten<br />
Etappe bis nach Hannover. Am<br />
schönsten ist es aber, das wissen wir<br />
nach knapp 190 Kilometern, in der<br />
Lüne burger Heide •<br />
Kontakt: benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />
Mehr Informationen unter<br />
www.leineheideradweg.de<br />
Der Hamburger Osten: Zu schön, um nah zu sein!<br />
Zwischen Hamburg, Lübeck, Hagenow und Boizenburg liegt ein Paradies, das darauf<br />
wartet, mit Fahrrad und Badehose entdeckt zu werden. Wildromantische Naturschutzareale<br />
wechseln sich mit weitläufig geschwungenen Feldern ab, die von alten Alleen gesäumt werden.<br />
Unzählige Naturseen, Flüsse und Kanäle laden zum Baden ein. Östlich der Hansestadt<br />
haben Mensch und Eiszeit ein wunderschönes Landschaftsbild komponiert. Starten Sie die<br />
Tour am S-Bahnhof Aumühle und peilen Sie von dort die Bahnhöfe Hagenow Land, Lauenburg,<br />
Boizenburg, Mölln oder Bergedorf an – je nachdem, wie weit Sie radeln wollen. Unterwegs<br />
können Sie den Sachsenwald und den Elbe-Lübeck-Kanal erkunden, die Gutshöfe<br />
Lanken und Wotersen besuchen oder den Ratzeburger See umrunden. Wer weiterradeln<br />
will, kann von Rothusen aus bis nach Lübeck an der Wakenitz entlang fahren, die zu Recht<br />
„Amazonas des Nordens“ genannt wird. Geheimtipp: Die Ostseite des Schaalsees bei<br />
Lassahn ist ein Traum, mit zwei Bootsstegen als Badestellen. CHRISTIAN HAGEN<br />
37
Kostenloses Bad mit dem Rad<br />
Der schnellste Weg raus ins Grüne und ins Badewasser führt in Hamburg gen Osten. Die Tour startet an den Deichtorhallen und folgt<br />
eine Weile dem Elberadweg bis zum Entenwerder Park. Ab dem Sperrwerk „Billwerder Bucht“ führt die Strecke über die Elbinsel Kaltehofe.<br />
Die vor allem bei Rennradfahrer*innen beliebte Piste führt bis in die Vier- und Marschlande. Wer jetzt schon eine Pause benötigt, sollte im<br />
Hofladen Stender Station machen – dort gibt es nicht nur regionale Lebensmittel zu kaufen, sondern es werden auch leckerer Kaffee und Kuchen<br />
serviert. Anschließend gehts auf den etwas versteckten und<br />
dadurch kaum frequentierten Marschbahndamm. Etwa 20 Kilometer<br />
leitet einen der Rad- und Wanderweg bis kurz vor die Landesgrenze.<br />
Dort geht es schließlich links ab in den Horster Damm, der direkt<br />
zum Sommerbad Altenwerder führt. Achtung: Das Naturbad hat<br />
coronabedingt derzeit nur Sonnabend und Sonntag von 14 bis<br />
19 Uhr geöffnet. Dafür ist der Eintritt kostenfrei und das Bad nicht<br />
so überlaufen. Um die müden Beine nach 32 Kilometern auf dem<br />
Rad zu schonen, führt der Rückweg wenig r omantisch unweit der<br />
B5 weitere 9 Kilometer bis zum Bergedorfer Bahnhof. Von dort<br />
geht es zurück mit dem Rad in der Bahn in den Großstadttrubel.<br />
Wer aufs Baden verzichtet, kann übrigens schon früher abbiegen:<br />
Die S-Bahnhöfe Nettelnburg, Allermöhe und Mittlerer Landweg<br />
sind von unterwegs gut zu erreichen. JONAS FÜLLNER<br />
Infos: www.hamburg.de/sommerbad-altengamme<br />
38
Rubrik<br />
Engagement mit<br />
Herz für Hamburg<br />
„Am Flughafen sind wir immer in Action.<br />
Auch wenn es jetzt etwas ruhiger ist:<br />
Wir kümmern uns um die Pfandflaschen.“<br />
Uwe Tröger, Hinz&Kunzt-Leergutbeauftragter<br />
am Hamburg Airport<br />
Auf Tour mit dem HVV<br />
Wer gerne aus der Stadt raus ins Grüne fährt, weiß, dass<br />
die Tourenabschnitte in Hamburg meistens eher Pflicht statt<br />
Kür sind. Bis der Straßenlärm vom Vogelgezwitscher abgelöst<br />
wird, können schon mal zehn oder mehr Kilometer ins<br />
Land gehen. Abhilfe schafft der öffentliche Nahverkehr, mit<br />
dem sich die Stadtstrecken prima überbrücken lassen.<br />
Wohin er eine*n aus Hamburg führen kann, zeigt der Tourenplaner<br />
„Ab ins Grüne“ von Sabine Schrader und Judith<br />
Höppner (Via Reise Verlag). 70 Rad- und Wandertouren im<br />
Hamburger Umland sind auf den 216 Seiten beschrieben –<br />
und sie alle beginnen und enden an einer Haltestelle des<br />
HVV. Zum Beispiel können Sie 25 Kilo meter von Quickborn<br />
durchs Himmelmoor und auf dem Ochsenweg bis nach<br />
Barmstedt radeln. Für Pausen unterwegs stellen die<br />
Autorinnen Ausflugstipps vor, hier das Arboretum Ellerhoop-<br />
Thiensen, eine Parkanlage mit ökologischem Lehrpfad,<br />
Hochmoorbiotop und Heidegarten. Hin und zurück bringen<br />
Sie die Züge der AKN. Das Buch erhalten Sie für 12,95 Euro<br />
im Buchhandel. BELA<br />
39<br />
Manchmal reichen<br />
schon zwei Bäume<br />
und ein Maisfeld, um<br />
glücklich zu sein …<br />
Wir machen gern<br />
gemeinsame Sache:<br />
Für „Spende Dein Pfand“<br />
kooperiert Hamburg Airport<br />
mit Hinz & Kunzt und Der<br />
Grüne Punkt – Duales System<br />
Deutschland GmbH (DSD).<br />
Vom Pfandgeld finanziert<br />
Hinz & Kunzt vier Arbeitsplätze<br />
am Flughafen Hamburg.<br />
SPENDE<br />
DEIN<br />
PFAND<br />
www.hamburg-airport.de
Lust auf Sport<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />
Auch Hinz&Kunzt-Autor<br />
Jochen Harberg versucht sein<br />
Glück mit der Scheibe.<br />
40
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Lust auf Sport<br />
Das Runde muss<br />
ins Runde<br />
Outdoorspaß im Großstadtdschungel:<br />
Beim Disc Golf Club Hamburg geht’s<br />
mit Frisbee-Scheiben über 16 Bahnen<br />
durchs rockige Ambiente der City Nord.<br />
Wir gehen auf eine entspannte Lehrstunde<br />
mit dem Hamburger Meister Ben Böhm.<br />
TEXT: JOCHEN HARBERG<br />
FOTOS: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />
41<br />
D<br />
rei, vier Schritte Anlauf –<br />
das ist alles, was Ben<br />
braucht. Dann zieht er<br />
ruckartig den rechten Arm<br />
aus dem linken Hüftbereich nach vorne,<br />
ganz so, als wolle er mit einer Peitsche<br />
knallen. Und gibt mit entriegeltem<br />
Handgelenk seinem Wurf dann noch<br />
den letzten Kick mit auf die Reise. Wie<br />
an einer unsichtbaren Schnur gezogen,<br />
saust die bunte Scheibe mit circa Tempo<br />
100 davon und fliegt und fliegt, als wolle<br />
sie nie mehr landen. Erst nach satten<br />
125 Metern hat die Erde sie wieder,<br />
„das war ganz gut“, schaut Ben zufrieden<br />
drein. Seine persönliche Bestweite<br />
liegt bei 145 Metern – der „Weltrekord“<br />
bei Super-Idealbedingungen in der<br />
Wüste von Nevada bei sagenhaften 300<br />
Metern.<br />
Doch hier und heute ist nicht<br />
wirklich Weite, sondern im wahrsten<br />
Sinne des Wortes der Weg das Ziel.<br />
Wer sich dem Discgolf als Sport nähert,<br />
hat keine Rekorde im Sinn. Sondern<br />
in erster Linie eine gute Zeit mit Gleichgesinnten<br />
und Spaß an der Welt, die<br />
dann für eine schöne Stunde nichts<br />
anderes ist als eine Scheibe.<br />
U-Bahn Sengelmannstraße, City<br />
Nord: Hier bin ich mit Ben Böhm,<br />
Hamburger Meister 2018 und 2019,<br />
und Michael „Meesha“ Tietz ver abredet,<br />
dem Medienbeauftragten des<br />
„Disc Golf Club Hamburg“. Zusammen<br />
wollen wir eine Runde auf dem<br />
16-Bahnen-Kurs drehen, der baulich<br />
gerade zu einer vollwertigen 18er-Tour<br />
erweitert wird. Direkt am südlichen<br />
U-Bahn-Ausgang ist Startpunkt für den
Lust auf Sport<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />
Discgolfer Michael Tietz<br />
(links) und Ben Böhm.<br />
Gute Spieler*innen<br />
gehen schon mal mit 25<br />
Scheiben auf ein Turnier.<br />
Unten: Pfeile markieren<br />
Pflichthindernisse,<br />
sogenannte Mandos.<br />
Königsdisziplin: Am Ende<br />
einer jeden Bahn müssen die<br />
Sportler*innen die Scheibe<br />
ziel genau in fest installierte<br />
Metallkörbe „einlochen“.<br />
spektakulären Stadtkurs, „wie es in<br />
Deutschland keinen zweiten gibt“, sagt<br />
Ben stolz. Tatsächlich schlängeln sich<br />
die einzelnen Bahnen und die dazugehörigen<br />
Anmarschwege nicht nur durch<br />
viel Grün, sondern auch durch spannende<br />
Großstadtschluchten, vorbei an<br />
riesigen Bürogebäuden, Möbelgeschäften<br />
und Autowerkstätten sowie<br />
über breite Straßen hinweg. Das gibt<br />
dem Ganzen eine abgerockte, szenige<br />
Prise Stadtpiraterie. Und: Spielzeit ist<br />
