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HUK 331 September 2020

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Das Hamburger<br />

Straßenmagazin<br />

Seit 1993<br />

N O <strong>331</strong><br />

Sep.20<br />

2,20 Euro<br />

Davon 1,10 Euro für<br />

unsere Verkäufer*innen<br />

5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />

Meine neue<br />

Heimat<br />

Wie Zahra und andere Geflüchtete<br />

ihr Leben in Hamburg meistern.


25 Jahre Hinz&Kunzt – 25 Tage unser Restaurant auf Zeit:<br />

Ein kulinarisches Dankeschön an die Hamburger*innen.<br />

Mit 25 Drei-Gänge-Menüs von Sterneköch*innen, jungen<br />

Wilden und anderen Küchengöttern.<br />

Unser Kochbuch ist ein edel gebundenes<br />

Hardcover mit 194 Seiten, vielen farbigen<br />

Fotos und 180 inspirierenden Rezepten.<br />

Sie können es für 15 Euro online bestellen<br />

unter www.hinzundkunzt.de/shop oder<br />

im Buchladen (ISBN 978-3-00-060526-0).<br />

Das Kochbuch ist für 35 Euro auch<br />

als Bundle zusammen mit der Schürze<br />

„KunztKüche“ (siehe Seite 59) erhältlich.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Inhalt<br />

„Wir schaffen das!“<br />

„Wir schaffen das!“ Natürlich bewegt auch uns<br />

dieser Satz und dieses Motto von Angela Merkel aus<br />

dem Jahr 2015. Gemeint war die Aufnahme von<br />

knapp einer Million Geflüchteter. Wir trafen uns mit<br />

Karim, Maroof und Zahra, die unser Titelblatt<br />

schmückt (Seite 12). Wir wollten wissen, wie es ihnen<br />

in den vergangenen Jahren ergangen ist.<br />

Mein Kollege Ulrich Jonas hat für Sie viele<br />

Zahlen, Karten und Infos aufbereitet, sodass Sie sich<br />

selbst ein Bild machen können (Seite 18). Unser<br />

He rausgeber Dirk Ahrens hat eine Sommertour<br />

unternommen und mit Behördenmitarbeiter*innen,<br />

Richtfest fürs Hinz&Kunzt-<br />

Haus in St. Georg:<br />

In einem Jahr zieht unser<br />

Projekt voraussichtlich<br />

um – zusammen mit<br />

24 Obdachlosen, die<br />

dort wohnen werden.<br />

Auf dem Bild (von links):<br />

Johannes Jörn und<br />

Annika Gürtler (beide<br />

Amalie Sieveking-Stiftung),<br />

Jörn Sturm (Hinz&Kunzt),<br />

Sozialsenatorin Melanie<br />

Leonhard, Landespastor<br />

Dirk Ahrens und Holger<br />

Cassens (Mara & Holger<br />

Cassens-Stiftung).<br />

Initiativen und Geflüchteten darüber gesprochen,<br />

wo es noch Baustellen gibt (Seite 26). Was haben wir<br />

schon geschafft? Was sagen Sie dazu?<br />

Aber zum Denken braucht man einen klaren<br />

Kopf: Um den mal richtig freizubekommen,<br />

können Sie sich einfach aufs Fahrrad schwingen.<br />

Anregungen bekommen Sie von meinen Kollegen<br />

Benjamin Laufer, Christian Hagen und Jonas Füllner<br />

(Seite 32). Zur Not kann man auch den Bus nehmen.<br />

Ihre Birgit Müller Chefredakteurin<br />

(Schreiben Sie uns doch an info@hinzundkunzt.de)<br />

TITELBILD UND FOTO OBEN: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Inhalt<br />

Stadtgespräch<br />

04 Gut&Schön<br />

28 Billbrookdeich: Saga will eine Villa<br />

zum Höchstpreis verkaufen<br />

30 Keine Hilfe: Ein Obdachloser stirbt<br />

Haben sie’s<br />

geschafft?<br />

Was Geflüchtete<br />

wie Maroof seit<br />

2015 erreicht<br />

haben (ab S. 12).<br />

Raus aus der Stadt: Redakteur Benjamin Laufer nimmt<br />

Sie auf dem Fahrrad mit in die Lüneburger Heide (S. 32).<br />

24 „Positive Effekte“: Arbeitsagentur-<br />

Chef Detlef Scheele über Geflüchtete<br />

25 Euphorie weicht Skepsis: Khaled<br />

Almaani sieht einen Stimmungswandel<br />

26 Klar schaffen wir das!<br />

Fazit einer Sommertour von<br />

Landespastor Dirk Ahrens<br />

5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />

08 Leitartikel: Freude, Hoffnung, Neid<br />

12 Angekommen: Maroof, Karim und Lust auf Radeln&Sport<br />

Zahra über ihre neue Heimat Hamburg<br />

18 Zahlen & Fakten: Europa und die<br />

Geflüchteten 2015 und heute<br />

Freunde<br />

32 Tipps für Fahrradtouren im Umland<br />

40 Discgolf spielen in der City Nord<br />

44 Gerhardt Höpker spendet uns<br />

seine Rentenerhöhung<br />

Kunzt&Kult<br />

48 Literaturfestival: Harbour Front<br />

52 Tipps für den <strong>September</strong><br />

56 Hamburger Geschichte(n)<br />

58 Momentaufnahme<br />

Rubriken<br />

05 Kolumne<br />

29 Meldungen<br />

46 Leser*innenbriefe<br />

57 Rätsel, Impressum<br />

Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk


Schiffsrückkehr<br />

Peking gucken!<br />

Großer Bahnhof für eine Heim -<br />

keh rerin: Am 7. <strong>September</strong> wird die<br />

aufwendig restaurierte, 109 Jahre<br />

alte Viermastbark „Peking“ als viertes<br />

Museumsschiff Hamburgs nahe<br />

dem Hafenmuseum festmachen – im<br />

Rahmen einer großen Schiffsparade.<br />

Schiffsbesuche sind möglich ab<br />

Frühjahr 2021, ein 40-minütiger<br />

Film über die Restaurierungsarbeiten<br />

ist schon jetzt gratis zu sehen. JOC<br />

•<br />

Film: www.huklink.de/peking


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Gut&Schön<br />

50 Jahre JesusCenter<br />

Nächstenliebe<br />

in der Schanze<br />

Sozialarbeiter Holger Mütze<br />

FOTOS: PICTURE ALLIANCE / AP PHOTO / CDITTMAR/MARK LENNIHAN (S. 4), FREUNDE DER SCHLUMPER E.V. REPRO: PEGGY KAHL (OBEN),<br />

PROJEKT LEBENDIGE ALSTER / MAIKE BUCHWALD (UNTEN LINKS), NORDKIRCHE (UNTEN RECHTS), JESUSCENTER<br />

Die Schlumper<br />

Inklusive Kunst im Herzen der Stadt<br />

Sie stellten schon in Berlin, Brüssel und Chicago aus,<br />

jetzt feiern sie 40-jähriges Ateliergemeinschafts-<br />

Jubiläum: Die inklusive Künstler*innengemeinschaft<br />

„Die Schlumper“ (www.schlumper.de) von Menschen<br />

mit Beeinträchtigungen zeigt sich mit einer großen<br />

Ausstellung in ihrer Galerie – zu bestaunen noch bis<br />

15.11. in der Marktstraße 131 in Hamburg. JOC<br />

•<br />

Lebensraum Grüne Schute<br />

Neue Heimat für tierische Wasserund<br />

Landlebewesen sowie Refugium<br />

für pflanzliche Binnenwasser-<br />

Vielfalt: An der Schaartorschleuse<br />

nahe des Rödingsmarktes bietet<br />

jetzt eine 23 Meter lange stillgelegte<br />

Lastenschute viel Platz für bedrohte<br />

Lebensformen in den Alsterfleeten.<br />

Fische können hier laichen, Enten im<br />

Röhricht brüten, Bienen, Schwebfliegen<br />

und Falter Nahrung finden.<br />

Die Schute dient auch als Umweltbildungsort<br />

für Schulklassen. JOC<br />

•<br />

Mehr Infos: www.lebendigealster.de<br />

Segel zu Taschen<br />

Rückenwind ahoi für diese Unikate:<br />

Aus dem 63 Quadratmeter großen<br />

alten Segel des Nordkirchenschiffs<br />

„Artemis“ sind jetzt 380 Taschen<br />

gefertigt worden, mit deren Kauf<br />

man das griechische Flüchtlingshilfe-Projekt<br />

„Naomi“ unterstützt. Die<br />

NGO ist eine ökumenische Werkstatt<br />

in Thessaloniki, die Geflüchtete<br />

bei der Bewältigung ihres täglichen<br />

Lebens unterstützt. Unter anderem<br />

werden Frauen für eine bezahlte<br />

Arbeit als Näherinnen ausgebildet.<br />

Dabei entstanden auch die Taschen<br />

im Kulturbeutel-Format. JOC<br />

•<br />

Bestellung: www.huklink.de/taschen<br />

JesusCenter – der Name<br />

klingt irgendwie nach Sekte.<br />

Holger Mütze meint: „Na, da<br />

guckt man genauer hin!“ Und<br />

tatsächlich verbirgt sich hinter<br />

dem einst von der Evangelisch<br />

Freikirchlichen Gemeinde<br />

Christuskirche gegründeten<br />

Verein im Schanzenviertel<br />

fachlich qualifizierte christliche<br />

Sozialarbeit. „Immer mit<br />

dem besonderen Blick auf soziale<br />

Not, Einsamkeit, Orientierungs-<br />

und Arbeitslosigkeit“,<br />

so der Sozialarbeiter.<br />

Und das seit 50 Jahren.<br />

Herzstück ist das Café<br />

Augenblicke, Anlaufstelle für<br />

viele Wohnungs- und Obdachlose,<br />

Drogenkranke und<br />

immer mehr alte Menschen,<br />

die mit ihrer geringen Rente<br />

nicht auskommen. Hier bekommen<br />

sie eine warme<br />

Mahlzeit, Lebensmittelspenden<br />

und die Geborgenheit einer<br />

sozialen Gemeinschaft –<br />

egal, ob gläubig oder nicht.<br />

Manche Gäste würden vor<br />

den kurzen Andachten an<br />

Freitagen „rechtzeitig flüchten,<br />

andere kommen extra<br />

deswegen“, so Mütze. „Das ist<br />

alles völlig in Ordnung.“<br />

Auch in der Jugend- und<br />

Familienhilfe sind die Mitarbeitenden<br />

aktiv. Unter anderem<br />

betreuen sie acht Wohngemeinschaften,<br />

in denen<br />

auch junge Geflüchtete muslimischen<br />

Glaubens leben. Missionieren<br />

will hier niemand,<br />

nur Nächstenliebe zählt. ABI •<br />

Mehr Infos: www.jesuscenter.de<br />

5


Wir<br />

schaffen<br />

das!<br />

Vor fünf Jahren sagte Angela Merkel diesen Satz, voller Vertrauen in die<br />

Stärke unserer Wirtschaft und unseres Sozialstaates, der uns Mut machen<br />

und anspornen sollte: Wir schaffen das, rund eine Million vor Hunger und Krieg<br />

geflüchtete Menschen in Deutschland zu integrieren. Was ist seitdem passiert?<br />

Und wie hat Hinz&Kunzt diese Zeit erlebt? Wir sprachen mit<br />

Geflüchteten, schauen auf Zahlen und Fakten und hören die Einschätzung<br />

von Arbeitsagenturchef Detlef Scheele.<br />

FOTO: PICTURE ALLIANCE / DPA / DANIEL REINHARDT


Ein herzliches Willkommen: Am 5. <strong>September</strong><br />

2015 kommen zahlreiche Geflüchtete am<br />

Bahnhof in Hamburg-Harburg an.<br />

Auch dieser Junge, der mit Geschenken im Arm<br />

staunend an den jubelnden Hamburger*innen<br />

vorbei in sein neues Leben geht.


8<br />

In den Messehallen entstand 2015<br />

Deutschlands größte und lebendigste<br />

Kleiderkammer. In einer der Hallen wurden<br />

Geflüchtete untergebracht.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Titelthema<br />

5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />

Freude, Hoffnung und<br />

eine Portion Neid<br />

Die ganze Stadt hat 2015 eine immense Kraftanstrengung unternommen,<br />

um Geflüchteten eine neue Heimat zu bieten. Eine wundervolle Aufbruchstimmung!<br />

Allerdings wurden die Obdachlosen nicht mitbedacht. Im Gegenteil: Die beiden<br />

Gruppen in Not wurden gegeneinander ausgespielt. Und auch sonst lief einiges schief.<br />

Eine Analyse von Chefredakteurin Birgit Müller.<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE (S. 8), PICTURE ALLIANCE / DPA / DANIEL REINHARDT<br />

Fünf Jahre ist es her, dass<br />

Deutschland eine Million Geflüchtete<br />

aufnahm und dass<br />

Kanzlerin Angela Merkel den<br />

denkwürdigen Satz „Wir schaffen das!“<br />

sagte. Und dass an den Bahnhöfen in<br />

der Republik Einheimische die Fremden<br />

mit Freuden willkommen hießen,<br />

sie beklatschten und sie mit Wasser und<br />

Lebensmitteln versorgten. Es herrschte<br />

eine welteinmalige Willkommenskultur.<br />

Hamburg nahm mehr als 22.000<br />

Menschen auf, viele Hamburger*innen<br />

enga gierten sich in Flüchtlingsinitiativen,<br />

wollten so den Menschen helfen,<br />

hier anzukommen.<br />

Freund*innen fragten mich damals,<br />

ob es mich nicht frustriere, dass sich<br />

jetzt alle für die Geflüchteten engagierten.<br />

Dass es sogar dieses Motto gab:<br />

„Wir schaffen das!“ Wir schaffen es, sie<br />

unterzubringen, zu integrieren und<br />

ihnen eine neue Heimat zu bieten.<br />

So viel Engagement hatte es für Obdachlose<br />

nie gegeben.<br />

Nein, dieses Engagement frustrierte<br />

mich nicht. Im Gegenteil: Es war wie<br />

ein Märchen, wie ein Traum, eine gelebte<br />

Utopie. Ein wenig trugen wir alle<br />

dazu bei, die Welt ein bisschen besser<br />

zu machen. Die Menschen, egal ob in<br />

der Politik, in den Behörden, in den<br />

Unterkünften und auch Freiwillige – sie<br />

alle arbeiteten bis an den Rand der Erschöpfung.<br />

Detlef Scheele (SPD) (siehe<br />

auch das Interview auf Seite 24), der im<br />

<strong>September</strong> 2015 noch Sozialsenator<br />

war, platzte in der Bürgerschaft sogar<br />

der Kragen, als die ignorante AfD<br />

die Not der Geflüchteten kleinredete:<br />

„Machen Sie die Augen auf, Himmel,<br />

Arsch und Zwirn!“<br />

Diese Meisterleistung einer ganzen<br />

Stadt, dieses „Himmel, Arsch und<br />

Zwirn“ begeisterten mich und viele in<br />

unserem Projekt. Es machte uns Mut.<br />

Ein Kollege war ganz aktiv in der<br />

Flüchtlingshilfe. Auch viele Obdachlose<br />

und Ex­Obdachlose engagierten sich.<br />

Wie Hinz&Künztler Gerrit. Er hatte<br />

an seinem Verkaufsplatz viele Klamotten<br />

bekommen, die er verteilen sollte.<br />

Er brachte sie in die Messehallen, die<br />

größte und lebendigste Kleiderkammer<br />

der Stadt. „Ich bin da quasi hängen<br />

geblieben und habe zwei oder drei<br />

Wochen lang mitgeholfen, Klamotten<br />

in Regale zu sortieren“, erzählt Gerrit.<br />

Warum? „Weil die Flüchtlinge nichts<br />

hatten – und ich bin St.­Pauli­Fan, da<br />

Harburger Bahnhof 2015: Hamburger*innen heißen Geflüchtete willkommen.<br />

9<br />

ist Helfen selbstverständlich.“ Wir waren<br />

Teil der Willkommenskultur, allerdings<br />

hatten wir die Illusion, dass<br />

sie vielleicht alle umfassen könnte: Geflüchtete<br />

wie Obdachlose – auch die<br />

auf Hamburgs Straßen gestrandeten<br />

Wanderarbeiter *innen aus Osteuropa.<br />

Denn die Obdachlosen waren nicht<br />

erst durch die Ankunft der Geflüchteten<br />

ins Hintertreffen geraten. Sie waren<br />

es schon lange vorher. Aber jetzt wurde<br />

so richtig deutlich, was alles möglich ist,<br />

wenn eine ganze Stadt sich anstrengt.<br />

Und wenn man es nur will.<br />

„Wer es schafft, 26.000 Menschen<br />

unterzubringen, der schafft auch 2000<br />

mehr“, sagte unser Sozialarbeiter<br />

Stephan Karrenbauer. Auf diese Zahl<br />

schätzten wir damals die Obdachlosen –<br />

maximal.


5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />

Titelthema<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />

Herbst 2015, zu<br />

Besuch in den<br />

Messehallen:<br />

Geschockt sind<br />

viele Hinz&Künztler ­<br />

*innen darüber, wie<br />

die Geflüchteten<br />

untergebracht sind.<br />

Aber sie freuen sich,<br />

dass die Kleiderspenden<br />

auch für<br />

Obdachlose gedacht<br />

sind. Unten:<br />

Sommer <strong>2020</strong>. Sozialarbeiter<br />

Stephan<br />

Karrenbauer in<br />

einem der gesponserten<br />

Hotelzimmer<br />

für Obdachlose.<br />

„Das war wie ein<br />

Sechser im Lotto.“<br />

Aber ziemlich schnell stellte sich heraus,<br />

dass diese Kraftanstrengung, dieser<br />

politische Wille nicht ausgedehnt<br />

wurde auf die Obdachlosen und gestrandeten<br />

Wanderarbeiter*innen.<br />

„Finanziell nicht leistbar“ sei es, sie unterzubringen,<br />

sagte Sozialsenator Detlef<br />

Scheele damals. Und das, obwohl<br />

viele der Obdachlosen sogar ein verfassungsmäßiges<br />

Anrecht auf Unterbringung<br />

hatten und haben. Von<br />

Perspektiventwicklung ganz zu schweigen.<br />

Nicht mal dafür reichten die Energie<br />

und Kraftanstrengung – und auch<br />

bei anderen Senator*innen hatten sie<br />

nie gereicht.<br />

Und so wurde eine Gruppe von<br />

Menschen in Not gegen die andere ausgespielt.<br />

Damals wie heute werden mal<br />

die Geflüchteten, mal die Obdachlosen<br />

besser oder schlechter behandelt. Ein<br />

Beispiel: In der Erstaufnahme für<br />

Flüchtlinge dürfen die Menschen den<br />

ganzen Tag drinbleiben. Für Obdachlose<br />

gab es vor Corona nur im Winter<br />

ein Notprogramm, da mussten sie<br />

morgens raus und durften erst abends<br />

wieder rein. „Dank“ Corona hat sich<br />

das etwas geändert: Das Notprogramm<br />

läuft auch im Sommer weiter. Tagsüber<br />

raus müssen sie trotzdem.<br />

Dafür habe ich damals Erstaufnahmen<br />

gesehen, in denen Geflüchtete auf<br />

engstem Raum untergebracht waren –<br />

da waren sogar viele Obdachlose geschockt.<br />

In dem Baumarkt, in dem ich<br />

Karim (siehe auch Seite 14) kennengelernt<br />

habe, lebten um die 100 Menschen in<br />

einer riesigen Halle. Männer und Frauen<br />

gemischt. Solche Zustände gibt es<br />

zum Glück nicht mehr.<br />

Später wurden für die Geflüchteten<br />

Siedlungen und Expressbauten errichtet,<br />

wir fanden das hervorragend. Aber<br />

auch hier wurden die Obdachlosen<br />

nicht mitgedacht.<br />

10<br />

Das schürt den Neid. „Für viele obdachlose<br />

Bekannte von mir war es<br />

ganz schön hart“, sagte Hinz&Künztler<br />

Ronni. „Die hatten den Eindruck: Die<br />

Flüchtlinge bekommen plötzlich alles.“<br />

Er selbst sei nicht neidisch gewesen.<br />

„Ich hatte damals schon eine Wohnung.“<br />

Neulich sprach ich mit Viktor,<br />

der vor vielen Jahren als russischer<br />

Wanderarbeiter in Hamburg gestrandet<br />

war und bis heute obdachlos ist.<br />

„Deutschland wollte damals die ganze<br />

Welt retten“, sagte er bitter. „Sie hätten<br />

ja auch uns retten können. Aber ich<br />

werde nicht gerettet – nicht mal


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Titelthema<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE (S. 10), PICTURE ALLIANCE /DPA / CHRISTIAN CHARISIUS<br />

die deutschen Obdachlosen werden<br />

gerettet.“<br />

Und was dann gar nicht mehr<br />

nachvollziehbar war: Irgendwann standen<br />

Wohncontainer leer, in denen vorher<br />

Geflüchtete untergebracht waren –<br />

und wurden nicht den Obdachlosen zur<br />

Verfügung gestellt.<br />

Dass eine Gruppe neidisch auf<br />

eine andere ist, sind wir gewohnt.<br />

Hinz&Kunzt ist ein Kooperationsprojekt<br />

– viele haben vom Leben bislang<br />

wenig Gutes bekommen. Binsenweisheit:<br />

Je weiter unten einer steht, desto<br />

größer der Wunsch, dass unter ihm<br />

noch einer stehen möge. Das mag ihm<br />

Sicherheit geben. Das alles können<br />

wir verstehen, aber nicht tolerieren.<br />

Schlimm ist, wenn dann der Frust an<br />

denen ausgelassen wird, die ja nichts dafür<br />

können. Wenn wir wüste Beschimpfungen<br />

miterleben, bekommt jemand<br />

auch schon mal Hausverbot. In jenen<br />

Monaten kam das oft vor.<br />

Nicht nur bei uns wurde mehr gepöbelt.<br />

Auch in der Bevölkerung machte<br />

sich Unmut breit. Besonders bitter:<br />

Auch in betuchteren Stadtteilen wollten<br />

manche Anwohner*innen die Geflüchteten<br />

nicht in ihrer Nachbarschaft<br />

haben – schon gar nicht Obdachlose.<br />

Die Ungleichbehandlung und die<br />

steigende Zahl von Obdachlosen hat<br />

auch dazu geführt, dass die Verteilungskämpfe<br />

auf der Straße härter und brutaler<br />

wurden. Die Zahl der Gewalttaten<br />

hat zugenommen. Oft streiten sich Obdachlose<br />

untereinander. Erschreckenderweise<br />

geht es manchmal „nur“ um<br />

einen trockenen Schlafplatz.<br />

Politisch kommen wir uns manchmal<br />

vor wie Dauernörgler*innen, wenn<br />

wir gebetsmühlenartig wiederholen,<br />

dass es keine bezahlbaren Wohnungen<br />

oder Unterkünfte mehr gibt. Und mit<br />

den Jahren streiten wir auf einem immer<br />

niedrigeren Niveau. Früher forderten<br />

wir bezahlbaren Wohnraum für<br />

Obdachlose, dann wenigstens Einzelzimmer<br />

in Unterkünften. Der Tiefpunkt:<br />

Aus Mangel an Alternativen setzen<br />

wir uns oft dafür ein, dass sie in<br />

einer verdreckten Ecke liegen bleiben<br />

dürfen, weil die immerhin überdacht ist.<br />

Ausgerechnet Corona hat da für<br />

kurze Zeit etwas für uns verändert: Die<br />

Alimaus, die Diakonie und wir bekamen<br />

eine Großspende, mit der wir rund<br />

170 Obdachlose für drei Monate in Einzelzimmern<br />

in leer stehenden Hotels<br />

unterbringen konnten. Es war das erste<br />

Mal seit Jahren, dass wir die Möglichkeit<br />

hatten, vielen Obdachlosen einfach<br />

eine gute Unterkunft anzubieten. Ein<br />

Zimmer, in dem sie willkommen waren<br />

und in dem sie Ansprech partner*innen<br />

hatten. Drei Monate Urlaub von der<br />

„Wir können<br />

es uns nicht<br />

leisten, frustriert<br />

zu sein.“<br />

Straße, in denen sie Kraft sammeln<br />

konnten. Plus drei Monate eine einmalige<br />

Willkommenskultur.<br />

„Dass wir Obdachlosen etwas zu<br />

bieten hatten, ohne Vorbedingung –<br />

das war wie ein Sechser im Lotto“, sagte<br />

unser Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer.<br />

Natürlich sollen Menschen<br />

nicht ewig im Hotel wohnen, aber es<br />

könnte der Anfang für eine neue Ausrichtung<br />

sein. Aber noch gibt es ihn<br />

eben nicht, den politischen Willen zur<br />

Ehrenamtlicher Erfrierungsschutz: Der Kältebus bringt im<br />

Winter Obdachlose in Unterkünfte.<br />

11<br />

Veränderung. Und so sind die meisten<br />

Obdachlosen trotz Corona inzwischen<br />

wieder zurück auf der Straße.<br />

Fazit: Wie wirkungsvoll es ist, wenn<br />

ein ganzer Staat, eine ganze Stadt und<br />

viele Freiwillige einer Gruppe von Menschen<br />

helfen, zeigen unsere Zahlen (ab<br />

Seite 18). Schon nach fünf Jahren haben<br />

viele Geflüchtete Deutsch gelernt, eine<br />

Ausbildung gemacht oder sie arbeiten.<br />

Aber natürlich gibt es auch noch viele<br />

Baustellen (siehe Seite 26).<br />

Bei den Obdachlosen hat sich die<br />

Situation eher verschlechtert. Auch<br />

schon vor Corona. Der rot-grüne Senat<br />

will sich nicht mal darauf festlegen, wie<br />

viele Obdachlose er mit Perspektive in<br />

Wohnungen unterbringen will. Weil die<br />

Not auf der Straße so sichtbar ist, gibt es<br />

inzwischen viele ehrenamtliche Initiativen,<br />

aber weder die Profis noch sie können<br />

auffangen, was der Staat versäumt.<br />

Trotzdem: Wir können es uns nicht<br />

leisten, frustriert zu sein. Im Gegenteil:<br />

Diese Bilanz muss ein neuer Ansporn<br />

sein. Wir alle – der Bund, der Senat und<br />

unsere Gesellschaft – müssen den unbedingten<br />

Willen haben, es zu schaffen.<br />

Erst recht in Zeiten von Corona: Wir<br />

brauchen einen Schutzschirm für alle,<br />

die in Not sind. Nach dem Motto: „Wir<br />

schaffen das! Himmel, Arsch und<br />

Zwirn!“ •<br />

Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de


12


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Titelthema<br />

5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />

Meine neue<br />

Heimat<br />

Im Lauf der Jahre haben wir viele Geflüchtete kennengelernt, die uns<br />

beeindruckt und berührt haben. Lukas Gilbert und Birgit Müller haben drei<br />

von ihnen wiedergetroffen, um zu hören, wie es ihnen ergangen ist.<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Maroof, 24, hat zwei Jobs, aber lebt im Wohnheim.<br />

