115 VOM WELTALL BIS INS INNERSTE DER ... - Universität Bern
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UNI PRESS<br />
F O R S C H U N G U N D W I S S E N S C H A F T A N D E R U N I V E R S I T Ä T B E R N<br />
<strong>VOM</strong> <strong>WELTALL</strong><br />
DEZEMBER 2002<br />
<strong>BIS</strong> <strong>INS</strong> <strong>INNERSTE</strong><br />
<strong>DER</strong> ZELLEN<br />
<strong>115</strong>
UNI<br />
UNIPRESS<strong>115</strong><br />
PRESS<br />
DEZEMBER 2 0 02<br />
Akkretion auf Neutronensterne<br />
Kleine, kompakte Sterne rasen mit unvorstellbar hohen Geschwindigkeiten<br />
im Weltall umher. Sarah Natalia Sägesser schildert,<br />
wie sich diese Neutronensterne verhalten, die bei der Explosion<br />
einer Supernova entstanden sind.<br />
Erwärmung der Erde um 5 ˚C<br />
so gut wie sicher<br />
Eine neue Klimastudie rechnet mit einer<br />
Erwärmung von rund 5 ˚C bis 2100.<br />
Christian <strong>Bern</strong>hart beschreibt die Vorhersage<br />
und fragt einen Experten, was<br />
man dagegen tun kann.<br />
„Wir müssen dort wohnen,<br />
wo wir auch arbeiten“<br />
Höherer Meeresspiegel, verheerende Stürme: Um Umweltkatastrophen<br />
entgegenzuwirken, fordert im Interview Thomas Stocker<br />
eine andere Mobilität.<br />
Kosmische Killer<br />
Ein Killer-Asteroid könnte die Erde mit einem Schlag verwüsten,<br />
so die Meinung von Astrophysikern. Fritz P. Schaller erkundigte<br />
sich bei <strong>Bern</strong>er Vertretern nach dem wahrscheinlichen<br />
Zeitpunkt.<br />
Wenn Zecken heisse Köpfe machen<br />
Blutparasiten schwächen Przewalski-Wildpferde,<br />
die in Zoos aufwuchsen und jetzt<br />
in der Mongolei ausgewildert werden.<br />
Simon Rüegg ist an vorderster Front dabei.<br />
Und die Gene sind doch schuld<br />
Drei Arbeitsgruppen am Veterinärmedizinischen Institut haben<br />
die Labrador-Retriever-Myopathie genauer untersucht. Tim Bley<br />
zeigt, wie der Labrador-Welpe „Max“ den Anstoss zur Erforschung<br />
dieser Erbkrankheit gegeben hat.<br />
Cum grano salis<br />
Seite 5<br />
Seite 9<br />
Seite 11<br />
Seite 13<br />
Seite 16<br />
Seite 20<br />
Seite 23<br />
Eine Reduktion der Kochsalzzufuhr ist wünschenswert oder nötig,<br />
um zu hohen Blutdruck zu vermeiden. Paolo Ferrari weist nach,<br />
dass eine Beteiligung der Nahrungsmittelindustrie unerlässlich<br />
ist, um dieses Ziel zu erreichen.<br />
Messbilder<br />
Mit einem neuartigen Messgerät können<br />
sehr exakte Aufnahmen über die Konstruktion<br />
von Gebäuden gemacht werden.<br />
Volker Hoffmann schildert das Vorgehen<br />
am Beispiel der westlich von Paris gelegenen<br />
Schlosskapelle von Anet.<br />
Ferien hinter Mauern<br />
An der Mittelmehrküste westlich von Alexandria gibt es über 100<br />
Feriensiedlungen, die ummauert und mit Eingangstoren versehen<br />
sind. Amira Latif beschreibt die Entstehung und die Funktionsweise<br />
dieser «Gated Communities».<br />
Wie die Damaszener<br />
ihre Altstadt sehen<br />
Patrik Meier geht der Frage nach, wie die<br />
Bevölkerung von Damaskus ihre Altstadt<br />
wahrnimmt und welche Strategien sie bei<br />
ihren Diskursen – z. B. traditionelle Normen<br />
und Werte einerseits, Modernisierungsbestrebungen<br />
anderseits – verfolgt.<br />
Seite 27<br />
Seite 31<br />
Seite 36
Physik, Physik, Physik – und manches andere mehr<br />
Vor 20 Jahren wurde der Forschungsreportagen-Wettbewerb<br />
des <strong>Bern</strong>ischen Hochschulvereins<br />
erstmals durchgeführt.<br />
Zunächst alle zwei<br />
Jahre und seit 1992 jedes<br />
Jahr wählt eine Jury aus<br />
Beiträgen über die Forschung<br />
an der <strong>Universität</strong><br />
<strong>Bern</strong>, eingereicht sowohl<br />
von Uni-Angehörigen wie<br />
auch von Berufsjournalisten,<br />
jene aus, die ihr für ein Leserpublikum von interessierten Laien<br />
am besten geeignet erscheinen. Im Jahre 1982 errang die Arbeit<br />
«Explosionen auf der Sonne» den ersten Preis. Verfasser war Niklaus<br />
Kämpfer, damals lic. phil. II, heute ordentlicher Professor<br />
am Institut für angewandte Physik.<br />
Auch im Wettbewerb des Jahres 2002 stehen die Preisträger fest:<br />
Vier Preise, ein erster, ein zweiter und zwei dritte wurden ausgesprochen<br />
– und zum Erstaunen der Jury befassen sich drei von<br />
ihnen mit einem Thema aus der Physik.<br />
Der erste Preis ging an die junge Astrophysikerin Sarah Sägesser.<br />
Sie brachte es fertig, ihre Diplomarbeit über Neutronensterne<br />
so lebhaft darzustellen, dass in den Augen der Jury der Beitrag<br />
trotz der Komplexität seines Inhaltes ein spannendes Lesevergnügen<br />
ist.<br />
Christian <strong>Bern</strong>hart, der Gewinner des zweiten Preises und den<br />
Lesern der <strong>Bern</strong>er Zeitung als Journalist bestens bekannt, berichtet<br />
ebenfalls über die Arbeit von <strong>Bern</strong>er Physikern. Es geht<br />
um ein am Physikalischen Institut entwickeltes neuartiges Modell,<br />
welches weit genauere Voraussagen über die Klimaentwicklung<br />
in den nächsten rund 100 Jahren zulässt, als dies bisher<br />
der Fall war.<br />
Ein wissenschaftliches Thema kann sehr wohl so dargestellt werden,<br />
dass es auch eine Leserschaft aller Altersstufen zu faszinieren<br />
vermag. Dies hat einer der beiden mit einem dritten Preis<br />
ausgezeichneten Autoren bewiesen. Fritz Schaller, der Wissenschaftsredaktor<br />
der Schweizer Familie, spricht in seinem Beitrag,<br />
der sich auf die Arbeiten des <strong>Bern</strong>er Astrophysikers Thomas Luder<br />
stützt, von den Asteroiden und der – wenn auch geringen –<br />
Wahrscheinlichkeit, dass ein Riesenexemplar dieser Dinger unvermutet<br />
auf unsere Erde prallt.<br />
Wenigstens einer der vier Preisträger hat indessen ein Thema gewählt,<br />
dass von der Physik recht weit entfernt ist: Simon Rüegg,<br />
ein Veterinärmediziner, berichtet nämlich in seinem Artikel von<br />
einer der unterwarteten Schwierigkeiten, die sich der Auswilderung<br />
der seit 1965 in der Mongolei, ihrer ursprünglichen Heimat,<br />
ausgestorbenen Przewalskipferde entgegenstellen.<br />
4 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
Neben diesen preisgekrönten Arbeiten stellen wir unserer Leserschaft<br />
eine ganze Anzahl weiterer Beiträge vor, die uns in<br />
den letzten Monaten zugegangen sind. Unterschiedliche Themen<br />
kommen hier zum Zug: Eine erbliche Hundekrankeit, die<br />
sich immer weiter ausbreitet; die Tatsache, dass in unserer Ernährung<br />
vor allem die Fertigprodukte einen viel zu hohen Salzgehalt<br />
haben und so zumindest teilweise für zu hohen Blutdruck<br />
verantwortlich sind; eine hochmoderne Messmethode, die in der<br />
Architekturgeschichte zur Anwendung kommt; schliesslich zwei<br />
Artikel aus Ethnologenkreisen, von denen einer die «gated communities»<br />
der Reichen an der Mittelmeerküste Ägyptens unter die<br />
Lupe nimmt, während der andere davon berichtet, wie die Altstadt<br />
von Damaskus von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern<br />
wahrgenommen wird.<br />
Es kommt also in dieser Nummer von UNI PRESS keineswegs<br />
allein die Physik zu Wort. Unsere Leserinnen und Leser werden<br />
unter den Artikeln bestimmt etwas finden, das ihren Interessen<br />
entspricht. Unser Team würde sich aber natürlich freuen, wenn<br />
alle Beiträge des Heftes bei ihnen Anklang fänden.<br />
Annemarie Etter<br />
UNIPRESS <strong>115</strong>/Dezember 2002<br />
Verantwortliche<br />
Herausgeberin<br />
Stelle für Öffentlichkeitsarbeit<br />
der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong><br />
Prof. Dr. Annemarie Etter<br />
Dr. Beatrice Michel<br />
Fred Geiselmann<br />
Redaktionsadresse<br />
Schlösslistrasse 5, 3008 <strong>Bern</strong><br />
Tel. 031 631 80 44<br />
Fax 031 631 45 62<br />
E-mail: press@press.unibe.ch<br />
http://publicrelations.<br />
unibe.ch/<br />
Layout<br />
Patricia Maragno<br />
Titelbild<br />
Christine Blaser<br />
Erscheinungsweise<br />
4mal jährlich; nächste Nummer<br />
April 2003<br />
Druck und Inserate<br />
Stämpfli AG<br />
Hallerstrasse 7<br />
3012 <strong>Bern</strong><br />
Tel. 031 300 66 66<br />
Tel. 031 300 63 82 (Inserate)<br />
Adressänderungen<br />
Bitte direkt unserer<br />
Vertriebsstelle melden:<br />
«<strong>DER</strong> BUND»<br />
Vertrieb UNIPRESS<br />
Bubenbergplatz 8<br />
3001 <strong>Bern</strong><br />
Auflage<br />
14000 Exemplare
Astronomische Raser im Weltall<br />
Akkretion auf Neutronensterne<br />
Kleine, kompakte Sterne rasen mit unvorstellbar hohen<br />
Geschwindigkeiten im Weltall umher. Es handelt sich<br />
dabei um Neutronensterne, die bei der Explosion eines<br />
Sternes (Supernova) entstanden sind. Das Innere<br />
der Neutronensterne ist sehr dicht. Obwohl ihr Radius<br />
nur etwa 10 km beträgt, haben sie eine Masse von<br />
1,4 Sonnen.<br />
Weshalb flitzen kleine, kompakte Sterne<br />
mit unvorstellbar hohen Geschwindigkeiten<br />
in der Gegend herum? Diese Frage<br />
hat mich während meiner Diplomarbeit<br />
am Physikalischen Institut der <strong>Universität</strong><br />
<strong>Bern</strong> bei Prof. Willy Benz beschäftigt.<br />
Zuerst mit analytischen Rechnungen (Papier<br />
und Bleistift) und später mit Computersimulationen<br />
versuchte ich den rasenden<br />
Neutronensternen auf die Schliche zu<br />
kommen. Das Resultat? Nun, da müssen<br />
Sie schon den ganzen Artikel lesen!<br />
Akkretion = gravitative Massenakkumulation<br />
= das Einverleiben von Materie<br />
(meist Gas) durch einen Stern mithilfe<br />
seiner Gravitationsanziehung<br />
Was sind Neutronensterne?<br />
Neutronensterne (NS) sind die kompakten<br />
Überreste einer Sternexplosion (Supernova).<br />
Bei dieser Explosion, bei der innert<br />
einer Sekunde 100-mal mehr Energie abgegeben<br />
wird, als die Sonne während ihres<br />
NS<br />
.<br />
M<br />
Abb. 1: Asymmetrischer Masseneinfall von<br />
rechts. (gestrichelt: Hülle; gewellte Pfeile:<br />
Neutrinos ν).<br />
ganzen Lebens abstrahlt, wird der grösste<br />
Teil der Masse, die Hülle, abgeworfen. Im<br />
Innern bleibt ein kompakter Stern zurück,<br />
der vorwiegend aus Neutronen besteht (-><br />
Neutronenstern) und so dicht ist wie ein<br />
Atomkern. Obwohl er die Masse von etwa<br />
1,4 Sonnen hat, so hätte er doch mit seinem<br />
Radius von 10 km spielend Platz zwischen<br />
<strong>Bern</strong> und Thun.<br />
MNS = 1,4 Sonnenmassen = 1,4 M ¤<br />
RNS = 10 km<br />
Ein Löffel Neutronensternmaterie wiegt<br />
mehrere Tonnen!<br />
Crashdown!<br />
Ein kleiner Teil der bei der Supernovaexplosion<br />
abgestossenen Hülle erreicht<br />
nicht die Fluchtgeschwindigkeit und fällt<br />
deshalb wieder auf den Neutronenstern<br />
zurück.<br />
Abb. 2: Crab-Nebel (Supernova-Überrest),<br />
aufgenommen mit dem Röntgensatelliten<br />
CHANDRA.<br />
Wenn wir davon ausgehen, dass dieses<br />
Material nicht ganz symmetrisch verteilt<br />
ist (nehmen wir an, es hat mehr Materie<br />
rechts), so wird dieses Material den<br />
Neutronenstern vor allem auf einer Seite<br />
(nämlich rechts) treffen und die Oberfläche<br />
dort besonders aufheizen (s. Abb. 1).<br />
Die Temperaturen und Dichten sind dort<br />
so enorm hoch, dass die Wärme nicht<br />
mehr in Photonen (Licht) abgestrahlt<br />
werden kann. Die Photonen bleiben in<br />
dieser dichten Materie gefangen. Jedoch<br />
können stattdessen Neutrinos (ν) abgestrahlt<br />
werden, die dann die Energie wegtragen<br />
können. Diese abgestrahlten Neutrinos<br />
üben nun eine rücktreibende Kraft<br />
auf den Neutronenstern aus («sie stossen<br />
sich vom Stern ab») und können ihn so beschleunigen!<br />
Viele winzige, masselose Teilchen können<br />
auch einen Stern bewegen!<br />
Abb. 3: Vela-Nebel (Supernova-Überrest),<br />
aufgenommen mit dem Röntgensatelliten<br />
CHANDRA.<br />
Mit Auszeichnung<br />
Die Arbeit «Akkretion auf Neutronensterne»<br />
von Sarah Natalia<br />
Sägesser ist beim Forschungsreportagen-Wettbewerb<br />
2002<br />
des <strong>Bern</strong>ischen Hochschulvereins<br />
mit dem 1. Preis ausgezeichnet<br />
worden. Die Preissumme beträgt<br />
Fr. 5000.–.<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
5
Der Röntgensatellit<br />
CHANDRA<br />
1999 wurde der Röntgensatellit<br />
CHANDRA in seine Umlaufbahn hochgeschickt.<br />
Seitdem wurden durch<br />
das CHANDRA-Teleskop Zehntausende<br />
neuer Quellen hochenergetischer<br />
Strahlung entdeckt und hochauflösende<br />
Bilder (s. Abb. 2 und 3)<br />
geschossen. Für weitere Informationen<br />
und phantastische Bilder:<br />
http://chandra.harvard.edu<br />
Kosmische Leuchttürme<br />
Da Neutronensterne so winzig klein sind,<br />
ist es einfacher, eine Stecknadel auf dem<br />
Mond zu sehen, als einen Neutronenstern<br />
zu entdecken. So dachte man – bis eines<br />
Tages ein Pulsar entdeckt wurde.<br />
Abb. 4: Skizze eines Pulsars.<br />
Pulsare sind Neutronensterne, die einen<br />
kontinuierlichen Strahl aussenden. Da<br />
dieser Strahl irgendwo auf der Oberfläche<br />
entsteht und sich der Stern zudem um<br />
seine eigene Achse dreht, sieht es für uns<br />
so aus, als würde dieser Stern pulsieren (-><br />
Pulsare), da sein Strahl unser Gesichtsfeld<br />
nur einmal pro Umdrehung überstreicht<br />
(sogenanntes Leuchtturm-Modell, siehe<br />
Abb. 5). Nur dank diesem enorm energiereichen<br />
Strahl können wir Neutronensterne,<br />
oder eben Pulsare, überhaupt<br />
6 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
entdecken. Es wird erwartet, dass alle<br />
Neutronensterne Pulsare sind. Wir sehen<br />
jedoch nicht jeden dieser Strahlen (da er in<br />
einen anderen Raumwinkel zeigt), weswegen<br />
uns einige Neutronensterne nicht als<br />
Pulsare bekannt sind.<br />
Abb. 5: Illustration des Leuchtturm-Modells.<br />
Rasende Neutronensterne<br />
Typische Sterne, wie unsere Sonne, bewegen<br />
sich durchs Weltall mit Geschwindigkeiten<br />
von etwa 40 km/Sekunde. Damit<br />
verglichen flitzen Neutronensterne nur so<br />
durch unsere Galaxie – mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit<br />
von 450 km/s, und<br />
der Gitarrennebel-Pulsar weist sogar eine<br />
Geschwindigkeit von über 1600 km/s auf!<br />
Damit verglichen sind alle irdischen Geschwindigkeiten<br />
verschwindend klein: Der<br />
Gepard erreicht eine Spitzengeschwindigkeit<br />
von 120 km/Stunde oder 0,03 km/s<br />
und selbst eine Concorde fliegt gerade mal<br />
mit 0,6 km/s.<br />
Kick!<br />
Wie kann nun ein Neutronenstern eine solch<br />
hohe Geschwindigkeit erhalten? Früher<br />
glaubte man, dass der Stern seine Umlauf-<br />
Entdeckung der Pulsare<br />
Die Doktorandin Jocelyn Bell entdeckte 1967 den ersten Pulsar. Nach 8 Wochen<br />
Arbeit, täglich über 30 m Papier nach Signalen durchforstend, entdeckte sie<br />
schliesslich ein regelmässiges Signal mit einer Periode von 1 1 /3 Sekunden. Den<br />
Nobelpreis für ihre Arbeit erhielt 1974 ihr Doktorvater, Prof. Anthony Hewish. 1993<br />
wurde ein weiterer Nobelpreis in die Pulsarforschung vergeben, was eindrücklich<br />
bestätigt, welche Bedeutung den Neutronensternen beigemessen wird. Der Preis<br />
von 1993 ging an Prof. Joseph H. Taylor und Prof. Russel A. Hulse, beide an der<br />
<strong>Universität</strong> Princeton tätig. Taylor war bereits 1991 in <strong>Bern</strong> mit der Einstein-Medaille<br />
ausgezeichnet worden.<br />
geschwindigkeit, die er in einem Doppelsternsystem<br />
hatte, einfach beibehalten hat:<br />
Durch die Supernova wird das Binärsystem<br />
aufgebrochen, und der Neutronenstern<br />
saust nun mit der gleichen Geschwindigkeit,<br />
mit der er vorher den andern Stern umkreist<br />
hat, weiter durchs All. Jedoch kann<br />
man so nur Geschwindigkeiten von einigen<br />
hundert km/s erklären und keinesfalls den<br />
Gitarren-Pulsar mit seinen 1600 km/s!<br />
Unzählige Beobachtungen und Berechnungen<br />
weisen heute darauf hin, dass dem<br />
Stern in der Supernovaexplosion ein sogenannter<br />
«Geburts»-Kick verliehen wurde,<br />
der den Stern innert kurzer Zeit enorm beschleunigte.<br />
Wie gross ist so ein Kick?<br />
Die Geschwindigkeiten, mit denen Neutronensterne<br />
durchs Weltall rasen, erscheinen<br />
uns riesig. Vergleicht man jedoch den<br />
Energieaufwand, der für diese Beschleunigung<br />
benötigt wird, mit der in der Supernova<br />
freigewordenen Energie, so sieht man<br />
dass nur ein Bruchteil, nämlich 0,1 %, dafür<br />
aufgewendet wird.<br />
Ein wenig Astrophysik<br />
Die Einfallsrate M: Normalerweise ereignen<br />
sich astrophysikalische Akkretionsprozesse<br />
am sogenannten Eddington-Limit.<br />
Wenn die Wärme des einfallenden<br />
Materials nicht mehr genügend schnell<br />
durch Photonen ans All abgegeben werden<br />
kann, stagniert der Prozess: Es bildet<br />
Stellt man eine kleine Impulserhaltungsgleichung<br />
auf (Impuls =<br />
Masse x Geschwindigkeit = m<br />
x v) und nimmt man an, dass die<br />
auf den Neutronenstern einfallende<br />
Masse eine Asymmetrie α von nur<br />
1 % besitzt, so erhält man:<br />
Mtot vNS = α v fall ≈ 1400 km/s<br />
MNS Dabei nimmt man an, dass das<br />
Material frei auf den Neutronenstern<br />
herunterfällt (Fallge -<br />
schwindigkeit vfall) und dass eine<br />
Gesamtmasse (Mtot) von 0,1 Sonnenmassen<br />
auf den Stern herabstürzt.<br />
(Da der Stern vor der Explosion<br />
eine Masse von etwa 20<br />
Sonnen hatte, ist ein Zehntel Sonnenmasse<br />
eine realistische Annahme.)