immer, es kostet kein „Greenfee“, man<br />
kann einfach loslegen, wann man will.<br />
Das Spielprinzip ist dem des „richtigen“<br />
Golfs dabei sehr nahe. Ziel einer jeden<br />
Bahn ist ein etwa eineinhalb Meter<br />
überm Erdboden installierter Metallkorb,<br />
in dem die Scheibe mit möglichst<br />
wenig Versuchen landen soll. Am „Abschlag“<br />
der ersten Bahn erklärt Ben mir<br />
das Nötigste an Technik und Regeln.<br />
Vorhand (Rechtskurve am Ende der<br />
Flugbahn) und Rückhand (Linkskurve)<br />
samt entsprechender Finger, Handgelenks<br />
und Armhaltung sind entscheidend<br />
für das jeweils optimale Ansteuern<br />
des Korbs – je nach natürlichen Hindernissen<br />
der Bahn sowie den Zwischenlandungspositionen<br />
der Scheibe.<br />
Auch gibt es je nach zu überwindender<br />
Distanz Scheiben mit unterschiedlich<br />
dicken Rändern und individuellen<br />
Flugeigenschaften. Ein*e gute*r<br />
Spieler*in geht im Wettkampf mit<br />
20 bis 25 Scheiben auf den Kurs,<br />
für Einsteiger*innen tun es auch drei<br />
Grundmodelle für zusammen gerade<br />
42<br />
mal 25 Euro. „Discgolf ist ein Sport, der<br />
niemanden ausschließt“, sagt Meesha,<br />
„bei uns können alle spielen, vom Millionär<br />
bis zum HartzIVEmpfänger, von<br />
zehn bis 70.“<br />
Bahn 1 ist eine „Drei“ – das bedeutet:<br />
Gute Spieler*innen landen mit ihrem<br />
dritten Wurf im Korb, das nennt<br />
man „par“. Ben nimmt Maß und parkt<br />
die Scheibe nach ca. 80 Metern Flug<br />
zielgenau in der Baumgruppe direkt vor<br />
dem Korb. Dann bin ich dran. Ich stelle<br />
mich in Position, ziehe meine Armbewegung<br />
durch, die Scheibe verlässt
Lust auf Sport<br />
meine Hand – und trullert nach nur rund 15 Metern<br />
links außerhalb der Kursbahn „out of bounds“. Das<br />
bedeutet: Strafschlag! Oje … Bis ins Ziel werde ich<br />
sieben Versuche brauchen, Ben bleibt bei den vorgesehenen<br />
drei Würfen.<br />
Doch wie heißt es so schön: Übung macht den<br />
Meister – ich mache schnell Fortschritte. Die Würfe<br />
werden länger und zielgenauer, auf Bahn drei landet<br />
meine Scheibe nach dem zweiten Versuch tatsächlich<br />
nur etwa zehn Meter vom Korb entfernt. „Einlochen<br />
ist für alle das Schwierigste“, sagt Ben aus leidvoller<br />
Erfahrung. Ich stelle mich in Position, nehme<br />
den „Putter“ und schnippe die Scheibe aus dem<br />
Handgelenk auf die kurze Reise. Wie von Zauberhand<br />
fliegt sie auf den Korb zu, bremst wie geplant<br />
an den überm Korb montierten Ketten ab und<br />
plumpst nach unten ins Fangnetz – Wahnsinn, ich<br />
habe tatsächlich „par“ gespielt! „Ey, fett, Alter“,<br />
platzt es stolz aus „Lehrer“ Ben heraus, „so was haben<br />
wir hier beim ersten Mal ganz selten gesehen.“<br />
Auf den folgenden Bahnen wird allerdings<br />
schnell klar, dass es sich in meinem Fall wohl doch<br />
eher um einen „lucky shot“ aus der Abteilung Anfängerglück<br />
gehandelt hat – denn ein solch gutes Ergebnis<br />
erreiche ich anschließend nicht mal mehr annähernd.<br />
Dem großen Spaß an der Sache tut das null<br />
Abbruch, auch weil Ben uns noch ein paar Bahnen<br />
lang die hohe Schule seines Sports demonstriert.<br />
Acht Jahre ist der gelernte Krankenpfleger, der in<br />
der Psychiatrie Alsterdorf arbeitet, jetzt dabei, fünfbis<br />
sechsmal die Woche investiert er täglich bis zu<br />
vier Stunden Training in die Verbesserung seiner<br />
Künste. Mit seinen 29 Jahren träumt er noch leise<br />
davon, eines Tages Profi zu werden – in den<br />
USA gibt es große DiscgolfTurniere mit bis zu 15.000<br />
Dollar Preisgeld und in vielen Altersklassen. Für hier<br />
und heute aber soll es gut sein mit der Spaßshow:<br />
Nach Bahn 12 verabschiedet sich Ben von uns, er hat<br />
noch einen unverschiebbaren Anschlusstermin – beim<br />
Tätowierer. •<br />
ARBEIT GLOBAL<br />
Globalisierung und Digitalisierung haben die Organisation<br />
und Bedingungen von (Lohn-)Arbeit nachhaltig verändert.<br />
Wie können sich Arbeiter*innen weltweit im digitalen Zeitalter<br />
organisieren? Welche Chancen und Risiken bergen KI,<br />
Robotik und Crowdworking für Länder des Globalen Nordens<br />
und Südens? Warum ist Technik niemals neutral und inwiefern<br />
sind Algorithmen diskriminierend?<br />
Die nächsten Veranstaltungen<br />
08.09. 18 Uhr Chancen und Risiken digitaler Arbeit<br />
für den Globalen Süden<br />
16.09. 19 Uhr Arbeit 4.0 – Zur Entmystifizierung<br />
der Digitalisierung von Arbeit<br />
22.09. 18 Uhr Globale KI-Ethik. Grenzenlose<br />
Chancen oder Grenzerfahrung?<br />
06.10. 18 Uhr Arbeitskämpfe 4.0<br />
Anmeldungen an info@w3-hamburg.de<br />
Werkstatt für internationale<br />
Kultur und Politik e.V.<br />
www.w3-hamburg.de<br />
Inspiration<br />
Hamburg<br />
bIennale angewandter Kunst<br />
der a dK und gedOK<br />
Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Disc Golf Club Hamburg:<br />
Rund 100 Mitglieder spielen offiziell im Disc Golf Club<br />
Hamburg, einer Unterabteilung des „1. Ultimate Club<br />
Hamburg Fischbees“. Der Mitgliedsbeitrag liegt bei<br />
30 Euro im Jahr. Der Kurs in der City Nord ist aber<br />
kostenlos frei für alle Interessierten – wovon reichlich<br />
Gebrauch gemacht wird: Die Zahl der unorganisierten<br />
Spieler*innen in Deutschland wird auf circa<br />
10.000 geschätzt (Vereinsspieler*innen: circa 600).<br />
In Hamburg bietet ansonsten noch der HSV Disc Golf<br />
an (im Volkspark). Mehr Infos und Anfragen fürs<br />
Schnuppertraining: www.discgolfclubhamburg.de<br />
43<br />
3.9. bis 12.10. <strong>2020</strong><br />
MuseuM für HaM burgI scH e g escHIc H te<br />
Holstenwall 24 | 20355 Hamburg | u-bahn st. Pauli | shmh.de
Freunde<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />
Möchte allen Menschen<br />
auf Augenhöhe begegnen:<br />
Gerhardt Höpker.<br />
Das Leben der<br />
Menschen verbessern<br />
Zum Leben hat Gerhardt Höpker auch im Ruhestand genügend Geld: „Da geht es mir besser als vielen<br />
anderen, vor allem in Corona-Zeiten.“ Deshalb spendet er seine Rentenerhöhung an Hinz&Kunzt.<br />
TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />
FOTO: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />
Die „untere Etage“ ist Gerhardt Höpker<br />
gut vertraut: Das Leben von Menschen,<br />
mit denen es das Schicksal nicht<br />
gut gemeint hat, liegt ihm am Herzen.<br />
Das hat er in seiner Berufstätigkeit auch<br />
seinen Schüler*innen zu vermitteln versucht.<br />
Rund 8000 Pflegekräfte und medizinisches<br />
Personal hat der Soziologe<br />
in seiner Arbeit aus- und weitergebildet.<br />
„Ich habe mehr als 30 Jahre lang Soziologie,<br />
Psychologie, Pädagogik und<br />
Staatsbürgerkunde unterrichtet“, erinnert<br />
er sich.<br />
Wichtig war ihm dabei, dass seine<br />
Schüler*innen auch diese „untere<br />
Etage“ kennenlernten. „Ich habe sie an<br />
44<br />
soziale Brennpunkte geschickt, um<br />
ihnen die Welt nahezubringen. Ich<br />
habe sie auch auf der Straße betteln<br />
lassen“, erzählt der 74-Jährige. An<br />
Hinz&Kunzt schätzt er besonders, dass<br />
„es Menschen auf Augenhöhe bringt“.<br />
Deshalb hat er eine ungewöhnliche<br />
Rechnung aufgemacht: Er hat seine
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Rentenerhöhung für die letzten zwei<br />
Jahre zusammengerechnet und 750 Euro<br />
überwiesen. „Es wäre schön, wenn<br />
das andere Hamburger auch auf gute<br />
Ideen bringen würde“, sagt er lächelnd.<br />
Erst vor wenigen Jahren hat Gerhardt<br />
Höpker Hinz&Kunzt kennengelernt,<br />
als er vom Rhein-Main-Gebiet nach<br />
Hamburg gezogen ist – ins Elternhaus<br />
seiner Mutter: „Meine Eltern haben<br />
hier 1939 geheiratet.“ Hier hütet er einen<br />
ganz besonderen Schatz: ein altes<br />
Schwarz-Weiß-Foto seiner Familie.<br />
„Das ist das einzige Foto, das mich mit<br />
meiner Mutter zeigt“, sagt er sichtlich<br />
bewegt: „Sie starb, als ich sieben Monate<br />
alt war.“<br />
Für die Familie begann eine<br />
schwierige Zeit. Der Vater, ein Arzt,<br />
zog mit seinen drei Kindern zunächst<br />
in den Schwarzwald und heiratete<br />