Maroof, 24, hat<br />

Todesangst, wenn er<br />

an seine Heimat<br />

Afghanistan denkt.<br />

Kennengelernt haben wir Maroof inmitten<br />

der Hochphase der Coronakrise.<br />

Der afghanische Geflüchtete lebt in einer<br />

städtischen Wohnunterkunft und infizierte<br />

sich mit dem Coronavirus. Vom<br />

Unter kunftsbetreiber und den Behörden<br />

fühlte er sich im Stich gelassen mit<br />

seiner Krankheit.<br />

Mittlerweile ist er zum Glück wieder<br />

genesen. Im Stich gelassen fühlt er<br />

sich aber immer noch. Nicht nur wegen<br />

Corona – die Erkrankung ist im erneuten<br />

Gespräch mit ihm nicht viel mehr<br />

als eine Randnotiz. Im Stich gelassen<br />

fühlt er sich von den Strukturen in<br />

Deutschland, die es ihm unmöglich machen,<br />

hier anzukommen. Auch nach<br />

fünf Jahren noch.<br />

Trotzdem sagt er: „Ich würde gern<br />

hierbleiben. Ich kann jetzt Deutsch<br />

sprechen. Ich kenne die Kultur, ich arbeite,<br />

ich habe viele Freunde hier.“<br />

Maroof kam im Herbst 2015 aus<br />

Afghanistan nach Deutschland. Zwar<br />

gilt das Land den deutschen Behörden<br />

als sicher genug, um Geflüchtete dorthin<br />

abzuschieben, Asylanträge von<br />

Afghan*innen gelten als wenig aussichtsreich.<br />

Maroof hat trotzdem Todesangst,<br />

wenn er an seine Heimat<br />

denkt. Und jedes Mal, wenn er in Hamburg<br />

die Polizei auf der Straße sieht,<br />

fürchtet er, abgeschoben zu werden.<br />

Der heute 24-Jährige kommt aus<br />

der Provinz Herat. Die Lage dort ist instabil,<br />

die Taliban ringen um Einfluss.<br />

2013 haben sie Maroof entführt, erzählt<br />

er, um ihn als Kämpfer zu rekru-<br />

13<br />

tieren. Dank guter Kontakte seines Vaters<br />

sei es damals gelungen, mit den<br />

Kämpfern auszuhandeln, dass Maroof<br />

nochmals für einige Tage nach Hause<br />

könne. Diese Gelegenheit nutzten<br />

Vater, Mutter, Schwester und Maroof<br />

zur Flucht. Erst nach Pakistan, dann in<br />

den Iran. Doch die iranische Armee war<br />

auf der Suche nach afghanischen<br />

Geflüchteten im wehrfähigen Alter, um<br />

sie in den Krieg nach Syrien zu schicken.<br />

Zehntausende von ihnen kämpfen heute<br />

dort. Um dem zu entgehen, floh Maroof<br />

„Was soll ich<br />

noch tun, um<br />

einen Aufenthalt<br />

zu bekommen?“<br />

MAROOF<br />

alleine weiter. Zunächst in die Türkei,<br />

dann nach Griechenland und zu Fuß<br />

über die damals noch geöffnete Balkanroute<br />

bis nach Hamburg. „Ich bin ohne<br />

Erwartungen nach Deutschland gekommen.<br />

Es ging nur um mein Leben“,<br />

erinnert sich Maroof. „Als ich dann ankam,<br />

habe ich gesehen: Deutschland ist<br />

ein tolles Land, die Deutschen helfen<br />

allen Leuten.“<br />

Doch auch in Hamburg kommt der<br />

junge Mann, damals 18 Jahre alt, nicht


5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />

Titelthema<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />

zur Ruhe. Die erste Zeit verbrachte er<br />

in einer Erstaufnahme am Osdorfer<br />

Rugenbarg – zusammen mit 3000 anderen<br />

Geflüchteten in einem ehemaligen<br />

Baumarkt. Einen Platz in einem<br />

Sprachkurs bekam er nicht. Stattdessen<br />

begab er sich schnell auf die Suche<br />

nach einem Job. Um Geld zu verdienen,<br />

um Deutsch zu lernen – und um<br />

sich abzulenken: „Jede freie Sekunde<br />

geht auf meinen Kopf. Mama, Schwester,<br />

Papa. Was passiert, wenn sie zurück<br />

nach Afghanistan müssen?“<br />

Was passieren kann, wenn sie<br />

zurückgehen, erfuhr Maroof vor drei<br />

Jahren. Sein Vater unternahm eine Reise<br />

in die alte Heimat – und wurde von den<br />

Taliban erschossen, wie Maroof erzählt.<br />

Seinen damaligen „Verrat“ hätten sie<br />

nicht vergessen. Maroof fürchtet, dass<br />

ihm das gleiche Schicksal blühen würde.<br />

Seinen Asylantrag lehnte Deutschland<br />

dennoch ab. Weil er einen Job hatte,<br />

bekam er immerhin eine auf drei<br />

Monate befristete Duldung. Seitdem<br />

hangelt er sich von einer Verlängerung<br />

zur nächsten.<br />

Das hindert ihn nicht nur daran,<br />

seinen Traum von einer Ausbildung zu<br />

verwirklichen, und lässt ihn in ständiger<br />

Angst vor einer Abschiebung leben – er<br />

findet auch keine Wohnung auf dem<br />

freien Markt: „Spätestens wenn die<br />

Vermieter meine Duldung sehen, sagen<br />

sie ab.“ Sein festes Einkommen aus<br />

zwei Jobs hilft da nicht.<br />

Im Gegenteil: Das kleine Doppelzimmer<br />

in der städtischen Unterkunft,<br />

das er sich mit einem anderen Geflüchteten<br />

teilt, hat ihn bislang 210 Euro im<br />

Monat gekostet. Weil er einen zweiten<br />

Job angenommen hat, soll er nun knapp<br />

600 Euro monatlich zahlen. Für Maroof<br />

völlig unverständlich: „Ich hätte<br />

genug Geld für eine Wohnung. Durch<br />

meine zwei Jobs könnte ich 1000 Euro<br />

zahlen. Aber 600 Euro für ein Doppelzimmer?<br />

Das ist nicht ehrlich.“<br />

Auf die Menschen in Deutschland<br />

blickt er positiv. Sie hätten ihn von Beginn<br />

an willkommen geheißen: „Als ich<br />

in München ankam, haben sie uns begrüßt<br />

und uns Essen gemacht. Wenn<br />

ich Pakete ausliefere, werde ich immer<br />

wieder gefragt, aus welchem Land ich<br />

komme und wie lange ich schon hier<br />

bin. Manche wollen mir sogar bei der<br />

Wohnungssuche helfen.“ Es sind die<br />

Strukturen, die ihn verzweifeln lassen:<br />

„Was soll ich noch machen, um einen<br />

Aufenthalt zu bekommen? Ich weiß es<br />

nicht. Ich bin von innen kaputt.“<br />

Immerhin etwas Sicherheit hat Maroof<br />

nun: Weil er seit Jahren in Deutschland<br />

arbeitet und die Sprache gut<br />

spricht, hat er eine Arbeitsduldung bekommen.<br />

Die gilt für zweieinhalb Jahre.<br />

Doch eine eigene Wohnung hat er bislang<br />

auch damit nicht gefunden. •<br />

Karim, 26, hat eine Wohnung, ist psychosozialer Berater und arbeitet an der Kasse.<br />

Oktober 2016. Eine dieser berühmt-berüchtigten<br />

Erstaufnahmen: ein ehemaliger<br />

Elektromarkt in der Kieler Straße.<br />

Um die 100 Betten in einem Raum.<br />

Männer, Frauen und Kinder bunt gemischt.<br />

Ein paar Geflüchtete haben Laken<br />

zwischen die Betten gehängt, um<br />

einen Hauch von Privatsphäre zu simulieren.<br />

Die Kinderhilfsorganisation Plan<br />

International ist hier aktiv: Sie will die<br />

Geflüchteten, die in der Regel zum<br />

Nichtstun verdammt sind, fördern und<br />

ihnen das Ankommen erleichtern.<br />

Wir platzen in eine Art Inte grationskurs:<br />

Etwa 20 Menschen aus allen<br />

möglichen Ländern sitzen im Kreis zusammen.<br />

Für jede Gruppe gibt es<br />

eine*n Dolmetscher*in. Karim, ein<br />

22-jähriger Syrer, erzählt gerade, dass<br />

er bei der Handwerkskammer war und<br />

sich erkundigt habe, ob Geflüchtete auf<br />

dem Arbeitsmarkt eine Chance hätten.<br />

„Wir haben eine Chance“, sagt Karim<br />

enthusiastisch und mit Nachdruck. Er<br />

sagt das in fließendem Englisch. „Aber<br />

wir müssen die Sprache lernen, die<br />

Sprache ist der Schlüssel zu allem.“<br />

Später im Interview wirkt er so bemüht,<br />

so positiv. Eins ist klar: Karim will es<br />

schaffen, unbedingt. Am Ende, da habe<br />

ich mich schon fast verabschiedet, frage<br />

ich ihn noch fast beiläufig: „Ach, Karim,<br />

aus welcher Stadt kommst du noch<br />

„Ich arbeite und<br />

zahle Steuern –<br />

ganz normal wie<br />

jeder Deutsche<br />

auch.“ KARIM<br />

mal?“ Und er, dieser strahlende junge<br />

Mann, zerbricht förmlich vor meinen<br />

Augen, nur mühsam kann er die Tränen<br />

zurückhalten, als er fast stotternd<br />

sagt: „Aleppo.“<br />

August <strong>2020</strong>: Wiedersehen mit Karim,<br />

es kommt mir so vor, als hätten wir<br />

14<br />

uns vor ein paar Tagen erst verabschiedet.<br />

In Wirklichkeit sind vier Jahre vergangen.<br />

Auch Karim ist unsere Begegnung<br />

noch in deutlicher Erinnerung.<br />

„Mir ging es damals gar nicht gut“, sagt<br />

der 26-Jährige. Auf Deutsch! „Am<br />

schwersten war, dass ich damals keinen<br />

Aufenthaltstitel hatte, ich konnte die<br />

Sprache nicht lernen, ich durfte nichts<br />

machen. Ich war ein Jahr in dieser<br />

Flüchtlingsunterkunft, schlafen, essen<br />

und trinken – ohne etwas zu tun. Das<br />

will niemand.“ Zumal sich Karim ablenken<br />

wollte …<br />

In Aleppo hatte er Englisch und Betriebswirtschaft<br />

studiert. Was er allerdings<br />

wegen des Krieges nicht abschließen<br />

konnte. Der Krieg dauerte schon Jahre.<br />

„Es war schlimm: Bomben, Bomben,<br />

Bomben.“ Drei Mal wurde das Haus, in<br />

dem die Familie lebte, bombardiert.<br />

Und er wusste, dass er selbst auch<br />

zum Militär eingezogen werden würde.<br />

„Ich wollte nicht zum Militär gehen,<br />

und ich war von meiner Mama und meinem<br />

Vater auch unter Druck, die wollten,<br />

dass ich das Land verlasse.“ Es war


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Titelthema<br />

schwer für ihn zu gehen. Aleppo, Libanon,<br />

Türkei, dann übers Meer … Griechenland,<br />

Mazedonien, „so viele Länder“,<br />

sagt er und schüttelt den Kopf. Er<br />

ging ohne seine Eltern, ohne Familienangehörige<br />

und Freunde. Ganz allein.<br />

Die Bombardierungen, die Ängste,<br />

die Flucht – alles Gründe, warum er<br />

traumatisiert war. „Ich hatte immer eine<br />

Spannung im Körper, Albträume,<br />

wenn ich geschlafen habe, und es war<br />

immer so laut …“<br />

Was ihm geholfen hat? Außer einer<br />

Therapie auch Plan International. Die<br />

Kinderhilfsorganisation hat ihn zu<br />

einem ihrer Youth Advocates (in diesem<br />

Fall: Vertreter für die Belange junger Geflüchteter)<br />

gemacht. Er durfte etwa beim<br />

UN-Flüchtlingshilfswerk von der Situation<br />

der Geflüchteten erzählen und sagen,<br />

was man braucht. „Beispielsweise<br />

Deutschunterricht und einen Aufenthaltstitel<br />

– und die Möglichkeit, so<br />

schnell wie möglich etwas zu machen.“<br />

Endlich, 2017, wird Karim als<br />

Flüchtling anerkannt. Von da an wird alles<br />

anders: Er darf Sprachkurse besuchen<br />

und arbeiten. Was er in den drei<br />

Jahren gemacht hat: die Sprache so gut<br />

gelernt, dass er in einem Affenzahn<br />

Deutsch spricht. Er hat eine Ausbildung<br />

zum psychosozialen Berater am UKE<br />

absolviert. Jetzt hat er dort einen Teilzeitjob,<br />

und er sitzt bei Netto an der Kasse.<br />

Und sein Trauma, das habe er auch<br />

überwunden, sagt er – und zögert etwas,<br />

weiß nicht, ob er das erzählen soll: Vor<br />

einem Jahr bekam er Hassmails bei<br />

Facebook – und eine Morddrohung. Vor<br />

seiner Haustür fand er einen Zettel:<br />

„Entweder du verlässt Hamburg oder<br />

du stirbst.“<br />

Er schaltete sofort die Polizei ein.<br />

„Ich habe mir immer wieder gesagt:<br />

‚Das ist nicht ernst, das ist nicht ernst!‘<br />

Aber ein paar Tage später hatte ich<br />

dann eine Riesenpanik.“ Fast einen Monat<br />

lang habe er nicht arbeiten können.<br />

Er zog vorübergehend zu einem Freund.<br />

Einige der Verfasser der Hassmails würden<br />

jetzt beobachtet, habe die Polizei<br />

gesagt. Der oder die Verfasser*in des<br />

Drohbriefs wurde nicht ermittelt. Es<br />

dauerte Wochen, bis Karim sein normales<br />

Leben wieder aufnehmen konnte.<br />

Karim, 26. Drei Mal<br />

wurde das Haus, in dem er<br />

und seine Familie lebten,<br />

bombardiert. Auf keinen<br />

Fall wollte der Syrer in<br />

diesem Krieg kämpfen.<br />

Und was sagt er? Haben wir’s geschafft?<br />

„Heute sieht man keine Flüchtlingsunterkunft<br />

mehr wie damals. Die Unterkünfte<br />

sind jetzt wirklich viel, viel besser<br />

als vorher. Jetzt ist es wichtig, über Bildung<br />

zu reden – und über Rassismus<br />

und Diskriminierung weltweit“, sagt<br />

Karim. Und es dauere zu lange, bis<br />

jemand einen Aufenthaltstitel bekomme<br />

– und somit die Gelegenheit, selbst<br />

für sich zu sorgen. Er kennt Geflüchtete,<br />

deren Duldung alle drei Monate verlängert<br />

würde. „Sie können keine Kurse<br />

besuchen, haben kaum Chancen auf einen<br />

Job oder gar auf eine Wohnung.“<br />

Trotzdem: Er kann jetzt „mit Frau Merkel<br />

sagen: ‚Wir haben es geschafft!‘ Ich<br />

würde sagen, wir als Geflüchtete haben<br />

es geschafft, uns zu integrieren,<br />

und auch die Regierung hat es geschafft.<br />

Aber die Gastgebergemeinschaft<br />

hat auch viel geschafft.“ So viel<br />

Hilfe hätten sie bekommen!<br />

Auch Karim ganz persönlich hat<br />

schon viel geschafft: „Ich habe inzwischen<br />

eine kleine Wohnung, arbeite<br />

und zahle Steuern – ganz normal wie<br />

jeder Deutsche auch.“ •<br />

15


5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />

Titelthema<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />

Auf der Flucht hatte Zahra<br />

Angst, ihre Familie nie<br />

wiederzusehen, und sie<br />

weinte stundenlang.<br />

Zahra, 20, wohnt noch in einer öffentlichen Unterkunft, studiert bald Medizin.<br />

Typisch Zahra: Sie besucht einen Vorbereitungskurs<br />

für angehende Medizinstudierende.<br />

Organe sollen seziert werden.<br />

„Will mal jemand?“, fragt der Prof.<br />

Und während die anderen noch etwas<br />

angeekelt zögern, steht Zahra schon<br />

vorne und greift beherzt zu.<br />

Die 20-Jährige lacht, als sie die<br />

Anek dote erzählt. Zahra will Ärztin<br />

werden und keine Zeit verlieren. Dabei<br />

hatte sie als Kind Angst vor Blut, ist<br />

schon mal umgekippt, als sie sah, wie<br />

doll ihr Finger blutete. „Da habe ich<br />

mich hilflos gefühlt“, sagt sie ernst.<br />

„Aber ich weiß, dass ich als Ärztin<br />

Menschenleben retten kann.“ So zielstrebig<br />

und willensstark war sie immer<br />

in ihrem Leben, sonst hätte sie es wahrscheinlich<br />

auch nicht bis nach Hamburg<br />

geschafft.<br />

Bewältigt hat sie aber nicht nur ihre<br />

Flucht. Sie ist auch angekommen in der<br />

16<br />

Hansestadt. Hat Deutsch gelernt, hat ihr<br />

Abitur mit einem Schnitt von 1,8 gemacht.<br />

Sie will Ärztin werden, weil sie<br />

anderen helfen will. Am liebsten Geflüchteten.<br />

„Ich weiß, was sie durchmachen“,<br />

hatte sie uns diesen März erzählt,<br />

als wir sie kennenlernten. Damals machte<br />

sie ihr Freiwilliges Soziales Jahr bei der<br />

Hilfsorganisation Medical Volunteers<br />

International (MVI), half bei der Koordination.<br />

Sie hatte auch einen Einsatz


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Titelthema<br />

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als Dolmetscherin im berüchtigten Lager<br />

Moria, wo sie und ihre Familie selbst<br />

gestrandet waren. Und wenn ihr Freiwilliges<br />

Soziales Jahr vorbei ist, wird sie<br />

mit einem Minijob bei MVI bleiben.<br />

2015 ist sie mit ihren Eltern vor den<br />

Taliban aus Afghanistan geflohen. „Für<br />

die Taliban sind Frauen Sklaven“, sagt<br />

Zahra. Die Gewalt, die Frauen in Afghanistan,<br />

im Krieg und bei der Flucht,<br />

ja selbst in den Flüchtlingslagern angetan<br />

wird, beschäftigten sie so, dass ihr<br />

„Ich will so viele<br />

Menschenleben wie<br />

möglich retten.“<br />

ZAHRA<br />

Berufswunsch schnell feststand: Ärztin.<br />

„Ich will so viele Menschenleben wie<br />

möglich retten.“<br />

Monatelang hing die Familie – ihre<br />

Eltern, ihre beiden Brüder, ihre kleine<br />

Schwester und sie – in Griechenland<br />

fest. Erst in Moria, dann in Athen. Immer<br />

in der Angst, geschnappt und ins<br />

Gefängnis gesteckt zu werden. Bei einem<br />

Fluchtversuch verloren sie ihren<br />

damals 15-jährigen Bruder. Wochenlang<br />

wussten sie nicht, ob er noch lebte.<br />

Als Familie, das stand fest, schafften sie<br />

es nicht weiter. Verzweifelt beschloss<br />

Zahra, es alleine zu versuchen, um die<br />

Familie zu retten, wie sie sagt. „Damals<br />

wusste ich nicht, ob ich das überleben<br />

würde – und ob ich meine Eltern lebend<br />

wiedersehen würde.“ Aber es gab<br />

keine Alternative. Auf der Flucht ging<br />

es ihr fürchterlich. „Ich hatte Angst und<br />

fühlte mich so einsam, dass ich stundenlang<br />

geweint habe.“<br />

Aber inzwischen sind alle wieder<br />

zusammen. Die Eltern machen einen<br />

Deutschkurs. Wenn der absolviert ist,<br />

wird der Vater wieder arbeiten können.<br />

Und eine bezahlbare Wohnung haben<br />

sie auch in Aussicht. Dann kann die Familie<br />

auch finanziell bald auf eigenen<br />

Beinen stehen. Noch leben sie in der öffentlichen<br />

Unterkunft. Die Miete beträgt<br />

pro Kopf 590 Euro. „Das können<br />

wir ja nicht aufbringen“, sagt Zahra.<br />

Wenn Zahra über ihren Alltag<br />

spricht, hat man den Eindruck, sie trage<br />

vielleicht etwas zu viel Verantwortung<br />

für ihr Alter. Gibt es in der Schule einen<br />

Elternabend, ist sie dabei, wenn<br />

Papierkram ansteht, versucht sie sich<br />

durchzukämpfen. Manchmal, da fühlt<br />

sie sich „etwas müde“.<br />

Müde – es ist ein Wort, hinter dem<br />

sich verbirgt, wie tapfer sie ist. Denn in<br />

Wahrheit holt sie immer wieder die<br />

Vergangenheit ein, dann hat sie Albträume<br />

und Panikattacken. Was ihr da<br />

hilft? Meditation, sagt sie, und Sport –<br />

und einige liebe Menschen. Als Zahra<br />

alleine nach Hamburg kam, durfte sie<br />

vom Jugendamt aus Sport machen. Sie<br />

entschied sich für Kung-Fu, „um mich<br />

immer verteidigen zu können“. Ihr<br />

Trainer nahm sie unter seine Fittiche,<br />

übernahm die Kosten für ihre Ausstattung<br />

und fuhr sie zu den Wettkämpfen.<br />

Und bei einem Förderprogramm bekam<br />

sie eine afghanische Mentorin. Eigentlich<br />

sollte es „nur“ um Hausaufgaben<br />

gehen. Aber die Mentorin erkannte, was<br />

Zahra wirklich brauchte. „Sie sagte mir:<br />

‚Ich hab immer ein offenes Ohr, wenn<br />

du mich brauchst.‘ Dabei ist sie selbst<br />

noch jung.“<br />

Und sie hat Wort gehalten. „Immer<br />

wenn ich etwas auf dem Herzen habe,<br />

hört sie mir zu. Und ich kann ihr vertrauen,<br />

weil sie gezeigt hat, dass sie jemand<br />

ist, auf den ich mich wirklich verlassen<br />

kann.“<br />

Auf sich selbst kann sie sich übrigens<br />

auch verlassen. Dass sie die Sprache<br />

so schnell lernen würde, ein so gutes<br />

Abi und tatsächlich die Voraussetzungen<br />

für ein Medizinstudium schaffen<br />

würde, daran glaubte sie ganz fest. Aber<br />

Freund*innen und Bekannte waren besorgt,<br />

dass sie sich vielleicht übernehmen<br />

würde. Um sie vor sich selbst zu<br />

schützen, haben sie ihr wiederholt geraten,<br />

doch einen Plan B ins Auge zu fassen.<br />

„Aber einen Plan B gibt es nicht“,<br />

hatte sie immer wieder betont. Und den<br />

braucht sie jetzt wirklich nicht mehr. •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