Abb. 6: Typische Simulation, mit einer Einfallsrate von 0,1 Sonnenmassen/Sek. (0,1<br />
M ¤/s). Der Neutronenstern ist der schwarze Punkt in der Mitte. Bild rechts unten wurde<br />
um einen Faktor 2 vergrössert. Klar ersichtlich ist der asymmetrische Einfall von rechts.<br />
sich ein stabiles Gleichgewicht zwischen<br />
einfallendem Material und Abstrahlung.<br />
Diesen Zustand nennt man Eddington-limitiert.<br />
Hyperkritisch! In meinen Simulationen<br />
rechne ich mit Einfallsraten, die mehr als<br />
Milliardenfach über dem Eddington-Limit<br />
liegen – nämlich 0,1–10 Sonnenmassen/<br />
Sekunde. Eine Akkretion, die so hoch über<br />
dem Normalen liegt, nennt man hyperkritisch.<br />
Sie kann nur stattfinden, falls genügend<br />
Neutrinos produziert werden, die<br />
dann anstelle der Photonen die Wärme<br />
wegtragen.<br />
Abb. 7: Dieses Bild zeigt sogenannte Rayleigh-Taylor-Instabilitäten<br />
in der Materie<br />
um den Neutronenstern.<br />
Und nun hard-core Astrophysik<br />
Simulationen und Resultate: Für all meine<br />
Berechnungen habe ich angenommen, dass<br />
mein Stern vollkommen rund ist, nicht rotiert<br />
und kein Magnetfeld besitzt. All diese<br />
Annahmen sind für eine erste Abschätzung<br />
richtig. Ebenfalls bin ich davon ausgegangen,<br />
dass das einfallende Material<br />
direkt (radial) auf den Stern herunterfällt<br />
und nicht in eine Spiralbewegung gerät<br />
(keine Winkelgeschwindigkeit).<br />
Wie sieht so eine Simulation aus? Abb. 6<br />
spiegelt eine typische Simulation wieder.<br />
Man sieht, wie Masse asymmetrisch von<br />
Abb. 8: Kick (oben) und stetige Beschleunigung<br />
(unten).<br />
rechts auf den Neutronenstern (schwarzer<br />
Punkt) einfällt. Die innere Energie<br />
der einfallenden Teilchen ist farbcodiert<br />
(rot: energiereich, schwarz: energiearm).<br />
Die Länge der Pfeile illustriert dabei die<br />
Geschwindigkeit der einfallenden Materie.<br />
Um diese Bilder zu erhalten, die jeweils<br />
etwa 0,4 Millisekunden (ms) voneinander<br />
entfernt liegen, musste mein Computer<br />
etwa eine Stunde rechnen. Für eine Simulation<br />
von 20 ms musste ich schon eine<br />
Woche auf das Ergebnis warten!<br />
Kochtopf!<br />
Mein Lieblingsbild ist Abb. 7, welche sogenannte<br />
Rayleigh-Taylor-Instabilitäten<br />
zeigt. Es treten hier ähnliche Phänomene<br />
auf wie bei einem mit Wasser gefüllten<br />
Kochtopf. Analog der Kochplatte ist hier<br />
die Sternoberfläche heiss und es kommt<br />
zu Turbulenzen in der umgebenden Materie,<br />
wie im Wasser, das zu kochen, zu sprudeln<br />
und sich umzuwälzen beginnt.<br />
Wie schnell können<br />
Neutronensterne werden?<br />
In den Abb. 8–9 ist ersichtlich, wie die<br />
Geschwindigkeit des Neutronensterns anwächst,<br />
sobald Neutrinos abgestrahlt werden<br />
(nach ca. 5ms). Die höchste Einfallsrate,<br />
mit der ich gerechnet habe, ist M =<br />
10 M ¤/s .<br />
Wie aus Abb. 8 (oben) ersichtlich ist, muss<br />
die Beschleunigung nicht gleichmässig erfolgen<br />
(unten), sondern es kann tatsächlich<br />
zu einem Kick kommen. Extrapoliert<br />
man diese Geschwindigkeiten zu höheren<br />
Zeiten, so wird klar, dass so Geschwindigkeiten<br />
von bis zu 2000 km/s erreicht<br />
werden können. Für kleinere Einfallsraten<br />
(Abb. 9) ist der ganze Beschleunigungsprozess<br />
etwas gemächlicher – es können<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
7
Abb. 9: Beschleunigungen mit verschiedenen<br />
Einfallsraten (1 M ¤/s; 0.1<br />
M ¤/s).<br />
jedoch immer noch Geschwindigkeiten<br />
von einigen hundert km/s produziert werden.<br />
In Abb. 9 sieht man ebenfalls, dass<br />
der Stern nicht nur beschleunigt, sondern<br />
auch kurz abgebremst wurde (schraffierte<br />
Fläche). Dies ist darauf zurückzuführen,<br />
dass Materie in der Bewegungsrichtung<br />
des Sterns auf diesen gefallen ist und ihn<br />
so kurzzeitig gebremst hat. Bei noch niedrigeren<br />
Einfallsraten (M < 0,1 M ¤/s) tritt<br />
eine so kleine Beschleunigung auf, dass<br />
die beobachteten Geschwindigkeiten der<br />
Neutronensterne nicht mehr erklärt werden<br />
können. Wie also aus den Abb. 8–9<br />
ersichtlich ist, hängt somit die erreichte<br />
Pulsargeschwindigkeit stark von der Einfallsrate<br />
ab.<br />
Zusammenfassung: Wie aus den Abb. 8<br />
bis 9 ersichtlich ist, kann dieser Prozess<br />
des asymmetrischen Einfalls durchaus<br />
verantwortlich sein für die enorm hohen<br />
Geschwindigkeiten der Neutronensterne.<br />
Probleme<br />
Wichtigster Faktor in diesen Berechnungen<br />
ist die Einfallsrate M, andere Parameter<br />
(und es sind deren viele!) beeinflussen<br />
die Beschleunigung des Neutronensterns<br />
in weit geringerem Masse. Leider ist die<br />
Einfallsrate jedoch nicht direkt beob-<br />
Beispiel<br />
Wenn also bei einer Einfallsrate von<br />
1 Sonnenmassen/Sek. für eine Dauer<br />
von 1 Sek. Materie auf den Stern<br />
(M = 1,4 M ¤) herunterfällt, wird dieser<br />
mehr als 2 Sonnen schwer und<br />
kollabiert somit zu einem Schwarzen<br />
Loch.<br />
1 M ¤/s x 1s = 1 M ¤<br />
1 M ¤ + 1,4 M ¤ = 2,4 M ¤ > 2 M ¤<br />
8 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
achtbar, und bis heute werden die meisten<br />
Computersimulationen aus Zeitgründen<br />
abgebrochen, bevor Material wieder<br />
auf den Stern zurückfällt. Es ist also äusserst<br />
unklar, ob solch hyperkritische Einfallsraten,<br />
wie ich sie benütze, um die<br />
Geschwindigkeiten in Abb. 8 und 9 zu erzeugen,<br />
überhaupt auftreten.<br />
Zudem kann auch das Problem der Bildung<br />
eines Schwarzen Loches auftreten:<br />
Ein Neutronenstern, der eine Masse von<br />
mehr als ~ 2 Sonnen besitzt, wird instabil<br />
und kollabiert zu einem Schwarzen Loch.<br />
Dies bedeutet wiederum, dass der Prozess<br />
des asymmetrischen Einfalls sehr kurzlebig<br />
ist und es deshalb fast unmöglich<br />
sein wird, ihn zu beobachten.<br />
Ausblick<br />
Als Nächstes müssen sicher weitere Vorläufersimulationen<br />
gemacht werden, um<br />
abzuklären, wie hoch die Einfallsrate (M)<br />
ist, wie gross die totale zurückfallende<br />
Masse (Mtot), und auch wie die Asymmetrie<br />
(α) genau aussieht. Mit diesen genaueren<br />
Ausgangsparametern können dann<br />
präzisere Simulationen durchgeführt<br />
werden, die von korrekten Anfangsbedingungen<br />
(Materieverteilung und -einfall)<br />
ausgehen. Auch unser Programm-Code<br />
könnte noch verbessert werden, indem wir<br />
unter anderem detailliertere Neutrinophysik<br />
einbauen würden, oder auch die Spe-<br />
Abb. 10: Raumkrümmung um ein Schwarzes<br />
Loch. Das bedeutet, dass wenn wir eine<br />
totale einfallende Masse Mtot [Einfallsrate<br />
x Zeitdauer des Einfalls = M x t = Mtot] haben,<br />
die grösser als ~ 0,5 Sonnenmassen<br />
ist, so wird der Neutronenstern zu einem<br />
Schwarzen Loch.<br />
zielle Relativitätstheorie berücksichtigen<br />
würden. (In manchen Simulationen haben<br />
wir überlichtschnelle Partikel – was leider<br />
keine physikalische Revolution, sondern<br />
schlichtwegs falsch ist.)<br />
Fazit<br />
Obwohl also an den Modellen und den Input-Parametern<br />
noch einiges zu verbessern<br />
ist, zeigen meine Berechnungen, dass<br />
asymmetrisch einfallende Materie und die<br />
daraus folgende asymmetrische Neutrinoabstrahlung<br />
durchaus für Neutronensterngeschwindigkeiten<br />
von über 1000 km/s<br />
verantwortlich sein können.<br />
Sarah Natalia Sägesser<br />
Lindenmattstrasse 42<br />
3065 Bolligen<br />
Literatur<br />
• LYNE A. G. AND LORIMER D. R. (1994) High Birth<br />
Velocities of Radio Pulsars. Nature 389, 127–129.<br />
• Meine Diplomarbeit kann gelesen werden /oder<br />
Fragen unter: suru@gmx.net<br />
Empfehlenswerte Zusammenfassungen sind:<br />
• http://arxiv.org/abs/astro-ph/9912522<br />
• http://www.livingreviews.org/Articles /....../<br />
Volume4/2001-51orimer/<br />
Nach einem Casino benannt<br />
Die wichtigsten Neutrinoemissionsreaktionen sind die sogennannten URCA-Prozesse.<br />
Noch heute trifft man in verschiedenen Papers auf die ausgefeiltesten Erklärung<br />
für diesen Namen. Tatsache ist: George Gamov nahm an einer Konferenz<br />
in Rio de Janeiro teil, als er diese Reaktionen berechnete, durch die der Neutronenstern<br />
in immensem Masse Energie verliert. Dazu spielte er jeden Abend in seinem<br />
Lieblingscasino und verlor dabei soviel und so schnell Geld wie der Neutronenstern<br />
seine Neutrinos: Und wie hiess das Casino? Ganz richtig: URCA!
«Nature» publiziert <strong>Bern</strong>er Klimastudie<br />
Erwärmung der Erde um 5 ºC<br />
so gut wie sicher<br />
Leben wir wie bisher mit hohem Erdölverbrauch weiter,<br />
wird sich die Erde bis 2100 um rund 5 ºC erwärmen, prognostiziert<br />
die neuste Klimastudie der <strong>Bern</strong>er <strong>Universität</strong>.<br />
Die wissenschaftliche Vorhersage beruht auf 25 000<br />
Berechnungen und wurde vom «Nature»-Magazin veröffentlicht.<br />
Mit einer umfangreichen Computersimulation<br />
gelang es Reto Knutti in seiner<br />
Doktorarbeit, die breitgefasste Meinung<br />
von 123 internationalen Klimaexperten<br />
stark einzuschränken. Anfangs 2001 hatten<br />
diese, von der UNO beauftragten Forscher<br />
der zwischenstaatlichen Sachverständigengruppe<br />
über Kilmaänderungen<br />
(IPCC) die Erwärmung der Erde in einem<br />
breiten Bereich von 1,4 bis 5,8 ºC bis<br />
ins Jahre 2100 vorausgesagt. Und mit ihren<br />
komplexen Klimamodellen ohne klare<br />
Gesamtaussage dabei jene bestärkt, die<br />
mit Massnahmen zuwarten wollen. «Eine<br />
enorme Komplexität verhindert klare Beweise»<br />
titelte beispielsweise die NZZ. Und<br />
Bush fühlte sich laut NZZ in seiner Klimapolitik<br />
bestätigt.<br />
«Mit 40% Wahrscheinlichkeit wird die Erwärmung<br />
im Jahre 2100 den vom IPCC<br />
gesetzten Bereich überschreiten, lediglich<br />
5 % Wahrscheinlichkeit besteht, dass<br />
der Bereich unterschritten wird.» Diese,<br />
im wissenschaftlichen Jargon abgefasste<br />
Hauptaussage der <strong>Bern</strong>er-Klimastudie<br />
tönt zwar nicht spektakulär, schafft jedoch<br />
die bisher vermissten klaren Beweise her-<br />
Mit Auszeichnung<br />
Die Arbeit «Erwärmung der Erde<br />
um 5 ˚C so gut wie sicher» von<br />
Christian <strong>Bern</strong>hart ist beim<br />
Forschungsreportagen-Wetbewerb<br />
2002 des <strong>Bern</strong>ischen Hochschulvereins<br />
mit dem 2. Preis ausgezeichnet<br />
worden. Die Preissumme<br />
beträgt Fr. 3000.–.<br />
bei. Klipp und klar gesagt, ist es durchaus<br />
möglich, dass die Erwärmung über 6 ºC<br />
liegt. «Wir peilen die Unsicherheit aus<br />
Modellen und Daten nicht mehr über den<br />
Daumen, sondern können diese Unsicherheiten<br />
explizit rechnen», sagt Reto Knutti<br />
zu seiner Doktorarbeit an der Forschungsabteilung<br />
Klima- und Umweltphysik am<br />
Physikalischen Institut der <strong>Universität</strong><br />
<strong>Bern</strong>, die vom Schweizerischen Nationalfonds<br />
finanziert wurde. Die Untersuchung<br />
wurde im Wissenschaftsmagazin<br />
«Nature» veröffentlicht und wird im Heft<br />
in ihrer Aussage von einer zweiten Studie<br />
gestützt. Zu beiden Studien der zynischironische<br />
Kommentar der Nature-Redaktion:<br />
«Die politischen Meinungsmacher<br />
sollten in ihren Vorschlägen die Möglichkeit<br />
eines sehr warmen Klimas nicht unberücksichtigt<br />
lassen».<br />
Die Methode, die Knutti für seine Berechnungen<br />
gewählt hatte, hielt 15 grössere<br />
Computer während Monaten in Trab. Das<br />
Team der <strong>Bern</strong>er Physiker liess nämlich<br />
25 000 Kombinationen durchrechnen, die<br />
ein am Institut entwickeltes Klimamodell<br />
lieferte. Darin waren Unsicherheiten über<br />
Treibhauskonzentrationen, Sonnenaktivität,<br />
Vulkan- und Schwefelemissionen sowie<br />
Wasserdurchmischung des Ozeans systematisch<br />
als Varianten enthalten (Abbildungen<br />
1 bis 3). Ausschlaggebend war<br />
aber, dass eine daraus errechnete Kombination<br />
sich einleuchtend mit den aufgezeichneten<br />
Klimadaten des 20. Jahrhunderts<br />
in Vergleich setzen liess. Knutti<br />
zu den 25 000 Berechnungen: «Nur jene,<br />
die in Bezug auf die beobachteten Daten<br />
stimmen, wurden in der Prognose berück-<br />
Abb. 1: Aktiver Vulkan Soufriere Hills auf<br />
Monserrat. (Bild: NASA)<br />
Abb. 2: Sichtbare Grenze zwischen wärmerem<br />
Golfstrom (unten) und kälteren, nördlicheren<br />
Strömungen vor der Küste Amerikas.<br />
(Bild: NASA)<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
9
Abb. 3: Unterschiedliche Farben des Wassers<br />
zeigen, wo Meeresströmungen verlaufen.<br />
Hier der warme Golfstrom im Nordatlantik<br />
(dunkler, unterer Teil). Auch die Luft<br />
über dem Wasser zeigt die Temperaturunterschiede<br />
an: über dem warmen Golfstrom<br />
klar, über den kälteren Wassern im<br />
Norden ist es neblig. (Bild: NASA)<br />
sichtigt.»<br />
Der rigorose Vergleich führte zu einer<br />
namhaften Korrektur der Annahmen des<br />
IPCC-Berichts vom letzten Jahr. Die von<br />
Menschenhand provozierte Abschirmung<br />
des Sonnenlichts durch die feinen Teilchen<br />
aus Abgasen, mit welchen sich die Luft<br />
sättigt, über Städten Dunstglocken bildet<br />
und sogar Wolken entstehen lässt, diese<br />
kühlende Wirkung wurde im IPCC-Bericht<br />
rund doppelt so hoch eingestuft, als<br />
nun die Berechnungen ergeben haben.<br />
Die grösste noch bestehende Unsicherheit<br />
liegt nun darin, ob die – in der Regel vom<br />
Volk gewählten – Politiker willens sind,<br />
der Erwärmung mit wirksamen Massnah-<br />
10 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
Globale Erwärmung (ºC)<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
0<br />
Messdaten Modellrechnungen<br />
-1<br />
1850 1900 1950 2000 2050 2100<br />
Jahr<br />
Abb. 4: Die Abbildung zeigt die gemessene globale Erwärmung der Erde (schwarz) über<br />
die vergangenen 140 Jahre mit den Unsicherheiten der Messdaten (grau schattiert) und<br />
die prognostizierte Erwärmung für zwei IPCC-Szenarien. Für das optimistische IPCC-Szenario<br />
B1 (grau schattiert) mit nachhaltiger Entwicklung, schnellem technologischen Fortschritt<br />
auch in Dritt-Weltländern wird eine Erwärmung von maximal 2,5 ºC berechnet.<br />
Für das Szenario A2 (rot schattiert), das von einer Weltentwicklung wie bisher ausgeht,<br />
liegt die maximal errechnete Erwärmung bei 4,5 ºC. (Grafik: Reto Knutti, Uni <strong>Bern</strong>)<br />
men einen Riegel zu schieben oder nicht.<br />
Hierzu haben Knutti und Kollegen ihre<br />
Daten nach zwei IPCC-Szenarien durchgerechnet<br />
(s. Abb. 4). Das Szenario B1 mit<br />
moderater Erwärmung im Bereich von 1,5<br />
bis 2,5 ºC nimmt an, dass umweltpolitisch<br />
das Steuer radikal herumgerissen wird<br />
und neue umweltfreundliche Techniken<br />
auch der Dritten Welt zugänglich sind, die<br />
armen Länder also aufholen und eine Welt<br />
mit einer nachhaltigen Wirtschaft und Bevölkerung<br />
entsteht. Szenario A2 mit einer<br />
Erwärmung im Bereich von 2,5 bis 4,5º C<br />
wiederspiegelt eine Welt, in der die Bevölkerung<br />
stetig wächst, die Industrieländer<br />
reicher werden und die Dritte Welt ärmer<br />
wird, also eine Welt in der heute bekann-<br />
A2<br />
B1<br />
ten Aufteilung. Die IPCC-Annahme, die<br />
einer Erwärmung von 5,8 ºC das Wort redet<br />
und auf eine starke Zunahme fossiler<br />
Energien abstellt, haben die 15 Computer<br />
am <strong>Bern</strong>er Institut nicht durchgerechnet.<br />
Die Resultate hierfür würden sicherlich<br />
für eine globale Erwärmung von weit<br />
über 6 ºC sprechen.<br />
Christian <strong>Bern</strong>hart<br />
Morgartenstrasse 21<br />
3000 <strong>Bern</strong> 22<br />
Der Beitrag «Erwärmung der Erde um 5˚C so gut<br />
wie sicher“ wurde erstmals in der «<strong>Bern</strong>er Zeitung»<br />
am 19.4.2002 auf Seite 2 publiziert.