schließlich erneut. Der Beruf forderte<br />
ihn: Um in Greifswald zu habilitieren,<br />
teilte er die Familie kurzerhand auf.<br />
Gerhardt Höpker landete in der<br />
Familie der Stiefmutter im Saarland.<br />
Zum Vater hatte er kaum Kontakt, „er<br />
war ein schwieriger Mensch“.<br />
Freunde<br />
Sein Studium am linksorientierten<br />
Frankfurter Institut für Sozialforschung<br />
prägte Gerhardt Höpker fürs Leben:<br />
„Soziologie soll eben nicht nur beschreiben,<br />
sondern das Leben der<br />
Menschen verbessern. Dazu muss man<br />
es kennenlernen.“<br />
Daran hat er sich gehalten. Er<br />
nahm Lehraufträge an der Uni an,<br />
schrieb 24 Jahre lang an der Shell-<br />
Jugendstudie mit und unterrichtete<br />
Menschen im medizinischen Bereich.<br />
Zusätzlich arbeitete er als Versicherungsmakler,<br />
Weinhändler und betrieb<br />
einen privaten Pflegedienst. „Es ist<br />
immer gut, mehr als ein Standbein zu<br />
haben“, sagt er pragmatisch.<br />
Den Wert des Geldes weiß Gerhardt<br />
Höpker bis heute zu schätzen.<br />
„Eigentlich bin ich knauserig“, findet<br />
er. „Ich schmeiße ungern Geld raus für<br />
Dinge, die ich selbst machen kann.<br />
Das spart Geld für andere schöne<br />
Dinge, die ich damit verwirklichen<br />
kann“, zum Beispiel eine Spende für<br />
Hinz&Kunzt. •<br />
Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />
JA,<br />
ICH WERDE MITGLIED<br />
IM HINZ&KUNZT-<br />
FREUNDESKREIS.<br />
Damit unterstütze ich die<br />
Arbeit von Hinz&Kunzt.<br />
Meine Jahresspende beträgt:<br />
60 Euro (Mindestbeitrag für<br />
Schüler*innen/Student*innen/<br />
Senior*innen)<br />
100 Euro<br />
Euro<br />
Datum, Unterschrift<br />
Ich möchte eine Bestätigung<br />
für meine Jahresspende erhalten.<br />
(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />
Meine Adresse:<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Nr.<br />
PLZ, Ort<br />
Telefon<br />
E-Mail<br />
Einzugsermächtigung:<br />
Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />
Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />
Dankeschön<br />
Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />
IBAN<br />
Wir danken allen unseren Spender*innen,<br />
die uns in den vergangenen schwierigen<br />
Monaten geholfen haben. Dazu<br />
gehören natürlich alle Mitglieder im<br />
Freundeskreis von Hinz&Kunzt!<br />
DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />
• IPHH • wk it services<br />
• Produktionsbüro<br />
Romey von Malottky GmbH<br />
• Hamburger Tafel<br />
• Axel Ruepp Rätselservice<br />
• Stiftung Winterreise Wiesbaden<br />
• Hamburger Kunsthalle<br />
• bildarchiv-hamburg.de<br />
• Firma Scharlau für die Mehrwertsteuerersparnis-Spende<br />
• Bucerius Kunstforum für Gesichtsmasken<br />
• My Marini für Masken und Wasser<br />
• Roeder-Stiftung<br />
NEUE FREUNDE:<br />
• Jürgen Bastian • Mona Beier<br />
• Benjamin Eschenburg • Axel Formeseyn<br />
• Gunnar Froh • Jennifer Funk<br />
• Klaus Hackmann • Kerstin Heiden<br />
• Charlotte Heyl • Jörg und Marion Hoppe<br />
• Adriaan Hakon Hörmann • Till Klockmann<br />
• Andreas Kühl • Joachim Lübbecke<br />
• Peter Maylandt • Dana Nachtmann<br />
• Vincent Nossek • Christine Radtke<br />
• Lars Rothkirch • Julia Schneider<br />
• Mathias Schubert • Bernd Sonnenberg<br />
• Klaus Roemer • Almut Staeglich<br />
• Jens-Uwe Steinkühler • Wencke Thielert<br />
• Silke Vatterodt • Katrin Wiege.<br />
BIC<br />
Bankinstitut<br />
Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />
der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />
Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />
Ja<br />
Nein<br />
Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />
Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />
Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />
Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />
genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />
jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />
mehr von uns bekommen möchten, können<br />
Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />
personenbezogenen Daten widersprechen.<br />
Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />
einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />
Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />
Hinz&Kunzt-Freundeskreis<br />
Altstädter Twiete 1-5, 20095 Hamburg<br />
Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />
45<br />
HK <strong>331</strong>
Buh&Beifall<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/ SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />
Was unsere Leser*innen meinen<br />
„Alkoholismus ist eine Krankheit, die sich niemand aussucht.“<br />
Feinfühlige Redaktion<br />
H&K 330, August-Ausgabe<br />
Ich habe die August-Ausgabe gekauft –<br />
und sie im Anschluss daran von vorn<br />
bis hinten durchgelesen. Das ist mir,<br />
einem typischen Süddeutschen-Abonnenten,<br />
so noch nie passiert. Insofern<br />
möchte ich Ihnen, der H&K-Redaktion,<br />
einmal Danke sagen für die wirklich<br />
schöne, beeindruckende und feinfühlige<br />
redaktionelle Arbeit. HANS-JÖRG KAPP<br />
Wie kann so etwas passieren?<br />
H&K Online und S. 30 : Obdachloser stirbt<br />
im Lohmühlenpark<br />
Ich bin schockiert! Unfassbar, wie egal<br />
ein Mensch werden kann, wenn er mal<br />
nicht wie gewohnt funktioniert …<br />
MIRIAM HASSELBRING VIA FACEBOOK<br />
Ich erlebe es immer wieder, dass<br />
Menschen mit Alkohol- oder anderen<br />
Süchten nicht als Hilfsbedürftige, sondern<br />
als „selbst Schuld“ abgestempelt<br />
werden. Da sie oft verwahrlosen und<br />
die Körperhygiene fehlt, ekeln sich die<br />
Menschen vor ihnen. Die Geschichten<br />
sind oft traurig, auch Alkoholismus ist<br />
eine Krankheit, die sich niemand selbst<br />
aussucht.<br />
LEA ETZEL VIA FACEBOOK<br />
Wie kann so etwas passieren?<br />
Was soll ein Bürger noch alles tun,<br />
bevor sich jemand zuständig fühlt?<br />
KLAUS WE VIA FACEBOOK<br />
Hinz&Kunzt zensiert<br />
H&K 329, Wir stellen die AfD nicht vor<br />
Sie fällen hier ein Urteil über eine in<br />
Deutschland zugelassene Partei, die<br />
von Hamburger Bürgern in einem<br />
demokratischen Prozess gewählt wurde,<br />
und enthalten damit Ihren Lesern den<br />
Standpunkt der Partei vor. Das ist in<br />
meinen Augen Zensur. Eine in meinen<br />
Augen bessere Lösung wäre gewesen,<br />
die Äußerungen des Sprechers der AfD<br />
abzudrucken und am Ende dann, falls<br />
erforderlich, zu kommentieren. So hätte<br />
der Leser die Möglichkeit gehabt, sich<br />
selbst ein Bild zu machen. ANDREAS R. BARTH<br />
Leser*innenbriefe geben die Meinung der<br />
Verfasser*innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />
Wir behalten uns vor, Briefe zu kürzen.<br />
Wir trauern um<br />
Ursula Graetsch<br />
19. Juli 1937 – 20. August <strong>2020</strong><br />
Jahrzehntelang half Ursula Graetsch ehrenamtlich<br />
den Menschen auf der Straße, die sie liebevoll<br />
als den „Engel der Obdachlosen“ bezeichneten.<br />
Die Verkäufer und das Team von Hinz&Kunzt<br />
HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />
DER ETWAS<br />
ANDERE<br />
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Wollen Sie Hamburgs City einmal mit anderen Augen sehen?<br />
Abseits der teuren Fassaden zeigt Hinz&Kunzt Orte, die in<br />
keinem Reiseführer stehen: Bahnhofs mission statt Rathausmarkt,<br />
Drogenberatungsstelle statt Alsterpavillon, Tages aufent halts stätte<br />
statt Einkaufspassage.<br />
Anmeldung: bequem online buchen unter<br />
www.hinzundkunzt.de oder Telefon 040/32 10 83 11<br />
Kostenbeitrag: 10/5 Euro<br />
Nächste Termine: 6.9. + 20.9.<strong>2020</strong>, 15 Uhr
Kunzt&Kult<br />
Gewohnt vielfältig: Debütant*innen und namhafte Autor*innen beim Harbour Front Literaturfestival (S. 48).<br />
Ungewohnt gediegen: Mit neuem Konzept soll das Reeperbahnfestival trotz Corona stattfinden (S. 54).<br />
Fatale Gewohnheiten: Warum Hinz&Künztler Achim mit seinem alten Leben abgeschlossen hat (S. 58).<br />
In der Ausstellung „Garten E – ein kollaborativer Flirt mit der<br />