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17


Europa und die<br />

Geflüchteten 2015<br />

65 Millionen Menschen sind 2015 weltweit auf der Flucht. Nur die wenigsten erreichen<br />

Europa. Die meisten lebten (und leben) laut UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) als<br />

Vertriebene im eigenen Land oder such(t)en Schutz in Nachbarregionen.<br />

Doch Kriege, Hunger und Klimakatastrophen sorgen dafür, dass sich immer mehr<br />

Menschen auf den lebensgefährlichen Weg zu uns machen.<br />

REDAKTION: ULRICH JONAS<br />

ILLUSTRATIONEN: GRAFIKDEERNS<br />

Norwegen<br />

Estland<br />

Schweden<br />

Lettland<br />

Russland<br />

Dänemark<br />

Litauen<br />

Großbritannien<br />

Irland<br />

Niederlande<br />

Polen<br />

Belarus<br />

Belgien<br />

Deutschland<br />

Tschechien<br />

Ukraine<br />

Slowakei<br />

Frankreich<br />

Schweiz<br />

Österreich Ungarn<br />

Slowenien<br />

Kroatien<br />

Rumänien<br />

Moldawien<br />

Italien<br />

Bosnien-<br />

Herzigowina<br />

Serbien<br />

Montenegro<br />

Kosovo<br />

Bulgarien<br />

Mazedonien<br />

Portugal<br />

Spanien<br />

Albanien<br />

Griechenland<br />

Annähernd 9000 Menschen ertranken allein in den<br />

Jahren 2015/2016 bei dem Versuch, über das<br />

Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Hinzu kommt<br />

eine unbekannte Zahl Geflüchteter, die auf den<br />

Fluchtrouten durch Afrika Richtung Mittelmeer<br />

sterben, etwa weil sie in der Wüste verdursten.<br />

Quellen: UNHCR, IOM<br />

Hier lebten 2015 im Verhältnis<br />

zu den Einheimischen<br />

die meisten Geflüchteten<br />

Libanon: 1 : 5<br />

Jordanien: 1 : 11<br />

Türkei: 1 : 31<br />

Zum Vergleich Deutschland: 1:260<br />

Quellen: UNHCR, Statistisches Bundesamt<br />

18


Neben Kriegen in Syrien, Afghanistan und Irak war es auch<br />

die katastrophale Lage in den Geflüchtetenlagern,<br />

die vielen den Anstoß gab, sich auf den Weg nach Europa<br />

zu machen. Mehrere reiche Nationen hatten Hilfszusagen<br />

nicht eingehalten, die Versorgung syrischer Geflüchteter<br />

war 2015 nur noch zu 41 Prozent finanziert –<br />

mit der Folge, dass die ohnehin bescheidenen<br />

Essensrationen nochmals verkleinert werden mussten.<br />

Quelle: UNHCR<br />

Mit dem EU-Türkei-Abkommen machten die Europäische<br />

Union und die Türkei im März 2016 die Grenzen weitestgehend<br />

dicht. Kern der Vereinbarung: Alle in Griechenland<br />

ankommenden Geflüchteten werden zurück in die Türkei<br />

gebracht, sofern sie kein Asyl beantragen oder ihr Antrag<br />

abgewiesen wird. Und für jede*n zurückgebrachte*n Syrer*in<br />

nimmt die EU eine*n syrische*n Geflüchtete*n mit Aussicht<br />

auf Asyl auf. Zudem sagte die EU der Türkei Milliardenhilfen<br />

zu. In der Folge sank die Zahl der Asylanträge deutlich<br />

(von 1,26 Millionen in 2015 auf rund 620.000 in 2017) –<br />

auch weil die Bundesregierung eine Reihe von Ländern<br />

wie den Kosovo und Albanien zu sogenannten sicheren<br />

Herkunftsstaaten erklärte.<br />

Quellen: Bundesregierung, Eurostat<br />

Asyl-Erstanträge in<br />

Deutschland:<br />

441.899<br />

(= 35 % aller Asyl anträge in der EU)<br />

davon Herkunftsländer mit den<br />

meisten Asylbewerber*innen<br />

Syrien 158.657<br />

Albanien 53.805<br />

Kosovo 33.427<br />

Afghanistan 31.382<br />

Irak 29.784<br />

Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge<br />

Asyl-Erstanträge<br />

gesamt in der EU:<br />

1.255.640<br />

davon Herkunftsländer mit den<br />

meisten Asylbewerber*innen<br />

Syrien 362.775<br />

Afghanistan 178.230<br />

Irak 121.535<br />

Kosovo 66.885<br />

Albanien 65.935<br />

Quelle: Eurostat<br />

Kasachstan<br />

Türkei<br />

Turkmenistan<br />

Tadschikistan<br />

Volksrepublik<br />

China<br />

Libanon<br />

Syrien<br />

Iran<br />

Afghanistan<br />

Irak<br />

Israel<br />

Jordanien<br />

Saudi-Arabien<br />

Pakistan<br />

Indien<br />

Europäische Union<br />

Haupt-Herkunftsländer<br />

19


Europa und die<br />

Geflüchteten 2019/<strong>2020</strong><br />

Gegenüber 2015 hat sich die Zahl der Geflüchteten, die Europa erreichen, halbiert.<br />

Weltweit sind dagegen so viele Menschen wie nie zuvor auf der Flucht: 79,5 Millionen<br />

Menschen. 85 Prozent von ihnen leben laut UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR)<br />

als Vertriebene im eigenen Land oder suchen in Nachbarstaaten Schutz.<br />

REDAKTION: ULRICH JONAS<br />

ILLUSTRATIONEN: GRAFIKDEERNS<br />

Norwegen<br />

Schweden<br />

Estland<br />

Dänemark<br />

Lettland<br />

Litauen<br />

Russland<br />

Großbritannien<br />

Irland<br />

Niederlande<br />

Polen<br />

Belarus<br />

Belgien<br />

Deutschland<br />

Tschechien<br />

Ukraine<br />

Slowakei<br />

Frankreich<br />

Schweiz<br />

Österreich Ungarn<br />

Slowenien<br />

Kroatien<br />

Rumänien<br />

Moldawien<br />

Italien<br />

Bosnien-<br />

Herzigowina<br />

Serbien<br />

Montenegro<br />

Kosovo<br />

Bulgarien<br />

Nordmazedonien<br />

Portugal<br />

Spanien<br />

Albanien<br />

Griechenland<br />

Türkei<br />

Ende Februar <strong>2020</strong> öffnete die Türkei kurzzeitig die Grenzen zu<br />

Griechenland. Tausende Geflüchtete machten sich daraufhin auf den<br />

Weg und leben seitdem unter menschenunwürdigen Bedingungen<br />

in völlig überfüllten Camps auf den griechischen Inseln.<br />

Nachdem die EU der Türkei neue Hilfszahlungen in Höhe von<br />

485 Millionen Euro zusagte, machte die die Grenzen wieder dicht.<br />

Die Türkei wirft der EU vor, Versprechen nicht eingehalten zu haben.<br />

Diese hat bislang nur gut die Hälfte der 2016 zugesagten<br />

sechs Milliarden Euro ausbezahlt.<br />

Ägypten<br />

Quellen: Europäische Union, Auswärtiges Amt<br />

20


Asyl-Erstanträge in<br />

Deutschland:<br />

142.509<br />

(= 23 % aller Asyl anträge in der EU)<br />

davon Herkunftsländer mit den<br />

meisten Asylbewerber*innen<br />

Syrien 39.270<br />

Irak 13.742<br />

Türkei 10.784<br />

Afghanistan 9.522<br />

Nigeria 9.070<br />

Quelle: Eurostat (für 2019)<br />

Bei der Flucht über das Mittelmeer sind seit 2014 mehr als<br />

20.000 Menschen ums Leben gekommen. Dieses Jahr sind es<br />

bislang mindestens 441 (Stand 20. August), 2019 wurden<br />

1319 Tote und Vermisste gezählt. Nachdem die Coronapandemie<br />

dafür sorgte, dass sich im Frühjahr weniger Menschen auf den<br />

Weg machten, steigt die Zahl nun wieder deutlich an. Bis Mitte<br />

August erreichten dieses Jahr 16.840 Geflüchtete Italien und<br />

Malta über den Seeweg – im Vergleichszeitraum 2019 waren es<br />

5500 Geflüchtete gewesen. Laut eines UNHCR-Sprechers<br />

treiben derzeit vor allem „weitere Menschenrechtsverletzungen,<br />

gerade in Libyen, wo es wieder schlimmer geworden ist“, und<br />

„die entsetzliche Situation in Syrien“ die Menschen zur Flucht.<br />

Quellen: IOM, UNHCR<br />

Hier lebten 2019 im Verhältnis<br />

zu den Einheimischen die<br />

meisten Geflüchteten<br />

Libanon: 1 : 7<br />

Jordanien: 1 : 15<br />

Türkei: 1 : 23<br />

Zum Vergleich Deutschland: 1 : 73<br />

Quellen: UNHCR, Statistisches Bundesamt<br />

Asyl-Erstanträge<br />

gesamt in der EU:<br />

612.700<br />

davon Herkunftsländer<br />

mit den meisten<br />

Asylbewerber*innen<br />

Syrien 74.400<br />

Afghanistan 52.500<br />

Venezuela 44.800<br />

Kolumbien 31.800<br />

Irak 26.800<br />

Quelle: Eurostat (für 2019)<br />

Afghanistan<br />

Das Land ist von 40 Jahren Konflikt und Vertreibung geprägt.<br />

Mehr als zwei Millionen Menschen leben als<br />

Binnen vertriebene im eigenen Land, Gewalt beherrscht<br />

das Leben. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden<br />

allein in den ersten neun Monaten 2019 mindestens<br />

2563 Zivilist*innen getötet und 5676 verletzt.<br />

Auch nach dem Friedensabkommen zwischen den USA und<br />

den Taliban im Februar dieses Jahres gab es immer wieder<br />

Anschläge mit Dutzenden Toten.<br />

Quellen: Amnesty International, UNHCR<br />

Syrien<br />

Die UN-Flüchtlingshilfe nennt es „die größte humanitäre<br />

Krise unserer Zeit“: Seit 2011 herrscht in Syrien Krieg,<br />

6,6 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Auch weil<br />

Russland, die Türkei, der Iran und die USA den Krieg befeuern,<br />

ist ein Ende nicht in Sicht. Zuletzt sorgten Russland und<br />

China dafür, dass Geflüchtete im Land nur noch über<br />

einen Grenzübergang versorgt werden können – für die<br />

Notleidenden eine Katastrophe.<br />

Quellen: Amnesty International, UNHCR<br />

Irak<br />

Kämpfe zwischen der Armee und Milizen, etwa des<br />

Islamischen Staates, zwingen immer mehr Menschen zur Flucht.<br />

Massenhinrichtungen, Vergewaltigungen und andere Gewalttaten<br />

sind weit verbreitet. 1,4 Millionen Menschen sind im eigenen<br />

Land auf der Flucht, hinzu kommen Geflüchtete aus Syrien.<br />

Mehr als 6,3 Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen.<br />

Quellen: Amnesty International, UNHCR<br />

Libanon<br />

Syrien<br />

Irak<br />

Iran<br />

Afghanistan<br />

Israel<br />

Jordanien<br />

Saudi-Arabien<br />

Pakistan<br />

Indien<br />

Europäische Union<br />

Haupt-Herkunftsländer<br />

21


Angekommen?!<br />

Wo die Integration von Geflüchteten gelingt – und wo nicht.<br />

REDAKTION: ULRICH JONAS<br />

ILLUSTRATIONEN: GRAFIKDEERNS<br />

Deutschland: Arbeitsmarkt<br />

Jede*r zweite Geflüchtete<br />

im erwerbsfähigen Alter geht fünf Jahre nach Ankunft in<br />

Deutschland einer Arbeit nach (Gesamtbevölkerung: 67 Prozent).<br />

Gut zwei Drittel davon haben einen Voll- oder Teilzeitjob, 17 Prozent<br />

machen eine Ausbildung, 3 Prozent ein bezahltes Praktikum und<br />

12 Prozent sind geringfügig beschäftigt. Und: Rund jede*r zweite<br />

Geflüchtete arbeitet als Fachkraft. Allerdings sind nur 29 Prozent der<br />

Frauen erwerbstätig (Männer: 57 Prozent).<br />

Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Bundesagentur für Arbeit<br />

Deutschland: Solidarität<br />

55 Prozent<br />

aller Bürger*innen haben<br />

seit 2015 Geflüchtete<br />

in irgendeiner Weise<br />

unterstützt – von Geld und<br />

Sachspenden bis hin zur<br />

Mitarbeit in einer Initiative.<br />

Quelle: Institut für<br />

Demoskopie Allensbach/BMFSFJ<br />

Deutschland: Zusammenhalt<br />

236 Millionen Euro<br />

haben nach Deutschland geflüchtete Syrer*innen ihren Familien<br />

geschickt, um deren Not in der Heimat zu lindern. Nach Schätzungen des<br />

Welternährungsprogramms haben rund 9,3 Millionen Syrer*innen nicht<br />

mehr genug zu essen – 1,4 Millionen mehr als vor sechs Monaten.<br />

Damit leidet inzwischen die Hälfte der Gesamtbevölkerung des Landes an Hunger.<br />

Quellen: Deutsche Bundesbank, Welternährungsprogramm<br />

Hamburg: Wohnungsnot<br />

3,5 Jahre<br />

lang leben Geflüchtete in Hamburg<br />

im Schnitt in einer städtischen<br />

Unterkunft, so der Senat.<br />

Rund 25.000 Geflüchtete befinden<br />

sich in sogenannter öffentlich-rechtlicher<br />

Unterbringung – weil sie keinen<br />

Anspruch auf eine Wohnung<br />

haben oder auf dem<br />

freien Markt nichts finden.<br />

Quelle: Bürgerschafts-<br />

Drucksache 21/20009<br />

Hamburg: Ausbildung<br />

2758<br />

Geflüchtete* befanden sich im Schuljahr 2018/2019<br />

in Hamburg in Ausbildung (Azubis gesamt: 40.000).<br />

Sie lernten vor allem in den Bereichen Gesundheit,<br />

Soziales, Lehre und Erziehung (608),<br />

Produktion und Fertigung (582) sowie Handel,<br />

Vertrieb und Tourismus (548).<br />

Gut 2500 machten eine duale Ausbildung,<br />

233 besuchten eine Berufsfachschule.<br />

* Als Geflüchtete definiert die Bundesagentur für Arbeit hier Menschen aus<br />

den acht Haupt-Herkunftsländern von Asylbewerber*innen der Jahre 2018/2019:<br />

Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Somalia, Syrien und Türkei.<br />

Quellen: Bürgerschafts-Drucksache 21/20144, Schuljahresstatistik.<br />

Daten für das Schuljahr 2019/<strong>2020</strong> lagen bei Redaktionsschluss nicht vor.<br />

22


Hamburg: Arbeitsmarkt I<br />

Hamburg: Herkunftsländer<br />

57.500<br />

Geflüchtete lebten im Mai <strong>2020</strong> in Hamburg.<br />

Rund 15.000 stammen aus Afghanistan,<br />

11.500 aus Syrien, es folgen mit Abstand die<br />

Herkunftsländer Iran (4450), Irak (3500),<br />

Russland (2900) und Eritrea (2300).<br />

Quelle: Bürgerschafts-Drucksache 22/546, neuere Daten liegen<br />

nicht vor. Als Geflüchtete definiert der Senat hier alle Menschen mit<br />

Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen, humanitären oder<br />

politischen Gründen sowie solche mit Niederlassungserlaubnis,<br />

Aufenthaltsgestattung oder Duldung.<br />

Hamburg: Solidarität<br />

Mehr als 90<br />

Gruppen engagierter<br />

Bürger*innen schlossen<br />

sich 2016 zum Bündnis<br />

Hamburger Flüchtlingsinitiativen<br />

zusammen.<br />

Ihr Selbstverständnis:<br />

nicht über Geflüchtete reden,<br />

sondern mit ihnen,<br />

um gemeinsam etwas<br />

zu lernen.<br />

Quelle: Bündnis Hamburger<br />

Flüchtlingsinitiativen,<br />

http://bhfi.de/<br />

Afghanistan 15.000<br />

Syrien 11.500<br />

Iran 4450<br />

Hamburg: Weniger Chancen<br />

4500<br />

Kinder von Zuwander*innen<br />

zwischen 0 und 6 Jahren leben<br />

in öffentlichen Unterkünften.<br />

Rund 1550 von ihnen, also jedes<br />

dritte Kind, besuchen eine Kita.<br />

Zum Vergleich: Betrachtet<br />

man alle Hamburger Kinder,<br />

liegt die Quote bei 80 Prozent.<br />

Quellen: Bürgerschaftsdrucksachen 22/546,<br />

Sozialbehörde<br />

Hamburg: Musterprojekt<br />

850<br />

Wohnungslots*innen engagieren sich bei der Wohnbrücke<br />

Hamburg ehrenamtlich dafür, dass Geflüchtete eigene<br />

vier Wände finden. Sie helfen bei der Bewerbung, begleiten<br />

den Umzug und stehen auch danach als Ansprechpartner*innen<br />

bereit. Seit November 2015 konnte das Projekt mehr als<br />

2000 Geflüchtete in Wohnungen begleiten.<br />

Quelle: Wohnbrücke Hamburg, www.wohnbruecke-lawaetz.de<br />

23<br />

Irak 3500<br />

Russland 2900<br />

Eritrea 2300<br />

Geflüchtete in Hamburg<br />

haben geschätzt einen Job.<br />

Aktuelle und vollständige<br />

Daten liegen nicht vor,<br />

die neuesten stammen<br />

aus Dezember 2019.*<br />

Demnach gingen 15.633 einer<br />

sozialversicherungspflichtigen<br />

Beschäftigung nach,<br />

3337 hatten einen Minijob und<br />

2256 befanden sich in<br />

Ausbildung. Ende 2018 zählte die<br />

Bundesagentur für Arbeit noch<br />

18.000 Geflüchtete in Job oder<br />

Ausbildung, gut 10.000 mehr<br />

als Ende 2015.<br />

Weitere knapp 3000 Geflüchtete<br />

nahmen im März<br />

dieses Jahres an<br />

qualifizierenden Programmen<br />

der Arbeitsagentur oder<br />

des Jobcenters, etwa an<br />

Eingliederungsmaßnahmen<br />

(1136) oder beruflichen Weiterbildungen<br />

(614) teil. Neuere<br />

Daten liegen auch hier nicht vor.<br />

* Als Geflüchtete definiert die Bundesagentur für<br />

Arbeit hier hilfsweise Menschen aus den acht<br />

Haupt-Herkunftsländern von Asylbewerber*innen<br />

Ende 2019: Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran,<br />

Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien.<br />

Quellen: Bundesagentur für Arbeit,<br />

Lebenslagenbericht der Sozialbehörde.<br />

Arbeitsmarkt II<br />

der in Hamburg neu ankommenden<br />

Geflüchteten verfügen über<br />

eine akademische Ausbildung,<br />

71 Prozent über eine mindestens<br />

zweijährige Berufserfahrung.<br />

Gut 56 Prozent haben elf oder<br />

mehr Jahre die Schule besucht,<br />

13 Prozent neun bis<br />

zehn Jahre, 18 Prozent fünf bis<br />

acht Jahre und 4 Prozent<br />

bis zu vier Jahre.<br />

Quelle: Bürgerschafts-Drucksache 22/682 auf<br />

Grundlage von Befragungen des Projekts W.I.R.