Interview mit Thomas Stocker, Professor am Institut für Klima- und Umweltphysik<br />
«Wir müssen dort wohnen,<br />
wo wir auch arbeiten»<br />
Höherer Meeresspiegel, verheerende Stürme:<br />
Um Umweltkatastrophen entgegenzuwirken, fordert<br />
Thomas Stocker eine andere Mobilität.<br />
Prof. Thomas Stocker<br />
Wie viel wärmer wirds in rund hundert<br />
Jahren, wenn wir weiter wie bisher mit hohem<br />
Energieverbrauch leben?<br />
THOMAS STOCKER: Diese Annahme, die<br />
kaum falsch ist, führt dazu, dass es in den<br />
Tropen 3 bis 4 ºC wärmer wird. In den hohen<br />
Breitengraden, in Nordeuropa, Norwegen,<br />
Schweden sowie in Sibirien und Kanada,<br />
in den arktischen Bereichen kann es<br />
bis zu 12 ºC wärmer werden.<br />
In der von «Nature» veröffentlichten Studie<br />
haben Sie für das oben erwähnte Szenario<br />
den globalen Temperaturanstieg<br />
von bis zu 4,5 ºC als vorausgesagt.<br />
In unserer Studie machen wir Aussagen<br />
über eine global mittlere Temperatur. Das<br />
ist eine rechnerische Grösse, die so niemand<br />
erlebt. Die Erwärmung wickelt sich<br />
so ab, dass in den Tropen der Anstieg geringer<br />
ist. In den höheren Breitengraden<br />
jedoch, mit weniger Schnee und kürzeren<br />
Wintern, also mit einer positiven Rückkoppelung,<br />
können die Temperaturerhöhungen<br />
im Bereich von 7 bis 12 ºC liegen.<br />
Welche Folgen hat dieser drastische Temperaturanstieg?<br />
Wenn es global überall wärmer wird, erwärmt<br />
sich ebenso das Ozeanwasser. Das<br />
Wasser dehnt sich aus und es kommt zu einer<br />
Erhöhung des Meeresspiegels.<br />
« Heute gefrorene Gebiete in der<br />
Schweiz werden auftauen ».<br />
Wie hoch wird der Meeresspiegel steigen?<br />
Im schlimmsten Fall, also bei einer globalen<br />
Erwärmung von 5,8 ºC, schätzt man,<br />
dass der Meeresspiegel bis knapp einen<br />
Meter ansteigen wird.<br />
In knapp hundert Jahren müssen also die<br />
Holländer Amsterdam räumen.<br />
Die Holländer werden sich dieser Herausforderung<br />
stellen können und dank ihrer<br />
wirtschaftlichen Kraft mit Erhöhung und<br />
Verstärkung der Deiche das Problem lösen.<br />
Aber in Regionen wie Bangladesch oder<br />
den Malediven kann keine bestehende<br />
Infrastruktur ausgebaut werden. Ebenso<br />
reicht die wirtschaftliche Kraft kaum, um<br />
dem Problem wirksam zu begegnen. So<br />
haben bereits heute Bewohner des Inselstaates<br />
Tuvalu im Südpazifik ihre neun Inseln<br />
wegen Erhöhung des Meeresspiegels<br />
verlassen müssen.<br />
Was passiert in der Schweiz?<br />
Sicher wird sich die Schneebedeckung ändern.<br />
Die Gletscher gehen zurück. Heute<br />
gefrorene Gebiete, also Permafrost, werden<br />
auftauen. Die Vegetation wird sich<br />
verändern.<br />
Die Aussage Ihrer Studie widerspricht<br />
nicht jener, die bereits im Januar 2001<br />
vom Expertengremium der UNO gemacht<br />
wurde. Sie ist aber viel genauer und wohl<br />
der Grund für die prominent platzierte<br />
Veröffentlichung in «Nature»?<br />
Unsere Aussage basiert auf den ersten Simulationen,<br />
die alle heute bekannten physikalischen<br />
Unsicherheiten in einem konsistenten,<br />
in sich geschlossenen System berücksichtigt<br />
und in ein Klimamodell einbaut.<br />
Die Wahrscheinlichkeit der Erwär-<br />
Um das Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel zu fördern, muss die individuelle Mobilität<br />
verteuert werden. (Bild: BilderBox)<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
11
Noch unsicher ist die Auswirkung der Erwärmung auf die Wolkenbedeckung.<br />
mung haben wir auf dieser Grundlage<br />
erstmals in einer logischen Abfolge berechnet<br />
und im Gegensatz zu IPCC systematische<br />
Unsicherheiten für die Prognosen<br />
ermittelt.<br />
Eine hieb- und stichfeste Berechnung, für<br />
die Sie voll gerade stehen?<br />
Natürlich, sonst hätten wir die Studie nicht<br />
eingereicht. Es ist ja bekannt, dass «Nature»<br />
die Studien von Experten hart begutachten<br />
lässt. Von zehn eingereichten<br />
Studien wird weniger als eine publiziert.<br />
« Für den Wintersport in der<br />
Schweiz wird es schwierig »<br />
Auf was müssen sich bereits unsere Enkelkinder<br />
in 50 Jahren gefasst machen?<br />
Unsere Simulationen zeigen, dass die Temperatur<br />
bereits in den ersten Jahren stetig<br />
ansteigt und zwar ungeachtet, ob wir das<br />
ungehinderte Energiewachstum oder die<br />
Umkehr als Szenario wählen. Eine gewisse<br />
Trägheit ist der globalen Gesellschaft<br />
nämlich eigen, bis sie umsteigt und<br />
neue Technologien zur Verfügung stellt.<br />
Die grösste Unsicherheit in der Voraussage<br />
für die nächsten 20 Jahren ist die Frage,<br />
wie die Wolkenbedeckung auf die Erwärmung<br />
reagiert. Wird es wärmer, verdunstet<br />
mehr Wasser, das Wolken bildet. Gleichzeitig<br />
enthält eine wärmere Atmosphäre<br />
12 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
(Bild: BilderBox)<br />
mehr Wasserdampf, der nicht unbedingt<br />
in Wolken übergeht. Je nach dem, wo und<br />
welcher Art die Wolken sind, führt es zur<br />
Abkühlung oder Erwärmung. Es ist aber<br />
höchst unwahrscheinlich, dass die richtigen<br />
Typen von Wolken am gewünschten<br />
Ort die Erwärmung gerade ausgleichen.<br />
Davon bin ich fest überzeugt,<br />
Für gehäufte orkanartige Stürme ist ebenfalls<br />
die Erwärmung schuld?<br />
Solche Stürme brauchen eine minimale<br />
Wassertemperatur von etwa 27 ºC, um entstehen<br />
zu können. Solche Gebiete müssen<br />
notwendigerweise zunehmen, wenn sich<br />
der ganze Planet erwärmt. Und ihre Flächen<br />
werden grösser. Es ist wahrscheinlich,<br />
dass sich mehr Stürme dieser Art<br />
entwickeln.<br />
Grindelwald muss sich vom Schnee verabschieden?<br />
Man wird weniger Gletscher sehen. Im<br />
Winter gehört Grindelwald und Adelboden<br />
zur Zone, in der es für den Wintersport<br />
schwierig wird. Hart für die Bevölkerung,<br />
die sich in den letzten hundert Jahren auf<br />
die Einkünfte aus dem Wintersport eingestellt<br />
hat. Wenn es warm wird, ist es auch<br />
mit dem Kunstschnee vorbei.<br />
Ist die Erwärmung nur menschenbedingt?<br />
Die globale Erwärmung von 0,6 ºC von<br />
1900 bis heute ist nach heutiger Erkenntnis<br />
zu gut einem Drittel Mensch gemacht.<br />
Die Zeit von 1990 bis heute war eines der<br />
wärmsten Jahrzehnte. Der Mensch wird<br />
zu 90 % dran beteiligt sein, wenn die globale<br />
Erwärmung im Jahr 2100 bei etwa<br />
5 ºC liegt.<br />
Können wir die Erwärmung überhaupt<br />
noch stoppen oder ist es eh zu spät?<br />
Ich bin nicht überzeugt, dass es heute<br />
schon zu spät ist. Vor allem müssen wir<br />
den Pro-Kopf-Verbrauch von fossilen Energieträgern<br />
verringern. Davon verbrauchen<br />
die USA-Amerikaner bei gleich hohem<br />
Lebensstil dreimal mehr pro Kopf<br />
als die Europäer. Wir in Europa benützen<br />
mehr das Tram, den Zug oder das Velo.<br />
Die industriellen Länder müssen den<br />
Pro-Kopf-Anteil ausgleichen und dann<br />
schliesslich massiv herunterfahren.<br />
Wissenschafter warnen schon seit Jahren.<br />
Welche Taten müssen endlich den vielen<br />
Worten folgen?<br />
Ein 3-Liter-Auto, das die ganze Familie<br />
befördert, wäre ein Fortschritt, genügt<br />
aber nicht. Wir brauchen eine andere Mobilität,<br />
müssen noch mehr auf öffentliche<br />
Verkehrsmittel umsteigen, dezentralisierter<br />
arbeiten, um den Arbeitsweg zu verkürzen.<br />
Wir müssen dort wohnen, wo wir<br />
auch arbeiten. Und wir werden nicht darum<br />
kommen, die Mobilität zu verteuern.<br />
« Wir haben es in der Hand, diese<br />
Entwicklung zu stoppen »<br />
Was wird die Menschen zur Vernunft bringen?<br />
Ich glaube, es braucht Zeit. Sicher jedoch<br />
weniger als hundert Jahre, denn die Anzeichen<br />
von Katastrophen häufen sich. Der<br />
Meeresspiegel steigt an, die Sturm- und<br />
Katastrophenereignisse, die auch in Zukunft<br />
nicht mehr versichert werden können,<br />
nehmen zu. Wir haben es aber in der<br />
Hand, diese Entwicklung zu stoppen.<br />
Christian <strong>Bern</strong>hart
Ein Killer-Asteroid würde die Erde mit einem Schlag k.o. boxen<br />
Kosmische Killer<br />
Astrophysiker sind sich einig: Ein Riesen-Asteroid wird die<br />
Erde verwüsten. Die Frage ist nur, wann: in einer Million<br />
Jahren oder in einem halben Jahr?<br />
Die Erde lebt riskant. Vor wenigen Monaten<br />
entging unser Planet einer Katastrophe.<br />
Am Montag, dem 7. Januar 2002, flog der<br />
Asteroid «2001YB5», ein 300 Meter dicker<br />
Brocken aus Eisen und Fels, in zweifachem<br />
Mondabstand an unserem Planeten<br />
vorbei. Für uns Laien ist dieser Abstand<br />
sehr gross, für Astronomen aufregend<br />
klein. «Nehmen wir an, unser Kopf wäre<br />
die Erde, und eine Gewehrkugel flöge<br />
zehn Meter daran vorbei. Dann würden<br />
wir uns besorgt fragen, ob nicht mal ein<br />
Schuss uns treffen kann», sagt Thomas Luder,<br />
Astrophysiker am Physikalischen Institut<br />
der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong>. Gut möglich,<br />
dass eines Tages ein kosmisches Geschoss,<br />
ein Asteroid, so mächtig wie der Säntis,<br />
mit über 36 000 Stundenkilometern auf<br />
der Erde einschlägt. «Dass in der Zukunft<br />
ein Riesen-Asteroid die Erde treffen wird,<br />
ist gewiss», sagt der 28-jährige Thomas<br />
Luder. «Wir wissen nur nicht, wann. Ob<br />
in einem halben Jahr oder in hundert Millionen<br />
Jahren.»<br />
Himmlische Glühwürmchen<br />
Jede Nacht können wir Sternschnuppen<br />
beobachten, Leuchtspuren von Meteoren.<br />
Ob klein wie ein Sandkorn oder wie ein<br />
Kieselstein, sie rasen in die Atmosphäre<br />
und verglühen im Nu. Während bestimmten<br />
Nächten lässt sich der Tanz der himmlischen<br />
Glühwürmchen besonders gut beobachten.<br />
Dann nämlich, wenn die Erdbahn<br />
die so genannten Meteorströme kreuzt: am<br />
12. August die Perseiden, am 17. November<br />
die Leoniden, am 13. Dezember die<br />
Geminiden. Einige dieser Meteoriten verglühen<br />
nicht vollständig in der Lufthülle,<br />
sondern prasseln auf das Meer oder auf<br />
die Erdoberfläche. Wissenschafter schätzen<br />
die Zahl der Meteoriten, die sich jährlich<br />
bis zum Erdboden durchschlagen, auf<br />
etwa 300 000. «Erst ab einem Durchmesser<br />
von 50 Metern können Asteroiden auf<br />
der Erde Schaden anrichten», beruhigt Luder.<br />
Ab einer Grösse von einem Kilometer<br />
sprechen die Astronomen von «Killer-Asteroiden»,<br />
weil der Einschlag eines solchen<br />
Alter Bekannter: Dieser Asteroid, der einem Hundeknochen ähnelt, wurde bereits im Jahr<br />
1880 entdeckt. (Bild: NASA)<br />
Brockens die Erde verwüsten könnte.<br />
Nach statistischen Berechnungen kommt<br />
es durchschnittlich alle 500 000 Jahre einmal<br />
zu einer Kollision der Erde mit einem<br />
Asteroiden dieses Formats. Thomas Luder<br />
hat vor kurzem am Physikalischen Institut<br />
der Uni <strong>Bern</strong> seine Doktorarbeit abgeschlossen.<br />
Er untersuchte, wie sich Asteroiden-<br />
und Kometeneinschläge auf das<br />
Weltklima auswirken würden. Nach einer<br />
Faustregel verursacht ein Asteroid einen<br />
Krater, der ungefähr zwanzigmal grösser<br />
ist als er selbst. Der Besucher von Anfang<br />
Jahr, Asteroid «2001 YB5», hätte Zürich<br />
samt den angrenzenden Gemeinden ausgelöscht,<br />
wäre er in der City niedergegangen.<br />
Ausserdem wären grosse Teile der<br />
Schweiz durch die Druckwelle verwüstet<br />
worden.<br />
Horror beginnt<br />
vor dem Aufprall<br />
Schon vor dem Aufprall beginnt der Horror.<br />
«Ein Asteroid muss vor dem Aufprall<br />
die Atmosphäre verdrängen», sagt Thomas<br />
Luder. «An seiner Stirnseite entstehen<br />
ein gewaltiger Druck und eine höllische<br />
Hitze, an seiner Rückseite hingegen<br />
kurzfristig ein Leerraum, der die Luft ansaugt<br />
und damit heftige Stürme auslöst.»<br />
Im Jahr 1908 raste ein Asteroid oder vielleicht<br />
auch ein Kometenkern auf unseren<br />
Planeten zu, zwischen 50 und 100 Meter<br />
gross. Bevor er die Erdoberfläche erreichte,<br />
explodierte er einige Kilometer<br />
hoch über Tunguska in Ostsibirien. Es entstand<br />
kein Krater, aber auf einer Fläche so<br />
gross wie die Kantone <strong>Bern</strong> und Freiburg<br />
wurden die Wälder geknickt und in Brand<br />
gesetzt. Die ganze Energie des rasenden<br />
Geschosses entlädt sich im Bruchteil ei-<br />
Mit Auszeichnung<br />
Die Arbeit «Kosmische Killer» von<br />
Fritz P. Schaller ist beim Forschungsreportagen-Wettbewerb<br />
2002 des <strong>Bern</strong>ischen Hochschulvereins<br />
mit dem 3. Preis ausgezeichnet<br />
worden. Die Preissumme<br />
beträgt Fr. 2000.–.<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
13
ner Sekunde, wenn der Asteroid mit etwa<br />
50 000 Stundenkilometern auf dem Erdboden<br />
oder dem Meer einschlägt. «Schon<br />
ein relativ kleiner, zehn Meter grosser Asteroid<br />
explodiert mit der Wucht einer Hiroshima-Bombe»,<br />
sagt Thomas Luder.<br />
Über der japanischen Stadt Hiroshima haben<br />
die USA im Jahr 1945 ihre erste Atombombe<br />
gezündet. Sie tötete 200 000 Menschen<br />
und verwundete weitere 100 000.<br />
Die Explosion eines Asteroiden bewirkt<br />
allerdings im Unterschied zur Atombombe<br />
keine radioaktive Strahlung.<br />
Riesenwellen verwüsten Küsten<br />
Der Asteroid und die Erdkruste der Umgebung<br />
verflüssigen sich beim Aufprall.<br />
Ein Killer-Asteroid von einem Kilometer<br />
und grösser wirbelt Millionen Tonnen<br />
Staub in die Atmosphäre. Dieser verteilt<br />
sich weltweit. Wälder und Steppen<br />
brennen, Stickoxide und Schwefelgase<br />
werden freigesetzt. Die Russ- und Staubwolke<br />
hält das Sonnenlicht von der Erde<br />
ab. Darunter wird es kalt. Wochen- und<br />
monatelang. Trifft ein Killer-Asteroid hingegen<br />
ins Meer, dann löst er Riesenwellen<br />
aus, so genannte Tsunamis, die sich<br />
über Zehntausende von Kilometern ausbreiten<br />
und alle Küstenstriche verwüsten.<br />
Die Erde wird vom Killer-Asteroiden so-<br />
14 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
Wie man die Killerbrocken bekämpfen will<br />
Die Abwehr von Asteroiden arbeitet mit teils fantastischen Szenarien. Diese bestehen<br />
aber erst auf dem Papier. Die meisten Fachleute empfehlen, die kosmischen<br />
Geschosse auf ungefährliche Bahnen abzudrängen. Sie zu sprengen, wäre zu<br />
gefährlich, weil die Trümmerteile nicht zu kontrollieren wären. In jedem Fall müsste<br />
die Gefahr frühzeitig erkannt sein, damit die nötigen Berechnungen und Vorbereitungen<br />
getroffen werden könnten.<br />
Atombombe<br />
Gezündet in Asteroidnähe, könnte eine Atombombe die nötige Energie liefern.<br />
Problematisch wären die vorsorgliche Lagerung von Atombomben im All und die<br />
politische Kontrolle des gefährlichen Arsenals.<br />
Riesiger Sonnenspiegel<br />
Ein solcher auf der Erde platzierter, viele Quadratkilometer grosser Spiegel würde<br />
die Oberfläche des Asteroiden anschmelzen und damit einen Rückstoss erzeugen,<br />
der ihn aus der Bahn schleudert. Die Operation wäre heikel, da man einen<br />
knapp an der Erde vorbeifliegenden Asteroiden in das Gravitationsfeld steuern<br />
könnte.<br />
Raketenmotor oder Laserantrieb<br />
Angedockt an den Asteroiden, würde ein solcher Antrieb den Kurs des Asteroiden<br />
verändern. Die Operation wäre technisch höchst aufwändig und würde<br />
viel Zeit beanspruchen.<br />
zusagen mit einem einzigen Schlag k.o. geboxt.<br />
Danach erholt sie sich aber wieder.<br />
Was überlebt hat, organisiert sich neu. Der<br />
Blaue Planet, der aus der Ferne des Welt-<br />
Bombardement aus den Tiefen des Alls<br />
Tausende von Hochgeschwindigkeitsgeschossen aus dem Weltraum treffen den<br />
Planeten Erde. Die meisten verglühen in der Atmosphäre.<br />
Kometen<br />
Riesige tiefgefrorene Brocken aus Eis, Gas, Stein und Staub. Es sind Irrläufer aus<br />
der Oortschen Wolke, einem solaren Urnebel in der Tiefe des Sonnensystems.<br />
Ihren sagenhaften Schweif erhalten die Kometen, wenn sie in Sonnennähe geraten<br />
und dabei angestrahlt und erwärmt werden.<br />
Meteoriten<br />
Etwa faustgrosse kosmische Eisenstücke. Sie verglühen bei Eintritt in die Atmosphäre.<br />
Gelegentlich erreichen Meteoriten den Erdboden. Einzelne werden auch<br />
gefunden.<br />
Asteroiden<br />
Brocken aus Fels und Eisen aus der Jugendzeit des Sonnensystems, entstanden<br />
vor etwa 4,6 Milliarden Jahren. Die grosse Mehrheit kreist im Asteroidengürtel<br />
zwischen den Planeten Mars und Jupiter.<br />
Weltraumschrott<br />
Überreste von Objekten, die von Menschen in den Weltraum befördert wurden.<br />
Raketenteile, tote Satelliten, Schrott von Weltraum-Spaziergängen. Beispielsweise<br />
stürzten die Überreste der russischen Raumstation Mir am 23. März 2001 in<br />
den Südpazifik ab.<br />
alls so lieblich aussieht, könnte ohne weiteres<br />
ein von Kratern vernarbtes Gesicht<br />
aufweisen wie der Mond. Einzig die Atmosphäre<br />
bewirkt, dass die meisten Asteroiden<br />
verglühen oder explodieren, bevor<br />
sie einschlagen. Zudem verwischen Erosion<br />
und geologische Vorgänge die Spuren<br />
der grösseren Einschläge. Bislang sind<br />
etwa 150 irdische Einschlagstellen ausgemacht.<br />
Die grösste bekannte Katastrophe<br />
ereignete sich vor 65 Millionen Jahren bei<br />
der Halbinsel Yukatan, Mexiko. Der As-<br />
Scharf beobachtet: Eine unbemannte Raumsonde<br />
umfliegt den Asteroiden Braille (Modell).<br />
(Bild: NASA)
teroid mass schätzungsweise fünfzehn Kilometer.<br />
Vieles spricht dafür, dass dieser<br />
Einschlag die Herrschaft der Dinosaurier<br />
ausgelöscht und damit den Weg bereitet<br />
hat für die Weltmacht der Säugetiere, die<br />
sich von da an ungehemmt entwickelten.<br />
Vor 15 Millionen Jahren schlug ein Asteroid<br />
in unserer Nähe ein, in der Schwäbischen<br />
Alb. Beim Anflug zerbrach er in<br />
zwei Teile, die zwei Krater von 24 und<br />
von 4 Kilometer Durchmesser aushoben:<br />
heute das landschaftlich hübsche Nördlinger<br />
Ries und das Steinheimer Becken.<br />
Solche Krater sind oft nur mühsam auszumachen,<br />
weil Erosion, Vegetation und Jahreszeiten<br />
die Narben im Lauf von Jahrmillionen<br />
verwischten.<br />
Die Asteroiden sind Überreste aus der Zeit,<br />
als vor 4,6 Milliarden Jahren das Sonnensystem<br />
entstand. Unser Zentralgestirn war<br />
damals von einer riesigen Gas- und Staubwolke<br />
umgeben. Das kosmische Gemisch<br />
verdichtete sich zu neun Planeten. Aber<br />
nicht restlos. Die Restmaterie des Sonnensystems<br />
fliegt als Asteroidenbrocken<br />
auf einer Bahn zwischen Mars und Jupiter,<br />
etwa 600 Millionen Kilometer von<br />
uns entfernt. Nach Beobachtungen des<br />
Programms «Sloan Digital Sky Survey»<br />
gibt es in diesem Gürtel 700 000 Asteroiden<br />
von Killergrösse. Vermutlich ist aber<br />
erst die Hälfte derer bekannt, die sich der<br />
Erde nähern.<br />
Zurzeit keine Kollisionsgefahr<br />
Irrläufer davon pfeifen auch uns um die<br />
Ohren. Vor allem in Amerika erspähen<br />
Teleskope und digitale Kameras erdnahe<br />
Asteroiden und Kometen. Computer berechnen<br />
ihre Bahnen. Die offizielle Registrierstelle<br />
für Asteroiden und Kometen,<br />
das Minor Planet Center im amerikanischen<br />
Cambridge, hat bis vergangenen Januar<br />
1737 erdnahe Asteroiden und 44 Kometen<br />
verzeichnet. 513 davon haben einen<br />
Durchmesser von wenigstens einem Kilometer.<br />
Die Forscher versichern: Keiner<br />
der erdnahen Objekte befindet sich zurzeit<br />
auf Kollisionskurs zur Erde. Der erdnahe<br />
Asteroid Eros gilt als der Superstar<br />
der Astronomen. Er sieht aus wie eine fliegende<br />
Kartoffel und ist doch ein Brocken<br />
mächtig wie der Säntis, 33,6 Kilometer<br />
lang und 12,8 Kilometer breit. Seine bisher<br />
grösste Nähe zu unserem Planeten erreichte<br />
er 1975: 22 Millionen Kilometer.<br />
Keiner ist so genau vermessen, fotografiert<br />
und erforscht wie Eros. Ein Jahr lang<br />
umkreiste die Raumsonde Near Shoema-<br />
ker ihren Eros und schoss 200 000 Bilder.<br />
Darauf, am 12. Februar 2001, landete die<br />
Sonde auf dem Asteroiden und sendet weiter<br />
Daten zur Erde. Die Bewunderung für<br />
Superstar Eros könnte in Schrecken umschlagen,<br />
würde der «Säntis» auf Kollisionskurs<br />
zur Erde geraten. Er besitzt die<br />
doppelte Masse jenes Asteroiden, der vor<br />
65 Millionen Jahren das Leben auf der<br />
Erde umkrempelte. «Angenommen, wir<br />
wüssten, in fünf Jahren droht die Kollision<br />
eines Killer-Asteroiden mit der Erde.<br />
Dies würde Panik und Chaos in unserer<br />
Gesellschaft auslösen», befürchtet Thomas<br />
Luder. «Ein Trost, dass es nicht häufig<br />
passiert.» Der Blick zurück auf Jahrmillionen<br />
Erdgeschichte lehrt überdies:<br />
Selbst der grösste Asteroid könnte die<br />
Erde nicht aus ihrer Bahn um die Sonne<br />
kippen. Kein Asteroid kann das Leben total<br />
auslöschen. Das kann nur der Mensch<br />
mit seinem nuklearen Arsenal.<br />
Fritz P. Schaller<br />
Wiesenstrasse 10<br />
8700 Küsnacht<br />
Der Beitrag «Kosmische Killer» wurde erstmals in<br />
der «SCHWEIZER FAMILIE» im Juni 2002 auf<br />
Seite 22 ff publiziert.<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
15
Wenn Zecken<br />
heisse Köpfe machen<br />
Przewalskipferde, auf mongolisch Takhi, werden seit<br />
über zehn Jahren in der Mongolei ausgewildert. Piroplasmen,<br />
Blutparasiten, führen jedoch zu erhöhter Sterblichkeit<br />
bei den Pferden und gefährden das Projekt. Seit 2001<br />
erforscht ein junger Tierarzt des Institutes für Tierpathologie<br />
der Uni <strong>Bern</strong> die Zusammenhänge zwischen Pferden, den<br />
übertragenden Zecken und den Krankheitserregern.<br />
Urumtschi<br />
Jimsar<br />
Gobi B<br />
Tachin-Tal<br />
Gobi A<br />
Verbreitungsgebiet um 1890<br />
Naturschutzgebiet<br />
Zuchtstation<br />
«Mit nassen Schuhen stehe ich knietief im<br />
sulzigen Schnee und schaufle die weissen<br />
Massen auf die Seite. Wir stecken in<br />
der Mitte einer Hochebene im Altaj-Gebirge,<br />
an deren südlichen Ende unsere Forschungsstation<br />
sein soll. Bevor wir sie erreichen,<br />
werden wir uns allerdings noch<br />
weitere 30 Stunden mühsam mit unseren<br />
vier russischen Jeeps durch den mongolischen<br />
Schnee wühlen. Bis hierher wa-<br />
Mit Auszeichnung<br />
Hustain Nuruu<br />
Die Arbeit «Wenn Zecken heisse<br />
Köpfe machen» von Simon Rüegg<br />
ist beim Forschungsreportagen-Wettbewerb<br />
2002 des <strong>Bern</strong>ischen Hochschulvereins<br />
mit dem 3. Preis ausgezeichnet<br />
worden. Die Preissumme<br />
beträgt Fr. 2000.–.<br />
16 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
Ulan Bator<br />
MONGOLEI<br />
Wuwei<br />
Lanzhou<br />
RUSSLAND<br />
CHINA<br />
ren wir schon zwei Tage unterwegs mit<br />