Sehnsucht im Spätsommer <strong>2020</strong> “ präsentieren Künstler*innen ihre<br />
Installationen, Performances und Fotografien. Die Werke sind vom<br />
4. bis 13. <strong>September</strong> im Westwerk, in der Admiralitätstraße 74, zu sehen.<br />
Di–Fr, 16–19 Uhr, Sa und So, 12–15 Uhr, nur bei trockenem Wetter.<br />
Der Eintritt ist frei. Weitere Infos: www.westwerk.org<br />
FOTO: MATTHEW PARTRIDGE
Kunzt&Kult<br />
Janna Steenfatt<br />
liest beim Debütantensalon am Dienstag, 15.9.,<br />
20 Uhr, in der Zentralbibliothek, Hühnerposten 1,<br />
Eintritt 15 Euro.<br />
„Die Überflüssigkeit der Dinge“, Hoffmann und<br />
Campe, Hamburg, 240 Seiten, 22 Euro<br />
FOTO: SASCHA KOKOT<br />
Harbour Front<br />
Ein Riesenprogramm lockt auch in diesem Jahr zum Literaturfestival. Mit dabei:<br />
Janna Steenfatt. Lange war Hamburg ihr Zuhause – und dort das Schauspielhaus.<br />
Dann lernte sie in Leipzig das Schreiben. Nun widmet sie sich in ihrem Debütroman<br />
noch einmal der alten Heimat. Autor Frank Keil hat die Schriftstellerin getroffen.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Kunzt&Kult<br />
Einer der wenigen Tische mit<br />
Schatten in dem kleinen Parkcafé<br />
ist noch frei. Janna Steenfatt<br />
ist mit dem Fahrrad gekommen,<br />
quer durch ihre Wahlheimat<br />
Leipzig. Sie schließt es ab, setzt sich dazu<br />
und bestellt sich einen Eiskaffee. Die<br />
38-Jährige hat in diesem Jahr ihren ersten<br />
Roman vorgelegt: „Die Überflüssigkeit<br />
der Dinge“, und mit ihm bewirbt<br />
sie sich beim „Debütantensalon“ des<br />
Harbour Front Literaturfestivals um<br />
den Klaus-Michael Kühne-Preis. Erzählt<br />
wird darin von Ina, die gerade<br />
ihre Mutter beerdigen muss, eine gescheiterte<br />
Schauspielerin. Überhaupt<br />
meint es das Leben grad nicht allzu gut<br />
mit Ina: Sie hat fertig studiert, aber<br />
weiß nicht, was nun. Sie zieht seltsam<br />
fahrig des Nachts durch die Clubs auf<br />
St. Pauli. Schließlich – das Arbeitsamt<br />
nervt – nimmt sie einen Job in der Kantine<br />
des Schauspielhauses an. Wo ein<br />
bekannter Theaterregisseur inszenieren<br />
wird, der ihr Vater ist, wovon er<br />
nichts weiß. Überhaupt nehmen die<br />
Probleme eher zu, als dass sich Inas<br />
Leben entwirrt.<br />
Ist es ein Hamburg-Roman? Janna<br />
Steenfatt zögert kurz. „Mir sind Orte<br />
sehr wichtig, und ich habe Spaß daran,<br />
meine Geschichten zu verorten“, sagt<br />
sie. Sie suche ihren Figuren auch immer<br />
Wohnungen aus, die es tatsächlich gibt.<br />
Auch wichtig: Wenn sie ihre Helden etwa<br />
durch die Bernhard-Nocht-Straße<br />
schickt, muss jedes Detail stimmen.<br />
Janna Steenfatt ist selbst gebürtige<br />
Hamburgerin, erst seit ihrem Studium<br />
am dortigen Literaturinstitut lebt sie in<br />
Leipzig. Aufgewachsen ist sie in Altona,<br />
mit 14 Jahren fand sie den Weg ins<br />
Schauspielhaus, in den dortigen<br />
Jugendclub „Backstage“: „Ich habe viel<br />
Theater gespielt, und wir haben viel<br />
Zeit in der Kantine verbracht: Wir<br />
fanden das cool, uns da aufzuhalten.“<br />
Außerdem konnte sie sich kostenfrei alle<br />
Aufführungen anschauen: „Da habe<br />
ich meine Theaterbildung genossen.“<br />
Später folgt ein Praktikum. „Deswegen<br />
kenne ich das Haus sehr gut, fühle mich<br />
mit ihm sehr verbunden“, sagt sie.<br />
Wenig überraschend will sie zunächst<br />
Schauspielerin werden: Ein paar<br />
Jahre spricht sie an verschiedenen<br />
Schauspielschulen vor. Angenommen<br />
wird sie – im Gegensatz zu einigen ihrer<br />
Theater-Freund*innen – nicht. „Im<br />
Nachhinein bin ich ganz froh; Schreiben<br />
liegt mir doch viel näher. Ich<br />
wäre wahrscheinlich keine gute Schauspielerin<br />
geworden“, glaubt sie.<br />
„Es geht einfach<br />
nicht richtig los<br />
mit dem Leben.“<br />
JANNA STEENFATT<br />
Ist ihr Roman eigentlich ein Generationenroman?<br />
Eine Frage, bei der junge<br />
Autor*innen zu Recht zusammenzucken;<br />
als ob ein Buch eine Generation<br />
erklären könnte. Aber so ganz falsch ist<br />
die Frage dann doch nicht: „Es geht<br />
schon um das Grundlebensgefühl, dass<br />
man viele Möglichkeiten hat, aber gar<br />
nicht weiß, welche man wahrnehmen<br />
soll“, sagt sie nach einer Pause. Und es<br />
so schwierig sei, sich zurechtzufinden.<br />
„Es geht einfach nicht richtig los mit<br />
dem Leben, man denkt, da muss noch<br />
dies passieren und noch das und noch<br />
das – bis man ahnt, es wird sich wohl<br />
immer so anfühlen“, sagt sie. Man lerne<br />
auch nicht auf einen Beruf hin, sondern<br />
studiere und überlege dann, was<br />
man damit machen könne, vielleicht.<br />
Womit wir bei Falk wären, der zweiten<br />
Hauptperson in ihrem Roman. Bei ihm<br />
zieht Ina ein. Was die beiden voneinander<br />
wollen und was nicht, bleibt in der<br />
Schwebe. Auch Falk strauchelt so<br />
49<br />
durchs Leben. Eigentlich hat er Fotografie<br />
studiert.<br />
Im wirklichen Leben hatte Janna<br />
Steenfatt „am Institut eine Dozentin,<br />
die hat mit uns krasse Exkursionen gemacht“,<br />
erzählt sie. Einmal geht es in<br />
die Rechtsmedizin: Vor den Studierenden<br />
lag ein junger Mann, der bei einem<br />
Autounfall gestorben war. Was Steenfatt<br />
besonders fasziniert, ist die Fotografin,<br />
die neben dem Obduktionssaal ihr<br />
kleines Büro hat, immer wieder rauskommt,<br />
sich einen Kittel überwirft, ihre<br />
Bilder macht und wieder geht. „Mich<br />
hat sehr beschäftigt: Wie kann die sich<br />
hier so bewegen? Sie hat auch dabei gegessen,<br />
sie biss in eine Banane, legte die<br />
zur Seite, beugte sich vor, machte ihre<br />
Fotos und aß dann die Banane weiter,<br />
während wir, grün im Gesicht, da rumstanden“,<br />
erzählt sie. Also fragt sie nach<br />
und erfährt, dass die Frau ursprünglich<br />
Fotografie studiert hatte und gar keinen<br />
medizinischen Hintergrund hat.<br />
Janna Steenfatt nimmt den letzten<br />
Schluck ihres Eiskaffees: „Das ist immer<br />
meine Angst gewesen, dass man einen<br />
Job findet, der ganz bequem ist, und<br />
dann bleibt man darauf hängen.“ Das<br />
ginge vielen so, mit denen sie studiert<br />
habe. „Vermutlich ist der kleinste Teil<br />
von uns heute als Schriftsteller oder<br />
Schriftstellerin unterwegs.“<br />
Wir gehen noch ein paar Schritte,<br />
eine von Bäumen gesäumte Straße entlang<br />
hin zu einer Stadtvilla, in der das<br />
Literaturinstitut residiert. Manche, die<br />
heute große Namen sind, haben hier<br />
studiert: Clemens Meyer und Juli Zeh,<br />
Saša Staniši und Lucy Fricke etwa.<br />
Auf den Hof gelangen wir noch, das<br />
Haus selbst ist abgesperrt. „Leider sind<br />
die Räume innen etwas totsaniert“, sagt<br />
Steenfatt. Ihr nächster Roman – worum<br />
es genau geht, wird noch nicht verraten<br />
– wird ein Leipzig-Roman werden. Sie<br />
sagt: „Ich freue mich darauf, Leipzig als<br />
Ort zu beschreiben.“ •<br />
Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de
Kunzt&Kult<br />
FOTO: GERALD VON FORIS<br />
Auf und ab<br />
Was ist das für ein Name? Wer heißt denn „Bov Bjerg“? Bovbjerg war Namensvorbild,<br />
eine kleine dänische Stadt, bekannt für ihren Leuchtturm. Mit diesem<br />
„geliehenen“ Namen war Bov Bjerg (Jahrgang 1965) lange als Kabarettist<br />
unterwegs, gewann etwa den „TheodorW.AdornoÄhnlichkeitswettbewerb“<br />
der Zeitschrift Titanic. Bis ihm nach Ernsterem zumute war und er Schriftsteller<br />
wurde. Sein zweiter Roman „Serpentinen“ ist in diesem Frühjahr erschienen.<br />
Beim Lesen steht einem wirklich eine kurvenreiche Fahrt bevor, durch nicht<br />
immer einsehbares Gelände geht es auf und ab: Ein Vater ist per Auto mit seinem<br />
kleinen Sohn unterwegs, auf den Spuren seiner eigenen, düsteren Kindheit,<br />
das Handy ist ausgeschaltet. Bierdose für Bierdose leert der Vater, versucht,<br />
seine inneren Dämonen niederzuhalten, denn alle seine männlichen Vorfahren<br />
vom Urgroßvater an haben sich früher oder später das Leben genommen.<br />
Soll er diesem Weg folgen oder gibt es einen Ausweg? FK<br />
•<br />
Bov Bjerg<br />