5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />

Titelthema<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />

Arbeitsagenturchef Detlef Scheele<br />

war zwischen 2011 und 2015<br />

Sozialsenator in Hamburg.<br />

Ausländer von der Krise am stärksten<br />

betroffen: Es sind häufig Männer, häufig<br />

ungelernt, oft in Zeitarbeitsfirmen,<br />

häufig in befristeten Jobs. Da ist auf<br />

jeden Fall ein Schaden eingetreten. Das<br />

liegt eben an der Kombination aus<br />

ungelernter Tätigkeit, aus Zeitarbeit<br />

und befristeten Verträgen.<br />

„Positive Effekte“<br />

Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für<br />

Arbeit, über Geflüchtete auf dem Arbeitsmarkt.<br />

INTERVIEW: BIRGIT MÜLLER<br />

FOTO: DPA / DANIEL KARMANN<br />

Hinz&Kunzt: Herr Scheele, was geht<br />

Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an<br />

„5 Jahre ‚Wir schaffen das!‘“ denken?<br />

DETLEF SCHEELE: Wir haben in der Tat einiges<br />

geschafft. Aber die ersten Monate,<br />

als ich als Sozialsenator noch für die<br />

Unterbringung zuständig war, waren<br />

sehr aufregend. Weil wir am Ende doch<br />

den Parkplatz mit Zelten genommen<br />

hatten, was wir nie wollten. Ich erinnere<br />

mich noch an einen Besuch dort, und<br />

die Menschen lagen in dreistöckigen<br />

Betten in Zelten, und der ganze Parkplatz<br />

war nass. Das fühlte sich auf den<br />

ersten Blick nicht so an, als ob wir das<br />

schaffen würden.<br />

Im selben Jahr sind Sie ja in den Vorstand<br />

der Bundesagentur für Arbeit gewählt<br />

worden, deren Chef Sie seit 2017 sind.<br />

Insbesondere im Bereich der jugendlichen<br />

Flüchtlinge haben wir am Arbeitsmarkt<br />

und bei den Ausbildungen<br />

eher einen Zugewinn als eine Belastung<br />

gehabt. Die Flüchtlinge haben dazu<br />

beigetragen, die Ausbildungsplatzlücke<br />

weiter zu schließen. Und vor allem im<br />

Um­ und Angelerntenbereich haben<br />

wir zuletzt 360.000 Menschen aus den<br />

Hauptherkunftsländern in sozialversicherungspflichtiger<br />

Beschäftigung. Die<br />

haben niemandem einen Arbeitsplatz<br />

weggenommen, und wir hätten die Arbeitsplätze<br />

nicht besetzen können.<br />

Gab es Probleme, die Sie anfangs<br />

unterschätzt haben?<br />

Ich habe die positiven Aspekte auf<br />

dem Arbeitsmarkt erst mit der Zeit<br />

gesehen. Ich habe nicht gedacht,<br />

dass es uns gelingt, eine so große<br />

Zahl von Flüchtlingen nach den<br />

schleppenden Deutschkursen und den<br />

sehr schwierigen Fragen der Integrationskurse<br />

in den Arbeitsmarkt zu<br />

integrieren.<br />

Gibt es noch eine große Baustelle?<br />

Ehrlicherweise kann ich das zurzeit<br />

nicht sagen, weil die Corona­Krise alles<br />

überlagert. Am Arbeitsmarkt sind nicht<br />

nur Flüchtlinge, sondern generell<br />

Da ist es wohl auch schwierig,<br />

eine Prognose zu wagen?<br />

Wir gehen davon aus, dass wir das Beschäftigungsniveau<br />

aus der Zeit vor<br />

Corona im übernächsten Jahr wieder<br />

erreichen können. Und dann werden<br />

wir die Menschen auch wieder brauchen.<br />

Daran hat sich nichts geändert.<br />

Die Chancen werden schon wiederkommen,<br />

aber kurzfristig und mit Blick<br />

auf den Winter und das erste Halbjahr<br />

nächsten Jahres eher nicht.<br />

Gibt es etwas, was Sie bei diesem Thema<br />

besonders bewegt oder bewegt hat?<br />

Was mich wirklich bewegt hat:<br />

Die staatlichen Einrichtungen haben<br />

etwas geschafft, der Senat, andere Landesregierungen,<br />

Kommunen. Aber in<br />

Wahrheit war es eine großartige Leistung<br />

der Zivilgesellschaft. Die wurde<br />

dann etwas überlagert durch die unsäglichen<br />

Töne rund um die AfD. Denn in<br />

Wahrheit hat sich das Land den Flüchtlingen<br />

gegenüber geöffnet – und wir<br />

hätten doch in den ersten Monaten gar<br />

nichts geschafft ohne die ehrenamtlichen<br />

Deutschkurse und ohne dass Freiwillige<br />

in die Unterkünfte gegangen wären<br />

und etwas für die Kinder getan<br />

hätten. Das war doch staatlicherseits<br />

gar nicht vorzubereiten in der Kürze<br />

der Zeit. •<br />

Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de<br />

Detlef Scheele (SPD) war von 2011<br />

bis 2015 Sozialsenator in Hamburg,<br />

danach Mitglied im Bundesvorstand der<br />

Arbeitsagentur, deren Vorsitzender er<br />

seit 2017 ist.<br />

24


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Titelthema<br />

Euphorie weicht Skepsis<br />

Khaled Almaani kam als Flüchtling nach Hamburg –<br />

und beobachtet einen Stimmungswandel in der Gesellschaft.<br />

TEXT: JONAS FÜLLNER<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

A<br />

ls Khaled Almaani im August 2015 nach Hamburg<br />

kam, verbrachte der Syrer die ersten Wochen auf<br />

einem Feldbett in einer Messehalle und war auf Hilfe<br />

angewiesen. Fünf Jahre später hilft er selbst Geflüchteten<br />

und jungen Deutschen bei der Arbeits- und Wohnungssuche:<br />

Als sogenannter Kulturmittler arbeitet er Vollzeit für einen<br />

privaten Träger und studiert obendrein Soziale Arbeit. Ein<br />

volles Programm. „Aber Ende des Jahres bin ich dann ein<br />

richtiger Sozialarbeiter“, sagt Khaled nicht ohne Stolz.<br />

Sein Vorteil: Im Unterschied zu anderen Geflüchteten<br />

sprach er bereits vor seiner Ankunft Deutsch. Ende der<br />

2000er-Jahre studierte Khaled einige Semester in Münster.<br />

Zurück in Syrien brach er schließlich aus Angst vor dem sich<br />

ausbreitenden Krieg erneut Richtung Deutschland auf und<br />

landete schließlich auf St. Pauli. Ich selbst engagierte mich<br />

damals als Anwohner in der Geflüchteteninitiative im Karoviertel<br />

und lernte dabei Khaled kennen, der als Übersetzer<br />

zwischen Helfer*innen und Geflüchteten in der Messehalle<br />

fungierte.<br />

Während er selbst inzwischen einen unbefristeten Aufenthaltstitel<br />

vorweisen kann, hatten es andere schwerer.<br />

Wenn er beruflich Geflüchtete auf Behördengängen begleite,<br />

erlebe er viel zu oft, wie den Menschen unnötig Steine in den<br />

Weg gelegt werden, statt ihnen zu helfen. Khaled spricht von<br />

Alltag bei Feiern wie Silvester oder auch Karneval. Nur hätten<br />

plötzlich Nationalität und Kultur der Täter eine übergeordnete<br />

Rolle gespielt, und durch die Medien wurden die Ereignisse<br />

seiner Meinung nach immer weiter „hochgepuscht“.<br />

Dabei gebe es doch echte Erfolge der Integration. Allein,<br />

dass viele Geflüchtete inzwischen Arbeit gefunden hätten<br />

und Sozialabgaben zahlten. Doch statt solche Erfolge zu<br />

benennen, würde Populist*innen eine viel zu große Bühne<br />

geboten. Khaled beklagt: „Politiker der AfD sind inzwischen<br />

regelmäßig Gäste in Talkshows, während Geflüchtete kaum<br />

zu Wort kommen.“ •<br />

Kontakt: jonas.fuellner@hinzundkunzt.de<br />

„Geflüchtete kommen<br />

kaum zu Wort.“<br />

KHALED ALMAANI<br />

einer Schein-Integration. Gleichzeitig betont er die<br />

Stärke des hiesigen Sozialstaates: Schließlich könne jede*r<br />

das bekommen, was ihr oder ihm zustehe. „Und sei es, dass<br />

ich mein Recht notfalls mit Anwälten durchsetze.“<br />

Probleme mit dem Jobcenter hätten schließlich auch<br />

zahlreiche Deutsche. Was ihm daher wirklich Sorge bereite,<br />

sei vielmehr die alltägliche Stimmung. „Vor fünf Jahren waren<br />

alle euphorisch, und jetzt überwiegt eine Skepsis – auf<br />

beiden Seiten“, sagt der 38-Jährige. „Es wird mehr geschaut,<br />

was falsch läuft und nicht, was man erreicht.“<br />

Ein Wendepunkt sei wohl die Silvesternacht 2015 gewesen.<br />

Damals verübten auf dem Vorplatz des Kölner Hauptbahnhofs<br />

überwiegend arabische junge Männer sexuelle<br />

Übergriffe und Diebstähle. „Ich war nicht überrascht“, sagt<br />

Khaled rückblickend. Übergriffe wären schließlich trauriger<br />

25


5 Jahre „Wir schaffen das!“<br />

Titelthema<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />

„Mit voller Energie an<br />

die noch ausstehenden<br />

Aufgaben gehen“:<br />

Diakoniechef und Hinz&Kunzt-<br />

Herausgeber Dirk Ahrens.<br />

„Eine Ermutigung<br />

für unsere europäischen<br />

Nachbarn und uns!“<br />

Eine Woche lang sprach Diakoniechef und Hinz&Kunzt-Herausgeber Dirk Ahrens mit Mitarbeitenden<br />

von Beratungsstellen und Behörden sowie mit Geflüchteten. Hier sein Fazit der Sommertour.<br />

W<br />

ir schaffen das!“ Dieser<br />

Satz wird für die Kanzlerschaft<br />

von Angela Merkel<br />

historisch der prägendste<br />

sein. Sie positionierte sich mit<br />

dieser Aussage nicht nur zugunsten Hunderttausender<br />

Flüchtlinge, sondern stellte<br />

sich auch an die Seite einer Zivilgesellschaft,<br />

die sich überwältigend engagierte.<br />

Es war wohltuend, die Spitze der Politik<br />

zupackend optimistisch zu erleben. Bundespräsident<br />

Roman Herzog hatte 1997<br />

das Wort vom „Ruck“ geprägt, der durch<br />

Deutschland gehen müsse.<br />

2015 im Sommer war dieser Ruck<br />

zu spüren. Und Angela Merkel hatte<br />

die Parole dazu ausgegeben: „Wir<br />

schaffen das!“ Natürlich kamen dann<br />

FOTOS: ANNETTE SCHRADER (OBEN), CHRISTIANE WOLTER<br />

bald jene, die ihre Energie lieber in ihre<br />

Sorgen und Vorurteile investierten,<br />

während sich große Teile der<br />

Zivilgesellschaft, aber auch Polizei,<br />

Ämter und Kommunen für das gute<br />

Ziel aufrieben. Alexander Gauland rief<br />

die Gegenparole am 7. Oktober 2015<br />

in Erfurt aus: „Wir wollen das gar nicht<br />

schaffen!“<br />

Die Politik begann zu schwanken,<br />

und Flüchtlinge und Engagierte fühlten<br />

sich bald alleingelassen. Heute schauen<br />

wir zurück und fragen uns, ob wir das<br />

geschafft haben. Ich habe mir eine<br />

Woche Zeit genommen und das<br />

Gespräch mit Geflüchteten, engagierten<br />

Haupt- und Ehrenamtler*innen und<br />

Politiker*innen gesucht. Alle waren der<br />

26<br />

Meinung, dass wir enorm viel geschafft<br />

hätten, auch wenn noch große Probleme<br />

zu bewältigen seien.<br />

Tatsächlich sind wir seit 2015 deutlich<br />

besser geworden, zum Beispiel was<br />

das Angebot von Sprachkursen und Integrationsmaßnahmen<br />

betrifft. Auch<br />

der Zugang zu Arbeit und Bildung wurde<br />

deutlich erleichtert. Allerdings gilt<br />

das nur für Geflüchtete mit anerkanntem<br />

Aufenthaltsstatus. Das Aufenthaltsrecht<br />

selbst wurde seit 2015 deutlich<br />

verschärft, was wieder jahrelange, zermürbende<br />

und integrationsfeindliche<br />

Anerkennungsverfahren nach sich<br />

zieht. Genau das wollten wir doch endlich<br />

überwinden! Insbesondere weil die<br />

Erfahrung zeigt: Die meisten Menschen


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Titelthema<br />

können letztlich aus diesen oder jenen<br />

Gründen in Deutschland bleiben.<br />

Mir scheint es menschenfreundlicher<br />

und auch volkswirtschaftlich<br />

sinnvoller, von Anfang an in Integration<br />

zu investieren, statt in eine teure,<br />

menschenfeindliche und am Ende<br />

nutzlose Abschreckungs­ und Abschiebepolitik,<br />

die viele gebrochene und<br />

desintegrierte Menschen her vorbringt.<br />

Tatsächlich ist es nicht so wichtig, wie<br />

viele Menschen Deutschland aufnimmt.<br />

Wichtig ist, ob diese Menschen sich hier<br />

einbringen und ihr Potenzial entfalten<br />

können. Davon profitieren alle am<br />

meisten, und dafür braucht es<br />

gelingende Integration.<br />

Neben dem rigiden Aufenthaltsrecht<br />

besorgt mich außerdem die Situation<br />

der vielen Familien und Kinder in den<br />

öffentlich­rechtlichen Unterkünften.<br />

Rund 13.000 Geflüchtete in Hamburg<br />

haben das Recht, sich eine eigene<br />

Wohnung zu mieten, scheitern aber<br />

Wir sollten die<br />

guten Geschichten<br />

herausstellen.<br />

gemeinsam mit vielen anderen<br />

Benachteiligten am Wohnungsmarkt.<br />

Also verbleiben sie oftmals für Jahre in<br />

öffentlicher Unterkunft. Insbesondere<br />

für Kinder ist das kein guter Lebensort:<br />

zu eng, zu laut, zu wenig Privatsphäre.<br />

Ihre Eltern haben uns gesagt, dass sie<br />

Treffpunkt<br />

Beruf bei der<br />

Diakonie:<br />

Landespastor<br />

Dirk Ahrens im<br />

Gespräch mit<br />

Projektleiterin<br />

Nina Foik und<br />

Hebah Alhaj,<br />

die sich hier<br />

beraten lässt.<br />

hoch besorgt sind, weil sie nicht sähen,<br />

wie sie ihre Kinder dort ausreichend<br />

schützen und fördern könnten.<br />

Möglicherweise lässt sich das nicht<br />

schnell ändern, aber dass gleichzeitig<br />

frei werdende Unterkünfte abgebaut<br />

werden, statt insbesondere Familien den<br />

frei werdenden Raum zu geben und<br />

damit eine strukturelle Benachteiligung<br />

der Kinder zumindest zu mildern,<br />

erscheint mir völlig widersinnig.<br />

Dennoch ist mein Fazit eindeutig<br />

positiv. Insbesondere vor dem Hintergrund<br />

der aktuellen Lage in Syrien,<br />

Afghanistan oder im Flüchtlingslager<br />

Moria in Griechenland: Wir haben<br />

Hunderttausenden ein Leben in Sicherheit<br />

ermöglicht, und keines der von den<br />

Kassandren prognostizierten Katastrophenszenarien<br />

ist eingetroffen. Die<br />

Kriminalität ist nicht gestiegen, die<br />

Arbeitslosigkeit war bis zur Coronapandemie<br />

auf niedrigstem Niveau, Kinder<br />

gehen zur Schule und viele machen Ausbildungen<br />

oder haben längst Arbeit.<br />

Ganz klar: Wir haben das geschafft.<br />

Oder viel wichtiger: Wir haben Hunderttausenden<br />

die Chance gegeben, es<br />

zu schaffen! Das bleibt wahr, trotz<br />

manch haarsträubenden Scheiterns,<br />

erschreckenden Erfahrungen mit dem<br />

deutschen Behördendschungel und<br />

einer gewachsenen populistischen<br />

Rechten. Wir sollten uns diesen großen<br />

Erfolg nicht nehmen lassen, sondern<br />

die guten Geschichten herausstellen, als<br />

Ermutigung für unsere europäischen<br />

Nachbarn und uns. Aber auch, um mit<br />

voller Energie an die noch ausstehenden<br />

Aufgaben zu gehen. Nicht angstgetrieben,<br />

sondern konstruktiv hoffnungsvoll:<br />

Wir schaffen das! •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Landespastor Dirk Ahrens zu Besuch im<br />

Fluchtpunkt, einer der wichtigsten Rechtsberatungen<br />

für Geflüchtete in der Stadt.<br />

Links: Wandgemälde im Begegnungszentrum<br />

Alte Schule Niendorf.


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />

Nadja (oben), Becki,<br />

Jana und Christoph<br />

(von links) befürchten,<br />

dass in der alten<br />

Saga-Villa in Billbrook<br />

jetzt Luxuswohnungen<br />

entstehen.<br />

Spekulation am<br />

Billbrookdeich?<br />

2014 überführte der Senat alle städtischen Wohnungen an<br />

die Saga. Klare Maßgabe: Keine weitere Privatisierung.<br />

Sechs Jahre später stehen drei Wohnungen plötzlich zum Verkauf.<br />

TEXT: JONAS FÜLLNER<br />

FOTO: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />

W<br />

er reichlich gespart hat und<br />

raus ins Grüne will, der<br />

könnte sich unweit der<br />

Boberger Dünen jetzt seinen Traum<br />

erfüllen: In Billbrook steht eine Gründerzeitvilla<br />

zum Verkauf. Das allerdings<br />

hat die Nachbarn auf den Plan gerufen.<br />

„Was hier passiert, stinkt nach Spekulation“,<br />

sagt Jana, die gleich nebenan in<br />

einem Wohnprojekt wohnt.<br />

Eine gewagte These angesichts der<br />

Lage: Der Weg ins Grüne führt durch<br />

ein Industriegebiet. Zum nächsten Supermarkt<br />

läuft man fast zwei Kilometer,<br />

und umsäumt wird das Gelände von<br />

einem Lkw-Wendeplatz. Kein Wohnparadies.<br />

Und trotzdem: Weil die Preise<br />

für Eigentumswohnungen allein in<br />

den vergangenen fünf Jahren um fast<br />

40 Prozent in die Höhe schossen, werden<br />

wohl sogar für solchen Lagen<br />

horrende Preise geboten.<br />

Dabei waren sich Jana und ihre<br />

Mitbewohner*innen Nadja, Becki und<br />

Christoph sicher, dass nebenan niemals<br />

Luxuswohnungen entstehen. 2014<br />

überführte die Stadt das Grundstück im<br />

Paket mit 900 anderen Wohnungen an<br />

die städtische Saga, „um sicherzustellen,<br />

dass die Wohnimmobilien … auch<br />

in Zukunft nicht an private Eigentümer<br />

verkauft werden“, wie es in einer Senatsmitteilung<br />

heißt. Sechs Jahre später<br />

fühlt man sich bei der Saga daran nicht<br />

mehr gebunden. Ein Sprecher erklärt<br />

gegenüber Hinz&Kunzt trocken, dass<br />

die alte Villa „nicht in das Bestandsportfolio<br />

des Unternehmens“ passe.<br />

Dass das Haus überhaupt leer steht,<br />

liegt laut Nachbarin Nadja wiederum<br />

daran, dass die Saga den Mieter*innen<br />

attraktive Alternativen bot. Das ist nicht<br />

verwerflich. „Uns war daher aber schon<br />

länger klar, dass hier peu à peu entmietet<br />

wird“, sagt die 36-Jährige. Nachdem<br />

die letzte Mieterin auszog, hätten<br />

sie sich selbst um einen Kauf bemüht.<br />

„Wir wollten bezahlbaren Wohnraum<br />

erhalten“, sagt Nadja. Aber die Saga<br />

lehnte ab. Man biete zwar für soziale<br />

Projekte zu angemessenen Konditionen<br />

Raum an, teilt das Unternehmen<br />

Hinz&Kunzt mit. Ein entsprechendes<br />

Konzept hätte das Wohnprojekt aber<br />

nicht vorgelegt. Man gehe daher davon<br />

aus, „dass das überwiegende Interesse<br />

in der privaten Wohnnutzung liegt“.<br />

Ein Vorwurf mit skurrilen Zügen:<br />

Schließlich dürfte erst das jetzt durchgeführte<br />

Gebotsverfahren die Preise in<br />

die Höhe treiben. Und hohe Kaufpreise<br />

führen zu hohen Mieten. Dabei sind<br />

günstige Wohnungen rar. Nadja und<br />

ihre Mitbewohner*innen hoffen deswegen<br />

weiterhin, dass die Saga im Fall der<br />

Villa nicht nach dem höchsten Gebot,<br />

sondern der besten sozialen Idee bei<br />

der Vergabe entscheidet. •<br />

Kontakt: jonas.fuellner@hinzundkunzt.de<br />

28


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Meldungen<br />

Politik & Soziales<br />

FOTO: SEAWATCH<br />

29<br />

Im August<br />

rettete die<br />

Sea-Watch 4<br />

knapp 200<br />

Geflüchtete<br />

innerhalb von<br />

48 Stunden<br />

aus Seenot.<br />

Die Hilfsmission<br />

wird<br />

fast ausschließlich<br />

durch kirchliche<br />

Spenden<br />

finanziert.<br />

Nach Gerichtsurteil<br />

Hamburg entschärft seine Abschiebepraxis<br />

Die Innenbehörde wird vorerst keine Geflüchteten ohne richterlichen Beschluss aus<br />

ihren Unterkünften holen, um sie abzuschieben. Damit reagiert die Behörde auf ein<br />

Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts (Az: 4 Bf 160/19). Das hatte eine<br />

Entscheidung der Vorinstanz bestätigt, nach der solche Zimmer eine Wohnung im<br />

Sinne des Grundgesetzes sind – und ohne Einwilligung der Betroffenen nur aufgrund<br />

richterlicher Anordnung betreten werden dürfen, um eine Abschiebung durchzuführen.<br />

Nach der Entscheidung der Vorinstanz hatte die Behörde zunächst an ihrer<br />

Praxis festgehalten. Unklar ist allerdings, welche langfristigen Folgen das Urteil haben<br />

wird, denn die Große Koalition hat das Aufenthaltsgesetz inzwischen verschärft. Die<br />

Innennehörde teilte mit, sie wolle die Urteilsbegründung daher genau prüfen. UJO<br />