dem Flugzeug nach Peking, von dort nach<br />
Ulaanbaatar und von dort mit einem Propellerflugzeug<br />
in die Wüste Gobi nach Altai.<br />
Dass die Wüste im Winter schneebedeckt<br />
ist, hatte ich zwar gelesen, aber es ist<br />
trotzdem ein überraschendes Bild, diese<br />
Steinlandschaft mit einer weissen Decke<br />
zu sehen. – Hier werde ich also das<br />
nächste halbe Jahr verbringen und Pferdeblut<br />
und Zecken sammeln.» So beginnt das<br />
Tagebuch von Simon Rüegg, einem Doktoranden<br />
des Zentrums für Fisch- und Wildtiermedizin<br />
am Institut für Tierpathologie<br />
in <strong>Bern</strong>. Seinen Auftrag hat er von Dr.<br />
Chris Walzer, dem Tierarzt des Zoo Salzburg.<br />
Er ist verantwortlich für die wissenschaftliche<br />
Betreuung bei der Auswilderung<br />
von Przewalskipferden in der Mongolei,<br />
und der Jubiläumsfond der Österreichischen<br />
Nationalbank finanziert dabei<br />
die Forschung.<br />
Takhi, 1877 entdeckt und<br />
1965 ausgestorben<br />
Przewalskipferde wurden Ende des 19. Jahrhunderts<br />
vom gleichnamigen russischen<br />
Expeditionsleiter entdeckt. Allerdings<br />
wusste er um seine Entdeckung nicht und<br />
brachte das Fell und den Schädel eines<br />
solchen Pferdes als Jagdtrophäe aus der<br />
Dschungarei (Westen der Mongolei) nach<br />
St. Petersburg zurück. Erst fünf Jahre später<br />
stellte Iwan Semjonowitsch Poljakow<br />
fest, dass es sich um die Überreste «eines<br />
ausserordentlich interessanten Tieres<br />
handelt, welches der Wissenschaft bis dahin<br />
nicht bekannt war» und veröffentlichte<br />
seine Beobachtungen. Zu Ehren des grossen<br />
Forschungsreisenden benannte er das<br />
Urwildpferd Equus przewalskii, Przewalskipferd.<br />
Kaum 90 Jahre nach seiner Entdeckung,<br />
1965, war das Pferd in freier Wildbahn<br />
ausgestorben.<br />
Wenige Exemplare überlebten in Gefangenschaft,<br />
in Zoos oder privaten Haltungen.<br />
Einige begeisterte Pferdenarren setzten<br />
sich daraufhin zusammen und planten<br />
die Auswilderung ihrer Schützlinge. Mit<br />
Hilfe der mongolischen Regierung wurden<br />
dann 1990 die ersten Przewalskipferde<br />
(mongolisch Takhi, sprich «Tachi»)<br />
nach Takhin Tal im Südwesten der Mongolei<br />
gebracht. Der Erfolg liess jedoch auf<br />
sich warten. Die Tiere waren krank, hatten<br />
Parasiten und wollten sich nicht richtig<br />
vermehren. 1999 wurde die «International<br />
Takhi Group» (ITG) gegründet<br />
(siehe Kasten «Die International Takhi<br />
Group» Seite 19). Diese internationale<br />
Stiftung, der neben den Initianten, Zoovertreter,<br />
Tierärzte und andere Fachpersonen<br />
angehören, führt seither das Projekt.<br />
Im Rahmen der medizinischen Betreuung<br />
der Pferde konzentriert sich Dr. Chris Walzer<br />
neben der direkten, kurativen Behandlung<br />
seiner Schützlinge hauptsächlich auf<br />
die Prävention. Tiere in freier Wildbahn<br />
lassen sich nicht behandeln, und meist ist<br />
das einzige, was sich feststellen lässt, der<br />
Tod. Diese Todesfälle werden nun alle<br />
vor Ort systematisch untersucht und Pro-
36 Stunden dauerte die Fahrt<br />
über die Hochebenen des Altai-<br />
Gebirges bis, wir das Forschungscamp<br />
am Rande des Nationalparks<br />
erreichten. Der sulzige<br />
Schnee lag so hoch, dass die<br />
Fahrzeuge immer wieder freigeschaufelt<br />
werden mussten.<br />
ben aller Organe nach <strong>Bern</strong> ins Institut für<br />
Tierpathologie geschickt. Dort übernimmt<br />
Dr. Nadia Robert im Zentrum für Fisch-<br />
und Wildtiermedizin die Anfertigung der<br />
histologischen Schnitte und versucht, unter<br />
Berücksichtigung der Befunde im Feld,<br />
die Todesursache festzustellen. Dank dieser<br />
Untersuchungen hat sich herausgestellt,<br />
dass wahrscheinlich Blutparasiten,<br />
Piroplasmen genannt, für eine erhöhte<br />
Mortalität und die schlechte Entwicklung<br />
der Pferdepopulation verantwortlich<br />
sind (siehe Kasten «Piroplasmen»). Um<br />
der Sache weiter auf den Grund zu gehen,<br />
wurde der frischgebackene Tierarzt Simon<br />
Rüegg im Rahmen seiner Doktorarbeit in<br />
die Wüste Gobi geschickt. Das Ziel seines<br />
Projektes war es, herauszufinden, woher<br />
diese Parasiten kommen, wer sie überträgt<br />
und wie häufig sie vorkommen.<br />
Die Blutentnahmen bei den<br />
Hauspferden waren jedes<br />
Mal ein soziales Ereignis.<br />
Die Nomaden kamen von<br />
weit her, um die Gelegenheit<br />
zu nutzen und ihre Verwandten<br />
und Bekannten zu<br />
besuchen.<br />
Piroplasmen, Erreger des Pferdefiebers<br />
Piroplasmen sind einzellige Parasiten, die die roten Blutkörperchen befallen. Sie<br />
vermehren sich in diesen und verursachen dadurch Blutarmut und Fieber. Übertragen<br />
werden sie von Zecken. Diese infizieren sich mit den Einzellern, während<br />
sie auf einem Pferd ihre Blutmahlzeit einnehmen. Die Piroplasmen vermehren<br />
sich dann im Darmgewebe der Zecken und befallen von dort die Speicheldrüsen<br />
und Eierstöcke. Mit dem Speichel werden sie bei der nächsten Blutmahlzeit<br />
in das nächste Pferd injiziert, wo sich der Kreislauf in den roten Blutkörperchen<br />
wieder schliesst.<br />
Die nächsten Verwandten der Piroplasmen sind Plasmodien, die Erreger der Malaria<br />
des Menschen. Piroplasmen sind allerdings artenspezifisch, das heisst, dass<br />
an Pferdepiroplasmen nur Pferdeartige erkranken. In der Regel haben die Tiere<br />
dabei leichtes Fieber und sind vor allem müde. Unter Stressbedingungen und bei<br />
Erschöpfung kann die Krankheit allerdings zum Tod führen. Durch ihre Auswilderung<br />
in der Mongolei sind die Przewalskipferde stark gestresst, was dazu führt,<br />
dass viele Verluste durch diese Krankheit verursacht werden, obwohl es eigentlich<br />
keine tödliche Krankheit ist.<br />
Hauspferde infizieren Takhi<br />
In der Mongolei werden Tiere völlig frei<br />
gehalten. Es gibt keinen Grundbesitz und<br />
deshalb können die nomadischen Hirten<br />
ihre Tiere überall weiden lassen. Das führt<br />
dazu, dass auch in dem Gebiet, wo die<br />
Takhi ausgewildert werden, Hauspferde<br />
vorkommen. Wegen der nahen Verwandtschaft<br />
der beiden Tierarten sind Takhi für<br />
die Krankheiten der Hauspferde empfänglich.<br />
Weil die Takhi neu im Gebiet sind,<br />
wesentlich schwieriger einzufangen sind<br />
und es ausserdem erst wenige davon gibt,<br />
richtete sich das Augenmerk des Projektes<br />
hauptsächlich auf die Hauspferde. Einer<br />
repräsentativen Anzahl wurde Blut entnommen,<br />
um Antikörper gegen Piroplasmen<br />
nachzuweisen. Zudem wurden Zecken<br />
von den Pferden gesammelt, um ihre<br />
Art und die Befallsaison zu bestimmen sowie<br />
die Piroplasmen in deren Speicheldrüsen<br />
nachzuweisen.<br />
Kultur und Forschung<br />
Die kulturellen Bedingungen machten das<br />
Projekt zu logistischer Schwerstarbeit. Nomaden,<br />
wie es der Name schon sagt, sind<br />
nämlich stets auf Wanderschaft. Selbst<br />
wenn mongolische Hirten nur vier bis<br />
sechs Mal jährlich ihren Standort ändern,<br />
muss man in der Bevölkerung völlig integriert<br />
sein, um zu wissen, wer wann wo<br />
ist. Dank der Hilfe mongolischer Mitarbeiter<br />
war es möglich, Termine mit den Hirten<br />
auszuhandeln, an denen sie ihre Pferde<br />
bei ihrer Jurte haben würden. «Meistens<br />
fuhren Tumur und ich früh morgens mit<br />
unserem Geländebus los. Alle Nomaden<br />
aus der Region wussten, wohin ich fuhr.<br />
Viele hatten mit Tumur dann abgemacht,<br />
dass sie mit uns mitfahren würden. Bevor<br />
wir also in unsere endgültige Fahrtrichtung<br />
losfuhren, klapperten wir einige<br />
Jurten der Region ab. Ich war jedes Mal<br />
erstaunt, wie viele Personen in so ein Fahrzeug<br />
passten. Rekord war eine ganze Jurte<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
17
mit zwölf weiteren Passagieren und zwei<br />
Schafen», berichtet der junge Forscher.<br />
«Wie bei jedem Besuch in der Mongolei,<br />
wurde dann als erstes gesalzener Tee in<br />
der Jurte des Gastgebers getrunken. In der<br />
Regel war nur die Frau des Hauses mit ihren<br />
Kindern da. Der Mann war unterwegs,<br />
um seine Pferde einzutreiben. Wenn ich<br />
Glück hatte, kam die Pferdeherde innerhalb<br />
der nächsten zwei Stunden, wenn ich<br />
Pech hatte, musste ich am nächsten Tag<br />
wiederkommen. Es gab Tage, an denen ich<br />
ausschliesslich in Jurten sass, wartete und<br />
Tee trank.»<br />
Um eine aussagekräftige Studie zu machen,<br />
musste er jeweils der Hälfte jeder<br />
Herde Blut nehmen. Jedes Pferd, dem<br />
Blut aus der Halsvene entnommen wurde,<br />
wurde mit dem Lasso eingefangen, auf den<br />
Boden geworfen und gefesselt. Das Blut<br />
wurde in Röhrchen mit Gerinnungshemmer<br />
gegeben. Damit wurde ein Blutausstrich<br />
auf einer kleinen Glasscheibe gemacht,<br />
die, nach einer Färbung, unter dem<br />
Mikroskop auf Parasiten abgesucht wurde.<br />
Der Rest des Blutes wurde über Nacht stehen<br />
gelassen, damit sich die roten Blutkörperchen<br />
setzten. Der Überstand, das<br />
Plasma, wurde dann abpipettiert und bei<br />
–10 °C in einer Camping-Tiefkühltruhe<br />
eingefroren. Von kulturellen Missverständnissen,<br />
die selbst hierbei bedeutende<br />
Steine in den Weg legten, weiss er<br />
ein Liedchen zu singen: «Eines Morgens<br />
wollte ich weitere Proben in den Tiefkühler<br />
geben, und musste feststellen, dass<br />
alles aufgetaut war. Die mongolischen Mitarbeiter<br />
hatten wegen der sommerlichen<br />
Temperaturen ihr ganzes Fleisch und ihre<br />
Milch darin gelagert. Da es nur eine kleine<br />
Truhe ist, ist natürlich alles aufgetaut. Für<br />
die Qualität der Proben ist es jedoch wichtig,<br />
dass sie nicht auftauen. Dementsprechend<br />
sauer war ich. Aber mein Unmut<br />
stiess auf völliges Unverständnis.»<br />
Nichtsdestotrotz brachte er im September<br />
250 Proben nach Österreich und reiste damit<br />
etwas später für weitere Untersuchungen<br />
nach Hildesheim in Deutschland. Dort<br />
führte er im Labor Dr. Böse, einem Referenzlabor<br />
für Pferdekrankheiten, einen sogenannten<br />
Immunfluoreszenz-Antikörper-<br />
Test (IFAT) durch, um Antikörper gegen<br />
Piroplasmen nachzuweisen. Dazu benötigte<br />
er Reagenzien und Infrastruktur, die<br />
ihm vom Labor grosszügigerweise zur<br />
18 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
Verfügung gestellt wurden. Die Artenbestimmung<br />
der Zecken machte er in <strong>Bern</strong>.<br />
Allerdings hat er sich dafür aus Neuenburg,<br />
der Hochburg der Zecken-Forschung, die<br />
entsprechenden Übersetzungen der russischen<br />
Literatur besorgt.<br />
Statistik,<br />
ein Werkzeug der Medizin<br />
Nachdem diese elementaren Untersuchungen<br />
beendet waren, ging es an die Auswertung<br />
der Resultate. Auch wenn die<br />
Statistik so manchem ein Buch mit sieben<br />
Siegeln darstellt, ist sie von grosser Wichtigkeit<br />
für die Interpretation solcher Ergebnisse.<br />
Im Falle der Piroplasmose bei Przewalskipferden<br />
stellte sich vor allem die<br />
Frage nach dem Zeitpunkt der ersten Infektion.<br />
Zu ihrer Beantwortung wurden<br />
verschiedene Alterskategorien gebildet<br />
und untereinander verglichen. Um nun<br />
zu entscheiden, ob ein Unterschied zwischen<br />
zwei Gruppen aus Zufall entstanden<br />
ist oder auch wirklich besteht, verwendete<br />
der junge Forscher statistische<br />
Testverfahren. Er fand, dass Pferde, die<br />
jünger als ein Jahr sind, wesentlich seltener<br />
Antikörper gegen Piroplasmen haben<br />
als ältere Tiere. Unter der Annahme, dass<br />
die Krankheit in der untersuchten Population<br />
endemisch sei (sich zuverlässig in<br />
einer Population reproduziert), kann sich<br />
Simon Rüegg das gut vorstellen: «Denn<br />
junge Tiere sind naiv und entwickeln erst<br />
Antikörper, wenn sie mit Piroplasmen konfrontiert<br />
werden. Diese behalten sie dann<br />
lebenslänglich. Entsprechend ist also der<br />
Prozentsatz seropositiver Tiere (Tiere, die<br />
Antikörper haben) höher, je älter die untersuchten<br />
Tiere einer Gruppe sind.» Dieses<br />
Verhalten der Krankheit hat er nun in<br />
einem mathematischen Modell beschrieben.<br />
In Zusammenarbeit mit dem Institut<br />
für Mathematik in Freiburg hat er eine<br />
Funktion entwickelt, deren Aufzeichnung<br />
sich gleich verhält wie die Resultate, die<br />
er im Feld gefunden hat. «Demnach sind<br />
ab dem Alter von fünf Jahren sozusagen<br />
alle Tiere seropositiv. Ausserdem konnten<br />
wir mit diesem Modell zeigen, dass 20 %<br />
der neugeborenen Fohlen ebenfalls schon<br />
mit dem Erreger der Piroplasmose infiziert<br />
sein müssen.» Als nächsten Schritt<br />
in seinen Untersuchungen hat der Doktorand<br />
die Przewalskipferde mit den domestizierten<br />
Pferden verglichen. Dabei fand<br />
er heraus, dass knapp halb so viele Przewalskipferde<br />
Antikörper gegen Piroplasmen<br />
hatten als er erwartet hätte. Bei näherer<br />
Betrachtung der Biologie der Zecken<br />
wurde ihm dann klar weshalb: «In der Regel<br />
infiziert sich eine Zecke im Stadium<br />
der Larve oder Nymphe und überträgt<br />
dann als adulte Zecke die Krankheit auf<br />
das nächste Tier. Bei Dermacentor nuttalli,<br />
der Zecke, die wir auf den Pferden<br />
gefunden haben, verhält es sich allerdings<br />
etwas anders. Erstens sitzt jedes Stadium,<br />
das heisst Larve, Nymphe und Adulte auf<br />
einem anderen Wirtstier. Die beiden ersten<br />
parasitieren auf Kleinsäugern, und nur die<br />
erwachsenen Zecken sitzen auf den Pfer-<br />
Takhis wurden mit dem Narkosegewehr eingefangen. Auch ihnen wurde Blut genommen.<br />
Danach wurde ihnen ein Gegenmittel gespritzt, mit dem sie schnell wieder völlig<br />
bei Bewusstsein waren.
den. Dementsprechend kann sich dieselbe<br />
Zecke nicht als Larve oder Nymphe mit<br />
Pferdepiroplasmen infizieren, sondern nur<br />
als Adulte. Das heisst, um erfolgreich Piroplasmen<br />
zu übertragen, muss die Zecke<br />
in ihrem erwachsenen Stadium mindestens<br />
zwei Pferde, ein infiziertes und ein<br />
empfängliches, beissen. In der Regel beissen<br />
Zecken jedoch nur einmal in jedem<br />
Stadium. Hier kommt nun die zweite ungewöhnliche<br />
Eigenschaft der Zecke zum<br />
Zug, nämlich die, dass erwachsene Parasiten<br />
auf mehr als einem Wirtstier sitzen.<br />
Eine weitere Bedingung muss nun noch<br />
eingehalten werden: infizierte und nicht<br />
infizierte Pferde müssen in nahem Kontakt<br />
zueinander sein, denn sonst kann sich<br />
die Zecke nicht infizieren und gleich auf<br />
ein empfängliches Tier überspringen. Die<br />
Takhi, die wir aus Europa in die Mongolei<br />
bringen, haben noch nie mit Piroplasmose<br />
zu tun gehabt. Sie stellen also die empfänglichen<br />
Pferde dar. Wenn wir sie in Takhin<br />
Tal auswildern, halten wir sie zuerst ein<br />
Jahr in Gehegen. In freier Wildbahn leben<br />
sie dann in einer Haremgruppe. Deshalb<br />
haben sie selten bis gar keinen Kontakt<br />
zu Hauspferden. So kommt es, dass sie<br />
ITG INTERNATIONAL TAKHI-GROUP<br />
wesentlich seltener mit Piroplasmen infiziert<br />
werden und Antikörper gegen diese<br />
bilden, als wenn sie in engem Kontakt zu<br />
Hauspferden leben würden».<br />
Ein Teil der Fragestellung war nun also<br />
beantwortet, wenn auch noch viele Fragen<br />
offen sind. Aus tierärztlichem, aber<br />
auch aus finanziellem Interesse des Projektes<br />
war die Prävention der Krankheit<br />
ein weiteres Ziel der Arbeit. Schliesslich<br />
ist der Erfolg eines Auswilderungsprojektes<br />
nicht zuletzt abhängig von der Überlebensrate<br />
der ausgewilderten Tiere. Nach-<br />
Die International Takhi Group<br />
Die International Takhi Group, kurz ITG, ist eine internationale Stiftung, die 1999<br />
gegründet wurde. Mitglieder sind verschiedene Stiftungen, Tierparks und Privatpersonen.<br />
Wichtig ist vor allem die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Erhaltungszuchtprogramm<br />
(EEP), dem Species Survival Plan (SSP) aus den USA<br />
und der IUCN Equid Specialist Group (IUCN = International Union for the Conservation<br />
of Nature, eine Organisation der UNO). In der Mongolei arbeitet die<br />
ITG eng mit dem Mongolian Ministry for Environment and Natural Resources zusammen.<br />
Gemeinsam führen die beiden Partner die Feldstation in Takhin Tal im<br />
Gobi B Nationalpark.<br />
Weitere Information über die ITG findet sich unter: http://www.takhi.org<br />
Feldstation der ITG am Rande des Gobi B Nationalparks.<br />
Mit Hilfe der Forschungsarbeit am Zentrum für Fisch- und Wildtiermedizin sehen die Takhis<br />
in der Mongolei einer erfreulichen Zukunft entgegen.<br />
dem die Takhi sich während eines Jahres<br />
an die dortigen klimatischen und sozialen<br />
Verhältnisse gewöhnt haben, werden sie<br />
der freien Wildbahn übergeben und sind<br />
für die betreuenden Tierärzte sozusagen<br />
unerreichbar. Es galt also, eine präventive<br />
Massnahme zu finden, die langfristig<br />
vor dem Krankheitsausbruch schützt, aber<br />
innerhalb dieses ersten Jahres unter Aufsicht<br />
vorgenommen werden konnte. Da es<br />
keine Impfung gibt, empfiehlt der Doktorand<br />
nun, dass man die Przewalskipferde<br />
mit Piroplasmen infiziert und dann mit einem<br />
Medikament behandelt, sobald sie die<br />
ersten Krankheitszeichen zeigen. Um sicher<br />
zu gehen, dass alle Takhi die Krankheit<br />
durchmachen, werden Zecken von infizierten<br />
Hauspferden gesammelt und den<br />
Takhi aufgesetzt. Nach dieser ersten Erkrankung<br />
sind die Tiere dann lebenslang<br />
immun gegen Piroplasmen.<br />
14 neue Przewalskipferde<br />
in der Mongolei<br />
Im Juni 2002 sind weitere 14 Przewalskipferde<br />
aus Europa in die Mongolei geflogen.<br />
Sie haben bis jetzt noch nie Piroplasmen<br />
gesehen und werden im Laufe<br />
ihres Lebens in freier Wildbahn damit<br />
konfrontiert werden. Sie werden die ersten<br />
sein, die sich dieser neuen Massnahme<br />
unterziehen müssen. Dafür werden sie vor<br />
der Krankheit geschützt sein. Doch selbst<br />
wenn sie jetzt gegen Piroplasmen immun<br />
sein werden, gibt es noch viele Gefahren,<br />
die in der mongolischen Steppe auf<br />
sie lauern und denen sie sich werden stellen<br />
müssen.<br />
Simon Rüegg<br />
World Association of Zoos<br />
and Aquaria<br />
Lindenrain 3<br />
3012 <strong>Bern</strong><br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
19
<strong>Bern</strong>er Veterinäre erforschten die erbliche Labrador-Retriever-Myopathie<br />
Und die Gene<br />
sind doch schuld ...<br />
Weder beim Zwei- noch beim Vierbeiner gibt es «neue»<br />
oder «alte» Krankheiten. Doch wenn es moderne wissen-<br />
schaftliche Mittel einem Team der Veterinärmedizinischen<br />
Fakultät in <strong>Bern</strong> erlauben, einem eigens aufgedeckten<br />
Phänomen mit Inbrunst und trotzdem seriös auf den Grund<br />
zu gehen, dann ist das erstens Glück im Unglück und zweitens<br />
spannend. (Arbeits-)Gruppen aus dem Departement für<br />
klinische Veterinärmedizin, dem Institut für Tierneurologie<br />
und dem Institut für Genetik und Tierernährung<br />
erforschten gemeinsam die Labrador-Retriever-Myopathie,<br />
eine Erbkrankheit, die eine fatale Muskelzerstörung bei dieser<br />
Familienhunderasse bewirken kann. Die Erkrankung ist<br />
beim Menschen ebenfalls bekannt.<br />
Mitte der 1970er-Jahre erstmals in den<br />
USA beschrieben, ist die Labrador-Retriever-Myopathie<br />
von zunehmender Bedeutung,<br />
weil sie erblich ist und beide Geschlechter<br />
betrifft. Auf der anderen Seite<br />
des Atlantik tritt diese Muskelerkrankung<br />
schon lange nicht mehr nur sporadisch auf.<br />
Sie ist unter den Haltern der als Familien-<br />
und auch Arbeitshunde beliebten Labradors<br />
gefürchtet, weil ihr Ausbreiten bisher<br />
durch züchterische Massnahmen kaum zu<br />
verhindern war und erkrankte Tiere niemals<br />
heilbar sind. Die Muskulatur hat einen<br />
«irreparablen» Defekt. Seit einigen<br />
Jahren werden auch in Europa immer<br />
wieder Welpen mit dem typischen Erkrankungsbild<br />
beim Tierarzt vorgestellt.<br />
«Max» bringt die Forscher<br />
auf die Spur<br />
Als 1997 der schmächtige schwarze Labrador-Welpe<br />
«Max» an unserem Institut<br />
für Neurologie des Tierspitals <strong>Bern</strong> vorgestellt<br />
wurde, war natürlich nicht abzusehen,<br />
dass er der Auslöser für eine «klinische<br />
Studie» und «genetische Analysen»<br />
sein würde – und vielleicht Motivation für<br />
weitere Arbeiten. Der junge Hund zeigte<br />
die typischen Symptome einer Labrador-<br />
Retriever-Myopathie: der Kopf wurde tief<br />
getragen, der Rücken war aufgekrümmt,<br />
der Gang unkoordiniert; Max zeigte beim<br />
Spiel Phasen akuter Schwäche und brach<br />
dann zusammen, blieb erschöpft liegen<br />
20 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
oder bewegte sich noch «hasenhüpfend»<br />
vorwärts. In Erholungsphasen verschwanden<br />
die Symptome – bis zur nächsten Belastung.<br />
Die Diagnose dieser schweren Form der<br />
Myopathie wurde durch spezielle Untersuchungen<br />
bestätigt: durch das Aufzeichnen<br />
von spontanen elektrischen Impulsen<br />
in der Muskulatur und durch die Begutachtung<br />
von mikroskopischen Muskelpräparaten.<br />
Es zeigten sich schwere Zerstörung<br />
von Muskelzellen, deren krankhafte<br />
Vergrösserung und auch eine Verkleinerung<br />
und Lücken im Zwischengewebe<br />
(Abb. 1). Es gibt Fälle von leicht erkrankten<br />
Hunden, die mit nur kleinen Handicaps<br />
alt werden können. Doch die Schwächephasen<br />
bei «Max» wurden mit der Zeit<br />
zum Dauerzustand und der Welpe musste<br />
früh euthanasiert werden.<br />
Einsichtige Züchter<br />
Seine Züchter waren natürlich entsetzt und<br />
– im Wissen um den erblichen Hintergrund<br />
der Erkrankung und um unsere guten Argumente<br />
– verantwortungsbewusst und bereit,<br />
den gesamten Wurf samt Elterntieren<br />
gründlich untersuchen zu lassen; die Entnahme<br />
von Muskelproben (Biopsien) war<br />
eingeschlossen. Dass ein weiterer Welpe<br />
mit offensichtlicher Schwäche ausfindig<br />
gemacht wurde, war für Professor André<br />
Jaggy und seine Mitarbeiter keine<br />
Überraschung. Doch dass die neun übrigen<br />
Hunde klinisch völlig gesund schienen,<br />
jedoch in der mikroskopischen Beurteilung<br />
alle «kranke Muskulatur» zeigten,<br />
war eine kleine Sensation.<br />
«Max» stammte aus einer angesehenen<br />
Labrador-Zucht, deren Abkömmlinge bekannt<br />
als gesunde, ausdauernde und leis-<br />
Abb. 1: Der histologische Muskelschnitt zeigt kaum mittelgrosse, runde gesunde Muskelzellen,<br />
die Mehrzahl der Zellen ist aber zerklüftet, krankhaft verkleinert oder aufgetrieben<br />
(dunkel gefärbt). Das dazwischen liegende Bindegewebe (hell gefärbt) zeigt breite<br />
Balken oder klafft auseinander.