liest am Donnerstag, 17.9., 19.30 Uhr,<br />
in der St.KatharinenKirche, Katharinenkirchhof 1,<br />
Eintritt: 18 Euro.<br />
Christian Baron<br />
FOTO: HANS SCHERHAUFER<br />
liest beim Debütantensalon<br />
am Donnerstag, 10.9.,<br />
20 Uhr, Zentralbibliothek,<br />
Hühnerposten 1,<br />
Eintritt 15 Euro.<br />
Von ganz unten<br />
Wie ist es wirklich, wenn man von ganz unten<br />
kommt und mit einem gewalttätigen, alkoholkranken<br />
Vater und einer depressiven Mutter aufwuchs?<br />
Wenn schon vor dem Monatsende das Geld fehlt?<br />
Wenn manchmal der Strom abgestellt wird und<br />
nichts zu essen da ist? Davon erzählt Christian<br />
Baron (Jahrgang 1985) beherzt schnörkellos und<br />
autobiografisch geerdet in seinem ersten Buch<br />
„Ein Mann seiner Klasse“. Als Barons Mutter mit<br />
nur 40 Jahren starb, half die Tante ihm und seinen<br />
Geschwistern: Sie entzog dem Vater mit Unterstützung<br />
des Jugendamtes die Kinder, kümmerte<br />
sich um sie und besorgte ihrem Neffen Christian,<br />
der trotz allem ein richtig guter Schüler war<br />
(Deutsch als Lieblingsfach), ein erstes Praktikum<br />
in der Sportredaktion der Lokalzeitung. Heute ist<br />
er Redakteur und Schriftsteller. FK<br />
•<br />
Unterwegs mit Geistern<br />
Larry, so wird sie genannt, ist längst kein Kind mehr, zwar auch noch<br />
kein Teenager, aber auf dem Weg dorthin. Ihr Taschengeld bessert<br />
sie sich auf, indem sie die Gräber auf dem Friedhof pflegt. Nur wenn<br />
sie vor dem Massengrab steht, hat sie so ein enges Gefühl. Larry<br />
will Kriegsreporterin werden.<br />
Das Mädchen ist die eine Hauptfigur in Verena Keßlers Debütroman<br />
„Die Gespenster von Demmin“. Die zweite: eine alte Frau, die ihr<br />
Haus aufgeben und ins Altenheim ziehen soll. Wird sie das wirklich<br />
machen?<br />
Im mecklenburgischen Demmin an der Peene brachten sich kurz<br />
vor Ende des Zweiten Weltkrieges um die 1000 Menschen um,<br />
meist Frauen, die ihre Kinder mitnahmen. Warum? Darüber wurde<br />
nicht gesprochen, auch nicht in der DDR. Beste Voraussetzungen,<br />
dass bis heute Gespenster durch Demmin wandeln, mit denen die<br />
Menschen leben müssen. Auch Larry und die alte Frau. FK<br />
•<br />
Verena Keßler<br />
liest beim Debütantensalon<br />
am Freitag, 11.9.,<br />
20 Uhr, Zentralbibliothek,<br />
Hühnerposten 1,<br />
Eintritt 15 Euro.<br />
FOTO: MICHAEL BADER
Kunzt&Kult<br />
Uwe Timm<br />
liest am Mittwoch, 16.9., 19 Uhr,<br />
in der Freien Akademie der Künste,<br />
Klosterwall 23, Eintritt 16 Euro.<br />
Unser Rat<br />
zählt.<br />
879 79-0<br />
Beim Strohhause 20<br />
Mieterverein zu Hamburg<br />
im Deutschen Mieterbund<br />
20097 Hamburg<br />
Fan werden<br />
mieterverein-hamburg.de<br />
Berichte von unterwegs<br />
Es gibt eine Anekdote in dem neuen Sammelband von Uwe<br />
Timm, die von der Kraft der Literatur erzählt: Da ist Timm im<br />
Überlandbus unterwegs durch Paraguay, 1984, als Diktator<br />
Stroessner das Land drangsaliert. Ständig halten Soldaten<br />
den Bus an, und nur von Timm wollen sie immer wieder den<br />
Pass sehen. Auch andere Europäer sind an Bord, daran<br />
allein kann es also nicht liegen. Bis ihm auffällt: Er hält stets<br />
ein Buch in der Hand, in dem er eben noch gelesen hat.<br />
„Der Verrückte in den Dünen – Über Utopie und Literatur“<br />
versammelt bereits veröffentlichte wie neue Aufsätze des<br />
80-jährigen Schriftstellers. Er erzählt von Reisen durch<br />
Südamerika, er flaniert durch die Literaturtheorie, er erinnert<br />
sich präzise an seine Kindheit: wie ihm die Mandeln entfernt<br />
wurden und er – wie sein Vater – dem Schmerz tapfer<br />
ent gegengehen wollte. Um schließlich einzutauchen in<br />
die Geschichte des Schmerzes, um am Ende ein langes,<br />
uto pisches Ideal zu loben: die heute medizinisch mögliche<br />
Schmerzfreiheit. FK<br />
•<br />
FOTO: ISOLDE OHLBAUM<br />
abasto<br />
ökologische Energietechnik<br />
Für mehr soziale Wärme<br />
und eine klimaschonende<br />
Strom- und Wärmeversorgung.<br />
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Öffnungszeiten: Dienstag - Freitag 10.00 - 19.00 Uhr<br />
Samstag 10.00 - 14.00 Uhr<br />
Literatur satt:<br />
Vom 9. <strong>September</strong> bis 18. Oktober werden beim Harbour<br />
Front Literaturfestival namhafte Schriftsteller *innen wie<br />
Joachim Meyerhoff, Andreas Steinhöfel oder Ferdinand<br />
von Schirach anwesend sein. Dazu kommen viele<br />
spannende Nachwuchsautor*innen. Im „Genre“ Belle tristik<br />
kämpfen acht von ihnen beim „Debütantensalon“ um den<br />
mit 10.000 Euro dotierten Klaus-Michael Kühne-Preis.<br />
Konzertsäle, Theater, Clubs, aber auch die St.-Katharinen-<br />
Kirche, die Zeise Kinos oder die Cap San Diego geben<br />
den Raum für die Lesungen. Das gesamte Programm ist<br />
unter www.harbourfront-hamburg.com zu finden.<br />
51
Kult<br />
Tipps für <strong>September</strong>:<br />
subjektiv und<br />
einladend<br />
Draußen<br />
Achtsam zusammen feiern<br />
Langsam, aber sicher: Das Neustadt-<br />
Festival erstreckt sich dieses Jahr über<br />
den ganzen <strong>September</strong>. „Mehr miteinander“<br />
ist das Motto, aus dem neben<br />
nachbarschaftlicher Solidarität auch<br />
wieder buntes Kulturtreiben erwächst.<br />
Wie das trotz gebotener Vorsicht gelingen<br />
kann, haben Neustädter*innen<br />
und Festivalteam gemeinsam ergründet.<br />
Geplant sind Qigong-Übungen unter<br />
freiem Himmel, bei dem die Teilnehmenden<br />
gesunden Abstand halten –<br />
zueinander, aber auch zur Hektik des<br />
Alltags. Rasanter geht es zu beim Nachbarschafts-Pingpong,<br />
auch die Kunststätten<br />
der Neustadt bewegen sich und<br />
52<br />
Gemeinschaft wird in der Neustadt großgeschrieben. Auch das<br />
Stadtteilfestival ist wieder möglich – mit gebotener Vorsicht.<br />
laden ein zum Galerien-Staffellauf.<br />
Einige Läden entdecken sogar die Digitalisierung<br />
für sich: Mithilfe von QR-<br />
Codes übertragen sie ihr Sortiment auf<br />
die Smartphones der Bummelnden. •<br />
Neustadt-Festival, den ganzen Monat,<br />
Eintritt frei, Progamm unter<br />
www.kulturfestival-neustadt.de
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Kunzt&Kult<br />
Das waren<br />
noch Zeiten:<br />
Auf eine lange<br />
Tafel muss<br />
das Kulturfutter<br />
diesmal<br />
verzichten,<br />
dafür gibt<br />
es den<br />
Schmaus<br />
zum Mitnehmen.<br />
Theater<br />
Auf den Spuren des Zorns<br />
Stunk, Streit und Stress bestimmen<br />
die Nachrichten. Woher kommen die<br />
Aggressionen? In ihrem Stück „Das<br />
autoritäre Zeitalter des Megazorns“<br />
geht die Kompanie „Sexy Theater<br />
Menschen“ dieser Frage nach. •<br />
Ernst Deutsch Theater, Friedrich-<br />
Schütter-Platz 1, Mo, 7.9., 20 Uhr, Eintritt<br />
17 Euro, www.ernst-deutsch-theater.de<br />
FOTOS: DIRK EISENMANN (S. 52), MAURICIO BUSTAMANTE (OBEN), HAMBURGER KUNSTHALLE / HANNA LENZ<br />
Aktion<br />
Das Auge isst mit<br />
Zum Auftakt der Altonale ist Hinz&Kunzt wieder beim „Kulturfutter“ dabei<br />
und kümmert sich gemeinsam mit der Initiative foodsharing und den Caterern<br />
Die2Chefs darum, dass gerettete Lebensmittel im Kochtopf landen statt in<br />
der Tonne. Aufgetischt werden kann dieses Jahr zwar nicht, dafür gibt es Carepakete,<br />
die sich jeder Gast individuell zusammenstellen darf. Für den Augenschmaus<br />
sorgen vier Hamburger Künstler*innen, die mit Fotografie, Klang, Trickfilm<br />
und Graffiti ihre eigene Haltung zum Thema Lebensmittelverschwendung<br />
ausdrücken. Die Ausstellung macht vom 4. <strong>September</strong> an, eine Woche vor Start<br />
der Altonale, Appetit auf mehr. •<br />
Altonale „kurz & schmerzlos“, Platz der Republik, Do–So, 10.–13.9., Eintritt frei,<br />
das ganze Programm: www.altonale.de<br />
Kinder<br />
Immer schön Balance halten<br />
Es muss nicht erst der Haussegen schief hängen – mit der Ausstellung „Alles im<br />
Lot“ bietet die Kunsthalle Kindern und Erwachsenen einen schönen Ausgleich in<br />
allen Lebenslagen. Das von Olafur Eliasson gestaltete Hamburger Kinderzimmer<br />