•<br />

Langzeitstudie<br />

Wie wirkt das<br />

Grundeinkommen?<br />

Wie verändert ein bedingungsloses<br />

Grundeinkommen die Gesellschaft?<br />

Antworten soll eine Studie geben,<br />

erstellt vom Deutschen Institut für<br />

Wirtschaftsforschung und finanziert<br />

durch private Spenden. Drei Jahre lang<br />

bekommen 120 zufällig ausgewählte<br />

Teilnehmer*innen 1200 Euro monatlich<br />

ausbezahlt. Sie müssen keine<br />

Bedürftigkeit belegen und können unbegrenzt<br />

hinzuverdienen. Befragungen<br />

sollen zeigen, ob und wie sich ihre<br />

Berufstätigkeit verändert, ob sie<br />

zufriedener sind und ob sie sich stärker<br />

gesellschaftlich engagieren. UJO<br />

•<br />

www.pilotprojekt-grundeinkommen.de<br />

Bildungs- und Teilhabepaket<br />

Gericht: Bund muss<br />

nachbessern<br />

Das Bildungs- und Teilhabepaket ist in<br />

Teilen verfassungswidrig. Das hat das<br />

Bundesverfassungsgericht entschieden<br />

(AZ: 2 BvR 606/12). Mit dem Paket<br />

hatte der Bund die Unterstützung von<br />

Kindern aus armen Familien 2011 ausgeweitet<br />

– etwa für Nachhilfe, Mittagessen<br />

und Schulausflüge. Dabei habe<br />

er den Kommunen „unzulässig“ neue<br />

Aufgaben übertragen, so die Richter.<br />

Bis Ende 2021 muss der Bund jetzt die<br />

geltenden Regelungen korrigieren. UJO<br />

•<br />

Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />

www.hinzundkunzt.de<br />

Neue Wohnunterkünfte<br />

Hilfe für Corona-Erkrankte<br />

Bewohner*innen in öffentlichen<br />

Unterkünften leben oft beengt und<br />

müssen sich ihren Wohnbereich<br />

meist mit anderen teilen. Um<br />

Kranke besser betreuen und die<br />

Ausbreitung des Coronavirus eindämmen<br />

zu können, hat die Stadt<br />

Hamburg Mitte August zwei neue<br />

Quarantäne-Unterkünfte mit insgesamt<br />

180 Plätzen in Langenhorn<br />

und Schnelsen eröffnet. JOF<br />

•<br />

Schlafplätze von Obdachlosen<br />

Vertreibung trotz Corona<br />

Etwa jeden vierten Tag wird<br />

aktuell trotz der Coronapandemie<br />

in Hamburg ein Schlafplatz von<br />

Obdachlosen geräumt. Das zeigen<br />

Hinz&Kunzt-Recherchen. Dabei<br />

hatten mehrere Bezirke noch Ende<br />

März erklärt, Obdachlose wegen<br />

Corona nicht von ihren Platten zu<br />

vertreiben. Doch allein in Altona,<br />

Eimsbüttel und Mitte gab es 37<br />

Räumungen. Unklar ist allerdings,<br />

wie viele Obdachlose man dabei<br />

vertrieb. Denn nach Angaben der<br />

Bezirksämter waren die meisten<br />

Platten „bereits verlassen“. JOF<br />

•<br />

Sicherer Hafen<br />

Hamburg nimmt bislang nur<br />

elf Geflüchtete auf<br />

Trotz Corona erklärte sich Hamburg<br />

im April bereit, Minderjährige<br />

und ihre Familien aus überfüllten<br />

Flüchtlingslagern in Griechenland<br />

aufzunehmen. Da erst elf statt<br />

der angekündigten 150 Menschen<br />

in Hamburg eingetroffen sind,<br />

wirft die Linksfraktion dem<br />

Senat mangelnden Einsatz vor.<br />

Man habe keinen Einfluss auf<br />

die Verteilung durch den Bund,<br />

rechtfertigt sich der Senat. JOF<br />


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />

Durchs<br />

Raster gefallen<br />

Anwohner*innen stellten<br />

im Lohmühlenpark<br />

Kerzen für Frank auf.<br />

Ein 33-jähriger Obdachloser stirbt im Park – nachdem am Tag zuvor<br />

Rettungskräfte und Polizei gerufen wurden, ihm aber nicht halfen.<br />

Der dramatische Fall deckt eine Versorgungslücke im Hilfesystem auf.<br />

TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />

FOTO: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />

Wieso Frank mit 33 Jahren<br />

in einem Hamburger<br />

Park sterben musste, ist<br />

bislang unklar. Auch ob<br />

er noch leben würde, wenn die gerufenen<br />

Rettungskräfte und Polizisten ihm<br />

am 12. August mehr geholfen hätten,<br />

weiß niemand. Was aber feststeht: Der<br />

33-jährige Obdachlose wollte Hilfe, aber<br />

wie dringend er sie brauchte, war wohl weder<br />

den Rettungskräften noch der Polizei<br />

klar. Einen Tag später war er tot.<br />

Anwohner Andreas Pick wählt den<br />

Notruf, als er den bewusstlosen Frank<br />

im Lohmühlenpark liegen sieht, umgeben<br />

von Fliegen. „Man stumpft ja auch<br />

30<br />

ein bisschen ab gegenüber den Obdachlosen“,<br />

sagt Pick. Deswegen habe<br />

er zunächst gezögert. Aber dieser Fall<br />

war anders, Frank wirkte besonders hilfebedürftig:<br />

„Er war so richtig verwahrlost,<br />

unheimlich schmutzig.“<br />

Ein Rettungswagen kommt, stellt<br />

aber offenbar fest, dass kein Notfall vor-


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

liegt. Denn Frank reagiert jetzt doch,<br />

berichtet Pick, ist ansprechbar. Sagt,<br />

dass er keine Schmerzen habe, sich aber<br />

schwach fühle. Also fährt der Rettungswagen<br />

wieder. Nachfragen dazu beantwortet<br />

die zuständige Feuerwehr nicht –<br />

auch nicht, ob ein Arzt dabei war oder<br />

Sanitäter die Entscheidung trafen.<br />

„Hast du genug getrunken?“, fragt<br />

Pick ihn. „Schon länger nicht mehr“,<br />

sei die Antwort gewesen. Es sind an diesem<br />

Tag 31 Grad, die Stadt leidet seit<br />

einer Woche unter Dauerhitze, öffentliche<br />

Wasserspender sind wegen Corona<br />

geschlossen, Hilfseinrichtungen haben<br />

aus demselben Grund nur ein eingeschränktes<br />

Angebot. Also besorgt Pick<br />

Essen und Trinken.<br />

Weil Frank sagt, dass er in die städtische<br />

Notunterkunft in der Friesenstraße<br />

möchte, aber zu schwach ist, um hinzugehen,<br />

wählt Pick erneut den Notruf.<br />

Diesmal kommt die Polizei – und stellt<br />

fest, dass Frank selbstständig stehen<br />

kann, isst und trinkt. Den gewünschten<br />

Transport in die zweieinhalb Kilometer<br />

entfernte Einrichtung lehnt sie ab. „Irgendwo<br />

endet die polizeiliche Zuständigkeit“,<br />

erklärt Polizeisprecher Florian<br />

Abbenseth.<br />

„Ich schlafe hier heute Nacht und<br />

gehe dann morgen in die Friesenstraße“,<br />

soll Frank gesagt haben, bevor er<br />

dann sein Nachtlager in Sichtweite der<br />

Asklepiosklinik St. Georg aufgeschlagen<br />

habe. Er kommt nie in der Notunterkunft<br />

an, stirbt vorher im Park.<br />

Ist er Opfer einer Versorgungslücke<br />

geworden? Dass Obdachlosen in Hamburg<br />

zu wenig Versorgung und kein<br />

Transport angeboten wird, wenn sie<br />

zwar hilfsbedürftig sind, aber nicht als<br />

Notfall anerkannt werden, beklagen<br />

Sozialarbeiter*innen schon lange. Im<br />

Winter fahren die Ehrenamtlichen vom<br />

Kältebus seit 2019 Obdachlose in die<br />

Unterkünfte. Ein spendenfinanziertes<br />

Angebot, das im Sommer fehlt.<br />

Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan<br />

Karrenbauer kritisiert, dass Rettungskräfte<br />

und Polizist*innen nun die Versäumnisse<br />

der Politik ausbaden müssten.<br />

„Immer häufiger wird etwa der<br />

„Irgendwo<br />

endet die<br />

polizeiliche<br />

Zuständigkeit.“<br />

FLORIAN ABBENSETH, POLIZEI<br />

Krankenwagen gerufen in der Hoffnung,<br />

dass er die Person zumindest erst<br />

einmal mitnimmt und sie richtig versorgt“,<br />

sagt er.<br />

Sieht die Sozialbehörde von Senatorin<br />

Melanie Leonhard (SPD) Handlungsbedarf<br />

? Bis Redaktionsschluss äußert<br />

sie sich trotz Nachfragen dazu<br />

nicht. Anders die Grünen, die gemeinsam<br />

mit der SPD die Landesregierung<br />

stellen: „Der tragische und traurige Fall<br />

zeigt, dass das Leben auf der Straße für<br />

die Obdachlosen immer auch ein hohes<br />

Risiko bedeutet und Hilfen so niedrigschwellig<br />

wie möglich ansetzen müssen“,<br />

sagt Mareike Engels, sozialpolitische<br />

Sprecherin der Grünen Bür gerschaftsfraktion.<br />

Für erkrankte und<br />

sehr schwache Obdachlose müsse „die<br />

Versorgung durch unser Hilfenetz<br />

besser werden“, erklärt sie gegenüber<br />

Hinz&Kunzt. Wie das konkret aussehen<br />

könnte, ließ sie offen.<br />

Auch in der Opposition hat man<br />

das Problem erkannt, etwa in der CDU.<br />

Dort bleiben Lösungsvorschläge bislang<br />

aber aus. Stephanie Rose, sozialpolitische<br />

Sprecherin der Linksfraktion, sagt:<br />

„Der Fall ist dramatisch und zeigt die<br />

Lücken des Hamburger Hilfesystems<br />

auf.“ Sie glaubt: „Vermutlich hätte der<br />

Tod verhindert werden können, wenn<br />

die Zuständigkeiten klar wären.“<br />

Fragt man den Juristen Karl-Heinz<br />

Ruder, sind die Zuständigkeiten aber<br />

eigentlich klar. Obdachlose hätten gegenüber<br />

der Polizei einen Anspruch<br />

auf Einweisung in eine Notunterkunft,<br />

schreibt er in einem Gutachten für die<br />

Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe.<br />

Dazu gehöre auch der Transport<br />

dorthin, unterstreicht er gegenüber<br />

Hinz&Kunzt: „Da führt kein Weg dran<br />

vorbei.“ Die Polizei entgegnet, eine Gefahr<br />

für Leib und Leben habe nicht<br />

bestanden. Also auch kein Grund für<br />

sie, einzuschreiten. Wir schildern dem<br />

Rechtsanwalt den Fall und bitten ihn<br />

um eine Einschätzung. „Ich habe starke<br />

rechtliche Zweifel, ob die Polizeibeamten,<br />

die den Obdachlosen in dem<br />

Park ‚kontrolliert‘ haben, sich ihrer<br />

gesetzlichen Verpflichtung zum Schutz<br />

der Grund- und Menschenrechte des<br />

Obdachlosen überhaupt bewusst<br />

waren“, schreibt er. Politikerin Rose will<br />

nun prüfen lassen, „inwieweit es<br />

Schulungsbedarfe bei der Polizei und<br />

den Rettungsdiensten im Umgang mit<br />

obdachlosen Menschen“ gibt.<br />

Bei der Feuerwehr hat sich<br />

unterdessen das Qualitätsmanagement<br />

eingeschaltet, will den Fall prüfen. Ein<br />

Ergebnis lag bis Redaktionsschluss noch<br />

nicht vor. Auch das Obduktionser gebnis<br />

stand noch aus. Die Staatsanwaltschaft<br />

hat einen „Vorprüfvorgang in Hinblick<br />

auf das Handeln der Rettungskräfte<br />

und Polizeibeamten“ ein geleitet. Zwar<br />

gebe es noch keinen Anfangsverdacht,<br />

sagt Staatsanwältin Liddy Oechtering<br />

eine Woche nach Franks Tod. „Der<br />

Sachverhalt hat sich aber so dargestellt,<br />

dass man sich das noch mal angucken<br />

muss.“<br />

Helfer Andreas Pick stellt sich inzwischen<br />

grundsätzliche Fragen: „Wieso<br />

lassen wir es als Gesellschaft zu, dass<br />

sich jemand auf die Straße setzt, und<br />

wir wissen nicht, ob er noch lebt oder<br />

schon tot ist?“ Sozialarbeiter Karrenbauer<br />

beobachtet, dass sich durch die<br />

Corona-Pandemie die Situation der<br />

Hamburger Obdachlosen sogar noch<br />

verschlechtert habe. „Wir brauchen<br />

dringend vor dem Herbst neue Konzepte,<br />

damit die Verelendung nicht<br />

noch schlimmere Züge annimmt.“<br />

Für Frank kommt das alles zu spät.<br />

Andreas Pick ist sich sicher: „Aus dem<br />

hätte was werden können, wenn er die<br />

richtige Betreuung gehabt hätte.“ •<br />

Kontakt: benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />

31


Heide, so weit das Auge reicht:<br />

Anfang August begannen die Pflanzen<br />

gerade erst zu blühen. Mit Glück stehen sie<br />

bis Mitte <strong>September</strong> in voller Pracht.<br />

Wenn Sie es genau wissen wollen, schauen<br />

Sie aufs Heideblüten-Barometer unter<br />

www.huklink.de/heidebluete


Aufs Rad und<br />

durch die Heide<br />

Wer sein Rad liebt, der schiebt? Von wegen! Im Hamburger Umland<br />

gibt es mit dem Fahrrad herrliche Naturlandschaften zu entdecken.<br />

Wir haben’s für Sie getestet und sind auf dem Leine-Heide-Radweg von<br />

Buchholz bis nach Soltau gefahren. Unterwegs haben wir Tipps gesammelt,<br />

wo Sie in und um Hamburg per Velo auf kürzeren und längeren<br />

Strecken dem Alltagsstress entfliehen können.<br />

TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE,<br />

BENJAMIN LAUFER (2),<br />

MARKUS SCHOLZ (1)


Von Hamburg durch Europa radeln<br />

Von Hamburg aus können Sie auf zahlreichen Fernradwegen auf<br />

ausgiebige Touren bis ins europäische Ausland starten. Allen voran<br />

natürlich auf dem Elbe-Radweg, auf dem Sie vom tschechischen<br />

Riesengebirge bis zur Elbmündung in Cuxhaven radeln können –<br />

mehr als 1200 Kilometer, durch Prag, Dresden und Magdeburg.<br />

Nur in Övelgönne müssen sie schieben … Das reicht Ihnen nicht?<br />

Dann nehmen Sie doch die EuroVelo 3 in Angriff: Auf mehr als<br />

5300 Kilometern geht es entlang bekannter Pilgerwege durch sieben<br />

Länder, von Santiago de Compostela bis hoch nach Dänemark.<br />

Ab Hamburg übrigens auf dem historischen Ochsenweg, auf dem<br />

seit der Bronzezeit dänisches Vieh auf nordfriesische Weiden<br />

getrieben wurde. Und auch die EuroVelo 12 läuft durch Hamburg,<br />

hält sich sonst aber recht strikt an den Verlauf der Nordseeküste –<br />

und zwar von Schottland über England, Frankreich und Benelux, bis<br />

nach Norwegen. Fast 6000 Kilometer! Achtung, in den Niederlanden<br />

radeln Sie sogar unter dem Meeresspiegel. BELA<br />

Infos: www.elberadweg.de; de.eurovelo.com<br />

34


Lust auf Radeln<br />

Der Büsenbach staut<br />

sich südlich von Buchholz<br />

zu einem kleinen Teich.<br />

Zum Schwimmen reicht’s<br />

aber leider nicht.<br />

Abkürzen mit dem Fahrradbus – nicht nur in der Lüneburger Heide<br />

Kostenlos kutschiert der „Heide-Shuttle“, ein Omnibus mit Fahrradanhänger,<br />

Radler*innen und ihre Gefährte durch die Lüneburger Heide. Vier Ringlinien verbinden<br />

vom 15. Juli bis 15. Oktober täglich Buchholz mit Bispingen, Schneverdingen und Co.<br />

Zwischen Egestorf und Lüneburg verkehrt außerdem zwischen August und Oktober<br />

an den Wochenenden der Heide-Radbus – ebenfalls kostenlos. Ein Service, den es nicht<br />

nur in der Heide gibt: Vom S-Bahnhof Bergedorf aus startet von April bis Oktober an<br />

Wochenenden und Feiertagen der Elb-Shuttle, der Radfahrer*innen bis zum Ilmenau -<br />

radweg und wieder zurück bringt. Durch den Regionalpark Rosengarten kreist<br />

wochenends zwischen Neugraben und Buchholz der kostenlose Regionalpark-<br />

Shuttle. Und mit dem Elbe-Radwanderbus können Sie von Finkenwerder aus ins<br />

Alte Land starten – wegen Corona allerdings erst wieder ab Frühjahr 2021. BELA<br />

Infos: www.heide-shuttle.de, www.huklink.de/radwanderbusse<br />

D<br />

er Leine-Heide-Radweg<br />

führt 410 Kilometer von<br />

der Leinequelle in Thüringen<br />

nicht nur bis in die<br />

Heide, sondern sogar bis nach Hamburg.<br />

Man kann direkt am Alten Elbtunnel<br />

in Richtung Süden losfahren. Oder,<br />

wenn man sich wie wir die steilen Harburger<br />

Berge sparen will, eine halbe<br />

Stunde mit dem Metronom nach Buchholz<br />

fahren, um von dort in die Nordheide<br />

zu starten. Eine Viertelstunde in<br />

die Pedale getreten, und schon ist man<br />

vom Bahnhof im Grünen. Etwa zehn<br />

Kilometer führt der Radweg uns auf<br />

Asphalt und Schotter durch Wald und<br />

Wiesen, entlang des Seppensener Mühlenteichs<br />

und des Hangquellmoors.<br />

35<br />

Kurz vor Holm verlassen wir den Radweg<br />

und machen einen Abstecher ins<br />

Büsenbachtal – um schon mal Heideluft<br />

zu schnuppern und im dortigen<br />

„Schafstall“ einzukehren. Heidschnucken-Burger<br />

(13 Euro), Räucherfischstulle<br />

mit Meerrettich (7,50 Euro)<br />

und Heidjer Kirschkuchen schmecken<br />

prima und geben uns Kraft für die<br />

kommenden Kilometer. Möglichkeiten<br />

zur Stärkung gibt es übrigens an der<br />

ganzen Strecke: Jede Menge Landgasthöfe<br />

werben zum Beispiel mit frischen<br />

Blaubeeren und vielen anderen regionalen<br />

Produkten.<br />

Zurück auf dem Leine-Heide-Radweg<br />

führt dieser die nächsten zwölf Kilometer<br />

an mäßig befahrenen Landstraßen<br />

entlang. Wer mehr Ruhe<br />

braucht, kann sich mit einem geländegängigen<br />

Fahrrad aber auch Wege<br />

abseits der Straßen suchen. Je weiter<br />

wir kommen, desto mehr riecht es aber<br />

auch rechts und links der Asphaltpisten<br />

nach den blühenden Heidepflanzen.<br />

In Undeloh steigt Fotograf Mauricio<br />

Bustamante in den Heideexpress,<br />

einen Linienbus mit Fahrradanhänger,<br />

der ihn zurück nach Buchholz bringt.<br />

Vier Linien kreisen durch die Heide,<br />

fahren Radwander*innen wieder zurück<br />

zu ihrem Tourstart und ermöglichen<br />

so jede Menge Abkürzungen. Und<br />

das kostenlos (siehe Infokasten)!<br />

Wir fahren weiter in Richtung<br />

Süden – und kurz hinter Undeloh fängt


Lust auf Radeln<br />

dann die Heidelandschaft so richtig an.<br />

Ganz ohne Autoverkehr, dafür teilt man<br />

sich die sandigen Wege mit zahlreichen<br />

Pferdekutschen. Bis wir das nächste<br />

Auto sehen, gehen 14 Kilometer ins<br />

Land – und wir genießen die Ruhe und<br />

die weitläufigen Heidelandschaften im<br />

Naturschutzgebiet.<br />

Unterwegs stoßen wir auf Schilder<br />

der zahlreichen anderen Radwege in<br />

der Gegend, vom Wümme-Radweg<br />

oder den Radwanderwegen der Stadt<br />

Bispingen zum Beispiel. Wir aber bleiben<br />

dem Leine-Heide-Radweg treu,<br />

verlassen ihn nur für kurze Abstecher<br />

auf urige Wanderpfade im Unterholz.<br />

Ab Schneverdingen geht es wieder an<br />

einer Straße entlang, bis wir nach<br />

knapp 60 Kilometern in Soltau ankommen.<br />

Erschöpft, aber glücklich. Von<br />

hier fährt ein Zug nach Hamburg –<br />

aber wir wollen noch weiter: erst nach<br />

Schwarmstedt und dann in einer dritten<br />

Etappe bis nach Hannover. Am<br />

schönsten ist es aber, das wissen wir<br />

nach knapp 190 Kilometern, in der<br />

Lüne burger Heide •<br />

Kontakt: benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />

Mehr Informationen unter<br />

www.leineheideradweg.de<br />

Der Hamburger Osten: Zu schön, um nah zu sein!<br />

Zwischen Hamburg, Lübeck, Hagenow und Boizenburg liegt ein Paradies, das darauf<br />

wartet, mit Fahrrad und Badehose entdeckt zu werden. Wildromantische Naturschutzareale<br />

wechseln sich mit weitläufig geschwungenen Feldern ab, die von alten Alleen gesäumt werden.<br />

Unzählige Naturseen, Flüsse und Kanäle laden zum Baden ein. Östlich der Hansestadt<br />

haben Mensch und Eiszeit ein wunderschönes Landschaftsbild komponiert. Starten Sie die<br />

Tour am S-Bahnhof Aumühle und peilen Sie von dort die Bahnhöfe Hagenow Land, Lauenburg,<br />

Boizenburg, Mölln oder Bergedorf an – je nachdem, wie weit Sie radeln wollen. Unterwegs<br />

können Sie den Sachsenwald und den Elbe-Lübeck-Kanal erkunden, die Gutshöfe<br />

Lanken und Wotersen besuchen oder den Ratzeburger See umrunden. Wer weiterradeln<br />

will, kann von Rothusen aus bis nach Lübeck an der Wakenitz entlang fahren, die zu Recht<br />

„Amazonas des Nordens“ genannt wird. Geheimtipp: Die Ostseite des Schaalsees bei<br />

Lassahn ist ein Traum, mit zwei Bootsstegen als Badestellen. CHRISTIAN HAGEN<br />

37


Kostenloses Bad mit dem Rad<br />

Der schnellste Weg raus ins Grüne und ins Badewasser führt in Hamburg gen Osten. Die Tour startet an den Deichtorhallen und folgt<br />

eine Weile dem Elberadweg bis zum Entenwerder Park. Ab dem Sperrwerk „Billwerder Bucht“ führt die Strecke über die Elbinsel Kaltehofe.<br />

Die vor allem bei Rennradfahrer*innen beliebte Piste führt bis in die Vier- und Marschlande. Wer jetzt schon eine Pause benötigt, sollte im<br />

Hofladen Stender Station machen – dort gibt es nicht nur regionale Lebensmittel zu kaufen, sondern es werden auch leckerer Kaffee und Kuchen<br />