tungsfähige Familien- und Gebrauchshunde<br />
sind. In der Vergangenheit war nie<br />
ein Tier dieser «Grossfamilie» mit der erblichen<br />
Muskelerkrankung aufgefallen.<br />
Doch unsere Resultate konnten vermuten<br />
lassen, dass vielleicht weitere Verwandte<br />
mit abnormaler/krankhafter Muskulatur<br />
unentdeckt ein erfülltes Leben lebten<br />
– und sich vermehrten und so vielleicht<br />
neue «Mäxe» produzierten. Dass<br />
«Max» einer gesunden Zuchtlinie entstammen<br />
könnte, war eine beruhigende<br />
Vorstellung, dass seine Verwandten aber<br />
Träger einer unentdeckten Erbkrankheit<br />
sein und diese an ihre Nachkommen weitergeben<br />
könnten, war eine höchst unangenehme<br />
Vermutung.<br />
Gibt es einen neuen,<br />
bisher unbekannten Erbgang?<br />
Die Studie bekam früh Unterstützung –<br />
Professor Claude Gaillard vom Institut für<br />
Genetik der Veterinärmedizinischen Fakultät<br />
bot sein Know-how und seine Mitarbeit<br />
an. Wenn man es umsetzen könnte,<br />
eine grössere Anzahl Labradors zu untersuchen,<br />
deren genaue Verwandschaftsverhältnisse<br />
zu klären – also einen Stammbaum<br />
zu konstruieren – und die Computer<br />
mit den gewonnenen Untersuchungsergebnissen<br />
zu füttern, könnte das Thema «Labrador-Retriever-Myopathie»<br />
auch von<br />
der Vererbungslehre her neu angegangen<br />
werden. Gäbe es zu dem bisher an-<br />
Abb. 2: Durch einen kleinen<br />
Hautschnitt wird beim narkotisierten<br />
Tier mit einem<br />
schneidenden Hohlmessr<br />
eine kleine Probe aus der<br />
Oberschenkelmuskulatur<br />
entnommen.<br />
genommenen «Mendel’schen Erbgang» 1 )<br />
eine Variante? Wäre die Weitergabe der<br />
Myopathie-Gene somit komplizierter und<br />
deshalb züchterisch schlecht kontrollierbar<br />
und mithin noch schlechter zu verhindern?<br />
Eine Biopsie würde Klarheit bringen. Bei<br />
einer Biopsie wird einem Tier (oder einem<br />
menschlichen Patienten) mit einem scharfen<br />
Hohlmesser eine Muskelprobe entnommen.<br />
Das ist ein kleiner Eingriff, der in<br />
kurzer Allgemeinnarkose nicht schmerzhaft<br />
ist. Nach einem kurzem Hautschnitt<br />
kann mit einem scharfen Hohlzylinder<br />
eine Probe entnommen (Abb. 2) und das<br />
entnommene Muskelgewebe anschliessend<br />
untersucht werden. Mit biochemischen<br />
Verfahren werden dabei im Speziallabor<br />
einzelne Strukturen des Gewebes<br />
unterschiedlich angefärbt und mikroskopisch<br />
beurteilt.<br />
Ahnenforschung mit 164 Tieren<br />
Schlussendlich bestand unser Untersuchungsgut<br />
– mit Ergänzungen auch aus<br />
dem Ausland – aus 58 Labrador-Retrievern.<br />
Sieben Hunde (12,1 %) zeigten die<br />
offensichtliche Labrador-Retriever-Myopathie.<br />
Als völlig normal konnten wir<br />
1 Der Augustinerpater Gregor J. Mendel hat in der<br />
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Kreuzungsversuchen<br />
an Erbsen und Bohnen die nach<br />
ihm benannten Mendel’schen Gesetze bei der Vererbung<br />
einfacher Merkmale entdeckt.<br />
nur zehn Tiere (17,2 %) einstufen. Das<br />
war eine kleine Sensation. Ohne krankhafte<br />
«äusserliche» Symptome, doch mit<br />
den beschriebenen krankhaften Befunden<br />
in den Muskelproben wurden weitere<br />
41 Labrador-Retriever dokumentiert. Das<br />
waren 70,7 % aller 58 untersuchten Tiere.<br />
Aus der kleinen Sensation war eine grössere<br />
geworden.<br />
Jetzt musste Ahnenforschung betrieben<br />
werden. Mit Hilfe der Abstammungsurkunden<br />
dieser 58 Tiere konnte der Stammbaum<br />
mit einem Umfang von insgesamt<br />
164 Hunden konstruiert werden und somit<br />
zur Klärung der Verwandschaftsverhältnisse<br />
dienen. Und was dem Auge in dem<br />
Wirrwarr von Strichen, Bögen, Kreisen<br />
und Kästchen nicht gelingt, nämlich<br />
die Übersicht in Befunde und Verwandtschaft<br />
zu bekommen, brachte der Rechner<br />
zustande.<br />
Deutungsversuche<br />
mit vier Vererbungsmodellen<br />
Das Befundmaterial wurde für die statistische<br />
Berechnung vier verschiedener Vererbungsmodelle<br />
genutzt, die den Vererbungsmodus<br />
der in «unserer» Population<br />
auftretenden Myopathie klären sollte:<br />
Das «Hauptgen-Modell» macht ein spezielles<br />
Gen für das Auftreten der Erkrankung<br />
verantwortlich, das «Modell der gemischten<br />
Vererbung» rechnet zusätzlich<br />
mit den Einfluss eines weiteren Genabschnitts,<br />
und das «Umwelt-Modell» räumt<br />
z. B. einmal Haltungs- oder Ernährungsumstände,<br />
aber auch ausserordentliche genetische<br />
Störungen ein. Wir wandten die Berechnungen<br />
auf zwei Datensätze an: ein<br />
Datensatz konzentrierte sich auf die Verwandschaftsbeziehung<br />
von Muskelbiopsiegetesteten<br />
Tieren (bloss «abnormale» Tiere<br />
wurden zu den übrigen gezählt) – der<br />
zweite Datensatz bezog sich auf die offensichtlich<br />
kranken Hunde. Unsere Analysen<br />
belegten einen eindeutig genetischen<br />
Hintergrund der Myopathie. Das «Hauptgen-Modell»<br />
dominierte über die anderen,<br />
und wir machten – wie auch von früheren<br />
Wissenschaftern postuliert – eine nicht<br />
geschlechtsgebundene unterdrückte Vererbung<br />
für die Myopathie verantwortlich<br />
(rezessiver Erbgang).<br />
Allerdings bekamen wir Ergebnisse zur<br />
Übertragungswahrscheinlichkeit «krankmachender<br />
Genabschnitte», die eine der-<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
21
art einfache, bisher vermutete Übertragung<br />
im Mendel‘schen Sinne anzweifelten.<br />
Ausserdem war das «Umwelt- Modell» besonders<br />
ausdrucksstark. Das «Hauptgen-<br />
Modell» allein reichte offensichtlich nicht<br />
aus, die Vererbung der Myopathie bei Labrador-Retrievern<br />
zu erklären.<br />
Zukunfts-Überlegungen<br />
der Forscher<br />
Wenn wir die Ergebnisse dieser aufklärerischen<br />
Bemühungen kritisch zusammenfassen,<br />
müssen wir das Phänomen der<br />
krankhaften Muskelveränderungen bei<br />
als «nicht erkrankt» erscheinenden Labradors<br />
noch einmal besonders hervorheben.<br />
Das klingt paradox, doch es könnte<br />
möglich sein, dass sich bei diesen Tieren<br />
die Symptome bis zu einer gewissen Phase<br />
der Erkrankung gar nicht wahrnehmen lassen,<br />
insbesondere, wenn die Hunde nicht<br />
zu starken körperlichen Belastungen herangezogen<br />
werden. Die unterschiedlichen<br />
Erkrankungs-Schweregrade wurden ja gerade<br />
bei Hunden aus Arbeitslinien, also bei<br />
Tieren mit besonderer körperlichen Beanspruchung,<br />
beschrieben.<br />
Es wäre daher von wissenschaftlichem Interesse,<br />
die von uns untersuchten Hunde<br />
über einen längeren Zeitraum zu beobachten,<br />
weitere Belastungstests durchzuführen,<br />
wiederholt neue Muskelbiopsien<br />
vorzunehmen und die Zahl der untersuchten<br />
Tiere mit verwandten Tieren zu erweitern,<br />
um die individuellen Verläufe der<br />
Krankheit zu dokumentieren und weitere<br />
Arbeiten anzuregen. Wir vermuten, dass<br />
die von uns «nur» mikroskopisch als be-<br />
22 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
Abb. 3: Der Labrador, eine beliebte<br />
Familienhunderasse.<br />
troffen identifizierten Labradors mit grosser<br />
Wahrscheinlichkeit später auch sichtbare<br />
Alltagsprobleme bekommen werden<br />
(Abb. 3).<br />
Offene Fragen<br />
Es wurde gesagt, dass die Ergebnisse unserer<br />
Analysen mit der bisher akzeptierten<br />
These der Vererbung durch ein verantwortliches<br />
Gen übereinstimmen. Es<br />
scheinen jedoch weitere Faktoren für den<br />
offensichtlichen Ausbruch der Myopathie<br />
nötig zu sein. Das kann der Einfluss spontaner<br />
Unregelmässigkeiten in der Übertragung<br />
genetischer Information sein. Aber<br />
auch Umweltfaktoren könnten in Frage<br />
kommen wie Ernährung oder Haltungsumstände,<br />
physikalische und chemische<br />
Einflüsse im weitesten Sinne. Wir postulieren<br />
eine nach «Mendel» gängigem<br />
Schema nicht erklärbare Vererbung und<br />
weichen damit von der bisher gültigen<br />
These ab.<br />
In der Natur ist bei offenen Fragen der<br />
Blick in Richtung verwandte Spezies sicherlich<br />
eine gute Idee, in unserem Fall<br />
also die Brücke von der Tier- zur Humanmedizin,<br />
die bekanntlich oft und in beide<br />
Richtungen geschlagen wird. Beim Menschen<br />
ist eine erbliche Muskelerkrankung<br />
bekannt, die viele Gemeinsamkeiten mit<br />
der des Labradors zeigt. Diese Muskelerkrankung<br />
beim Menschen wurde inzwischen<br />
in sieben Untergruppen aufgeteilt –<br />
für jede betroffene Gruppe ist jeweils ein<br />
eigener Genabschnitt verantwortlich. Für<br />
die Labrador-Retriever-Myopathie ist das<br />
ebenso denkbar. Möglicherweise präsen-<br />
tieren sich in unserer Retrieverpopulation<br />
eine oder sogar mehrere Formen einer erblichen<br />
Myopathie, die das Vererbungsbild,<br />
so wie es sich uns darstellte, komplex<br />
macht.<br />
Zukünftige Arbeiten sollten die diskutierten<br />
Zusammenhänge näher charakterisieren.<br />
Dafür sind allerdings Befunderhebungen<br />
mehrerer hundert Labrador-Retriever<br />
nötig. Die Beurteilung von Muskelbiopsieproben<br />
ist das sensitivste Mittel, betroffene<br />
Hunde zu ermitteln. Bis neue Erkenntnisse<br />
gewonnen sind, sollten Züchter grösste<br />
Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein<br />
bei der Wahl von Elterntieren walten lassen,<br />
und durch Biopsie identifizierte Tiere<br />
sollten sie von der Zucht ausschliessen.<br />
Dr. med.-vet. Tim Bley<br />
Im Altried 39<br />
8051 Zürich
Salz in den Nahrungsmitteln<br />
Cum grano salis<br />
Kochsalz ist besonders wichtig für die Regulation des Blutdrucks.<br />
Klinische Untersuchungen haben gezeigt, dass eine<br />
hohe Kochsalzzufuhr den Blutdruck erhöhen kann. Es besteht<br />
kein Zweifel daran, dass eine Einschränkung des<br />
Kochsalzkonsums bei bestehendem Bluthochdruck indiziert<br />
sein kann. Gleichwohl wird von verschiedenen Experten<br />
eine Verminderung der Kochsalzzufuhr auf weniger als 6 g<br />
pro Tag auch zum Zweck der primären Prävention empfohlen.<br />
Eine solche Reduktion der Salzkonsums kann durch<br />
medizinische Massnahmen alleine nicht erreicht werden.<br />
Eine Beteiligung der Nahrungsmittelindustrie, um dieses Ziel<br />
zu erreichen, ist unerlässlich.<br />
Kochsalz –<br />
entwicklungsgeschichtliche<br />
Überlegungen<br />
In der Evolution hat sich der Mensch zum<br />
Lebewesen entwickelt, der möglichst viel<br />
des eingenommenen Kochsalzes konservieren<br />
muss. Kochsalz ist das wichtigste<br />
Salz des Extrazellulärraumes (d. h. des<br />
Raums mit den ausserhalb der Zelle befindlichen<br />
Flüssigkeiten) und damit besonders<br />
wichtig für die Regulation des Blutdrucks.<br />
Man nimmt an, dass der Mensch<br />
in den ersten zehn Millionen Jahren seiner<br />
Existenz, als Sammler und Jäger, täglich<br />
mit etwa 1 g Kochsalzeinnahme zurecht<br />
kommen musste (Abb. 1). Wegen der variablen<br />
Verfügbarkeit an Kochsalz brauchte<br />
der Mensch dafür einen Regulationsmechanismus.<br />
Diese Rolle wurde vom<br />
Aldosteron wahrgenommen. Aldosteron<br />
ist ein Hormon, dass zu einer Verminderung<br />
der Kochsalzausscheidung durch die<br />
Niere führt, wenn ein Mangel an Salzangebot<br />
besteht. Aldosteron stellt deshalb<br />
entwicklungsgeschichtlich einen Überlebensvorteil<br />
dar. Man kann sich unschwer<br />
“The salt assault”<br />
Abb. 1: Täglicher Kochsalzkonsum des Menschen im Laufe der Evolution.<br />
vorstellen, dass Individuen, deren Niere<br />
möglichst viel Kochsalz zu resorbieren<br />
vermochte, einen Überlebensvorteil aufwiesen.<br />
Durch die Agrarrevolution wurde<br />
es nötig, die im Überschuss produzierten<br />
Nahrungsmittel aufzubewahren (Abb. 1).<br />
Kochsalz fand hier Einzug als Konservierungsmittel.<br />
Somit kam es in den letzten<br />
5000 Jahren zu einer exponentiellen<br />
Zunahme der Kochsalzeinnahme. In<br />
den westlichen Ländern beträgt zurzeit<br />
die durchschnittliche Kochsalzeinnahme<br />
über 10 g pro Tag (Abb. 1). Man kann sich<br />
unschwer vorstellen, dass sich in dieser Situation<br />
plötzlich ein Überlebensvorteil in<br />
eine krankmachende Angelegenheit verwandelt,<br />
in diesem Fall eine Hypertonie.<br />
Kochsalz – Definitionen und<br />
Funktionen<br />
Kochsalz ist chemisch gesehen Natriumchlorid.<br />
In 1 g Kochsalz sind 0,4 g Natrium<br />
und 0,6 g Chlorid enthalten. Aus ernährungsphysiologischer<br />
Sicht handelt es<br />
sich bei den beiden Elementen Natrium<br />
und Chlorid um lebensnotwendige Mineralstoffe,<br />
die an vielen Prozessen beteiligt<br />
sind. Natrium ist das wichtigste Kation des<br />
Extrazellulärraumes und damit besonders<br />
wichtig für die Aufrechterhaltung des osmotischen<br />
Druckes und die Regulation<br />
des Blutdrucks. Weiterhin ist Natrium am<br />
Aufbau des Membranpotentials für die Erregungsleitung,<br />
für Transportprozesse sowie<br />
an der Enzymregulation beteiligt. Im<br />
Körper eines 70 kg schweren Erwachsenen<br />
sind rund 135 g Kochsalz enthalten.<br />
Mit dem Urin werden täglich (je nach Zufuhr)<br />
etwa 8 bis 12 g Kochsalz ausgeschieden.<br />
Über den Stuhl oder Schweiss werden<br />
im Normalfall nur geringe Mengen ausgeschieden.<br />
Kochsalz – Vorkommen<br />
und Verwendung<br />
Der Salz-Gehalt in Lebensmitteln in unverarbeitetem<br />
Zustand ist in der Regel gering,<br />
er kann aber, je nach Art der Zubereitung,<br />
erheblich ansteigen. Es kann davon ausgegangen<br />
werden, dass etwa 80 % der Salzzufuhr<br />
aus «versteckten» Salzen in verarbeiteten<br />
Lebensmitteln stammen (Abb. 2).<br />
Die täglich im Haushalt zum Zusalzen verwendete<br />
Speisesalzmenge wird dagegen<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
23
nur auf durchschnittlich 1,5 bis 2 g (unter<br />
20 %) geschätzt. Zu den kochsalzreichen<br />
Lebensmitteln mit einem Salzgehalt<br />
von über 1 g Kochsalz/100 g gehören insbesondere<br />
Brot- und Backwaren, Fleisch-<br />
und Wurstwaren, die meisten Käsesorten<br />
und Salzgebäck; aber auch diverse Fertiggerichte<br />
und Fertigsaucen sind hier zu<br />
nennen (Abb. 2). Da Natrium in Lebensmitteln<br />
überwiegend als Kochsalz vorliegt,<br />
werden etwa 95 % der Natriumzufuhr auf<br />
Natriumchlorid zurückgeführt. Aus diesen<br />
Gründen kann aus dem Natriumgehalt im<br />
allgemeinen auch auf den Kochsalzgehalt<br />
geschlossen werden.<br />
Bluthochdruck<br />
In der Schweiz sterben jährlich ca. 26 000<br />
Personen an Krankheiten des Kreislaufsystems.<br />
Eine der Hauptursachen für Herz-<br />
und Kreislauferkrankungen ist der zu hohe<br />
Blutdruck (Hypertonie). Der Blutdruck ist<br />
eine Funktion des Herzminutenvolumens<br />
und des peripheren Gefässwiderstandes.<br />
Entsprechend einem Report der WHO<br />
aus dem Jahre 1996 ist als Hypertonie die<br />
Blutdruckhöhe zu definieren, bei der eine<br />
Diagnostik und Behandlung mehr Nutzen<br />
als Schaden anrichtet. Die klinische Bedeutung<br />
der Hypertonie liegt in den Folgeerkrankungen<br />
von Herz und Gefässen,<br />
wie Schlaganfälle, koronare Herzkrankheit<br />
und Herzinfarkt, Herzinsuffizienz<br />
oder periphere arterielle Verschlusskrankheit.<br />
Es gibt keinen Schwellenwert<br />
des Blutdrucks, unter welchem das Risiko<br />
für diese Komplikationen nicht vorliegt.<br />
Umgekehrt wurde gut dokumentiert, dass<br />
bei diastolischen Blutdruckwerten über<br />
70 mm Hg das Risiko für Komplikationen<br />
kontinuierlich ansteigt (Abb. 3). Eine<br />
Analyse von über 420 000 Bluthochdruck-<br />
Patienten über eine Beobachtungszeit von<br />
durchschnittlich zehn Jahren zeigte, dass<br />
der Risikounterschied, einen Hirnschlag<br />
oder eine koronare Herzkrankheit zu erleiden,<br />
pro 5 mm Hg 30 % bzw. 20 % beträgt<br />
(Abb. 3).<br />
Bei der Hypertonie handelt es sich um eine<br />
multifaktorielle Erkrankung, deren Entstehung<br />
auf verschiedene Faktoren zurückgeführt<br />
wird. Neben der genetischen<br />
Disposition kommt dem Übergewicht<br />
eine besondere Bedeutung zu. Des weiteren<br />
werden ein hoher Alkoholkonsum, Bewegungsmangel,<br />
chronischer Stress sowie<br />
24 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
28 % Brot- und Backwaren<br />
11% Sonstige<br />
14 % fertige Mahlzeiten<br />
eine erhöhte Kochsalzzufuhr mit der Entstehung<br />
der primären Hypertonie in Verbindung<br />
gebracht.<br />
Kochsalz und Blutdruck<br />
Bereits seit Jahrzehnten wird der Zusammenhang<br />
zwischen diätetischer Kochsalzzufuhr<br />
und dem Blutdruck diskutiert. Eine<br />
MEDLINE-Recherche (Januar 1966/Juli<br />
2001) zu der Verknüpfung der Begriffe<br />
«salt» (Salz) oder «sodium chloride»<br />
(Natriumchlorid) und «blood pressure»<br />
(Blutdruck) oder «hypertension» (Bluthochdruck)<br />
ergab eine Anzahl von 9290 Arbeiten<br />
nur zu dieser Thematik. Epidemiologische<br />
Untersuchungen liessen vermuten,<br />
dass ein hoher Kochsalzkonsum für die<br />
Entwicklung der Hypertonie und ihr häufiges<br />
Vorkommen in der Bevölkerung mit<br />
verantwortlich ist. Darüber hinaus konnte<br />
in klinischen Untersuchungen festgestellt<br />
werden, dass eine hohe Kochsalzzufuhr<br />
19 % Wurst- und Fleischwaren<br />
7 % Käse<br />
3 % Milchprodukte<br />
18 % Gewürze und Zutaten<br />
Abb. 2: Prozentualer Anteil an der Kochsalzzufuhr nach Lebensmittelgruppe.<br />
den Blutdruck erhöhen kann und dass eine<br />
Salzrestriktion bei einigen Patienten mit<br />
Hypertonie zu einer Senkung eines erhöhten<br />
Blutdrucks führt. Drei kürzlich veröffentlichte<br />
Meta-Analysen analysierten die<br />
Ergebnisse aus 108 kontrollierten Untersuchungen,<br />
bei denen der blutdrucksenkende<br />
Effekt einer Reduktion der Kochsalzzufuhr<br />
bei Patienten mit Hypertonie<br />
überprüft wurde. Diese Analysen zeigten,<br />
dass eine durchschnittliche Reduktion<br />
der Kochsalzeinnahme um 6 g/Tag<br />
eine Änderung des systolischen und diastolischen<br />
Blutdrucks um –5 bzw. –2 mm<br />
Hg hervorrufen kann. Von der DASH-<br />
Studiengruppe (Dietary Approaches to<br />
Stop Hypertension) wurde der Einfluss<br />
auf den Blutdruck bei verschiedenen Ernährungsformen<br />
(Kontrolldiät vs. DASH-<br />
Diät = Obst-, gemüsereiche und fettarme<br />
Ernährung) und variierender Kochsalzzufuhr<br />
von 3, 6 und 9 g pro Tag über jeweils<br />
Abb. 3: Risiko für Hirnschlag und koronare Herzkrankheit in Relation zum diastolischen<br />
Blutdruck.