ist ganz auf das Thema Balance<br />
ausgerichtet. Wie zum Beispiel hat<br />
es der Maler Jean Antoine Théodore<br />
Gudin geschafft, auf einem<br />
schwankenden Schiff ein Bild zu<br />
malen? Hätte er das mit festem<br />
Boden unter den Füßen noch besser<br />
hinbekommen oder geht es gerade<br />
um das kipplige Gefühl? Auch das<br />
zwischenmenschliche Gleichgewicht<br />
und die Beziehung zwischen<br />
Kunst und Betrachter*in setzt die<br />
Ausstellung so in Szene, dass Kinder<br />
und Eltern gern hinschauen. •<br />
Kunsthalle, Glockengießerwall 5, ab<br />
3.9., Di–So, 10–18 Uhr, Eintritt 14/8<br />
Euro, für Kinder und Jugendliche frei,<br />
www.hamburger-kunsthalle.de<br />
Anfassen erlaubt: Das Hamburger<br />
Kinderzimmer regt zum Spielen mit Kunst an.<br />
53<br />
Musik<br />
Der Sound des Hauptbahnhofs<br />
Performancekünstlerin Annika Kahrs<br />
hat sich in ihrem neuesten Kunstprojekt<br />
den Hauptbahnhof vorgeknöpft:<br />
Seit Jahren dröhnt dort Musik aus<br />
blechernen Lautsprechern, anfangs<br />
um Drogenkranke und Trinker*innen<br />
zu vertreiben. Kahrs hat den Sound<br />
eingefangen und so gemischt, dass<br />
neue Welten entstehen. Dazu hat sie<br />
auch Hinz&Künzt ler *innen interviewt.<br />
Zu hören in der Gruppenausstellung<br />
„Corona Sound System“. •<br />
Kunstverein Hamburg, Klosterwall 23,<br />
Di–So, 12–18 Uhr, das Hörstück mit den<br />
Hinz&Künztler*innen immer 14.17 Uhr,<br />
Eintritt 5/3 Euro, www.kunstverein.de<br />
Konzert<br />
Neue Töne in der Kunstklinik<br />
Das Kulturzentrum in Eppendorf<br />
startet eine neue Konzertreihe:<br />
„Pang ia“ holt Musik aus unterschiedlichen<br />
Kulturen auf die Bühne<br />
und überträgt sie live ins Netz. Den<br />
Anfang macht die Band Bent . •<br />
Kunstklinik, Martinistraße 44a, Fr, 11.9.,<br />
20 Uhr, Eintritt 10 Euro, Anmeldung unter<br />
www.kunstklinik.hamburg<br />
Unterwegs<br />
Baukultur mit Perspektiven<br />
„Denkmal als Chance“ ist das Motto<br />
am Tag des offenen Denkmals. Viele<br />
Bauwerke gewähren exklusiv für diese<br />
Gelegenheit Einlass, andere lassen<br />
sich von außen erkunden. •<br />
Tag des offenen Denkmals, mehr als 100<br />
Veranstaltungen, Fr–So, 11.–13.9., Eintritt<br />
frei, www.denkmalstiftung.de/denkmaltag
Festival<br />
Spieltrieb trotz(t) Corona<br />
„Was geht?“ ist beim diesjährigen<br />
Reeperbahn Festival nicht nur die<br />
Grußformel, mit der sich Fans und<br />
Freund*innen auf dem Weg ins Konzert<br />
begrüßen, sondern eine ganz reelle<br />
organisatorische Frage: Wie kann das<br />
beliebte Club-Festival trotz Corona<br />
sicher über die Bühne gehen? Der Wille<br />
ist da, einen Weg haben die Macher-<br />
*innen auch gefunden. Er wird nicht<br />
über brechend volle Tanzflächen von<br />
einem Moshpit zum nächsten führen,<br />
dafür geht es dieses Jahr gediegen zu.<br />
Sowohl unter freiem Himmel als auch<br />
drinnen gibt es bestuhlte Sitzreihen fürs<br />
Konzertpublikum. Ausnahmen sind der<br />
neu bespielte Spielbudenplatz, die Fritz<br />
Bühne und der Molotow Backyard, wo<br />
am Einlass abgezählt wird, um Überfüllung<br />
zu vermeiden. Insgesamt sind<br />
54<br />
Popkultur zum Anschauen: Neben Musik gehört auch<br />
Kunst beim Reeperbahn Festival zum Programm.<br />
20 Bühnen offen, jeder Gast soll zwei<br />
bis drei Events pro Abend erleben<br />
können. Das sind nicht nur Konzerte,<br />
sondern auch Kunst, Film und Talkformate.<br />
Wunschkonzert schon voll?<br />
Live dabei sein geht auch digital. •<br />
Reeperbahn Festival, diverse Spielorte,<br />
Mi–Sa, 16.–19.9., Eintritt 45–65 Euro,<br />
Programm und digitale Übertragung:<br />
www.reeperbahnfestival.com
FOTOS: LENA MEYER (S. 54), MAGDALENA LOS (OBEN), PRIVAT<br />
Kunzt&Kult<br />
Ausstellung<br />
Talentiert und sehenswert<br />
Debatte<br />
Rassismus besser verstehen<br />
Wo fängt Rassismus an und wieso<br />
endet er nicht? Die Antworten auf<br />
diese Fragen sind schwer zu finden<br />
und hochkomplex. Im Brakula gibt<br />
es gleich zwei Gelegenheiten, ihnen<br />
näher zukommen. Die erste liefert die<br />
Vor führung des Films „Der Zweite<br />
Anschlag“: Angehörige von Opfern<br />
rassistischer Morde und Überlebende<br />
erzählen, was sie in Mölln, Rostock-<br />
Lichtenhagen und Hamburg erlebten<br />
und wie sie gegen Rassismus kämpfen.<br />
Am folgenden Abend geht es um die<br />
Privilegien, die weißen Menschen<br />
selbstverständlich zugestanden werden.<br />
Wie fühlt sich das an, wenn sie wegfallen?<br />
Nicolas A. S. Moumouni lädt<br />
zu einem Versuch ein, der dabei hilft,<br />
das Lebensgefühl ausgegrenzter<br />
Menschen besser zu verstehen. •<br />
Brakula, Bramfelder Chaussee 265,<br />
Mi, 16.9., 18 Uhr und Do, 17.9., 19 Uhr,<br />
Eintritt frei, www.brakula.de<br />
55<br />
Magdalena Los<br />
ist eine der<br />
Künstler*innen,<br />
denen die Jury<br />
herausragendes<br />
künstlerisches<br />
Potenzial<br />
bescheinigt.<br />
Leben können von der Kunst – das ist für viele junge Künstler*innen nach<br />
bestandener Abschlussprüfung die größte Herausforderung. Um aussichtsreichen<br />
Talenten den Sprung ins Berufsleben zu erleichtern, vergibt die Kulturbehörde<br />
jedes Jahr Arbeitsstipendien für die bildende Kunst. Nun stellen zwei Jahrgänge<br />
ihre Werke aus: Installationen, Bilder, Filme und Performances sind zu sehen. •<br />
Sammlung Falckenberg, Wilstorfer Straße 71, ab13.9., So, 12–17 Uhr,<br />
Eintritt 10/6 Euro, www.sammlung-falckenberg.de<br />
Aktion<br />
Coronawissen aus erster Hand<br />
Wer ist systemrelevant, wenn sich<br />
die Gesellschaft krankmeldet? Beim<br />
„Markt für nützliches Wissen &<br />
Nicht-Wissen“ bieten Pflegekräfte,<br />
Wissenschaftler*innen, medizinisches<br />
Personal, Patient*innen und Leidtragende<br />
Einblick in ihr Leben und Arbeiten<br />
mit der Krise – in Vieraugengesprächen<br />
mit den Besucher*innen,<br />
je eine halbe Stunde lang. 60 Fachleute<br />
sind dabei, darunter Virologe<br />
Christian Drosten und Jörg Petersen,<br />
der als Hinz&Künztler weiß, was<br />
Corona für Obdachlose bedeutet. •<br />
Kampnagel, Jarrestraße 20, Fr+Sa,<br />
25.+26.9., jeweils 19 Uhr, Eintritt 12/6<br />
Euro, pro Expert*innengespräch 1 Euro,<br />
www.kampnagel.de<br />
Über Tipps für Oktober freut sich<br />
Lukas Gilbert. Bitte bis zum 10.9.<br />
schicken: redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Kinofilm des Monats<br />
Kino<br />
körperlich<br />
Programmkino steht für Programmatik,<br />
also die Zielsetzung<br />
der Kinobetreiber*innen,<br />
die sich einer Idee mehr<br />
verschrieben haben als dem<br />
schnöden Mammon. Das<br />
Abaton-Kino war für mich in<br />
jungen Jahren dann auch die<br />
Verkörperung der intellektuellen<br />
Boheme. Das volle Programm:<br />
Baskenmütze, Weißweinschorle,<br />
selbstgedrehte<br />
Zigaretten. Ich wollte dazugehören.<br />
Immerhin hat es für<br />
ein Kinoticket gereicht. Das<br />
gab wohlwollende Blicke im<br />
Bekanntenkreis, wenn ich<br />
über Filme plauderte, die mit<br />
der tumben Effektcinematografie<br />
der Schachtelkinos so<br />
wenig gemein hatten wie<br />
Dantes Inferno mit einem<br />
TikTok-Video.<br />
Neben meiner persönlichen<br />
Verklärung gibt es viele<br />
gute Gründe, mal wieder ins<br />
Abaton-Kino zu gehen. Etwa<br />
Premieren in Anwesenheit<br />
der Filmschaffenden, wie am<br />
12. <strong>September</strong> ab 18 Uhr bei<br />
der Dokumentation „Body<br />
of Truth“. Regisseurin Evelyn<br />
Schels, die an diesem<br />
Abend dabei sein wird, lässt<br />
darin vier sehr unterschiedliche<br />
Künstlerinnen ihre eigene<br />
Geschichte erzählen und<br />
ihr künstlerisches Werk erklären.<br />
Die detaillierten und<br />
manchmal drastischen Porträts<br />
zeigen Frauen, die im<br />
wahrsten Sinne des Wortes<br />
mit ihrem Körper arbeiten.<br />
Und mit den Körpern anderer.<br />
Schmerz, Würde, Verletztheit<br />
– Schels zeigt die Wahrheiten<br />
hinter der Kunst. •<br />
André Schmidt<br />
geht seit<br />
Jahren für uns<br />
ins Kino.<br />
Er arbeitet in der<br />
PR-Branche.