serviert. Anschließend gehts auf den etwas versteckten und<br />

dadurch kaum frequentierten Marschbahndamm. Etwa 20 Kilometer<br />

leitet einen der Rad- und Wanderweg bis kurz vor die Landesgrenze.<br />

Dort geht es schließlich links ab in den Horster Damm, der direkt<br />

zum Sommerbad Altenwerder führt. Achtung: Das Naturbad hat<br />

coronabedingt derzeit nur Sonnabend und Sonntag von 14 bis<br />

19 Uhr geöffnet. Dafür ist der Eintritt kostenfrei und das Bad nicht<br />

so überlaufen. Um die müden Beine nach 32 Kilometern auf dem<br />

Rad zu schonen, führt der Rückweg wenig r omantisch unweit der<br />

B5 weitere 9 Kilometer bis zum Bergedorfer Bahnhof. Von dort<br />

geht es zurück mit dem Rad in der Bahn in den Großstadttrubel.<br />

Wer aufs Baden verzichtet, kann übrigens schon früher abbiegen:<br />

Die S-Bahnhöfe Nettelnburg, Allermöhe und Mittlerer Landweg<br />

sind von unterwegs gut zu erreichen. JONAS FÜLLNER<br />

Infos: www.hamburg.de/sommerbad-altengamme<br />

38


Rubrik<br />

Engagement mit<br />

Herz für Hamburg<br />

„Am Flughafen sind wir immer in Action.<br />

Auch wenn es jetzt etwas ruhiger ist:<br />

Wir kümmern uns um die Pfandflaschen.“<br />

Uwe Tröger, Hinz&Kunzt-Leergutbeauftragter<br />

am Hamburg Airport<br />

Auf Tour mit dem HVV<br />

Wer gerne aus der Stadt raus ins Grüne fährt, weiß, dass<br />

die Tourenabschnitte in Hamburg meistens eher Pflicht statt<br />

Kür sind. Bis der Straßenlärm vom Vogelgezwitscher abgelöst<br />

wird, können schon mal zehn oder mehr Kilometer ins<br />

Land gehen. Abhilfe schafft der öffentliche Nahverkehr, mit<br />

dem sich die Stadtstrecken prima überbrücken lassen.<br />

Wohin er eine*n aus Hamburg führen kann, zeigt der Tourenplaner<br />

„Ab ins Grüne“ von Sabine Schrader und Judith<br />

Höppner (Via Reise Verlag). 70 Rad- und Wandertouren im<br />

Hamburger Umland sind auf den 216 Seiten beschrieben –<br />

und sie alle beginnen und enden an einer Haltestelle des<br />

HVV. Zum Beispiel können Sie 25 Kilo meter von Quickborn<br />

durchs Himmelmoor und auf dem Ochsenweg bis nach<br />

Barmstedt radeln. Für Pausen unterwegs stellen die<br />

Autorinnen Ausflugstipps vor, hier das Arboretum Ellerhoop-<br />

Thiensen, eine Parkanlage mit ökologischem Lehrpfad,<br />

Hochmoorbiotop und Heidegarten. Hin und zurück bringen<br />

Sie die Züge der AKN. Das Buch erhalten Sie für 12,95 Euro<br />

im Buchhandel. BELA<br />

39<br />

Manchmal reichen<br />

schon zwei Bäume<br />

und ein Maisfeld, um<br />

glücklich zu sein …<br />

Wir machen gern<br />

gemeinsame Sache:<br />

Für „Spende Dein Pfand“<br />

kooperiert Hamburg Airport<br />

mit Hinz & Kunzt und Der<br />

Grüne Punkt – Duales System<br />

Deutschland GmbH (DSD).<br />

Vom Pfandgeld finanziert<br />

Hinz & Kunzt vier Arbeitsplätze<br />

am Flughafen Hamburg.<br />

SPENDE<br />

DEIN<br />

PFAND<br />

www.hamburg-airport.de


Lust auf Sport<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />

Auch Hinz&Kunzt-Autor<br />

Jochen Harberg versucht sein<br />

Glück mit der Scheibe.<br />

40


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Lust auf Sport<br />

Das Runde muss<br />

ins Runde<br />

Outdoorspaß im Großstadtdschungel:<br />

Beim Disc Golf Club Hamburg geht’s<br />

mit Frisbee-Scheiben über 16 Bahnen<br />

durchs rockige Ambiente der City Nord.<br />

Wir gehen auf eine entspannte Lehrstunde<br />

mit dem Hamburger Meister Ben Böhm.<br />

TEXT: JOCHEN HARBERG<br />

FOTOS: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />

41<br />

D<br />

rei, vier Schritte Anlauf –<br />

das ist alles, was Ben<br />

braucht. Dann zieht er<br />

ruckartig den rechten Arm<br />

aus dem linken Hüftbereich nach vorne,<br />

ganz so, als wolle er mit einer Peitsche<br />

knallen. Und gibt mit entriegeltem<br />

Handgelenk seinem Wurf dann noch<br />

den letzten Kick mit auf die Reise. Wie<br />

an einer unsichtbaren Schnur gezogen,<br />

saust die bunte Scheibe mit circa Tempo<br />

100 davon und fliegt und fliegt, als wolle<br />

sie nie mehr landen. Erst nach satten<br />

125 Metern hat die Erde sie wieder,<br />

„das war ganz gut“, schaut Ben zufrieden<br />

drein. Seine persönliche Bestweite<br />

liegt bei 145 Metern – der „Weltrekord“<br />

bei Super-Idealbedingungen in der<br />

Wüste von Nevada bei sagenhaften 300<br />

Metern.<br />

Doch hier und heute ist nicht<br />

wirklich Weite, sondern im wahrsten<br />

Sinne des Wortes der Weg das Ziel.<br />

Wer sich dem Discgolf als Sport nähert,<br />

hat keine Rekorde im Sinn. Sondern<br />

in erster Linie eine gute Zeit mit Gleichgesinnten<br />

und Spaß an der Welt, die<br />

dann für eine schöne Stunde nichts<br />

anderes ist als eine Scheibe.<br />

U-Bahn Sengelmannstraße, City<br />

Nord: Hier bin ich mit Ben Böhm,<br />

Hamburger Meister 2018 und 2019,<br />

und Michael „Meesha“ Tietz ver abredet,<br />

dem Medienbeauftragten des<br />

„Disc Golf Club Hamburg“. Zusammen<br />

wollen wir eine Runde auf dem<br />

16-Bahnen-Kurs drehen, der baulich<br />

gerade zu einer vollwertigen 18er-Tour<br />

erweitert wird. Direkt am südlichen<br />

U-Bahn-Ausgang ist Startpunkt für den


Lust auf Sport<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />

Discgolfer Michael Tietz<br />

(links) und Ben Böhm.<br />

Gute Spieler*innen<br />

gehen schon mal mit 25<br />

Scheiben auf ein Turnier.<br />

Unten: Pfeile markieren<br />

Pflichthindernisse,<br />

sogenannte Mandos.<br />

Königsdisziplin: Am Ende<br />

einer jeden Bahn müssen die<br />

Sportler*innen die Scheibe<br />

ziel genau in fest installierte<br />

Metallkörbe „einlochen“.<br />

spektakulären Stadtkurs, „wie es in<br />

Deutschland keinen zweiten gibt“, sagt<br />

Ben stolz. Tatsächlich schlängeln sich<br />

die einzelnen Bahnen und die dazugehörigen<br />

Anmarschwege nicht nur durch<br />

viel Grün, sondern auch durch spannende<br />

Großstadtschluchten, vorbei an<br />

riesigen Bürogebäuden, Möbelgeschäften<br />

und Autowerkstätten sowie<br />

über breite Straßen hinweg. Das gibt<br />

dem Ganzen eine abgerockte, szenige<br />

Prise Stadtpiraterie. Und: Spielzeit ist<br />

immer, es kostet kein „Greenfee“, man<br />

kann einfach loslegen, wann man will.<br />

Das Spielprinzip ist dem des „richtigen“<br />

Golfs dabei sehr nahe. Ziel einer jeden<br />

Bahn ist ein etwa eineinhalb Meter<br />

überm Erdboden installierter Metallkorb,<br />

in dem die Scheibe mit möglichst<br />

wenig Versuchen landen soll. Am „Abschlag“<br />

der ersten Bahn erklärt Ben mir<br />

das Nötigste an Technik und Regeln.<br />

Vorhand (Rechtskurve am Ende der<br />

Flugbahn) und Rückhand (Linkskurve)<br />

samt entsprechender Finger­, Handgelenks­<br />

und Armhaltung sind entscheidend<br />

für das jeweils optimale Ansteuern<br />

des Korbs – je nach natürlichen Hindernissen<br />

der Bahn sowie den Zwischenlandungspositionen<br />

der Scheibe.<br />

Auch gibt es je nach zu überwindender<br />

Distanz Scheiben mit unterschiedlich<br />

dicken Rändern und individuellen<br />

Flugeigenschaften. Ein*e gute*r<br />

Spieler*in geht im Wettkampf mit<br />

20 bis 25 Scheiben auf den Kurs,<br />

für Einsteiger*innen tun es auch drei<br />

Grundmodelle für zusammen gerade<br />

42<br />

mal 25 Euro. „Discgolf ist ein Sport, der<br />

niemanden ausschließt“, sagt Meesha,<br />

„bei uns können alle spielen, vom Millionär<br />

bis zum Hartz­IV­Empfänger, von<br />

zehn bis 70.“<br />

Bahn 1 ist eine „Drei“ – das bedeutet:<br />

Gute Spieler*innen landen mit ihrem<br />

dritten Wurf im Korb, das nennt<br />

man „par“. Ben nimmt Maß und parkt<br />

die Scheibe nach ca. 80 Metern Flug<br />

zielgenau in der Baumgruppe direkt vor<br />

dem Korb. Dann bin ich dran. Ich stelle<br />

mich in Position, ziehe meine Armbewegung<br />

durch, die Scheibe verlässt


Lust auf Sport<br />

meine Hand – und trullert nach nur rund 15 Metern<br />

links außerhalb der Kursbahn „out of bounds“. Das<br />

bedeutet: Strafschlag! Oje … Bis ins Ziel werde ich<br />

sieben Versuche brauchen, Ben bleibt bei den vorgesehenen<br />

drei Würfen.<br />

Doch wie heißt es so schön: Übung macht den<br />

Meister – ich mache schnell Fortschritte. Die Würfe<br />

werden länger und zielgenauer, auf Bahn drei landet<br />

meine Scheibe nach dem zweiten Versuch tatsächlich<br />

nur etwa zehn Meter vom Korb entfernt. „Einlochen<br />

ist für alle das Schwierigste“, sagt Ben aus leidvoller<br />

Erfahrung. Ich stelle mich in Position, nehme<br />

den „Putter“ und schnippe die Scheibe aus dem<br />

Handgelenk auf die kurze Reise. Wie von Zauberhand<br />

fliegt sie auf den Korb zu, bremst wie geplant<br />

an den überm Korb montierten Ketten ab und<br />

plumpst nach unten ins Fangnetz – Wahnsinn, ich<br />

habe tatsächlich „par“ gespielt! „Ey, fett, Alter“,<br />

platzt es stolz aus „Lehrer“ Ben heraus, „so was haben<br />

wir hier beim ersten Mal ganz selten gesehen.“<br />

Auf den folgenden Bahnen wird allerdings<br />

schnell klar, dass es sich in meinem Fall wohl doch<br />

eher um einen „lucky shot“ aus der Abteilung Anfängerglück<br />

gehandelt hat – denn ein solch gutes Ergebnis<br />

erreiche ich anschließend nicht mal mehr annähernd.<br />

Dem großen Spaß an der Sache tut das null<br />

Abbruch, auch weil Ben uns noch ein paar Bahnen<br />

lang die hohe Schule seines Sports demonstriert.<br />

Acht Jahre ist der gelernte Krankenpfleger, der in<br />

der Psychiatrie Alsterdorf arbeitet, jetzt dabei, fünfbis<br />

sechsmal die Woche investiert er täglich bis zu<br />

vier Stunden Training in die Verbesserung seiner<br />

Künste. Mit seinen 29 Jahren träumt er noch leise<br />

davon, eines Tages Profi zu werden – in den<br />

USA gibt es große Discgolf­Turniere mit bis zu 15.000<br />

Dollar Preisgeld und in vielen Altersklassen. Für hier<br />

und heute aber soll es gut sein mit der Spaßshow:<br />

Nach Bahn 12 verabschiedet sich Ben von uns, er hat<br />

noch einen unverschiebbaren Anschlusstermin – beim<br />

Tätowierer. •<br />

ARBEIT GLOBAL<br />

Globalisierung und Digitalisierung haben die Organisation<br />

und Bedingungen von (Lohn-)Arbeit nachhaltig verändert.<br />

Wie können sich Arbeiter*innen weltweit im digitalen Zeitalter<br />

organisieren? Welche Chancen und Risiken bergen KI,<br />

Robotik und Crowdworking für Länder des Globalen Nordens<br />

und Südens? Warum ist Technik niemals neutral und inwiefern<br />

sind Algorithmen diskriminierend?<br />

Die nächsten Veranstaltungen<br />

08.09. 18 Uhr Chancen und Risiken digitaler Arbeit<br />

für den Globalen Süden<br />

16.09. 19 Uhr Arbeit 4.0 – Zur Entmystifizierung<br />

der Digitalisierung von Arbeit<br />

22.09. 18 Uhr Globale KI-Ethik. Grenzenlose<br />

Chancen oder Grenzerfahrung?<br />

06.10. 18 Uhr Arbeitskämpfe 4.0<br />

Anmeldungen an info@w3-hamburg.de<br />

Werkstatt für internationale<br />

Kultur und Politik e.V.<br />

www.w3-hamburg.de<br />

Inspiration<br />

Hamburg<br />

bIennale angewandter Kunst<br />

der a dK und gedOK<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Disc Golf Club Hamburg:<br />

Rund 100 Mitglieder spielen offiziell im Disc Golf Club<br />

Hamburg, einer Unterabteilung des „1. Ultimate Club<br />

Hamburg Fischbees“. Der Mitgliedsbeitrag liegt bei<br />

30 Euro im Jahr. Der Kurs in der City Nord ist aber<br />

kostenlos frei für alle Interessierten – wovon reichlich<br />

Gebrauch gemacht wird: Die Zahl der unorganisierten<br />

Spieler*innen in Deutschland wird auf circa<br />

10.000 geschätzt (Vereinsspieler*innen: circa 600).<br />

In Hamburg bietet ansonsten noch der HSV Disc Golf<br />

an (im Volkspark). Mehr Infos und Anfragen fürs<br />

Schnuppertraining: www.discgolfclubhamburg.de<br />

43<br />

3.9. bis 12.10. <strong>2020</strong><br />

MuseuM für HaM burgI scH e g escHIc H te<br />

Holstenwall 24 | 20355 Hamburg | u-bahn st. Pauli | shmh.de


Freunde<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />

Möchte allen Menschen<br />

auf Augenhöhe begegnen:<br />

Gerhardt Höpker.<br />

Das Leben der<br />

Menschen verbessern<br />

Zum Leben hat Gerhardt Höpker auch im Ruhestand genügend Geld: „Da geht es mir besser als vielen<br />

anderen, vor allem in Corona-Zeiten.“ Deshalb spendet er seine Rentenerhöhung an Hinz&Kunzt.<br />

TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />

FOTO: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />

Die „untere Etage“ ist Gerhardt Höpker<br />

gut vertraut: Das Leben von Menschen,<br />

mit denen es das Schicksal nicht<br />

gut gemeint hat, liegt ihm am Herzen.<br />

Das hat er in seiner Berufstätigkeit auch<br />

seinen Schüler*innen zu vermitteln versucht.<br />

Rund 8000 Pflegekräfte und medizinisches<br />

Personal hat der Soziologe<br />

in seiner Arbeit aus- und weitergebildet.<br />

„Ich habe mehr als 30 Jahre lang Soziologie,<br />

Psychologie, Pädagogik und<br />

Staatsbürgerkunde unterrichtet“, erinnert<br />

er sich.<br />

Wichtig war ihm dabei, dass seine<br />

Schüler*innen auch diese „untere<br />

Etage“ kennenlernten. „Ich habe sie an<br />

44<br />

soziale Brennpunkte geschickt, um<br />

ihnen die Welt nahezubringen. Ich<br />

habe sie auch auf der Straße betteln<br />

lassen“, erzählt der 74-Jährige. An<br />

Hinz&Kunzt schätzt er besonders, dass<br />

„es Menschen auf Augenhöhe bringt“.<br />

Deshalb hat er eine ungewöhnliche<br />

Rechnung aufgemacht: Er hat seine


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Rentenerhöhung für die letzten zwei<br />

Jahre zusammengerechnet und 750 Euro<br />

überwiesen. „Es wäre schön, wenn<br />

das andere Hamburger auch auf gute<br />

Ideen bringen würde“, sagt er lächelnd.<br />

Erst vor wenigen Jahren hat Gerhardt<br />

Höpker Hinz&Kunzt kennengelernt,<br />

als er vom Rhein-Main-Gebiet nach<br />

Hamburg gezogen ist – ins Elternhaus<br />

seiner Mutter: „Meine Eltern haben<br />

hier 1939 geheiratet.“ Hier hütet er einen<br />

ganz besonderen Schatz: ein altes<br />

Schwarz-Weiß-Foto seiner Familie.<br />

„Das ist das einzige Foto, das mich mit<br />

meiner Mutter zeigt“, sagt er sichtlich<br />

bewegt: „Sie starb, als ich sieben Monate<br />

alt war.“<br />

Für die Familie begann eine<br />

schwierige Zeit. Der Vater, ein Arzt,<br />

zog mit seinen drei Kindern zunächst<br />

in den Schwarzwald und heiratete<br />

schließlich erneut. Der Beruf forderte<br />

ihn: Um in Greifswald zu habilitieren,<br />

teilte er die Familie kurzerhand auf.<br />

Gerhardt Höpker landete in der<br />

Familie der Stiefmutter im Saarland.<br />

Zum Vater hatte er kaum Kontakt, „er<br />

war ein schwieriger Mensch“.<br />

Freunde<br />

Sein Studium am linksorientierten<br />

Frankfurter Institut für Sozialforschung<br />

prägte Gerhardt Höpker fürs Leben:<br />

„Soziologie soll eben nicht nur beschreiben,<br />

sondern das Leben der<br />

Menschen verbessern. Dazu muss man<br />

es kennenlernen.“<br />

Daran hat er sich gehalten. Er<br />

nahm Lehraufträge an der Uni an,<br />

schrieb 24 Jahre lang an der Shell-<br />

Jugendstudie mit und unterrichtete<br />

Menschen im medizinischen Bereich.<br />

Zusätzlich arbeitete er als Versicherungsmakler,<br />

Weinhändler und betrieb<br />

einen privaten Pflegedienst. „Es ist<br />

immer gut, mehr als ein Standbein zu<br />

haben“, sagt er pragmatisch.<br />

Den Wert des Geldes weiß Gerhardt<br />

Höpker bis heute zu schätzen.<br />

„Eigentlich bin ich knauserig“, findet<br />

er. „Ich schmeiße ungern Geld raus für<br />

Dinge, die ich selbst machen kann.<br />

Das spart Geld für andere schöne<br />

Dinge, die ich damit verwirklichen<br />

kann“, zum Beispiel eine Spende für<br />

Hinz&Kunzt. •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

JA,<br />

ICH WERDE MITGLIED<br />

IM HINZ&KUNZT-<br />

FREUNDESKREIS.<br />

Damit unterstütze ich die<br />

Arbeit von Hinz&Kunzt.<br />

Meine Jahresspende beträgt:<br />

60 Euro (Mindestbeitrag für<br />

Schüler*innen/Student*innen/<br />

Senior*innen)<br />

100 Euro<br />

Euro<br />

Datum, Unterschrift<br />

Ich möchte eine Bestätigung<br />

für meine Jahresspende erhalten.<br />

(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />

Meine Adresse:<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Nr.<br />

PLZ, Ort<br />

Telefon<br />

E-Mail<br />

Einzugsermächtigung:<br />

Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />

Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />

Dankeschön<br />

Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />

IBAN<br />

Wir danken allen unseren Spender*innen,<br />

die uns in den vergangenen schwierigen<br />

Monaten geholfen haben. Dazu<br />

gehören natürlich alle Mitglieder im<br />

Freundeskreis von Hinz&Kunzt!<br />

DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />

• IPHH • wk it services<br />

• Produktionsbüro<br />

Romey von Malottky GmbH<br />

• Hamburger Tafel<br />

• Axel Ruepp Rätselservice<br />

• Stiftung Winterreise Wiesbaden<br />

• Hamburger Kunsthalle<br />

• bildarchiv-hamburg.de<br />

• Firma Scharlau für die Mehrwertsteuerersparnis-Spende<br />

• Bucerius Kunstforum für Gesichtsmasken<br />

• My Marini für Masken und Wasser<br />

• Roeder-Stiftung<br />

NEUE FREUNDE:<br />

• Jürgen Bastian • Mona Beier<br />

• Benjamin Eschenburg • Axel Formeseyn<br />

• Gunnar Froh • Jennifer Funk<br />

• Klaus Hackmann • Kerstin Heiden<br />

• Charlotte Heyl • Jörg und Marion Hoppe<br />

• Adriaan Hakon Hörmann • Till Klockmann<br />

• Andreas Kühl • Joachim Lübbecke<br />

• Peter Maylandt • Dana Nachtmann<br />

• Vincent Nossek • Christine Radtke<br />

• Lars Rothkirch • Julia Schneider<br />

• Mathias Schubert • Bernd Sonnenberg<br />

• Klaus Roemer • Almut Staeglich<br />

• Jens-Uwe Steinkühler • Wencke Thielert<br />

• Silke Vatterodt • Katrin Wiege.<br />

BIC<br />

Bankinstitut<br />

Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />

der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />

Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />

Ja<br />

Nein<br />

Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />

Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />

Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />

Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />

genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />

jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />

mehr von uns bekommen möchten, können<br />

Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />

personenbezogenen Daten widersprechen.<br />

Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />

einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />

Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />

Hinz&Kunzt-Freundeskreis<br />

Altstädter Twiete 1-5, 20095 Hamburg<br />

Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />

45<br />

HK <strong>331</strong>


Buh&Beifall<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/ SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />

Was unsere Leser*innen meinen<br />

„Alkoholismus ist eine Krankheit, die sich niemand aussucht.“<br />

Feinfühlige Redaktion<br />

H&K 330, August-Ausgabe<br />

Ich habe die August-Ausgabe gekauft –<br />

und sie im Anschluss daran von vorn<br />

bis hinten durchgelesen. Das ist mir,<br />

einem typischen Süddeutschen-Abonnenten,<br />

so noch nie passiert. Insofern<br />

möchte ich Ihnen, der H&K-Redaktion,<br />

einmal Danke sagen für die wirklich<br />

schöne, beeindruckende und feinfühlige<br />

redaktionelle Arbeit. HANS-JÖRG KAPP<br />

Wie kann so etwas passieren?<br />

H&K Online und S. 30 : Obdachloser stirbt<br />

im Lohmühlenpark<br />

Ich bin schockiert! Unfassbar, wie egal<br />

ein Mensch werden kann, wenn er mal<br />

nicht wie gewohnt funktioniert …<br />

MIRIAM HASSELBRING VIA FACEBOOK<br />

Ich erlebe es immer wieder, dass<br />

Menschen mit Alkohol- oder anderen<br />

Süchten nicht als Hilfsbedürftige, sondern<br />

als „selbst Schuld“ abgestempelt<br />

werden. Da sie oft verwahrlosen und<br />

die Körperhygiene fehlt, ekeln sich die<br />

Menschen vor ihnen. Die Geschichten<br />

sind oft traurig, auch Alkoholismus ist<br />

eine Krankheit, die sich niemand selbst<br />

aussucht.<br />

LEA ETZEL VIA FACEBOOK<br />

Wie kann so etwas passieren?<br />

Was soll ein Bürger noch alles tun,<br />

bevor sich jemand zuständig fühlt?<br />

KLAUS WE VIA FACEBOOK<br />

Hinz&Kunzt zensiert<br />

H&K 329, Wir stellen die AfD nicht vor<br />

Sie fällen hier ein Urteil über eine in<br />

Deutschland zugelassene Partei, die<br />

von Hamburger Bürgern in einem<br />

demokratischen Prozess gewählt wurde,<br />

und enthalten damit Ihren Lesern den<br />

Standpunkt der Partei vor. Das ist in<br />

meinen Augen Zensur. Eine in meinen<br />

Augen bessere Lösung wäre gewesen,<br />

die Äußerungen des Sprechers der AfD<br />

abzudrucken und am Ende dann, falls<br />

erforderlich, zu kommentieren. So hätte<br />

der Leser die Möglichkeit gehabt, sich<br />

selbst ein Bild zu machen. ANDREAS R. BARTH<br />

Leser*innenbriefe geben die Meinung der<br />

Verfasser*innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />

Wir behalten uns vor, Briefe zu kürzen.<br />

Wir trauern um<br />

Ursula Graetsch<br />

19. Juli 1937 – 20. August <strong>2020</strong><br />

Jahrzehntelang half Ursula Graetsch ehrenamtlich<br />

den Menschen auf der Straße, die sie liebevoll<br />

als den „Engel der Obdachlosen“ bezeichneten.<br />

Die Verkäufer und das Team von Hinz&Kunzt<br />

HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />

DER ETWAS<br />

ANDERE<br />

STADTRUNDGANG<br />

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Wollen Sie Hamburgs City einmal mit anderen Augen sehen?<br />

Abseits der teuren Fassaden zeigt Hinz&Kunzt Orte, die in<br />

keinem Reiseführer stehen: Bahnhofs mission statt Rathausmarkt,<br />

Drogenberatungsstelle statt Alsterpavillon, Tages aufent halts stätte<br />

statt Einkaufspassage.<br />

Anmeldung: bequem online buchen unter<br />

www.hinzundkunzt.de oder Telefon 040/32 10 83 11<br />

Kostenbeitrag: 10/5 Euro<br />

Nächste Termine: 6.9. + 20.9.<strong>2020</strong>, 15 Uhr


Kunzt&Kult<br />

Gewohnt vielfältig: Debütant*innen und namhafte Autor*innen beim Harbour Front Literaturfestival (S. 48).<br />

Ungewohnt gediegen: Mit neuem Konzept soll das Reeperbahnfestival trotz Corona stattfinden (S. 54).<br />

Fatale Gewohnheiten: Warum Hinz&Künztler Achim mit seinem alten Leben abgeschlossen hat (S. 58).<br />

In der Ausstellung „Garten E – ein kollaborativer Flirt mit der<br />

Sehnsucht im Spätsommer <strong>2020</strong> “ präsentieren Künstler*innen ihre<br />

Installationen, Performances und Fotografien. Die Werke sind vom<br />

4. bis 13. <strong>September</strong> im Westwerk, in der Admiralitätstraße 74, zu sehen.<br />

Di–Fr, 16–19 Uhr, Sa und So, 12–15 Uhr, nur bei trockenem Wetter.<br />

Der Eintritt ist frei. Weitere Infos: www.westwerk.org<br />

FOTO: MATTHEW PARTRIDGE


Kunzt&Kult<br />

Janna Steenfatt<br />

liest beim Debütantensalon am Dienstag, 15.9.,<br />

20 Uhr, in der Zentralbibliothek, Hühnerposten 1,<br />

Eintritt 15 Euro.<br />

„Die Überflüssigkeit der Dinge“, Hoffmann und<br />

Campe, Hamburg, 240 Seiten, 22 Euro<br />

FOTO: SASCHA KOKOT<br />

Harbour Front<br />

Ein Riesenprogramm lockt auch in diesem Jahr zum Literaturfestival. Mit dabei:<br />

Janna Steenfatt. Lange war Hamburg ihr Zuhause – und dort das Schauspielhaus.<br />

Dann lernte sie in Leipzig das Schreiben. Nun widmet sie sich in ihrem Debütroman<br />

noch einmal der alten Heimat. Autor Frank Keil hat die Schriftstellerin getroffen.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Kunzt&Kult<br />