Abb. 4. Salzsensitivität: Salzsensitive (SS) Individuen reagieren auf eine erhöhte Kochsalzaufnahme<br />
mit einer Blutdrucksteigerung, während dies bei salzresistenten (SR) Individuen<br />
kaum der Fall ist.<br />
30 Tage bei 412 Personen untersucht. Die<br />
Ergebnisse zeigen, dass eine Senkung der<br />
Kochsalzzufuhr auf unter die derzeit empfohlene<br />
Menge von 6 g den Blutdruck sowohl<br />
in der Kontrollgruppe als auch in<br />
der DASH-Diät-Gruppe deutlich senken<br />
kann, wobei die deutlichsten Effekte bei<br />
Kombination beider Massnahmen festgestellt<br />
wurden.<br />
Salzempfindlichkeit<br />
Die individuellen Reaktionen auf eine<br />
Salzrestriktion sind sehr unterschiedlich,<br />
was auf eine unterschiedliche Salzempfindlichkeit<br />
zurückgeführt wird. Es wird<br />
G<br />
1<br />
SR<br />
geschätzt, dass nur etwa 20–30 % der Bevölkerung<br />
und etwa knapp die Hälfte der<br />
Hypertoniker auf eine erhöhte Kochsalzaufnahme<br />
mit einer Blutdrucksteigerung<br />
reagieren. Die Salzsensitivität kommt<br />
häufiger bei schwarzen als bei weissen<br />
Personen vor. Letztere Beobachtung deutet<br />
auf eine genetisch bedingte Störung<br />
der kochsalzabhängigen Blutdruckregulation<br />
hin.<br />
Welches sind die molekularen Grundlagen<br />
für diese salzabhängige Blutdruckregulation?<br />
Das durch die Nahrung aufgenommene<br />
Kochsalz wird hauptsächlich durch<br />
Abb. 5. Kochsalzreabsorption in Prozent entlang des Nephrons (Grundelement der<br />
Niere). G=Glomerulum (Filtration), 1–4 = unterschiedliche Abschnitte des Nierentubulus<br />
(Resorption).<br />
2<br />
3<br />
SS<br />
4<br />
die Niere ausgeschieden. Die Niere besteht<br />
aus rund einer Million kleinster Funktionseinheiten,<br />
Nephrone genannt (Abb. 5).<br />
Bestandteile eines Nephrons sind das Glomerulum,<br />
das als Filter dient, und der Tubulus<br />
(das Röhrchen), bei dem zwischen<br />
den proximalen (d. h. näher beim Glomerulum<br />
gelegenen) und den distalen (entfernteren)<br />
Abschnitten unterschieden wird.<br />
Kochsalz wird im Glomerulum (G) filtriert<br />
und dann entlang des Nephrons zu<br />
99 % rückresorbiert. Der grösste Teil des<br />
filtrierten Kochsalzes wird proximal-tubulär<br />
resorbiert (1), etwa 1 /4 wird in den distalen<br />
Tubulusabschnitten (2–4) wieder<br />
aufgenommen. Wird in einem Tubulusabschnitt<br />
zuviel Kochsalz rückresorbiert,<br />
wird es bei Salzbelastung nicht möglich<br />
sein, das überschüssige Kochsalz zu eliminieren,<br />
und der Blutdruck steigt an. Bei<br />
einer Tubulusstörung mit ungenügender<br />
Kochsalzreabsorption wird bei Salzbelastung<br />
das überschüssige Kochsalz problemlos<br />
eliminiert, und der Blutdruck<br />
steigt nicht an. Der Blutdruck wird sogar<br />
tief sein, wenn ungenügend Kochsalz zugeführt<br />
wird, falls die Niere das Kochsalz<br />
nicht zurückhalten kann.<br />
Im Verlauf der letzten Dekade ist eine<br />
Vielzahl vererblicher Erkrankungen molekular<br />
charakterisiert worden, die mit<br />
einer gestörten Blutdruckregulation einhergehen.<br />
Aus diesen Forschungserkenntnissen<br />
lassen sich zwei wesentliche Aspekte<br />
hervorheben:<br />
Erstens: Die bis heute bekannten genetisch<br />
bedingten Störungen der Blutdruckregulation<br />
sind durch Störungen der Kochsalzreabsorption<br />
im Nierentubulus bedingt.<br />
Zweitens: Es gibt Mutationen, die eine Hypertonie<br />
verursachen, aber auch Mutationen,<br />
die vor einer Hypertonie schützen.<br />
Empfehlungen zur Prävention<br />
Entsprechend den Therapie-Empfehlungen<br />
verschiedener nationaler und internationaler<br />
Gremien sollten Hochdruckkranke<br />
nicht mehr als 6 g Kochsalz pro Tag mit<br />
der Nahrung aufnehmen. Die WHO empfahl<br />
1996 im Hinblick auf die primäre Prävention<br />
«eating less salt» und erklärte<br />
eine durchschnittliche Kochsalzzufuhr<br />
von unter 6 g pro Tag zum Ziel. Des weiteren<br />
wurde gefordert, dass jedes Land entsprechend<br />
seinen spezifischen Gegebenheiten<br />
geeignete Massnahmen zur Blut-<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
25
druckkontrolle ergreifen sollte. Diese<br />
Ziele sind mit einer individuellen Beratung<br />
des Patienten (für Hochdruckkranke) und<br />
mit einer Änderung des Lebensstils (als<br />
Primärprävention) alleine nicht erreichbar,<br />
da 80 % des täglichen Kochsalzkonsums<br />
in Form von verstecktem Kochsalz<br />
eingenommen wird (Abb. 2). Als unerlässliche<br />
Massnahme musste gefordert<br />
werden, dass seitens der Lebensmittelindustrie<br />
das Angebot salzarmer Produkte<br />
erhöht und Natriumgehalte gekennzeichnet<br />
werden sollten.<br />
Wie wird eine wirksame<br />
Kochsalzreduktion erreicht?<br />
Es muss nochmals betont werden, dass<br />
individuelle Interventionen sehr schwierig<br />
sind. Es gibt dafür mehrere Gründe.<br />
Zum einen ist das kochsalzempfindliche<br />
Blutdruckverhalten genetisch determiniert<br />
und noch existieren dafür keine im Praxisalltag<br />
verwendbaren diagnostischen Tests.<br />
Zum anderen ist die geläufige Empfehlung<br />
«kein Nachsalzen» unwirksam, da der Gehalt<br />
an «verstecktem» Kochsalz in Fertigprodukten<br />
so hoch und kaum vermeidbar<br />
ist (1 kg Brot enthält ca. 10 g Kochsalz).<br />
UNIVERSITÄT BERN<br />
Collegium generale<br />
26 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
Es sind deshalb globale Interventionen nötig,<br />
die auch die Nahrungsmittelindustrie<br />
mit einbeziehen müssen. Nur so wird es<br />
möglich, das tägliche Kochsalzangebot<br />
so zu ändern, dass für das Kollektiv, aber<br />
auch für den individuellen Patienten mit<br />
Hypertonie eine wirksame Salzreduktion<br />
erreicht werden kann.<br />
Warum ist es bis heute nicht gelungen,<br />
den Kochsalzkonsum zu reduzieren?<br />
Eine mögliche Erklärung liegt darin,<br />
dass wirtschaftliche Interessen gegenüber<br />
wissenschaftlich noch nicht zweifelsfrei<br />
demonstrierten Vorteilen einer<br />
deutlichen Abnahme des täglichen Kochsalzkonsums<br />
überwiegen. Ein wichtiger<br />
Aspekt in dieser Hinsicht ist die Feststellung,<br />
dass die Produzenten von «gesalzenen<br />
Produkten» auch Getränke anbieten.<br />
Eine Reduktion des Salzkonsums reduziert<br />
auch den Flüssigkeitsbedarf, wie in<br />
einer englischen Studie deutlich gezeigt<br />
wurde. Eine Halbierung des Salzkonsums<br />
(von 10 auf 5 g/Tag) führte dazu, dass die<br />
Teilnehmer 350 ml Flüssigkeit weniger<br />
pro Tag zu sich nahmen. Das entspricht<br />
eine Dose Cola/Fanta/Sprite oder ähn-<br />
Wie verstehen wir Fremdes?<br />
lichem zu durchschnittlich 1.50 Franken<br />
(x 7,2 Millionen CH-Einwohner), was ungefähr<br />
10 Millionen Franken Verlust pro<br />
Tag für die Nahrungsmittelindustrie bedeuten<br />
würde. Die Nahrungsmittelindustrie<br />
argumentiert, dass salzarme Produkte<br />
nicht gekauft würden, weil sie nicht<br />
schmeckten. Eine australische Studie belegt<br />
indessen, dass eine 20%ige Reduktion<br />
des Salzgehaltes im Brot zu keiner Veränderung<br />
der Salzwahrnehmung führt.<br />
Ein Angebot natriumreduzierter Lebensmittel<br />
dürfte auf jeden Fall in der Sekundärprävention<br />
von Bedeutung sein. Im Rahmen<br />
der Primärprävention könnten solche<br />
Produkte helfen, dass die von verschiedenen<br />
Expertengremien als ausreichend bezeichnete<br />
Kochsalzmenge von 6 g/Tag<br />
nicht überschritten wird und so einen Beitrag<br />
zu einem bewussteren und verbesserten<br />
Ernährungsverhalten leisten.<br />
PD Dr. med. Paolo Ferrari<br />
Abteilung für Nephrologie/Hypertonie<br />
Inselspital<br />
Tel. 031 632 31 42, Fax 031 632 97 34<br />
E-Mail: paolo.ferrari@insel.ch<br />
Kulturhistorische Vorlesungen des Collegium generale im Wintersemester 2002/2003 für Hörer und Hörerinnen aller Fakultäten<br />
und ein weiteres Publikum. Jeweils Mittwoch, 18.15 bis 19.15 Uhr im Hauptgebäude der <strong>Universität</strong>, Hochschulstrasse 4, 1. OG,<br />
Hörsaal 110 (Auditorium maximum). Leitung: Prof. Dr. Rupert Moser<br />
2003<br />
8.1. Unbewusste Prägung durch die Kultur der Fachdisziplin – Dr. Antonio Valsangiacomo<br />
eine Erschwernis für das interdisziplinäre Verstehen Uni <strong>Bern</strong><br />
15.1. Entwicklungszusammenarbeit im Spannungsfeld Dr. Anne-Marie Holenstein, Zürich<br />
zwischen Eigenem und Fremden<br />
22.1. Literatur als Medium, Fremdes zu verstehen Prof. Dr. Peter Rusterholz, Uni <strong>Bern</strong><br />
29.1. Eigenes und Fremdes im Körper: Die Bedeutung der Chemokine PD Dr. Pius Lötscher, Uni <strong>Bern</strong><br />
Die Veranstaltungen des Collegium generale sind öffentlich und unentgeltlich. Programmänderungen bleiben vorbehalten. Auf Wunsch wird der<br />
Besuch der Veranstaltungen durch das Collegium generale bestätigt. Anschrift: Collegium generale, Falkenplatz 7, 3012 <strong>Bern</strong>,<br />
Tel.: 031 631 86 35, Fax: 031 631 45 26; E-Mail: moser@hdu.unibe.ch, Internet: www.collegiumgenerale.unibe.ch
Ein Laserscanner im Dienste der Bauforschung<br />
Messbilder<br />
An einem historisch und architektonisch bedeutenden Ort,<br />
nämlich in der Schlosskapelle von Anet, rund 80 km westlich<br />
von Paris, kam ein neuartiges Messgerät zu seinem<br />
ersten Einsatz, das seit Mai dieses Jahres den Archäologien<br />
und dem Lehrstuhl für Architekturgeschichte und Denkmalpflege<br />
der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong> zur Verfügung steht.<br />
Auf Antrag der Philosophisch-historischen<br />
Fakultät der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong> hat<br />
die Regierung die nicht unbeträchtlichen<br />
Mittel zum Kauf des Laserscanners Cyrax<br />
2500 3D-Imaging System bewilligt. Seitens<br />
der Architekturgeschichte war der<br />
Anschaffungswunsch vor allem in Hinblick<br />
auf das Nationalfondsprojekt «Die<br />
Hagia Sophia in Istanbul. Entwurfsverfahren<br />
und Bauprozesse» vorgetragen worden,<br />
bei dessen Bearbeitung die Notwendigkeit<br />
exakter Bauaufnahmen sich immer dringender<br />
herausgestellt hat.<br />
Der erste Einsatz und «Probelauf» des Cyrax<br />
2500 fand im Mai dieses Jahres im<br />
Schloss Anet statt. Während dreier Tage<br />
übte sich ein Team der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong><br />
zusammen mit einer Leica-Ingenieurin –<br />
und unter den wohlwollenden Augen der<br />
Schlossherrin – in der neuen Messtechnik.<br />
Aufgenommen wurde die Schlosskapelle.<br />
Ein berühmtes Bauwerk …<br />
Wodurch war die Wahl dieses Bauwerks<br />
motiviert? Das Schloss Anet ist ein<br />
Hauptwerk der französischen Baukunst<br />
Abb. 1: Anet, Schlosskapelle.<br />
Der Aussenbau von<br />
Osten. (Foto: Volker Hoffmann)<br />
und wurde zwischen 1548 und 1553 vom<br />
grössten französischen Architekten des<br />
Jahrhunderts, von Philibert Delorme, für<br />
die Herzogin Diane de Poitiers, die geistreiche<br />
und subtile Favoritin König Heinrichs<br />
II., erbaut. Die partielle Zerstörung<br />
des Schlosses zu Anfang des 19. Jahrhunderts<br />
hat die Kapelle nahezu unbeschadet<br />
überstanden (Abb. 1–3).<br />
Diese Kapelle nun, eine überkuppelte Rotunde<br />
mit Kreuzarmen und zwei Türmen,<br />
ist ein Bauwunder der Stereotomie. Unter<br />
Stereotomie versteht man den Steinschnitt<br />
in seiner Anwendung auf den Gewölbebau.<br />
Die Konstruktion stereometrischer Körper<br />
mit doppelt gekrümmten Flächen verlangt<br />
eine hoch entwickelte Geometrie. Die<br />
nach den geometrischen Rissen gehauenen<br />
Werksteine müssen so genau bearbeitet<br />
und versetzt sein, dass die Mörtelfugen<br />
beinahe zum Verschwinden gebracht<br />
werden. Die Stereotomie, als Projektionsmethode<br />
eng verwandt mit der Perspektive,<br />
ist die praxisorientierte Vorstufe der darstellenden<br />
Geometrie, deren Theorie Gaspard<br />
Monge (Géométrie descriptive, Pa-<br />
Abb. 2: Anet, Schlosskapelle. Der Innenraum<br />
von Westen, Weitwinkelaufnahme.<br />
Abb. 3: Anet, Schlosskapelle. Senkrechter<br />
Blick in die Kuppel, Weitwinkelaufnahme.<br />
ris 1795) entwickelt hat und die wiederum<br />
die Grundlage der modernen technischen<br />
Zeichnung bildet. Philibert Delorme (1514<br />
bis 1570), Erbauer der Schlosskapelle, war<br />
auch der Verfasser des ersten Traktats über<br />
Stereotomie, das er im dritten und vierten<br />
Kapitel seines Werkes Le premier Tome de<br />
l’architecture (Paris 1567) veröffentlicht<br />
hat. Dieses Traktat hat hohen Rang auch<br />
in der Wissenschaftsgeschichte.<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
(Foto: Volker Hoffmann)<br />
(Foto: Volker Hoffmann)<br />
27
… und seine Kuppel<br />
Der geistesgeschichtliche Hintergrund<br />
und die stereotomisch-exakte Bauweise<br />
der Kapelle hätten als Grund ausgereicht,<br />
sie für den Probelauf unseres Cyrax auszuwählen;<br />
entscheidend war ihre berühmte<br />
Kassettenkuppel, deren Innenschale aus<br />
36 gekurvten, schräg ansteigenden, einander<br />
durchkreuzenden Rippen gebildet<br />
wird. Der geometrische Entwurf dieser<br />
Kuppel, ein Problem der Kugelgeometrie,<br />
ist unverstanden geblieben. Seine Rekonstruktion,<br />
damit auch die Rekonstruktion<br />
des Werkrisses, ist aber ein Forschungsvorhaben<br />
am Lehrstuhl für Architekturgeschichte<br />
– und nun bot sich die Möglichkeit,<br />
anhand genauer Bauaufnahmen<br />
unsere theoretischen Entwürfe zu überprüfen<br />
und weiterzuentwickeln!<br />
Die ersten Messbilder<br />
Der Cyrax 2500 erzeugt Messbilder. Messbilder<br />
sind im Prinzip zentralperspektivische<br />
Abbildungen von Körpern auf einer<br />
Ebene, und diese Bilder lassen sich unter<br />
bestimmten Voraussetzungen entzerren,<br />
also in ein isometrisches Bild umformen,<br />
aus dem sich z. B. der Grundriss und<br />
Aufriss des abgebildeten Körpers zeichnen<br />
und – besitzt man wenigstens zwei reale<br />
Masse – alle realen Masse jenes Körpers,<br />
soweit er im Bilde erschienen ist, gewinnen<br />
lassen. Die Entstehung des Messbildes<br />
fällt zumindest als Möglichkeit zusammen<br />
mit der Erfindung der abbildenden<br />
Zentralperspektive durch den Florentiner<br />
Filippo Brunelleschi am Anfang des<br />
15. Jahrhunderts. Zur perspektivischen Abbildung<br />
des Baptisteriums und der Piazza<br />
della Signoria hat er (soweit wir das heute<br />
wissen können) auf der Grundlage der euklidischen<br />
Optik erstmals einen Perspektivapparat<br />
gebaut. Er besteht aus einem<br />
Fadennetz (Projektionsebene) und einer<br />
Lochplatte (Augpunkt) (Abb. 4). Vom<br />
28 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
fixierten Auge aus kann der «Sehstrahl»<br />
durch das Fadennetz hindurch das Objekt<br />
Zeile für Zeile, Punkt für Punkt abtasten.<br />
Die Schnittpunkte des Sehstrahls mit dem<br />
Fadennetz werden Masche für Masche von<br />
Hand auf ein dem Netz analog quadriertes<br />
Täfelchen übertragen. Verbindet man<br />
diese Punkte mit Linien, so erhält man das<br />
zentralperspektivische Abbild des gesehenen<br />
Gegenstandes, das sich dann auch als<br />
Messbild verwerten liesse.<br />
Albrecht Dürers<br />
Beschreibungen<br />
Albrecht Dürer war der Erste, der Perspektivapparate,<br />
vier an der Zahl, in seinem<br />
Werk Unterweisung der Messung mit Zirkel<br />
und Richtscheit (Nürnberg 1525 und<br />
1538) graphisch dargestellt und in ihrer<br />
Handhabung beschrieben hat. Wir reproduzieren<br />
den Zeichner der Laute (1525)<br />
(Abb. 5). Der «Sehstrahl» ist als Faden<br />
materialisiert, das Fadennetz durch einen<br />
Rahmen ersetzt, an dem ein Türchen drehbar<br />
befestigt ist und in dem zwei Stäbe horizontal<br />
und vertikal verschoben werden<br />
können. Der Faden ist rechts mit einem<br />
Gewicht beschwert, wird durch eine Öse<br />
(den «Augpunkt») gezogen und durch den<br />
Rahmen geführt. Mit dem Zeigestift am<br />
linken Ende des Fadens tippt der Opera-<br />
Abb. 5: Albrecht Dürer,<br />
«Der Zeichner der Laute».<br />
Erste graphische Darstellung<br />
eines Perspektivapparates,<br />
1525. (Nach «Unterweisung<br />
der Messung»)<br />
Abb. 4: Der erste Perspektivapparat<br />
(Filippo Brunelleschi,<br />
Anfang 15. Jahrhundert).<br />
Hypothetische<br />
Nachbildung von Volker<br />
Hoffmann. (Foto: V. Hoffmann)<br />
teur auf eine bildrelevante Stelle der Laute.<br />
Den Ort, an dem der Faden den Rahmen<br />
durchdringt, fixiert der Zeichner als Kreuzungspunkt<br />
der beiden Stäbe; der Faden<br />
wird dann zurückgezogen, das Türchen<br />
auf den Rahmen geklappt und der fixierte<br />
Punkt auf dessen Zeichenfläche markiert.<br />
Sind genügend Punkte abgetragen und mit<br />
Linien verbunden, so ist ein genaues zentralperspektivisches<br />
Abbild der Laute entstanden.<br />
Dies Beispiel zeigt sehr schön, dass schon<br />
vor Jahrhunderten mit der Möglichkeit,<br />
auf rein mechanischem Wege zentralperspektivische<br />
Bilder zu erzeugen, experimentiert<br />
worden ist – und zeigt zugleich<br />
die praktischen Grenzen dieses Verfahrens,<br />
die durch die umständliche Manipulation<br />
abgesteckt sind. Der Zeitpunkt,<br />
zu dem die mit Apparaten (zu denen auch<br />
die Camera obscura gehört) erzeugten perspektivischen<br />
Abbildungen als Messbilder<br />
Verwendung fanden, lässt sich heute noch<br />
nicht genau angeben; ich vermute allerdings,<br />
dass bereits Brunelleschi mit Messbildern<br />
experimentiert hat.<br />
Die Weiterentwicklung<br />
dank der Photographie<br />
Erst die Erfindung der Photographie (J. N.<br />
Niépce, 1826) machte die Entwicklung des<br />
modernen, wirklich brauchbaren Messbildes<br />
möglich. Die photographische Kamera<br />
ist ein Perspektivapparat, das Photo eine<br />
zentralperspektivische Abbildung, die sich<br />
in eine isometrische umformen lässt; ihr<br />
Vorteil besteht darin, dass sie viel schneller<br />
und viel genauer herzustellen ist, als<br />
dies mit den Perspektivapparaten Brunelleschis,<br />
Dürers und anderer jemals möglich<br />
gewesen wäre. Albrecht Meydenbauer<br />