Hamburger<br />
Geschichte(n)<br />
#6<br />
Kunzt&Kult<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />
Das historische Bild wurde um das Jahr 1920<br />
aufnommen. Kurz danach wurden die Häuser<br />
abgerissen. 1936 entstanden die heutigen Gebäude<br />
an der Altstädter Twiete mit den olympischen Ringen.<br />
Die Altstädter Twiete<br />
Mitten im denkmalgeschützten Altstädter Hof liegen die<br />
Verlagsräume von Hinz&Kunzt. Vor dem Umzug ins neue Haus in<br />
St. Georg hat Spurensucher Jürgen Jobsen noch was zu klären.<br />
Manchmal liegen Rätsel der Stadtgeschichte<br />
direkt vor der Tür – in Jürgen<br />
Jobsens Fall vor der Tür seines Arbeitsplatzes.<br />
Täglich kommt der Vertriebsmitarbeiter<br />
von Hinz&Kunzt an den<br />
fünf olympischen Ringen vorbei, die an<br />
der Stirnseite der Altstädter Twiete<br />
hängen, über dem Relief eines Fackelläufers.<br />
„Olympiajahr 1936“ steht darunter<br />
eingemeißelt. Als Spurensucher<br />
kommt Jürgen da nicht umhin, sich<br />
Fragen zu stellen: Olympische Ringe?<br />
Wieso ausgerechnet hier?<br />
„Die Nazis haben diesen Ort in Zusammenhang<br />
mit Olympia bebaut“,<br />
vermutet er. Vielleicht diente der Altstädter<br />
Hof, der die Twiete umschließt,<br />
als Unterkunft für Wassersport<br />
Athlet*innen der Sommerspiele, die<br />
Hitler 1936 ausrichten ließ? Jürgen<br />
meint, das ge lesen zu haben. Andererseits:<br />
„So eine Tafel im Innenhof zu<br />
verstecken, ergibt keinen Sinn“, sagt er.<br />
Erst recht nicht für die Nazis, denen die<br />
Propaganda fast wichtiger war als der<br />
Sport selbst.<br />
TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />
Wir gehen der Sache nach und finden<br />
Antworten bei der Landeszentrale für<br />
politische Bildung. Sozialhistorikerin<br />
Rita Blake hat die Geschichte des Altstädter<br />
Hofs aufgearbeitet – und entzaubert<br />
das Symbol der fünf Ringe mit<br />
einem nüchternen Satz: „Sie sollen daran<br />
erinnern, dass der Häuserkomplex<br />
1936 im Jahr der Olympischen Spiele<br />
errichtet wurde.“ Ausgetragen wurden<br />
die Wettkämpfe nämlich nicht in Hamburg,<br />
sondern in Berlin und Kiel. Die<br />
Altstädter Twiete aber hat in Wirklichkeit<br />
gar nichts mit Olympia zu tun. Das<br />
Relief sollte nur Assoziationen wecken.<br />
Ein billiger Trick, der den damaligen<br />
Bauherren sicher gefiel. Ebenso wie<br />
die Skulpturen, die sie beim selben Bildhauer<br />
für die Außenfassade des Altstädter<br />
Hofs bestellten: Starke Handwerker,<br />
Nachtwächter, Blumenmädchen und<br />
kinderreiche Mütter versinnbildlichen<br />
noch heute die völkischen Ideale der<br />
NaziGesellschaft. Jürgen hält davon<br />
gar nichts. Bei aller Liebe fürs Alte –<br />
wie die Nazis die einfachen Leute ver<br />
einnahmten, ist ihm völlig zuwider.<br />
Sein Herz schlägt für die Menschen, die<br />
weder Ruhm noch falschen Glanz abbekamen.<br />
Jürgen denkt an die Gängeviertel<br />
und Höfe, die einst die Steinstraße<br />
säumten. Und an die Testamentswohnungen<br />
für Arme, ein Vermächtnis der<br />
Bürgermeisterwitwe Anna Büring, die<br />
1537 kinderlos starb. 1708 wurde ihr<br />
letzter Wille in die Tat umgesetzt und<br />
die ersten Bedürftigen konnten einziehen.<br />
Ein niedriges Dach, ein warmer<br />
Kamin, viel mehr boten die von Anna<br />
Büring gestifteten Mansardenwohnungen<br />
nicht. Aber sie hielten stand, bis<br />
1928 – während das sogenannte Dritte<br />
Reich in Hamburg schon nach zehn<br />
Jahren in Trümmern lag. •<br />
Kontakt: annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />
Jürgen Jobsen (64)<br />
war früher<br />
Hinz&Künztler und<br />
arbeitet seit Jahren<br />
im Vertrieb.<br />
Rätselfrage:<br />
Die Anna-Büring-Testamentswohnungen<br />
wurden zwischen der Springeltwiete<br />
und der damaligen Fuhlentwiete erbaut.<br />
Wie heißt diese Straße heute?<br />
Schreiben Sie uns! (Siehe rechts)<br />
FOTOS: ANDREAS HORNOFF, WWW.HAMBURG-BILDARCHIV.DE<br />
56
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Rätsel<br />
ILLUSTRATION (BLEISTIFT IM IMPRESSUM): BERND MÖLCK-TASSEL<br />
frz.<br />
Unternehmer<br />
(Bernard)<br />
schweiz.:<br />
Schubkarren<br />
Doldenblütler,<br />
Bergfenchel<br />
Abk.: Bruttoregistertonne<br />
(veraltet)<br />
engl.:<br />
Gruppe,<br />
Team<br />
veraltet:<br />
milit.<br />
Rückzug<br />
(frz.)<br />
Vorname<br />
der<br />
Karlstadt<br />
† 1960<br />
süddt.:<br />
Ufer;<br />
Uferstraße<br />
Save-<br />
Zufluss<br />
griech.<br />
Unterweltsfluss<br />
7<br />
1<br />
lateinamerik.<br />
Landarbeiter<br />
Sammelleitung<br />
einer EDV-<br />
Anlage<br />
8<br />
2<br />
4<br />
Persienkunde<br />
veralt.<br />
weibl.<br />
Vorname<br />
3<br />
2<br />
28<br />
veraltet:<br />
Straftat<br />
4<br />
8<br />
Bildnis<br />
der Maria<br />
mit Leichnam<br />
Jesu<br />
südafr.<br />
Golfprofi<br />
(Ernie)<br />
Vater des<br />
Propheten<br />
Samuel<br />
(A. T.)<br />
Münzeinheit<br />
in<br />
Thailand<br />
Stadt an<br />
d. Westküste<br />
von SH<br />
engl.:<br />
Landstraße<br />
Ableitung<br />
lateinisch:<br />
Tor<br />
Kettenstern<br />
bei<br />
Baggern<br />
Oker-<br />
Zufluss<br />
(Harz)<br />
AR0909-1219_7sudoku<br />
5<br />
1<br />
Hautknötchen<br />
(Med.)<br />
arab.:<br />
Knecht<br />
Berliner<br />
Männerspitzname<br />
Überraschungsangriff<br />
(engl.)<br />
Messwerkzeug<br />
Billionenfaches<br />
e.<br />
Einheit<br />
Fluss<br />
zum<br />
Voltasee<br />
(Ghana)<br />
Stadt am<br />
Tigris<br />
(Irak)<br />
histor.<br />
Königreich<br />
Burgund<br />
sächs.<br />
Stadt an<br />
der Elbe<br />
ehem. russ.<br />
Tennisspielerin:<br />
...<br />
Kournikova<br />
kroat.<br />
Stadt<br />
an der<br />
Adria<br />
hebräischer<br />
Monatsname<br />
Gymnasiast<br />
(veraltet)<br />
Justierer<br />
russische<br />
Stadt am<br />
Schwarzen<br />
Meer<br />
südfranz.<br />
Departement<br />
engl. Abk.:<br />
Ribonukleinsäure<br />
Lösungen an: Hinz&Kunzt, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />
per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />
Einsendeschluss: 28. <strong>September</strong> <strong>2020</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />
Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel oder die Antwort<br />
auf die Preisfrage auf Seite 56 einsendet, kann zwei Karten für die Hamburger<br />
Kunsthalle oder eine von zwei Graphic Novels „Vatermilch“ von Uli<br />
Oesterle (Carlsen Verlag) gewinnen. Die Antwort auf die August-Preisfrage<br />
lautete: Schweizerpavillon. Das Lösungswort beim Kreuzworträtsel war:<br />
Verbindung. Die Sudoku-Zahlenreihe: 746 958 321.<br />
6<br />
275<br />
8672<br />
2<br />
69<br />
1<br />
9<br />
1728<br />
7<br />
5<br />
8<br />
49<br />
485<br />
639<br />
9<br />
7<br />
leblos<br />
6<br />
10<br />
57<br />
10<br />
3<br />
12197 – raetselservice.de<br />
Füllen Sie das Gitter so<br />
aus, dass die Zahlen von<br />
1 bis 9 nur je einmal in<br />
jeder Reihe, in jeder<br />
Spalte und in jedem<br />
Neun-Kästchen-Block<br />
vorkommen.<br />
Als Lösung schicken<br />
Sie uns bitte die farbig<br />
gerahmte, unterste<br />
Zahlenreihe.<br />
87492<br />
27<br />
95613<br />
Impressum<br />
Redaktion und Verlag<br />
Hinz&Kunzt<br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />
Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg<br />
Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />
Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />
E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />
Herausgeber<br />
Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />
Externer Beirat<br />
Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />
Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />
Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />
Thomas Magold (BMW-Niederlassungsleiter i.R.),<br />
Karin Schmalriede (Lawaetz-Stiftung),<br />
Dr. Bernd-Georg Spies (Russell Reynolds),<br />
Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />
Geschäftsführung Jörn Sturm<br />
Redaktion Birgit Müller (bim; Chefredakteurin, V.i.S.d.P.),<br />
Annette Woywode (abi; Stellv., CvD), Benjamin Laufer (bela; stv. CvD),<br />
Jonas Füllner (jof), Lukas Gilbert (lg),<br />
Jochen Harberg (joc), Ulrich Jonas (ujo), Frank Keil (fk),<br />
Misha Leuschen (leu), Annabel Trautwein (atw)<br />
Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />
Korrektorat Kristine Buchholz und Kerstin Weber<br />
Redaktionsassistenz Cedric Horbach,<br />
Marina Schünemann, Anja Steinfurth<br />
Artdirektion grafikdeerns.de<br />
Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />
Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />
Anzeigenvertretung Caroline Lange,<br />
Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, c.lange@wahring.de<br />
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 24 vom 1. Januar 2019<br />
Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Sigi Pachan,<br />
Jürgen Jobsen, Meike Lehmann, Sergej Machov,<br />
Frank Nawatzki, Elena Pacuraru, Reiner Rümke, Marcel Stein,<br />
Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn<br />
Spendenmarketing Gabriele Koch<br />
Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />
Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel<br />
Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />
Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />
Chris Schlapp, Harald Buchinger<br />
Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />
Stefan Calin, Gheorghe-R zvan Marior, Pawel Marek Nowak<br />
Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />
Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger, Klaus Peterstorfer,<br />
Herbert Kosecki, Torsten Wenzel<br />
Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />
Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />
Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />
Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />
Umschlag-Druck Neef+Stumme premium printing GmbH & Co. KG<br />
QR Code ist ein eingetragenes Warenzeichen von Denso Wave Incorporated<br />
Spendenkonto Hinz&Kunzt<br />
IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73<br />
BIC: HASPDEHHXXX<br />
Die Hinz&Kunzt gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />
Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />
des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer 17/414/00797,<br />
vom 7.7.<strong>2020</strong>, für das Jahr 2018 nach §5 Abs.1 Nr. 9 des Körperschaftssteuergesetzes<br />
von der Körperschaftssteuer und nach<br />
§ 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />
Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&Kunzt ist als<br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister beim<br />
Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen.<br />
Wir bestätigen, dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&Kunzt<br />
einsetzen. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte<br />
weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />
www.hinzundkunzt.de. Hinz&Kunzt ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />
obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />
Das Magazin wird von Journalist*innen geschrieben, Wohnungslose und<br />
ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter*innen<br />
unterstützen die Verkäufer*innen.<br />
Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />
Gesellschafter<br />
Durchschnittliche monatliche<br />
Druckauflage 3. Quartal <strong>2020</strong>:<br />
59.000 Exemplare
Momentaufnahme<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />
Seit 21 Jahren verkauft<br />
Achim Hinz&Kunzt.<br />
Das hat seinem Alltag<br />
endlich Struktur gegeben.<br />
„Ich hatte die Schnauze voll<br />
von meinem alten Leben“<br />
Achim (57) verkauft Hinz&Kunzt am Alsterhaus in der Poststraße.<br />
TEXT: JONAS FÜLLNER<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Wer schon mal mit vollen Einkaufstüten<br />
rückseitig ins Alsterhaus spaziert ist,<br />
kennt Achim. Seit rund 15 Jahren hat<br />
der 57-Jährige hier seinen Stammplatz.<br />
Und allen öffnete er die Tür – bis die<br />
Coronapandemie ausbrach. „Seitdem<br />
halte ich deutlich Abstand“, sagt<br />
Achim, der sich an seinem Verkaufsplatz<br />
trotzdem sehr wohlfühlt. „Nach so<br />
vielen Jahren habe ich viele treue<br />
Stammkunden“, freut sich der große,<br />
hagere Hinz&Künztler.<br />
Seit 21 Jahren verkauft der waschechte<br />
Hamburger, der beim Reden über<br />
jeden spitzen Stein stolpert, inzwischen<br />
Hinz&Kunzt. „Ich hatte damals die<br />
Schnauze voll von meinem alten Leben“,<br />
erinnert sich Achim. Das bestand<br />
aus Drogen, Alkohol und Diebstählen<br />
und führte ihn regelmäßig hinter Gitter.<br />
Aus diesem Teufelskreis habe ihn erst<br />
Hinz&Kunzt befreit. Seitdem hat er<br />
einen klar strukturierten Tagesablauf<br />
und wieder eine Aufgabe. „Ich bin zwar<br />
immer noch süchtig“, sagt Achim.<br />
„Aber ich bin jetzt 57. Ich kann nicht<br />
mehr wie früher. Ich bin froh, wenn ich<br />
einen kiffen kann und mit ein paar<br />
Kaltgetränken vor meiner Xbox sitze<br />
und daddle.“ Nur noch selten käme es<br />
vor, dass ihm „richtig der Helm brennt“,<br />
wie es Achim ausdrückt.<br />
Dass er versucht, seinen Stress mit<br />
Drogen zu bewältigen, zieht sich durch<br />
sein Leben. Nach seinem Hauptschulabschluss<br />
jobbte er fast zehn Jahre im<br />
Hafen. „War die schwerste Arbeit in<br />
meinem Leben. Was ich da alles<br />
ver laden habe: Kaffee, Zucker, Baumwolle<br />
…“ Und trotzdem gerät er rückblickend<br />
ins Schwärmen. „Es war die<br />
geilste Zeit. Immer am Wasser. Und im<br />
Sommer habe ich schön braun<br />
aus gesehen.“<br />
Aber nach Feierabend ging es zu<br />
Kolleg*innen und Freund*innen. Abschalten.<br />
Feiern. Anfangs mit Marihuana<br />
und Alkohol. Später auch mit harten<br />
Drogen. Mit Ende 20 hing er an der<br />
Nadel. Eine Zeit lang ließen sich Job<br />
und Partyleben noch kombi nieren.<br />
„Aber wenn du richtig auf Drogen bist,<br />
hast du keine Chance“, sagt Achim, der<br />
mit Anfang 30 schließlich auf der Straße<br />
landete.<br />
Anfangs finanzierte er sich den<br />
Drogenkonsum noch durch Gelegenheitsjobs.<br />
„Dann bin ich einbrechen gegangen,<br />
hab andere betrogen“, erzählt<br />
Achim ziemlich frei raus. Natürlich<br />
wurde er erwischt. Seine Strafen hat er<br />
abgesessen. Rückblickend bezeichnet er<br />
diesen Lebensabschnitt als „mein anderes<br />
Leben“. Denn nicht nur die Drogen<br />
hat er halbwegs in den Griff bekommen.<br />
Auch von der Straße ist Achim<br />
längst weg. Seit acht Jahren hat er eine<br />
eigene Wohnung. „Ich gebe mir alle<br />
Mühe“, sagt Achim. „Das was ich jetzt<br />
habe, will ich nicht mehr verlieren.“ •<br />
Achim und die anderen Hinz&Künztler*innen<br />
erkennt man am Verkaufsausweis.<br />
2623<br />
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KUNZT-<br />
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www.hinzundkunzt.de/shop, shop@hinzundkunzt.de, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />
Tel. 32 10 83 11. Preise zzgl. Versandkostenpauschale 4 Euro, Ausland auf Anfrage.<br />
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Fotograf: Vertriebsmitarbeiter Jürgen Jobsen.<br />
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Der Liederzyklus von Franz Schubert mit<br />
Originaltextfragmenten von Wilhelm Müller<br />
und Geschichten von Menschen im Abseits,<br />
bearbeitet von Stefan Weiller. Sprecher*innen:<br />
Brigitta Assheuer, Jens Harzer,<br />
Wolfram Koch, Helmut Krauss, Eva Mattes.<br />
Klavier: Hedayet Djeddikar.<br />
Spielzeit: 82 Minuten.<br />
Hörbuchverlag Speak Low, Berlin 2019.<br />
Preis: 14,90 Euro<br />
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Bergtee vom Olymp* (40 %),<br />
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www.aroma-olymp.com.<br />
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Niemand kennt<br />
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der Hamburger Firma AHOI MARIE.<br />
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www.ahoi-marie.com<br />
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Alltagsforscher und<br />
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Im KörberForum am Eingang zur HafenCity:<br />
Gespräche, Diskussionen, Lesungen, Filmabende<br />
Eintritt frei. Anmeldung unter koerberforum.de<br />
Hier geht’s zur Sache<br />
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Stand August <strong>2020</strong>, Änderungen vorbehalten! Groothuis.de Foto: iStockphoto.com/golero<br />
KörberForum | Kehrwieder 12 | 20457 Hamburg | U Baumwall<br />
Telefon 040 · 80 81 92 - 0 | E-Mail info@koerberforum.de<br />
Veranstalter ist die gemeinnützige Körber-Stiftung.