Einer der wenigen Tische mit<br />

Schatten in dem kleinen Parkcafé<br />

ist noch frei. Janna Steenfatt<br />

ist mit dem Fahrrad gekommen,<br />

quer durch ihre Wahlheimat<br />

Leipzig. Sie schließt es ab, setzt sich dazu<br />

und bestellt sich einen Eiskaffee. Die<br />

38-Jährige hat in diesem Jahr ihren ersten<br />

Roman vorgelegt: „Die Überflüssigkeit<br />

der Dinge“, und mit ihm bewirbt<br />

sie sich beim „Debütantensalon“ des<br />

Harbour Front Literaturfestivals um<br />

den Klaus-Michael Kühne-Preis. Erzählt<br />

wird darin von Ina, die gerade<br />

ihre Mutter beerdigen muss, eine gescheiterte<br />

Schauspielerin. Überhaupt<br />

meint es das Leben grad nicht allzu gut<br />

mit Ina: Sie hat fertig studiert, aber<br />

weiß nicht, was nun. Sie zieht seltsam<br />

fahrig des Nachts durch die Clubs auf<br />

St. Pauli. Schließlich – das Arbeitsamt<br />

nervt – nimmt sie einen Job in der Kantine<br />

des Schauspielhauses an. Wo ein<br />

bekannter Theaterregisseur inszenieren<br />

wird, der ihr Vater ist, wovon er<br />

nichts weiß. Überhaupt nehmen die<br />

Probleme eher zu, als dass sich Inas<br />

Leben entwirrt.<br />

Ist es ein Hamburg-Roman? Janna<br />

Steenfatt zögert kurz. „Mir sind Orte<br />

sehr wichtig, und ich habe Spaß daran,<br />

meine Geschichten zu verorten“, sagt<br />

sie. Sie suche ihren Figuren auch immer<br />

Wohnungen aus, die es tatsächlich gibt.<br />

Auch wichtig: Wenn sie ihre Helden etwa<br />

durch die Bernhard-Nocht-Straße<br />

schickt, muss jedes Detail stimmen.<br />

Janna Steenfatt ist selbst gebürtige<br />

Hamburgerin, erst seit ihrem Studium<br />

am dortigen Literaturinstitut lebt sie in<br />

Leipzig. Aufgewachsen ist sie in Altona,<br />

mit 14 Jahren fand sie den Weg ins<br />

Schauspielhaus, in den dortigen<br />

Jugendclub „Backstage“: „Ich habe viel<br />

Theater gespielt, und wir haben viel<br />

Zeit in der Kantine verbracht: Wir<br />

fanden das cool, uns da aufzuhalten.“<br />

Außerdem konnte sie sich kostenfrei alle<br />

Aufführungen anschauen: „Da habe<br />

ich meine Theaterbildung genossen.“<br />

Später folgt ein Praktikum. „Deswegen<br />

kenne ich das Haus sehr gut, fühle mich<br />

mit ihm sehr verbunden“, sagt sie.<br />

Wenig überraschend will sie zunächst<br />

Schauspielerin werden: Ein paar<br />

Jahre spricht sie an verschiedenen<br />

Schauspielschulen vor. Angenommen<br />

wird sie – im Gegensatz zu einigen ihrer<br />

Theater-Freund*innen – nicht. „Im<br />

Nachhinein bin ich ganz froh; Schreiben<br />

liegt mir doch viel näher. Ich<br />

wäre wahrscheinlich keine gute Schauspielerin<br />

geworden“, glaubt sie.<br />

„Es geht einfach<br />

nicht richtig los<br />

mit dem Leben.“<br />

JANNA STEENFATT<br />

Ist ihr Roman eigentlich ein Generationenroman?<br />

Eine Frage, bei der junge<br />

Autor*innen zu Recht zusammenzucken;<br />

als ob ein Buch eine Generation<br />

erklären könnte. Aber so ganz falsch ist<br />

die Frage dann doch nicht: „Es geht<br />

schon um das Grundlebensgefühl, dass<br />

man viele Möglichkeiten hat, aber gar<br />

nicht weiß, welche man wahrnehmen<br />

soll“, sagt sie nach einer Pause. Und es<br />

so schwierig sei, sich zurechtzufinden.<br />

„Es geht einfach nicht richtig los mit<br />

dem Leben, man denkt, da muss noch<br />

dies passieren und noch das und noch<br />

das – bis man ahnt, es wird sich wohl<br />

immer so anfühlen“, sagt sie. Man lerne<br />

auch nicht auf einen Beruf hin, sondern<br />

studiere und überlege dann, was<br />

man damit machen könne, vielleicht.<br />

Womit wir bei Falk wären, der zweiten<br />

Hauptperson in ihrem Roman. Bei ihm<br />

zieht Ina ein. Was die beiden voneinander<br />

wollen und was nicht, bleibt in der<br />

Schwebe. Auch Falk strauchelt so<br />

49<br />

durchs Leben. Eigentlich hat er Fotografie<br />

studiert.<br />

Im wirklichen Leben hatte Janna<br />

Steenfatt „am Institut eine Dozentin,<br />

die hat mit uns krasse Exkursionen gemacht“,<br />

erzählt sie. Einmal geht es in<br />

die Rechtsmedizin: Vor den Studierenden<br />

lag ein junger Mann, der bei einem<br />

Autounfall gestorben war. Was Steenfatt<br />

besonders fasziniert, ist die Fotografin,<br />

die neben dem Obduktionssaal ihr<br />

kleines Büro hat, immer wieder rauskommt,<br />

sich einen Kittel überwirft, ihre<br />

Bilder macht und wieder geht. „Mich<br />

hat sehr beschäftigt: Wie kann die sich<br />

hier so bewegen? Sie hat auch dabei gegessen,<br />

sie biss in eine Banane, legte die<br />

zur Seite, beugte sich vor, machte ihre<br />

Fotos und aß dann die Banane weiter,<br />

während wir, grün im Gesicht, da rumstanden“,<br />

erzählt sie. Also fragt sie nach<br />

und erfährt, dass die Frau ursprünglich<br />

Fotografie studiert hatte und gar keinen<br />

medizinischen Hintergrund hat.<br />

Janna Steenfatt nimmt den letzten<br />

Schluck ihres Eiskaffees: „Das ist immer<br />

meine Angst gewesen, dass man einen<br />

Job findet, der ganz bequem ist, und<br />

dann bleibt man darauf hängen.“ Das<br />

ginge vielen so, mit denen sie studiert<br />

habe. „Vermutlich ist der kleinste Teil<br />

von uns heute als Schriftsteller oder<br />

Schriftstellerin unterwegs.“<br />

Wir gehen noch ein paar Schritte,<br />

eine von Bäumen gesäumte Straße entlang<br />

hin zu einer Stadtvilla, in der das<br />

Literaturinstitut residiert. Manche, die<br />

heute große Namen sind, haben hier<br />

studiert: Clemens Meyer und Juli Zeh,<br />

Saša Staniši und Lucy Fricke etwa.<br />

Auf den Hof gelangen wir noch, das<br />

Haus selbst ist abgesperrt. „Leider sind<br />

die Räume innen etwas totsaniert“, sagt<br />

Steenfatt. Ihr nächster Roman – worum<br />

es genau geht, wird noch nicht verraten<br />

– wird ein Leipzig-Roman werden. Sie<br />

sagt: „Ich freue mich darauf, Leipzig als<br />

Ort zu beschreiben.“ •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de


Kunzt&Kult<br />

FOTO: GERALD VON FORIS<br />

Auf und ab<br />

Was ist das für ein Name? Wer heißt denn „Bov Bjerg“? Bovbjerg war Namensvorbild,<br />

eine kleine dänische Stadt, bekannt für ihren Leuchtturm. Mit diesem<br />

„geliehenen“ Namen war Bov Bjerg (Jahrgang 1965) lange als Kabarettist<br />

unterwegs, gewann etwa den „Theodor­W.­Adorno­Ähnlichkeitswettbewerb“<br />

der Zeitschrift Titanic. Bis ihm nach Ernsterem zumute war und er Schriftsteller<br />

wurde. Sein zweiter Roman „Serpentinen“ ist in diesem Frühjahr erschienen.<br />

Beim Lesen steht einem wirklich eine kurvenreiche Fahrt bevor, durch nicht<br />

immer einsehbares Gelände geht es auf und ab: Ein Vater ist per Auto mit seinem<br />

kleinen Sohn unterwegs, auf den Spuren seiner eigenen, düsteren Kindheit,<br />

das Handy ist ausgeschaltet. Bierdose für Bierdose leert der Vater, versucht,<br />

seine inneren Dämonen niederzuhalten, denn alle seine männlichen Vorfahren<br />

vom Urgroßvater an haben sich früher oder später das Leben genommen.<br />

Soll er diesem Weg folgen oder gibt es einen Ausweg? FK<br />

•<br />

Bov Bjerg<br />

liest am Donnerstag, 17.9., 19.30 Uhr,<br />

in der St.­Katharinen­Kirche, Katharinenkirchhof 1,<br />

Eintritt: 18 Euro.<br />

Christian Baron<br />

FOTO: HANS SCHERHAUFER<br />

liest beim Debütantensalon<br />

am Donnerstag, 10.9.,<br />

20 Uhr, Zentralbibliothek,<br />

Hühnerposten 1,<br />

Eintritt 15 Euro.<br />

Von ganz unten<br />

Wie ist es wirklich, wenn man von ganz unten<br />

kommt und mit einem gewalttätigen, alkoholkranken<br />

Vater und einer depressiven Mutter aufwuchs?<br />

Wenn schon vor dem Monatsende das Geld fehlt?<br />

Wenn manchmal der Strom abgestellt wird und<br />

nichts zu essen da ist? Davon erzählt Christian<br />

Baron (Jahrgang 1985) beherzt schnörkellos und<br />

autobiografisch geerdet in seinem ersten Buch<br />

„Ein Mann seiner Klasse“. Als Barons Mutter mit<br />

nur 40 Jahren starb, half die Tante ihm und seinen<br />

Geschwistern: Sie entzog dem Vater mit Unterstützung<br />

des Jugendamtes die Kinder, kümmerte<br />

sich um sie und besorgte ihrem Neffen Christian,<br />

der trotz allem ein richtig guter Schüler war<br />

(Deutsch als Lieblingsfach), ein erstes Praktikum<br />

in der Sportredaktion der Lokalzeitung. Heute ist<br />

er Redakteur und Schriftsteller. FK<br />

•<br />

Unterwegs mit Geistern<br />

Larry, so wird sie genannt, ist längst kein Kind mehr, zwar auch noch<br />

kein Teenager, aber auf dem Weg dorthin. Ihr Taschengeld bessert<br />

sie sich auf, indem sie die Gräber auf dem Friedhof pflegt. Nur wenn<br />

sie vor dem Massengrab steht, hat sie so ein enges Gefühl. Larry<br />

will Kriegsreporterin werden.<br />

Das Mädchen ist die eine Hauptfigur in Verena Keßlers Debütroman<br />

„Die Gespenster von Demmin“. Die zweite: eine alte Frau, die ihr<br />

Haus aufgeben und ins Altenheim ziehen soll. Wird sie das wirklich<br />

machen?<br />

Im mecklenburgischen Demmin an der Peene brachten sich kurz<br />

vor Ende des Zweiten Weltkrieges um die 1000 Menschen um,<br />

meist Frauen, die ihre Kinder mitnahmen. Warum? Darüber wurde<br />

nicht gesprochen, auch nicht in der DDR. Beste Voraussetzungen,<br />

dass bis heute Gespenster durch Demmin wandeln, mit denen die<br />

Menschen leben müssen. Auch Larry und die alte Frau. FK<br />

•<br />

Verena Keßler<br />

liest beim Debütantensalon<br />

am Freitag, 11.9.,<br />

20 Uhr, Zentralbibliothek,<br />

Hühnerposten 1,<br />

Eintritt 15 Euro.<br />

FOTO: MICHAEL BADER


Kunzt&Kult<br />

Uwe Timm<br />

liest am Mittwoch, 16.9., 19 Uhr,<br />

in der Freien Akademie der Künste,<br />

Klosterwall 23, Eintritt 16 Euro.<br />

Unser Rat<br />

zählt.<br />

879 79-0<br />

Beim Strohhause 20<br />

Mieterverein zu Hamburg<br />

im Deutschen Mieterbund<br />

20097 Hamburg<br />

Fan werden<br />

mieterverein-hamburg.de<br />

Berichte von unterwegs<br />

Es gibt eine Anekdote in dem neuen Sammelband von Uwe<br />

Timm, die von der Kraft der Literatur erzählt: Da ist Timm im<br />

Überlandbus unterwegs durch Paraguay, 1984, als Diktator<br />

Stroessner das Land drangsaliert. Ständig halten Soldaten<br />

den Bus an, und nur von Timm wollen sie immer wieder den<br />

Pass sehen. Auch andere Europäer sind an Bord, daran<br />

allein kann es also nicht liegen. Bis ihm auffällt: Er hält stets<br />

ein Buch in der Hand, in dem er eben noch gelesen hat.<br />

„Der Verrückte in den Dünen – Über Utopie und Literatur“<br />

versammelt bereits veröffentlichte wie neue Aufsätze des<br />

80-jährigen Schriftstellers. Er erzählt von Reisen durch<br />

Südamerika, er flaniert durch die Literaturtheorie, er erinnert<br />

sich präzise an seine Kindheit: wie ihm die Mandeln entfernt<br />

wurden und er – wie sein Vater – dem Schmerz tapfer<br />

ent gegengehen wollte. Um schließlich einzutauchen in<br />

die Geschichte des Schmerzes, um am Ende ein langes,<br />

uto pisches Ideal zu loben: die heute medizinisch mögliche<br />

Schmerzfreiheit. FK<br />

•<br />

FOTO: ISOLDE OHLBAUM<br />

abasto<br />

ökologische Energietechnik<br />

Für mehr soziale Wärme<br />

und eine klimaschonende<br />

Strom- und Wärmeversorgung.<br />

Freude schenken ...<br />

... mit Produkten aus fairem Handel<br />

www.abasto.de<br />

• Kaffee, Tee, Schokolade ...<br />

• Geschenke, Körbe, Musikinstrumente, Bücher, Lederwaren,<br />

Spielzeug - aus Afrika, Asien und Lateinamerika ...<br />

Fairhandelszentrum Groß- und Einzelhandel<br />

Fachbuchhandlung • Stresemannstr. 374 • 22761 Hamburg<br />

Tel.: 040 / 890 61 33 • Fax: 040 / 899 74 52<br />

www.sued-nord-kontor.de<br />

Öffnungszeiten: Dienstag - Freitag 10.00 - 19.00 Uhr<br />

Samstag 10.00 - 14.00 Uhr<br />

Literatur satt:<br />

Vom 9. <strong>September</strong> bis 18. Oktober werden beim Harbour<br />

Front Literaturfestival namhafte Schriftsteller *innen wie<br />

Joachim Meyerhoff, Andreas Steinhöfel oder Ferdinand<br />

von Schirach anwesend sein. Dazu kommen viele<br />

spannende Nachwuchsautor*innen. Im „Genre“ Belle tristik<br />

kämpfen acht von ihnen beim „Debütantensalon“ um den<br />

mit 10.000 Euro dotierten Klaus-Michael Kühne-Preis.<br />

Konzertsäle, Theater, Clubs, aber auch die St.-Katharinen-<br />

Kirche, die Zeise Kinos oder die Cap San Diego geben<br />

den Raum für die Lesungen. Das gesamte Programm ist<br />

unter www.harbourfront-hamburg.com zu finden.<br />

51


Kult<br />

Tipps für <strong>September</strong>:<br />

subjektiv und<br />

einladend<br />

Draußen<br />

Achtsam zusammen feiern<br />

Langsam, aber sicher: Das Neustadt-<br />

Festival erstreckt sich dieses Jahr über<br />

den ganzen <strong>September</strong>. „Mehr miteinander“<br />

ist das Motto, aus dem neben<br />

nachbarschaftlicher Solidarität auch<br />

wieder buntes Kulturtreiben erwächst.<br />

Wie das trotz gebotener Vorsicht gelingen<br />

kann, haben Neustädter*innen<br />

und Festivalteam gemeinsam ergründet.<br />

Geplant sind Qigong-Übungen unter<br />

freiem Himmel, bei dem die Teilnehmenden<br />

gesunden Abstand halten –<br />

zueinander, aber auch zur Hektik des<br />

Alltags. Rasanter geht es zu beim Nachbarschafts-Pingpong,<br />

auch die Kunststätten<br />

der Neustadt bewegen sich und<br />

52<br />

Gemeinschaft wird in der Neustadt großgeschrieben. Auch das<br />

Stadtteilfestival ist wieder möglich – mit gebotener Vorsicht.<br />

laden ein zum Galerien-Staffellauf.<br />

Einige Läden entdecken sogar die Digitalisierung<br />

für sich: Mithilfe von QR-<br />

Codes übertragen sie ihr Sortiment auf<br />

die Smartphones der Bummelnden. •<br />

Neustadt-Festival, den ganzen Monat,<br />

Eintritt frei, Progamm unter<br />

www.kulturfestival-neustadt.de


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Kunzt&Kult<br />

Das waren<br />

noch Zeiten:<br />

Auf eine lange<br />

Tafel muss<br />

das Kulturfutter<br />

diesmal<br />

verzichten,<br />

dafür gibt<br />

es den<br />

Schmaus<br />

zum Mitnehmen.<br />

Theater<br />

Auf den Spuren des Zorns<br />

Stunk, Streit und Stress bestimmen<br />

die Nachrichten. Woher kommen die<br />

Aggressionen? In ihrem Stück „Das<br />

autoritäre Zeitalter des Megazorns“<br />

geht die Kompanie „Sexy Theater<br />

Menschen“ dieser Frage nach. •<br />

Ernst Deutsch Theater, Friedrich-<br />

Schütter-Platz 1, Mo, 7.9., 20 Uhr, Eintritt<br />

17 Euro, www.ernst-deutsch-theater.de<br />

FOTOS: DIRK EISENMANN (S. 52), MAURICIO BUSTAMANTE (OBEN), HAMBURGER KUNSTHALLE / HANNA LENZ<br />

Aktion<br />

Das Auge isst mit<br />

Zum Auftakt der Altonale ist Hinz&Kunzt wieder beim „Kulturfutter“ dabei<br />

und kümmert sich gemeinsam mit der Initiative foodsharing und den Caterern<br />

Die2Chefs darum, dass gerettete Lebensmittel im Kochtopf landen statt in<br />

der Tonne. Aufgetischt werden kann dieses Jahr zwar nicht, dafür gibt es Carepakete,<br />

die sich jeder Gast individuell zusammenstellen darf. Für den Augenschmaus<br />

sorgen vier Hamburger Künstler*innen, die mit Fotografie, Klang, Trickfilm<br />

und Graffiti ihre eigene Haltung zum Thema Lebensmittelverschwendung<br />

ausdrücken. Die Ausstellung macht vom 4. <strong>September</strong> an, eine Woche vor Start<br />

der Altonale, Appetit auf mehr. •<br />

Altonale „kurz & schmerzlos“, Platz der Republik, Do–So, 10.–13.9., Eintritt frei,<br />

das ganze Programm: www.altonale.de<br />

Kinder<br />

Immer schön Balance halten<br />

Es muss nicht erst der Haussegen schief hängen – mit der Ausstellung „Alles im<br />

Lot“ bietet die Kunsthalle Kindern und Erwachsenen einen schönen Ausgleich in<br />

allen Lebenslagen. Das von Olafur Eliasson gestaltete Hamburger Kinderzimmer<br />

ist ganz auf das Thema Balance<br />

ausgerichtet. Wie zum Beispiel hat<br />

es der Maler Jean Antoine Théodore<br />

Gudin geschafft, auf einem<br />

schwankenden Schiff ein Bild zu<br />

malen? Hätte er das mit festem<br />

Boden unter den Füßen noch besser<br />

hinbekommen oder geht es gerade<br />

um das kipplige Gefühl? Auch das<br />

zwischenmenschliche Gleichgewicht<br />

und die Beziehung zwischen<br />

Kunst und Betrachter*in setzt die<br />

Ausstellung so in Szene, dass Kinder<br />

und Eltern gern hinschauen. •<br />

Kunsthalle, Glockengießerwall 5, ab<br />

3.9., Di–So, 10–18 Uhr, Eintritt 14/8<br />

Euro, für Kinder und Jugendliche frei,<br />

www.hamburger-kunsthalle.de<br />

Anfassen erlaubt: Das Hamburger<br />

Kinderzimmer regt zum Spielen mit Kunst an.<br />

53<br />

Musik<br />

Der Sound des Hauptbahnhofs<br />

Performancekünstlerin Annika Kahrs<br />

hat sich in ihrem neuesten Kunstprojekt<br />

den Hauptbahnhof vorgeknöpft:<br />

Seit Jahren dröhnt dort Musik aus<br />

blechernen Lautsprechern, anfangs<br />

um Drogenkranke und Trinker*innen<br />

zu vertreiben. Kahrs hat den Sound<br />

eingefangen und so gemischt, dass<br />

neue Welten entstehen. Dazu hat sie<br />

auch Hinz&Künzt ler *innen interviewt.<br />

Zu hören in der Gruppenausstellung<br />

„Corona Sound System“. •<br />

Kunstverein Hamburg, Klosterwall 23,<br />

Di–So, 12–18 Uhr, das Hörstück mit den<br />

Hinz&Künztler*innen immer 14.17 Uhr,<br />

Eintritt 5/3 Euro, www.kunstverein.de<br />

Konzert<br />

Neue Töne in der Kunstklinik<br />

Das Kulturzentrum in Eppendorf<br />

startet eine neue Konzertreihe:<br />

„Pang ia“ holt Musik aus unterschiedlichen<br />

Kulturen auf die Bühne<br />

und überträgt sie live ins Netz. Den<br />

Anfang macht die Band Bent . •<br />

Kunstklinik, Martinistraße 44a, Fr, 11.9.,<br />

20 Uhr, Eintritt 10 Euro, Anmeldung unter<br />

www.kunstklinik.hamburg<br />

Unterwegs<br />

Baukultur mit Perspektiven<br />

„Denkmal als Chance“ ist das Motto<br />

am Tag des offenen Denkmals. Viele<br />

Bauwerke gewähren exklusiv für diese<br />

Gelegenheit Einlass, andere lassen<br />

sich von außen erkunden. •<br />

Tag des offenen Denkmals, mehr als 100<br />

Veranstaltungen, Fr–So, 11.–13.9., Eintritt<br />

frei, www.denkmalstiftung.de/denkmaltag


Festival<br />

Spieltrieb trotz(t) Corona<br />

„Was geht?“ ist beim diesjährigen<br />

Reeperbahn Festival nicht nur die<br />

Grußformel, mit der sich Fans und<br />

Freund*innen auf dem Weg ins Konzert<br />

begrüßen, sondern eine ganz reelle<br />

organisatorische Frage: Wie kann das<br />

beliebte Club-Festival trotz Corona<br />

sicher über die Bühne gehen? Der Wille<br />

ist da, einen Weg haben die Macher-<br />

*innen auch gefunden. Er wird nicht<br />

über brechend volle Tanzflächen von<br />

einem Moshpit zum nächsten führen,<br />

dafür geht es dieses Jahr gediegen zu.<br />

Sowohl unter freiem Himmel als auch<br />

drinnen gibt es bestuhlte Sitzreihen fürs<br />

Konzertpublikum. Ausnahmen sind der<br />

neu bespielte Spielbudenplatz, die Fritz<br />

Bühne und der Molotow Backyard, wo<br />

am Einlass abgezählt wird, um Überfüllung<br />

zu vermeiden. Insgesamt sind<br />

54<br />

Popkultur zum Anschauen: Neben Musik gehört auch<br />

Kunst beim Reeperbahn Festival zum Programm.<br />

20 Bühnen offen, jeder Gast soll zwei<br />

bis drei Events pro Abend erleben<br />

können. Das sind nicht nur Konzerte,<br />

sondern auch Kunst, Film und Talkformate.<br />

Wunschkonzert schon voll?<br />

Live dabei sein geht auch digital. •<br />

Reeperbahn Festival, diverse Spielorte,<br />

Mi–Sa, 16.–19.9., Eintritt 45–65 Euro,<br />

Programm und digitale Übertragung:<br />

www.reeperbahnfestival.com


FOTOS: LENA MEYER (S. 54), MAGDALENA LOS (OBEN), PRIVAT<br />

Kunzt&Kult<br />

Ausstellung<br />

Talentiert und sehenswert<br />

Debatte<br />

Rassismus besser verstehen<br />

Wo fängt Rassismus an und wieso<br />

endet er nicht? Die Antworten auf<br />

diese Fragen sind schwer zu finden<br />

und hochkomplex. Im Brakula gibt<br />

es gleich zwei Gelegenheiten, ihnen<br />

näher zukommen. Die erste liefert die<br />

Vor führung des Films „Der Zweite<br />

Anschlag“: Angehörige von Opfern<br />

rassistischer Morde und Überlebende<br />

erzählen, was sie in Mölln, Rostock-<br />

Lichtenhagen und Hamburg erlebten<br />

und wie sie gegen Rassismus kämpfen.<br />

Am folgenden Abend geht es um die<br />

Privilegien, die weißen Menschen<br />

selbstverständlich zugestanden werden.<br />

Wie fühlt sich das an, wenn sie wegfallen?<br />

Nicolas A. S. Moumouni lädt<br />

zu einem Versuch ein, der dabei hilft,<br />

das Lebensgefühl ausgegrenzter<br />

Menschen besser zu verstehen. •<br />

Brakula, Bramfelder Chaussee 265,<br />

Mi, 16.9., 18 Uhr und Do, 17.9., 19 Uhr,<br />

Eintritt frei, www.brakula.de<br />

55<br />

Magdalena Los<br />

ist eine der<br />

Künstler*innen,<br />

denen die Jury<br />

herausragendes<br />

künstlerisches<br />

Potenzial<br />

bescheinigt.<br />

Leben können von der Kunst – das ist für viele junge Künstler*innen nach<br />

bestandener Abschlussprüfung die größte Herausforderung. Um aussichtsreichen<br />