war es nun, der das photographische<br />
Messbildverfahren – nach Vorarbeiten von
Abb. 6: Albrecht Meydenbauers<br />
erste Messkammer,<br />
1867. (Nach «Hundert<br />
Jahre Architektur im<br />
Messbild»)<br />
Abb. 7: Anet, Schlosskapelle.<br />
Perspektive des Innenraumes.Cyrax-Aufnahme,<br />
Modellierung<br />
Nikolaos Theocharis<br />
Abb. 8: Anet, Schlosskapelle.<br />
Grundriss und<br />
Fussbodenmuster. Cyrax-<br />
Aufnahme, Modellierung<br />
Nikolaos Theocharis.<br />
J. Laussedat (1851) – in der Anwendung<br />
auf Bauwerke seit 1860 begründet, entwickelt<br />
und zu hoher Reife gebracht hat. 1885<br />
konnte er in Berlin die Königlich-preussische<br />
Messbild-Anstalt gründen, die später<br />
zum Messbildarchiv wurde und bis<br />
heute als eine Abteilung des Brandenburgischen<br />
Landesamtes für Denkmalpflege<br />
fortbesteht. Die von Meydenbauer konstruierten<br />
Photoapparate, Messkammern<br />
genannt, hatten Weitwinkelobjektive und<br />
Bildnegativträger in Gestalt von 40 x 40<br />
cm grossen Glasplatten (Abb. 6). Mit ihnen<br />
liessen sich Messbilder von hoher Auflösung<br />
(Abbildungsschärfe) herstellen und<br />
danach in geometrische Zeichnungen,<br />
Grundrisse, Durchschnitte, Ansichten in<br />
beliebigem Massstab austragen. Meydenbauer<br />
selbst schätzte deren «Genauigkeit<br />
im Massstab 1 : 100 auf etwa 5–8 cm für<br />
die grossen Abmessungen bis 100 m Länge<br />
und Höhe (ca. 1/1500)».<br />
Die Photogrammetrie ist seitdem ständig<br />
weiterentwickelt und auf das berührungsfreie<br />
Messen sowohl im Makro- als auch<br />
im Mikrobereich erweitert worden. Es<br />
gibt die Stereophotogrammetrie und es<br />
gibt CD-Messkammern, die Aufnahmen<br />
können digitalisiert, auf dem Bildschirm<br />
bearbeitet und mit CAD (computer aided<br />
design) gekoppelt werden etc. Abgesehen<br />
von einfachen Aufgaben, wie sie etwa das<br />
Ausmessen einer Hausfront darstellt, ist<br />
die unmittelbare Anwendung dieser entwickelten<br />
Messtechnik in den kleinen <strong>Universität</strong>sinstituten<br />
der Geisteswissenschaften<br />
allerdings kaum möglich, da es dort in<br />
der Regel an der personellen und apparativen<br />
Ausstattung und am nötigen Sachverstand<br />
fehlt. Man ist auf die Dienste staatlicher<br />
oder privater Institute angewiesen,<br />
findet selten zur rechten Zeit die Finanzmittel,<br />
um deren Arbeit zu honorieren –<br />
und, was schwerer wiegt: bei der Bearbeitung<br />
und Lösung kniffliger Fragen müssen<br />
der Operateur der Apparate und der Wissenschafter<br />
räumlich und persönlich eng<br />
zusammenarbeiten – ein unverzichtbares<br />
Zusammenspiel, das bei der Auslagerung<br />
von Arbeitsvorgängen nur selten zustande<br />
käme.<br />
Der Cyrax 2500<br />
Der neue Laserscanner Cyrax 2500<br />
scheint nun für den Gebrauch in kleinen,<br />
nicht auf Messtechnik spezialisierten Instituten<br />
bestens geeignet zu sein. Seine Ar-<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
29
Abb. 9: Anet, Schlosskapelle. Schnitt durch die Kuppel und Parallelprojektion. Cyrax-<br />
Aufnahme, Modellierung Nikolaos Theocharis.<br />
beitsweise stellt Manuel Gerber in einem<br />
eigenen Beitrag auf Seite 31 dar, so dass<br />
ich zum Schluss kommen kann.<br />
Der erste Zweck der Cyrax-Aufnahmen<br />
der Schlosskapelle von Anet war das Einüben<br />
in die neue Technik, der zweite war,<br />
die Lösung eines Problems zu suchen, das<br />
uns seit längerem beschäftigt: die Beschreibung<br />
der Kuppelgeometrie. Es ist<br />
dies ein nichtklassisches Problem der Geometrie<br />
der Kugel, das sich ohne exakte<br />
Bauaufnahme nur theoretisch behandeln<br />
liess. Dank des neuen Geräts sind wir einen<br />
grossen Schritt vorangekommen und<br />
dürfen annehmen, die vielleicht definitive<br />
Lösung dieser in der Geschichte der darstellenden<br />
Geometrie interessanten Frage<br />
gefunden zu haben. Damit können wir<br />
dem Plan, über die Kapelle von Anet eine<br />
wissenschaftlich-didaktische Ausstellung<br />
30 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
zu konzipieren, ernsthaft näher treten und<br />
sie hoffentlich 2004 auf Wanderschaft<br />
schicken. Als Resultate der «Fingerübungen»,<br />
die viel Fingerspitzengefühl verlangt<br />
haben, bilden wir hier lediglich drei Beispiele<br />
«modellierter» Cyrax-Aufnahmen<br />
ab, eine Perspektive des Innenraumes von<br />
einem in der Realität unmöglichen Betrachterstandpunkt<br />
aus «gesehen» (Abbildung<br />
7), den aus dem dreidimensionalen<br />
«Modell» gewonnenen Grundriss mit<br />
der ebenfalls rechnergestützten Einzeichnung<br />
des geometrischen Fussbodenmusters<br />
(Abb. 8) und den Schnitt durch die<br />
Kuppel mit Parallelprojektion ihrer Kassetten<br />
und Rippen (Abb. 9).<br />
Ein Zukunftsprojekt<br />
Im Oktober 2002 wollen wir das Hauptziel<br />
unserer Forschungsarbeit ansteuern,<br />
die Hagia Sophia in Istanbul. Im Rahmen<br />
des Nationalfondsprojektes werden wir<br />
mit dem Cyrax-Aufnahmen in dem weltberühmten,<br />
532–537 unter Kaiser Justinian<br />
I. errichteten Kuppelbau machen,<br />
parallel dazu auch photogrammetrische<br />
Aufnahmen. Der Erste, der – 1902 – die<br />
Hagia Sophia photogrammetrisch aufgenommen<br />
hat, war Albrecht Meydenbauer;<br />
wir werden, genau hundert Jahre später,<br />
wahrscheinlich die ersten sein, die sie mit<br />
einem Laserscanner vermessen.<br />
Prof. Dr. Volker Hoffmann<br />
Institut für Kunstgeschichte<br />
Abteilung für Architekturgeschichte<br />
und Denkmalpflege<br />
Die <strong>Bern</strong>er Teilnehmer am Probelauf<br />
von Anet waren: Prof. Dr. Volker<br />
Hoffmann, Dipl. Ing. Nikolaos<br />
Theocharis, Dipl. Arch. Robert Walker,<br />
lic. phil. Francine Giese (Architekturgeschichte),<br />
lic. phil. Manuel<br />
Gerber, stud. phil. Vladimir Dianiska<br />
(Vorderasiatische Archäologie),<br />
cand. phil. nat. Fabian Dolf<br />
(Geographie). Das Team möchte<br />
sich bei der Schlossherrin, Frau Baronin<br />
L. de Yturbe, für die freundliche<br />
Unterstützung bedanken.
3D Long Range Laser Scanning<br />
Der Cyrax 2500 gehört zu den ersten feldtauglichen und leicht zu bedienenden Vertretern einer neuen Generation von Vermessungsgeräten,<br />
den 3D Long Range Laser Scannern. Im Unterschied zur konventionellen Vermessung mit Lasertheodoliten<br />
werden beim Laser Scanning nicht einige wenige relevante Punkte eingemessen, sondern mehrere Hunderttausend pro Aufnahme.<br />
Das Resultat ist eine hochaufgelöste, dreidimensionale «Punktwolke», welche einen kegelförmigen Raumausschnitt<br />
aus der Perspektive des Scanners äusserst präzise abbildet. Messschatten, die hinter den gescannten Objekten entstehen,<br />
werden über die Kombination mehrerer Scans von verschiedenen Positionen aus kompensiert.<br />
Die Funktionsweise ist bei den meisten Scannern dieselbe: ein pulsierender Laser wird über drehbare Spiegel so abgelenkt,<br />
dass er kolumnenweise einen bestimmten Raumausschnitt abtastet. Gemessen wird die Orientierung der Spiegel, die Zeit,<br />
die der Laser für die Strecke vom Scanner zum Objekt und zurück benötigt (time-of-flight), sowie die Intensität des reflektierten<br />
Signals. Für jeden Punkt auf der Oberfläche eines Objekts stehen damit seine x-, y- und z-Koordinaten sowie ein Intensitätswert<br />
zur Verfügung.<br />
Der Cyrax 2500 hat ein Scanfenster von 40°x40°, seine Reichweite liegt bei ca. 100 m. In dem so definierten kegelförmigen<br />
Raumausschnitt von ca. 120 000m 3 beträgt der Messfehler für die Position eines einzelnen Punktes selbst auf die Maximaldistanz<br />
nur wenige Millimeter, für modellierte Oberflächen ist er noch wesentlich kleiner.<br />
Unabhängig von der gewählten Scanauflösung nimmt die Messpunktdichte innerhalb dieses Raumes mit zunehmender Distanz<br />
ab. In der Regel wird deshalb zuerst ein Überblicksscan mit der maximalen Auflösung (1000 000 Punkte) gemacht, in<br />
welchen dann Detailscans von derselben Scannerposition aus, aber mit höherer Messdichte eingehängt werden; der minimale<br />
Punktabstand bei Detailscans beträgt 0,25 mm. Für die Aufnahme eines solchen Kombinationsscans mit 2 000 000<br />
Messpunkten werden etwa 40 Minuten benötigt. Da der gesamte Scanvorgang im Voraus programmiert wird und automatisch<br />
abläuft, kann während dieser Zeit an der Registrierung oder Modellierung bereits vorhandener Punktwolken gearbeitet<br />
oder die sich aufbauende Punktwolke in Echtzeit visualisiert und kontrolliert werden.<br />
Die detaillierte Vermessung der Schlosskapelle von Anet dauerte nur drei Arbeitstage. In dieser Zeit wurden ca. 70 000 000<br />
Messungen von 19 verschiedenen Scannerpositionen aus durchgeführt. Da die einzelnen Punktwolken nicht in ein unabhängiges,<br />
bereits vorhandenes Messnetz eingepasst werden konnten, wurden sie über gemeinsame Messmarken mehrerer<br />
Scans zusammengefügt. Auf diese Weise gelang selbst die anfänglich als problematisch eingeschätzte Verbindung der Innen-<br />
und Aussenraumscans mit hinreichender Präzision (problematisch deshalb, weil sich die Überlappung dieser beiden Bereiche<br />
auf einen schmalen Streifen im Torbereich beschränkte und die gemeinsamen<br />
Messmarken wesentlich näher beieinander lagen als von Leica empfohlen). Mit konventionellen<br />
Methoden wäre eine ähnlich detaillierte und präzise Bauaufnahme unabhängig<br />
vom Aufwand an Personal und Zeit nicht möglich gewesen.<br />
Der Cyrax 2500<br />
Nach dem erfolgreichen Testlauf in Anet übernimmt das Institut für Vorderasiatische<br />
Archäologie und Altorientalische Philologie im Frühling 2003 im Auftrag des DEZA<br />
die vollständige Vermessung und 3D-Visualisierung des Banteay Srei-Tempels in Ankor,<br />
Cambodia. Geplant ist ausserdem der Einsatz des Geräts zur orthophotographischen<br />
Grabungsaufnahme in Tall al-Hamidiya sowie zur der mikrotopographischen<br />
Vermessung verschiedener Siedlungshügel in Vorder- und Zentralasien als Grundlage<br />
einer Studie zum Erosionsverhalten komplexer archäologischer Baustrukturen.<br />
Manuel Gerber, lic. phil.<br />
Institut für Vorderasiatische Archäologie und Altorientalische Philologie<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
31
«Gated Community»-Forschung in Ägypten<br />
Ferien hinter Mauern<br />
An der Mittelmeerküste westlich von Alexandria reihen<br />
sich über 100 Feriensiedlungen aneinander, die hauptsächlich<br />
binnentouristisch genutzt werden. Zu den augenfälligsten<br />
Gemeinsamkeiten gehören ihre Ummauerung und die<br />
bewachten Eingangstore – typische Merkmale sogenannter<br />
«Gated Communities». Der öffentliche Zugang zu solchen<br />
Siedlungen ist normalerweise erschwert oder unmöglich.<br />
Marina Al-Alamein ist die grösste und national<br />
berühmteste Feriensiedlung Ägyptens.<br />
Marina 1 liegt etwa sechs Kilometer<br />
östlich von Al-Alamein an einer Lagune.<br />
Die Siedlung ist, wie der Begriff «Gated<br />
Community» nahelegt, von einer Mauer<br />
umschlossen; mehrere bewachte Tore<br />
führen in das Dorf hinein (Abb. 1 und<br />
Abb. 2). Marina wurde im Rahmen einer<br />
sozialgeographischen Diplomarbeit an der<br />
<strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong> genauer unter die Lupe<br />
genommen.<br />
Marina als Vorbild<br />
In den 1980er-Jahren veranlasste der<br />
ägyptische Staat den Bau von Marina und<br />
zwei weiterer Dörfer. Die drei staatlichen<br />
Pilotprojekte hatten eine Vorbildfunktion:<br />
Die touristische Erschliessung der Nordwestküste<br />
sollte nationale Wirtschaftszweige<br />
ankurbeln sowie private Investitionen<br />
fördern. Gleichzeitig wurde dem<br />
expandierenden sommerlichen Binnentourismus<br />
Rechnung getragen. An der Mittelmeerküste<br />
ist das Klima im Vergleich zur<br />
stickigen Hitze in den Grossstädten wesentlich<br />
kühler und frischer. Die Küste<br />
wurde in den vergangenen Jahrzehnten<br />
für Millionen Ägypterinnen und Ägypter<br />
zum bevorzugten Ziel für Sommerferien<br />
und Ausflüge.<br />
Mit den ausgedehnten Grünflächen und<br />
dem Einbezug der natürlichen Lagune<br />
steht die architektonische Umsetzung<br />
von Marina im Zeichen suburbaner Gestaltungsideale.<br />
Räumliche Ästhetik war<br />
für den leitenden Architekten Dr. Abdallah<br />
Abdel Aziz ein Hauptanliegen. Ihm<br />
schwebte das Idealbild einer «grünen<br />
1 «Marina» ist die gängige Abkürzung für die offizielle<br />
Bezeichnung «Touristisches Zentrum Marina<br />
Al-Alamein».<br />
32 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
Stadt» vor. Er orientierte sich unter anderem<br />
an amerikanischen Projekten, die er<br />
besucht hatte. Der verantwortliche Bauminister<br />
lehnte indessen den Vorschlag<br />
von Abdel Aziz, mit ausländischen Planungskräften<br />
zusammenzuarbeiten, ab:<br />
«Ich schlug am Anfang vor, eine amerikanische<br />
Firma beizuziehen, um uns das nötige<br />
Know-how für die Entwicklung eines<br />
solchen Projekts zu geben. Aber der Bauminister<br />
ging darauf nicht ein. Er sagte:<br />
Wir sind Ägypter, und wir sind fähig, alles<br />
selber zu tun. Ich antwortete ihm: Nein,<br />
wir brauchen Ausländer ... ».<br />
Abnehmende<br />
Zugangsbeschränkungen<br />
und zunehmende Popularität<br />
Anfangs wurde Marina ausschliesslich an<br />
Kaufinteressierte vermarktet. Diese wurden<br />
über eine nationalstaatliche Bank,<br />
aber auch persönlich angeworben, wie<br />
Dr. Abdel Aziz erklärt: «Ich begann, eine<br />
bestimmte Elite anzuziehen. Ich war mit<br />
dem Direktor dieser Bank befreundet, und<br />
wir bildeten zusammen ein Team, um die<br />
Leute auszuwählen.» Nach dem Erstverkauf<br />
begannen sowohl Privatpersonen als<br />
auch die Verwaltung, Liegenschaften an<br />
Mieterinnen und Mieter anzubieten. Eine<br />
weitere Zielgruppe stellen Tagesbesuche-<br />
Abb. 1: Eines der Gates,<br />
der Tore, die nach Marina<br />
Al-Alamein führen.<br />
(Bild: Günter Meyer)<br />
rinnen und -besucher dar, welche eine<br />
Eintrittsgebühr zu entrichten haben. Um<br />
freien Eintritt zu erhalten, muss die persönliche<br />
Beziehung zu einer in Marina<br />
Al-Alamein ansässigen Person nachgewiesen<br />
(beispielsweise mit einer auf den<br />
Namen des Liegenschaftseigentümers ausgestellten<br />
Mitgliederkarte) oder mit Verhandlungsgeschick<br />
glaubwürdig dargelegt<br />
werden können.<br />
Berühmt-berüchtigt<br />
«Hier verwirklichen sich ihre Träume!»,<br />
steht vielversprechend auf der Informationsbroschüre<br />
über Marina. Nationalen<br />
Bekanntheitsgrad erhielt dieses Feriendorf<br />
im Sommer 1998 wegen Unfällen<br />
und Gesetzeswiderhandlungen, in die<br />
einflussreiche Politiker oder Geschäftsleute<br />
verwickelt waren. Als «Marina-<br />
Syndrom» fasste die ägyptische Presse<br />
damals das Werte und Normen missachtende<br />
Verhalten neureicher Schichten in<br />
Marina zusammen. Ihr rücksichtsloses<br />
Benehmen sei Ausdruck einer sozialen<br />
Krise Ägyptens.<br />
Zur Imagepflege von Marina wurden verschiedene<br />
Massnahmen ergriffen: Dazu<br />
gehören Verkehrsverbote und die allgegenwärtige<br />
Anwesenheit von Wächtern des Sicherheitsdienstes.<br />
Ausserdem treten während<br />
der Sommersaison einmal pro Woche<br />
populäre arabische Musikstars in Marina<br />
auf. Mehrere Fernsehkanäle strahlen die<br />
Konzerte jeweils live aus. Sie sollen den<br />
Eindruck einer guten Stimmung in geordnetem<br />
Rahmen vermitteln. Wie die Werbestrategien<br />
für die Konzerte sowie für kommerzielle<br />
Ausstellungen zeigen, umfasst<br />
das angesprochene Zielpublikum auch Besucher<br />
und Besucherinnen von auswärts
(Abb. 3). Vermutlich haben zusätzlich zu<br />
den genannten Massnahmen die negativen<br />
Schlagzeilen selbst zur Erhöhung der<br />
Attraktivität des Feriendorfes beigetragen.<br />
Während die Mehrheit der Liegenschaftseigentümerinnen<br />
und -eigentümer<br />
bereits 1993 oder früher zum ersten Mal<br />
ihre Ferien in Marina verbrachte, nahm<br />
die Zahl der Mieter und der Besucherinnen<br />
und Besucher nämlich erst seit 1999 beträchtlich<br />
zu. «Marina ist zu populär geworden<br />
durch Gerüchte und Bücher. Deshalb<br />
will jetzt jeder kommen und schauen»,<br />
meint eine Lehrerin aus Kairo, deren Familie<br />
in Marina eine Villa besitzt.<br />
Die steigende Beliebtheit auch für Ausflüglerinnen<br />
und Ausflügler verdankt<br />
Marina sowohl der Mund-zu-Mund-Pro-<br />
Abb. 2: Blick auf die an einer<br />
Lagune gelegene Feriensiedlung<br />
Marina Al-Alamein.<br />
(Bild: Günter Meyer)<br />
paganda als auch den Medien. Für viele im<br />
Rahmen dieser Arbeit Befragte hat Marina<br />
das höchste Prestige aller Feriendörfer an<br />
der Nordwestküste oder sogar ganz Ägyptens:<br />
«Alle meine Bekannten träumen davon,<br />
nach Marina zu kommen. Sie nennen<br />
mich ‹Mariney Lady›, schwärmt eine alteingesessene<br />
Villeneigentümerin.»<br />
Strukturell eine<br />
«Gated Community»<br />
Die Organisationsstruktur von Marina<br />
ist vergleichbar mit jener anderer «Gated<br />
Communities», sei es in Südafrika, Argentinien,<br />
Rumänien oder in den USA (s. Kasten<br />
«Gated Communities» International –<br />
das Forschungsnetzwerk). Eine halbprivate<br />
Verwaltungsfirma ist für Wasser,<br />
Strom, Abfallentsorgung, Unterhalt und<br />
«Gated Communities» International – das Forschungsnetzwerk<br />
Das Konzept der «Gated Communities» stammt aus den USA. Dort ist diese Siedlungsform<br />
seit den 1990er-Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.<br />
Schätzungsweise leben über 48 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner<br />
in ungefähr einer Viertelmillion «Gated Communities». Die starke Zunahme<br />
dieser Wohnform während den vergangenen 20 Jahren beschränkt sich jedoch<br />
nicht auf die USA, sondern kann weltweit beobachtet werden. Ein internationales<br />
Forschungsnetzwerk studiert Ursachen und Folgen dieses global zunehmenden<br />
Siedlungsphänomens.<br />
«Was sind Gründe für die rasante Zunahme von ‹Gated Communities›?» – «Ist<br />