Talenten den Sprung ins Berufsleben zu erleichtern, vergibt die Kulturbehörde<br />

jedes Jahr Arbeitsstipendien für die bildende Kunst. Nun stellen zwei Jahrgänge<br />

ihre Werke aus: Installationen, Bilder, Filme und Performances sind zu sehen. •<br />

Sammlung Falckenberg, Wilstorfer Straße 71, ab13.9., So, 12–17 Uhr,<br />

Eintritt 10/6 Euro, www.sammlung-falckenberg.de<br />

Aktion<br />

Coronawissen aus erster Hand<br />

Wer ist systemrelevant, wenn sich<br />

die Gesellschaft krankmeldet? Beim<br />

„Markt für nützliches Wissen &<br />

Nicht-Wissen“ bieten Pflegekräfte,<br />

Wissenschaftler*innen, medizinisches<br />

Personal, Patient*innen und Leidtragende<br />

Einblick in ihr Leben und Arbeiten<br />

mit der Krise – in Vieraugengesprächen<br />

mit den Besucher*innen,<br />

je eine halbe Stunde lang. 60 Fachleute<br />

sind dabei, darunter Virologe<br />

Christian Drosten und Jörg Petersen,<br />

der als Hinz&Künztler weiß, was<br />

Corona für Obdachlose bedeutet. •<br />

Kampnagel, Jarrestraße 20, Fr+Sa,<br />

25.+26.9., jeweils 19 Uhr, Eintritt 12/6<br />

Euro, pro Expert*innengespräch 1 Euro,<br />

www.kampnagel.de<br />

Über Tipps für Oktober freut sich<br />

Lukas Gilbert. Bitte bis zum 10.9.<br />

schicken: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Kinofilm des Monats<br />

Kino<br />

körperlich<br />

Programmkino steht für Programmatik,<br />

also die Zielsetzung<br />

der Kinobetreiber*innen,<br />

die sich einer Idee mehr<br />

verschrieben haben als dem<br />

schnöden Mammon. Das<br />

Abaton-Kino war für mich in<br />

jungen Jahren dann auch die<br />

Verkörperung der intellektuellen<br />

Boheme. Das volle Programm:<br />

Baskenmütze, Weißweinschorle,<br />

selbstgedrehte<br />

Zigaretten. Ich wollte dazugehören.<br />

Immerhin hat es für<br />

ein Kinoticket gereicht. Das<br />

gab wohlwollende Blicke im<br />

Bekanntenkreis, wenn ich<br />

über Filme plauderte, die mit<br />

der tumben Effektcinematografie<br />

der Schachtelkinos so<br />

wenig gemein hatten wie<br />

Dantes Inferno mit einem<br />

TikTok-Video.<br />

Neben meiner persönlichen<br />

Verklärung gibt es viele<br />

gute Gründe, mal wieder ins<br />

Abaton-Kino zu gehen. Etwa<br />

Premieren in Anwesenheit<br />

der Filmschaffenden, wie am<br />

12. <strong>September</strong> ab 18 Uhr bei<br />

der Dokumentation „Body<br />

of Truth“. Regisseurin Evelyn<br />

Schels, die an diesem<br />

Abend dabei sein wird, lässt<br />

darin vier sehr unterschiedliche<br />

Künstlerinnen ihre eigene<br />

Geschichte erzählen und<br />

ihr künstlerisches Werk erklären.<br />

Die detaillierten und<br />

manchmal drastischen Porträts<br />

zeigen Frauen, die im<br />

wahrsten Sinne des Wortes<br />

mit ihrem Körper arbeiten.<br />

Und mit den Körpern anderer.<br />

Schmerz, Würde, Verletztheit<br />

– Schels zeigt die Wahrheiten<br />

hinter der Kunst. •<br />

André Schmidt<br />

geht seit<br />

Jahren für uns<br />

ins Kino.<br />

Er arbeitet in der<br />

PR-Branche.


Hamburger<br />

Geschichte(n)<br />

#6<br />

Kunzt&Kult<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />

Das historische Bild wurde um das Jahr 1920<br />

aufnommen. Kurz danach wurden die Häuser<br />

abgerissen. 1936 entstanden die heutigen Gebäude<br />

an der Altstädter Twiete mit den olympischen Ringen.<br />

Die Altstädter Twiete<br />

Mitten im denkmalgeschützten Altstädter Hof liegen die<br />

Verlagsräume von Hinz&Kunzt. Vor dem Umzug ins neue Haus in<br />

St. Georg hat Spurensucher Jürgen Jobsen noch was zu klären.<br />

Manchmal liegen Rätsel der Stadtgeschichte<br />

direkt vor der Tür – in Jürgen<br />

Jobsens Fall vor der Tür seines Arbeitsplatzes.<br />

Täglich kommt der Vertriebsmitarbeiter<br />

von Hinz&Kunzt an den<br />

fünf olympischen Ringen vorbei, die an<br />

der Stirnseite der Altstädter Twiete<br />

hängen, über dem Relief eines Fackelläufers.<br />

„Olympiajahr 1936“ steht darunter<br />

eingemeißelt. Als Spurensucher<br />

kommt Jürgen da nicht umhin, sich<br />

Fragen zu stellen: Olympische Ringe?<br />

Wieso ausgerechnet hier?<br />

„Die Nazis haben diesen Ort in Zusammenhang<br />

mit Olympia bebaut“,<br />

vermutet er. Vielleicht diente der Altstädter<br />

Hof, der die Twiete umschließt,<br />

als Unterkunft für Wassersport­<br />

Athlet*innen der Sommerspiele, die<br />

Hitler 1936 ausrichten ließ? Jürgen<br />

meint, das ge lesen zu haben. Andererseits:<br />

„So eine Tafel im Innenhof zu<br />

verstecken, ergibt keinen Sinn“, sagt er.<br />

Erst recht nicht für die Nazis, denen die<br />

Propaganda fast wichtiger war als der<br />

Sport selbst.<br />

TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />

Wir gehen der Sache nach und finden<br />

Antworten bei der Landeszentrale für<br />

politische Bildung. Sozialhistorikerin<br />

Rita Blake hat die Geschichte des Altstädter<br />

Hofs aufgearbeitet – und entzaubert<br />

das Symbol der fünf Ringe mit<br />

einem nüchternen Satz: „Sie sollen daran<br />

erinnern, dass der Häuserkomplex<br />

1936 im Jahr der Olympischen Spiele<br />

errichtet wurde.“ Ausgetragen wurden<br />

die Wettkämpfe nämlich nicht in Hamburg,<br />

sondern in Berlin und Kiel. Die<br />

Altstädter Twiete aber hat in Wirklichkeit<br />

gar nichts mit Olympia zu tun. Das<br />

Relief sollte nur Assoziationen wecken.<br />

Ein billiger Trick, der den damaligen<br />

Bauherren sicher gefiel. Ebenso wie<br />

die Skulpturen, die sie beim selben Bildhauer<br />

für die Außenfassade des Altstädter<br />

Hofs bestellten: Starke Handwerker,<br />

Nachtwächter, Blumenmädchen und<br />

kinderreiche Mütter versinnbildlichen<br />

noch heute die völkischen Ideale der<br />

Nazi­Gesellschaft. Jürgen hält davon<br />

gar nichts. Bei aller Liebe fürs Alte –<br />

wie die Nazis die einfachen Leute ver­<br />

einnahmten, ist ihm völlig zuwider.<br />

Sein Herz schlägt für die Menschen, die<br />

weder Ruhm noch falschen Glanz abbekamen.<br />

Jürgen denkt an die Gängeviertel<br />

und Höfe, die einst die Steinstraße<br />

säumten. Und an die Testamentswohnungen<br />

für Arme, ein Vermächtnis der<br />

Bürgermeisterwitwe Anna Büring, die<br />

1537 kinderlos starb. 1708 wurde ihr<br />

letzter Wille in die Tat umgesetzt und<br />

die ersten Bedürftigen konnten einziehen.<br />

Ein niedriges Dach, ein warmer<br />

Kamin, viel mehr boten die von Anna<br />

Büring gestifteten Mansardenwohnungen<br />

nicht. Aber sie hielten stand, bis<br />

1928 – während das sogenannte Dritte<br />

Reich in Hamburg schon nach zehn<br />

Jahren in Trümmern lag. •<br />

Kontakt: annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />

Jürgen Jobsen (64)<br />

war früher<br />

Hinz&Künztler und<br />

arbeitet seit Jahren<br />

im Vertrieb.<br />

Rätselfrage:<br />

Die Anna-Büring-Testamentswohnungen<br />

wurden zwischen der Springeltwiete<br />

und der damaligen Fuhlentwiete erbaut.<br />

Wie heißt diese Straße heute?<br />

Schreiben Sie uns! (Siehe rechts)<br />

FOTOS: ANDREAS HORNOFF, WWW.HAMBURG-BILDARCHIV.DE<br />

56


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Rätsel<br />

ILLUSTRATION (BLEISTIFT IM IMPRESSUM): BERND MÖLCK-TASSEL<br />

frz.<br />

Unternehmer<br />

(Bernard)<br />

schweiz.:<br />

Schubkarren<br />

Doldenblütler,<br />

Bergfenchel<br />

Abk.: Bruttoregistertonne<br />

(veraltet)<br />

engl.:<br />

Gruppe,<br />

Team<br />

veraltet:<br />

milit.<br />

Rückzug<br />

(frz.)<br />

Vorname<br />

der<br />

Karlstadt<br />

† 1960<br />

süddt.:<br />

Ufer;<br />

Uferstraße<br />

Save-<br />

Zufluss<br />

griech.<br />

Unterweltsfluss<br />

7<br />

1<br />

lateinamerik.<br />

Landarbeiter<br />

Sammelleitung<br />

einer EDV-<br />

Anlage<br />

8<br />

2<br />

4<br />

Persienkunde<br />

veralt.<br />

weibl.<br />

Vorname<br />

3<br />

2<br />

28<br />

veraltet:<br />

Straftat<br />

4<br />

8<br />

Bildnis<br />

der Maria<br />

mit Leichnam<br />

Jesu<br />

südafr.<br />

Golfprofi<br />

(Ernie)<br />

Vater des<br />

Propheten<br />

Samuel<br />

(A. T.)<br />

Münzeinheit<br />

in<br />

Thailand<br />

Stadt an<br />

d. Westküste<br />

von SH<br />

engl.:<br />

Landstraße<br />

Ableitung<br />

lateinisch:<br />

Tor<br />

Kettenstern<br />

bei<br />

Baggern<br />

Oker-<br />

Zufluss<br />

(Harz)<br />

AR0909-1219_7sudoku<br />

5<br />

1<br />

Hautknötchen<br />

(Med.)<br />

arab.:<br />

Knecht<br />

Berliner<br />

Männerspitzname<br />

Überraschungsangriff<br />

(engl.)<br />

Messwerkzeug<br />

Billionenfaches<br />

e.<br />

Einheit<br />

Fluss<br />

zum<br />

Voltasee<br />

(Ghana)<br />

Stadt am<br />

Tigris<br />

(Irak)<br />

histor.<br />

Königreich<br />

Burgund<br />

sächs.<br />

Stadt an<br />

der Elbe<br />

ehem. russ.<br />

Tennisspielerin:<br />

...<br />

Kournikova<br />

kroat.<br />

Stadt<br />

an der<br />

Adria<br />

hebräischer<br />

Monatsname<br />

Gymnasiast<br />

(veraltet)<br />

Justierer<br />

russische<br />

Stadt am<br />

Schwarzen<br />

Meer<br />

südfranz.<br />

Departement<br />

engl. Abk.:<br />

Ribonukleinsäure<br />

Lösungen an: Hinz&Kunzt, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />

per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />

Einsendeschluss: 28. <strong>September</strong> <strong>2020</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />

Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel oder die Antwort<br />

auf die Preisfrage auf Seite 56 einsendet, kann zwei Karten für die Hamburger<br />

Kunsthalle oder eine von zwei Graphic Novels „Vatermilch“ von Uli<br />

Oesterle (Carlsen Verlag) gewinnen. Die Antwort auf die August-Preisfrage<br />

lautete: Schweizerpavillon. Das Lösungswort beim Kreuzworträtsel war:<br />

Verbindung. Die Sudoku-Zahlenreihe: 746 958 321.<br />

6<br />

275<br />

8672<br />

2<br />

69<br />

1<br />

9<br />

1728<br />

7<br />

5<br />

8<br />

49<br />

485<br />

639<br />

9<br />

7<br />

leblos<br />

6<br />

10<br />

57<br />

10<br />

3<br />

12197 – raetselservice.de<br />

Füllen Sie das Gitter so<br />

aus, dass die Zahlen von<br />

1 bis 9 nur je einmal in<br />

jeder Reihe, in jeder<br />

Spalte und in jedem<br />

Neun-Kästchen-Block<br />

vorkommen.<br />

Als Lösung schicken<br />

Sie uns bitte die farbig<br />

gerahmte, unterste<br />

Zahlenreihe.<br />

87492<br />

27<br />

95613<br />

Impressum<br />

Redaktion und Verlag<br />

Hinz&Kunzt<br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />

Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg<br />

Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />

Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />

E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />

Herausgeber<br />

Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />

Externer Beirat<br />

Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />

Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />

Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />

Thomas Magold (BMW-Niederlassungsleiter i.R.),<br />

Karin Schmalriede (Lawaetz-Stiftung),<br />

Dr. Bernd-Georg Spies (Russell Reynolds),<br />

Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />

Geschäftsführung Jörn Sturm<br />

Redaktion Birgit Müller (bim; Chefredakteurin, V.i.S.d.P.),<br />

Annette Woywode (abi; Stellv., CvD), Benjamin Laufer (bela; stv. CvD),<br />

Jonas Füllner (jof), Lukas Gilbert (lg),<br />

Jochen Harberg (joc), Ulrich Jonas (ujo), Frank Keil (fk),<br />

Misha Leuschen (leu), Annabel Trautwein (atw)<br />

Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />

Korrektorat Kristine Buchholz und Kerstin Weber<br />

Redaktionsassistenz Cedric Horbach,<br />

Marina Schünemann, Anja Steinfurth<br />

Artdirektion grafikdeerns.de<br />

Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />

Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />

Anzeigenvertretung Caroline Lange,<br />

Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, c.lange@wahring.de<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 24 vom 1. Januar 2019<br />

Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Sigi Pachan,<br />

Jürgen Jobsen, Meike Lehmann, Sergej Machov,<br />

Frank Nawatzki, Elena Pacuraru, Reiner Rümke, Marcel Stein,<br />

Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn<br />

Spendenmarketing Gabriele Koch<br />

Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />

Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel<br />

Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />

Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Chris Schlapp, Harald Buchinger<br />

Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Stefan Calin, Gheorghe-R zvan Marior, Pawel Marek Nowak<br />

Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />

Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger, Klaus Peterstorfer,<br />

Herbert Kosecki, Torsten Wenzel<br />

Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />

Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />

Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />

Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />

Umschlag-Druck Neef+Stumme premium printing GmbH & Co. KG<br />

QR Code ist ein eingetragenes Warenzeichen von Denso Wave Incorporated<br />

Spendenkonto Hinz&Kunzt<br />

IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73<br />

BIC: HASPDEHHXXX<br />

Die Hinz&Kunzt gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />

Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />

des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer 17/414/00797,<br />

vom 7.7.<strong>2020</strong>, für das Jahr 2018 nach §5 Abs.1 Nr. 9 des Körperschaftssteuergesetzes<br />

von der Körperschaftssteuer und nach<br />

§ 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />

Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&Kunzt ist als<br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister beim<br />

Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen.<br />

Wir bestätigen, dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&Kunzt<br />

einsetzen. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte<br />

weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />

www.hinzundkunzt.de. Hinz&Kunzt ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />

obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />

Das Magazin wird von Journalist*innen geschrieben, Wohnungslose und<br />

ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter*innen<br />

unterstützen die Verkäufer*innen.<br />

Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />

Gesellschafter<br />

Durchschnittliche monatliche<br />

Druckauflage 3. Quartal <strong>2020</strong>:<br />

59.000 Exemplare


Momentaufnahme<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>331</strong>/SEPTEMBER <strong>2020</strong><br />

Seit 21 Jahren verkauft<br />

Achim Hinz&Kunzt.<br />

Das hat seinem Alltag<br />

endlich Struktur gegeben.<br />

„Ich hatte die Schnauze voll<br />

von meinem alten Leben“<br />

Achim (57) verkauft Hinz&Kunzt am Alsterhaus in der Poststraße.<br />

TEXT: JONAS FÜLLNER<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Wer schon mal mit vollen Einkaufstüten<br />

rückseitig ins Alsterhaus spaziert ist,<br />

kennt Achim. Seit rund 15 Jahren hat<br />

der 57-Jährige hier seinen Stammplatz.<br />

Und allen öffnete er die Tür – bis die<br />

Coronapandemie ausbrach. „Seitdem<br />

halte ich deutlich Abstand“, sagt<br />

Achim, der sich an seinem Verkaufsplatz<br />

trotzdem sehr wohlfühlt. „Nach so<br />

vielen Jahren habe ich viele treue<br />

Stammkunden“, freut sich der große,<br />

hagere Hinz&Künztler.<br />

Seit 21 Jahren verkauft der waschechte<br />

Hamburger, der beim Reden über<br />

jeden spitzen Stein stolpert, inzwischen<br />

Hinz&Kunzt. „Ich hatte damals die<br />

Schnauze voll von meinem alten Leben“,<br />

erinnert sich Achim. Das bestand<br />

aus Drogen, Alkohol und Diebstählen<br />

und führte ihn regelmäßig hinter Gitter.<br />

Aus diesem Teufelskreis habe ihn erst<br />

Hinz&Kunzt befreit. Seitdem hat er<br />

einen klar strukturierten Tagesablauf<br />

und wieder eine Aufgabe. „Ich bin zwar<br />

immer noch süchtig“, sagt Achim.<br />

„Aber ich bin jetzt 57. Ich kann nicht<br />

mehr wie früher. Ich bin froh, wenn ich<br />

einen kiffen kann und mit ein paar<br />

Kaltgetränken vor meiner Xbox sitze<br />

und daddle.“ Nur noch selten käme es<br />

vor, dass ihm „richtig der Helm brennt“,<br />

wie es Achim ausdrückt.<br />

Dass er versucht, seinen Stress mit<br />

Drogen zu bewältigen, zieht sich durch<br />

sein Leben. Nach seinem Hauptschulabschluss<br />

jobbte er fast zehn Jahre im<br />

Hafen. „War die schwerste Arbeit in<br />

meinem Leben. Was ich da alles<br />

ver laden habe: Kaffee, Zucker, Baumwolle<br />

…“ Und trotzdem gerät er rückblickend<br />

ins Schwärmen. „Es war die<br />

geilste Zeit. Immer am Wasser. Und im<br />

Sommer habe ich schön braun<br />

aus gesehen.“<br />

Aber nach Feierabend ging es zu<br />

Kolleg*innen und Freund*innen. Abschalten.<br />

Feiern. Anfangs mit Marihuana<br />

und Alkohol. Später auch mit harten<br />

Drogen. Mit Ende 20 hing er an der<br />

Nadel. Eine Zeit lang ließen sich Job<br />

und Partyleben noch kombi nieren.<br />

„Aber wenn du richtig auf Drogen bist,<br />

hast du keine Chance“, sagt Achim, der<br />

mit Anfang 30 schließlich auf der Straße<br />

landete.<br />

Anfangs finanzierte er sich den<br />

Drogenkonsum noch durch Gelegenheitsjobs.<br />

„Dann bin ich einbrechen gegangen,<br />

hab andere betrogen“, erzählt<br />

Achim ziemlich frei raus. Natürlich<br />

wurde er erwischt. Seine Strafen hat er<br />

abgesessen. Rückblickend bezeichnet er<br />

diesen Lebensabschnitt als „mein anderes<br />

Leben“. Denn nicht nur die Drogen<br />

hat er halbwegs in den Griff bekommen.<br />

Auch von der Straße ist Achim<br />

längst weg. Seit acht Jahren hat er eine<br />

eigene Wohnung. „Ich gebe mir alle<br />

Mühe“, sagt Achim. „Das was ich jetzt<br />

habe, will ich nicht mehr verlieren.“ •<br />

Achim und die anderen Hinz&Künztler*innen<br />

erkennt man am Verkaufsausweis.<br />

2623<br />

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KUNZT-<br />

KOLLEKTION<br />

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www.hinzundkunzt.de/shop, shop@hinzundkunzt.de, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />

Tel. 32 10 83 11. Preise zzgl. Versandkostenpauschale 4 Euro, Ausland auf Anfrage.<br />

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Der Liederzyklus von Franz Schubert mit<br />

Originaltextfragmenten von Wilhelm Müller<br />

und Geschichten von Menschen im Abseits,<br />

bearbeitet von Stefan Weiller. Sprecher*innen:<br />

Brigitta Assheuer, Jens Harzer,<br />

Wolfram Koch, Helmut Krauss, Eva Mattes.<br />

Klavier: Hedayet Djeddikar.<br />

Spielzeit: 82 Minuten.<br />

Hörbuchverlag Speak Low, Berlin 2019.<br />

Preis: 14,90 Euro<br />

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Preis: 14,90 Euro


Für Sinnsucher,<br />

Alltagsforscher und<br />

Weltentdecker<br />

Im KörberForum am Eingang zur HafenCity:<br />

Gespräche, Diskussionen, Lesungen, Filmabende<br />

Eintritt frei. Anmeldung unter koerberforum.de<br />

Hier geht’s zur Sache<br />

Hier spielt die Musik<br />

Stand August <strong>2020</strong>, Änderungen vorbehalten! Groothuis.de Foto: iStockphoto.com/golero<br />

KörberForum | Kehrwieder 12 | 20457 Hamburg | U Baumwall<br />

Telefon 040 · 80 81 92 - 0 | E-Mail info@koerberforum.de<br />

Veranstalter ist die gemeinnützige Körber-Stiftung.

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