diese Entwicklung Teil der sogenannten ‹Privatisierung des öffentlichen Raumes›?»<br />
– «Was heisst überhaupt ‹öffentlicher Raum›?» Solche Fragen bildeten den Ausgangspunkt<br />
intensiver Diskussionen an der ‹International Conference on Private<br />
Urban Governance›, welche vom 6.–9. Juni 2002 an der <strong>Universität</strong> Mainz stattfand.<br />
(http://www.gated-communities.de/). Über 50 Wissenschafterinnen und<br />
Wissenschafter, hauptsächlich aus Europa und den USA, nahmen an der Konferenz<br />
teil. Sie wurde von Mitgliedern eines interdisziplinären Forschungsnetzwerks<br />
organisiert, das sich mit der Expansion von ‹Gated Communities› als ‹globales<br />
Phänomen› befasst. Empirische Untersuchungen zu ‹Gated Communities›<br />
in Ägypten wurden bisher von Prof. Günter Meyer, <strong>Universität</strong> Mainz, durchgeführt.<br />
Prof. Meyer ist Mitglied des Forschungsnetzwerks und Mitbetreuer der hier<br />
vorgestellten Diplomarbeit. Er leitete 1999 an der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong> einen Blockkurs<br />
über Ägypten.<br />
Sicherheitsdienste zuständig. Für das reibungslose<br />
Zusammenleben stellte die Firma<br />
sogenannte «allgemeine Verhaltensregeln»<br />
auf. Sie umfassen Verkehrsverbote<br />
und Anweisungen für die Gestaltung<br />
privater Wohn- und Gartenflächen sowie<br />
Empfehlungen zum Verhalten in der Öffentlichkeit.<br />
Die Regeln werden den Liegenschaftseigentümerinnen<br />
und -eigentümern<br />
bei der Vertragsunterzeichnung<br />
mitgeteilt. Der Planungsexperte Dr. Milad<br />
Hanna schätzt ihre Verbindlichkeit in<br />
der Praxis aber als gering ein: «Normalerweise<br />
kennen die Leute die Regeln ‹auf<br />
die ägyptische Art›, das heisst, die Auflagen<br />
und Empfehlungen werden nicht deklariert<br />
oder unterzeichnet, und niemand<br />
ist verpflichtet, sie zu befolgen. Es sind<br />
grundsätzliche Regeln, die praktisch alle<br />
kennen. Häufig werden sie mündlich von<br />
einer Familie an die nächste weitergegeben.<br />
Ob sie befolgt werden oder nicht, ist<br />
eine andere Geschichte ... ».<br />
Diese Diskrepanz zwischen der vorgesehenen<br />
Verwaltungsstruktur einerseits und<br />
der praktischen Durchsetzung andererseits<br />
ist auch für «Gated Communities» in anderen<br />
Ländern typisch.<br />
Eine heterogene Bevölkerung ...<br />
In der Forschung werden die Mauern um<br />
«Gated Communities» häufig als Symbol<br />
gesellschaftlicher Fragmentierung und Polarisation<br />
interpretiert. Die unterschiedliche<br />
soziale Herkunft der temporären<br />
Bevölkerung von Marina widerspricht<br />
jedoch dieser Annahme, wie Adel Hammuda,<br />
Schriftsteller und Liegenschaftseigentümer<br />
in Marina, beschreibt: «Wenn<br />
man umhergeht, trifft man sowohl Leute,<br />
die mit dem Bus kamen, als auch solche,<br />
die mit dem Helikopter in Marina landeten.<br />
Einige leben in Palästen und Villen,<br />
andere mieten eine Unterkunft oder gelangen<br />
mit einem Eintrittsticket herein.»<br />
Im Vergleich zur gesamten Gesellschaft<br />
Ägyptens liegt in Marina der Anteil höherer<br />
sozialer Schichten zweifellos über dem<br />
Durchschnitt. Das Dorf ist aber auch für<br />
Mittel- und Unterschichten zugänglich.<br />
... und soziale Abgrenzungen<br />
Die Frage der Zugehörigkeit stellt sich in<br />
Marina vor allem innerhalb der Mauern.<br />
Soziale Entmischung zeigt sich bei der<br />
Nutzung öffentlicher Räume. Zum Bei-<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
33
Abb. 3: Die Autoausstellung «Motorina»<br />
wurde in einem Artikel der ägyptischen<br />
Tageszeitung «Al-Ahram» im Sommer 2000<br />
als «grösste Ausstellung der Geschichte der<br />
Nordwestküste» bezeichnet. (Bild: Amira Latif)<br />
spiel ist ein bestimmter Strand bekannt als<br />
Treffpunkt von Jugendlichen der Kairoer<br />
High Society, deren Eltern Liegenschaften<br />
in Marina besitzen. An einem anderen<br />
Strand sind hauptsächlich Kurzaufenthalterinnen<br />
und -aufenthalter anzutreffen.<br />
Die Zugehörigkeitsfrage ist Gegenstand<br />
von Diskussionen vor Ort. Unter Eigentümerinnen<br />
und Eigentümern sowie unter<br />
den in Marina während der Saison Erwerbstätigen<br />
gehört es gewissermassen<br />
zum guten Ton, über den schlechten Einfluss<br />
von Mietern und Tagesbesuchern zu<br />
lamentieren. Die beiden letztgenannten<br />
Gruppen werden generell tieferen Gesellschaftsschichten<br />
zugeordnet. So erklärt<br />
ein Koch, der seit zehn Jahren in<br />
Marina arbeitet: «Das soziale Niveau war<br />
früher hoch, hier wohnte eine gehobene<br />
Schicht. Dann begannen Gruppen zu erscheinen,<br />
die sich von denen, an die wir<br />
gewöhnt waren, unterscheiden. Das liegt<br />
an den Mietern.»<br />
Als weitere Dimension der Kritik werden<br />
bestimmte soziale Gruppen bemängelt,<br />
deren Verhalten gegen Werte und Sitten<br />
verstosse. Kritik in Form einer Distanzierung<br />
stellt eine Möglichkeit zur eigenen<br />
Positionierung innerhalb der heterogenen<br />
Gesellschaft von Marina dar und hat somit<br />
eine identitätsstiftende Funktion.<br />
Debatten um die Sicherheit ...<br />
Einige Forscherinnen und Forscher zählen<br />
Sicherheitsbedürfnisse zu den wichtigsten<br />
Motivationsgründen für die Niederlassung<br />
in einer «Gated Community».<br />
In bestimmten Regionen haben sie tatsächlich<br />
eine entscheidende Bedeutung.<br />
34 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
In Südafrika beispielsweise wird dieser<br />
Funktion bereits bei der Namengebung<br />
Rechnung getragen: «Gated Communities»<br />
werden dort als «Security Developments»<br />
bezeichnet.<br />
Für die befragten Feriengäste in Marina<br />
ist die Angst vor der Gefährdung von<br />
Leib und Leben sowie durch Eindringlinge<br />
kaum ein Thema und die meisten<br />
sind auch nicht über die Gefährdung ihrer<br />
Besitztümer besorgt. Sicherheitsfragen<br />
stellen sich für sie jedoch innerhalb der<br />
Mauern. Nach den Verkehrsunfällen 1998<br />
wurden Sicherheitsfragen erstmals öffentlich<br />
debattiert. Die staatliche Verwaltung<br />
reagierte darauf mit einer Aufstockung der<br />
Zahl von Sicherheitskräften und der Einrichtung<br />
eines Polizeipostens.<br />
... und Klagen um Werteverluste<br />
Gefühle der Unsicherheit bestehen vielmehr<br />
auf der immateriellen Ebene moralischer<br />
Werte. Für einige befragte Eltern ist<br />
das Konsumverhalten von Jugendlichen in<br />
Marina Ausdruck des beklagten Werteverlusts.<br />
Sie äussern eine diffuse Furcht vor<br />
dem negativen Einfluss auf ihre Kinder.<br />
Analoge Entwicklungsprozesse in vormals<br />
exklusiven Feriensiedlungen veranlassten<br />
Ägyptens Eliten, ihre Sommerresidenzen<br />
von einem Ort zum nächsten zu verlegen.<br />
Die Errichtung der Mauern ist eine Massnahme<br />
zur Beibehaltung der Exklusivität.<br />
In Marina konnten die Mauern den aus<br />
älteren Siedlungen bekannten Entwicklungsverlauf<br />
jedoch nicht verhindern. Wie<br />
im folgenden Abschnitt thematisiert wird,<br />
stehen kurzfristige Vermarktungsstrategien<br />
damit in engem Zusammenhang.<br />
Konsumwelten<br />
Der im Gewerbezentrum von Marina ansässige<br />
Tierhändler und Hundevermieter<br />
ist zufrieden mit dem Geschäft: Besonders<br />
der Favorit unter seinen Mietobjekten, der<br />
grosse, schwarzgetupfte Dalmatiner, ist<br />
ständig ausgebucht. Für umgerechnet<br />
neun Franken pro Stunde rennt er bereitwillig<br />
immer wieder einem neuen Herrchen<br />
hinterher. Immerhin haben Hunde<br />
am bevorzugten Strandabschnitt der Kairoer<br />
Jugend eine ähnliche Bedeutung als<br />
Statussymbol wie Jeeps und andere Prestige-Autos,<br />
von denen meistens das eine<br />
oder andere mitgebracht wird.<br />
Konsumwünsche können in Marina mit<br />
einem breiten Angebot an käuflichen und<br />
mietbaren Gütern unterschiedlicher Preisklassen<br />
befriedigt werden. Das Angebot<br />
beschränkt sich nicht auf den Alltagsbedarf,<br />
sondern umfasst auch Luxusartikel,<br />
wie Markenkleider oder Sportgeräte.<br />
Marina bietet aber nicht nur einen Rahmen<br />
für den Erwerb von Gütern und Dienstleistungen,<br />
sondern ist selbst ein Konsumgut:<br />
Die visuellen und akustischen Eindrücke,<br />
die Landschaft, das Image – oder mit<br />
anderen Worten die qualitativen Eigenschaften<br />
von Marina als Ort werden mit<br />
Marktpreisen versehen und damit zu handelbaren<br />
Gütern gemacht. Die Erhebung<br />
von Gebühren für den Eintritt sowie für<br />
Marina in Zahlen<br />
• Lage: ca. 100 km westlich von Alexandria, 6 km östlich der Ortschaft Al-Alamein<br />
• Länge: 11 km; Fläche: 35 km 2<br />
• Anzahl Wohneinheiten: 8300; Bewohnerkapazität (behördliche Schätzung):<br />
41500<br />
• Preis- und Lohnbeispiele (in CHF; Sommer 2000):<br />
– 3-Zimmer-Appartement (Kaufpreis) 390 000.–<br />
– Miete 2-Zimmer-Wohnung ab 90.–/Tag (ab 2700.–/Monat)<br />
– Gewerbefläche 2x1 m 2 2175.–/Saison (435.–/Monat)<br />
– Lohn Sicherheitsdienstangestellter 90.–/Monat<br />
– Lohn Gärtner 6.50/Tag<br />
– Lohn Reinigungsdienstangestellter 3.–/Tag<br />
– Jetski-Miete 90.–/Stunde<br />
– Internetzugang 9.–/Stunde<br />
– Hundemiete 9.–/Stunde<br />
– Eintrittsticket 6.50/Tag
den Besuch kostenpflichtiger Veranstaltungen<br />
ist ein Beispiel für die Kommerzialisierung<br />
vor Ort.<br />
Die Massenmedien vermitteln<br />
beschönigtes Bild<br />
Zusätzlich wird Marina über die Massenmedien<br />
vermarktet. Werbespots am Fernsehen<br />
oder Reportagen und Inserate in Zeitungen<br />
ermöglichen fast der ganzen Bevölkerung,<br />
an Marina teilzuhaben. Über die<br />
Medien wird jedoch nur ein Ausschnitt der<br />
vielschichtigen Wirklichkeit gezeigt. Es ist<br />
eine gefilterte Sicht, hinter der sich eine<br />
bestimmte Darstellungsabsicht verbirgt:<br />
Zum Beispiel erwecken Live-Übertragungen<br />
von Musikkonzerten aus Marina stets<br />
Abb. 4: Familien aus dem<br />
Delta hat sich am Binnensee<br />
an der Lagune neben dem<br />
Parkplatz niedergelassen.<br />
Sie organisieren 2–3 Mal<br />
pro Saison einen gemeinsamen<br />
Ausflug nach Marina.<br />
Ein eigens dafür gemieteter<br />
Autocar fährt sie direkt bis<br />
zu diesem Strand.<br />
(Bild: Amira Latif)<br />
den Eindruck, dass die Veranstaltung ausverkauft<br />
ist. In Realität bleibt bisweilen<br />
die Mehrheit der Plätze frei, was den Fernsehzuschauerinnen<br />
und -zuschauern dank<br />
gezielt eingesetzter Kameraführung entgeht.<br />
Im Vergleich zur realen Teilnahme lässt<br />
der virtuelle Konsum über die Medien<br />
dem Individuum weniger Spielraum zur<br />
eigenen Interpretation und aktiven Einflussnahme<br />
auf das Geschehen.<br />
Die Darstellungen in den Medien werden<br />
dann in soziale Wirklichkeit überführt,<br />
wenn Feriengäste und Erwerbstätige sie<br />
verinnerlichen und sie in ihre Handlun-<br />
Qualitative Forschung – die Methodik der Diplomarbeit<br />
Ziel in der qualitativen Forschung ist nicht das Testen vorformulierter Hypothesen,<br />
sondern die Formulierung einer Theorie aus den erhobenen Daten. Mit dem theoretischen<br />
Vorwissen über den Forschungsgegenstand gilt es, Forschungsfragen<br />
auszuarbeiten und diese im Rahmen von halbstrukturierten Interviews und Beobachtungen<br />
zu untersuchen. Die qualitative Vorgehensweise ermöglicht es, anfänglich<br />
unberücksichtigte Themen aus dem Forschungsfeld in den Forschungsprozess<br />
zu integrieren und diesen nach Bedarf zu verändern.<br />
Qualitative Forschung interessiert sich für alltägliche Erfahrungen und Prozesse.<br />
Im Zentrum steht die Bemühung der Forscherin oder des Forschers, subjektive Bedeutungen<br />
sozialer Akteure und Akteurinnen zu verstehen, aber auch zu hinterfragen<br />
und zu abstrahieren.<br />
Die Anwendung qualitativer Methoden zieht sich wie ein roter Faden durch die<br />
vorgestellte Diplomarbeit, von der Konzeptualisierung bis zur Datenauswertung.<br />
Betreuerin der Arbeit an der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong> ist Prof. Doris Wastl-Walter, Leiterin<br />
der Gruppe für Sozialgeographie, Politische Geographie und Gender Studies<br />
des Geographischen Instituts. (http://sinus.unibe.ch/sg/).<br />
Die Arbeit basiert auf folgenden Daten:<br />
• Interviews mit 89 Feriengästen, 113 Erwerbstätigen, 13 Experten und 14 Personen<br />
aus der ägyptischen Bevölkerung in Marina, Kairo und Alexandria zwischen<br />
August 2000 und Januar 2001.<br />
• Beobachtungsnotizen, Fotos, Artikel aus der Tagespresse und Werbeprospekte<br />
der Feldforschung in Marina im August und September 2000.<br />
gen vor Ort integrieren. Der Schriftsteller<br />
und Liegenschaftsbesitzer Adel Hammuda<br />
beschreibt den Einfluss der Medien<br />
auf die Wahrnehmung der Bevölkerung in<br />
Marina: «Die Leute sind überzeugt, dass<br />
Marina nur eine Gesellschaft der Reichen<br />
ist, und das stimmt nicht. Aber es liegt in<br />
der Natur der Presse, dass sie keine Zeit<br />
hat, alle Aspekte zu berücksichtigen. Deshalb<br />
kreiert sie Stereotypen, und diese Bilder<br />
bleiben haften bei den Leuten, auch<br />
wenn sie die Gesellschaft hier sehen.»<br />
Die verschiedenen Kommerzialisierungsstrategien<br />
vermindern die ausschliessende<br />
Wirkung der Mauern. Sie fördern einen<br />
Entwicklungsverlauf von Marina, der sich<br />
kaum von demjenigen nicht-ummauerter<br />
Feriensiedlungen unterscheidet.<br />
Zukunftsvision<br />
Die Diplomarbeit über Marina zeigt die<br />
Wichtigkeit auf, den spezifisch lokalen,<br />
kontextbedingten Umständen bei der Diskussion<br />
von «Gated Communities» Rechnung<br />
zu tragen. In der Forschung werden<br />
mehrheitlich die sozial ausschliessenden<br />
Folgen des «Gating», das heisst der Errichtung<br />
von Mauern, diskutiert. Im Fall<br />
von Marina schärft ein Perspektivenwechsel<br />
auf die einschliessenden Effekte<br />
des «Gating» das Bewusstsein für ein ungenutztes<br />
Potenzial: Marina bietet dank<br />
der naturräumlichen und infrastrukturellen<br />
Ausstattung sowie zeitlicher und finanzieller<br />
Ressourcen von Akteurinnen<br />
und Akteuren eine geeignete Plattform<br />
zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen<br />
Lebensentwürfen und für den Dialog<br />
zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten.<br />
Die Umsetzung dieser Vision setzt einen<br />
Prozess der Bewusstseinsbildung voraus,<br />
zu welchem die hier vorgestellte Diplomarbeit<br />
beitragen soll.<br />
Amira Latif<br />
Diplomandin am Geographischen Institut<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
35
Stadtethnologische Forschung im Nahen Osten<br />
Wie die Damaszener<br />
ihre Altstadt sehen<br />
Stadthistorische Studien über die Altstadt von Damaskus<br />
gibt es viele. Diese beschäftigten sich bisher hauptsächlich<br />
mit den architektonischen und stadtplanerischen Besonderheiten<br />
der Damaszener Altstadt. Die lokale Bevölkerung<br />
selbst fand als Folge nie Eingang in die Forschung. Wie aber<br />
nimmt die lokale Bevölkerung ihre Altstadt wahr und welche<br />
Strategien verfolgen ihre Diskurse?<br />
«Derjenige, der in einem Bait Arabi [das<br />
arabische Haus in der Altstadt] geboren<br />
ist, kann nur in einem Bait Arabi wohnen»,<br />
so lautet die Aussage eines Ingenieurs, der<br />
seit seiner Geburt in der Altstadt wohnt.<br />
Eine Zahnärztin, die ebenfalls in der Altstadt<br />
geboren ist, hingegen möchte nicht<br />
mehr dort leben: «Ich ziehe es sicher vor,<br />
momentan nicht in einem Bait Arabi zu<br />
wohnen. Ich habe meine Gründe».<br />
Im Rahmen einer stadtethnologischen Lizentiatsarbeit<br />
an der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong> wurden<br />
die Gründe untersucht, wieso die Altstadt<br />
von Damaskus von der Bevölkerung<br />
positiv oder negativ wahrgenommen und<br />
bewertet wird. Diese Untersuchung basiert<br />
auf 17 Interviews, welche mit Bewohnerinnen<br />
und Bewohnern der syrischen<br />
Hauptstadt durchgeführt wurden. Die<br />
Ergebnisse zeigen, dass die Damaszener<br />
ihre Altstadt durch drei Kategorien wahrnehmen:<br />
erstens durch die Altstadt selbst,<br />
zweitens durch den sozialen Umgang der<br />
Bevölkerung und drittens durch das Bait<br />
Arabi. Diese drei Wahrnehmungseinheiten<br />
bilden zugleich auch die Grundsteine<br />
zweier unterschiedlicher Auffassungen,<br />
dem Gentrifikations-Diskurs (s. Kasten<br />
«Die Gentrifikation») und dem Identitätsbildungs-Diskurs.<br />
Wahrnehmung<br />
der Damaszener Altstadt<br />
Die erste Wahrnehmungs-Kategorie, die<br />
Altstadt selbst, lässt sich durch die starke<br />
Kontrastierung mit der Neustadt charakterisieren.<br />
So wird die Altstadt als eine<br />
Wohnumgebung bewertet, welche sich<br />
durch traditionelle Werte und Lebensstile<br />
36 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
sowie durch enge soziale Bande auszeichnet,<br />
welche in dieser Form in der Neustadt<br />
nicht existieren. Als einzige Kritikpunkte<br />
an der Altstadt nennen die in den Interviews<br />
befragten Damaszener die unzureichende<br />
Infrastruktur und die ungenügende<br />
Versorgung durch Dienstleistungen.<br />
In der Wahrnehmung der Neustadt dominiert<br />
die westliche Technik und der damit<br />
verbundene Fortschritt. Es zeigt sich ein<br />
innerer Zwiespalt zwischen der pragmatischen<br />
und der ideologischen Ebene. Diese<br />
Zwietracht verdeutlicht die Aussage eines<br />
Händlers: «In der Neustadt hat eine Entwicklung<br />
stattgefunden. Die Erfordernisse<br />
des Lebens sind in der Neustadt vorhan-<br />
Abb. 1: Gasse in Damaskener<br />
Altstadt. (Fotos: P. Meier)<br />
den, es gibt die Elektrizität, und es gibt<br />
Abstellplätze für die Autos. Das Leben in<br />
der Neustadt entwickelt sich schneller als<br />
in der Altstadt. (…) Das Leben hier [in<br />
der Altstadt] ist sehr einfach. Will ich beispielsweise<br />
Bohnen essen, so gehe ich zuerst<br />
zum Ofen [Bäckerei] und kaufe Brot,<br />
dann kaufe ich die Zwiebeln und gehe zu<br />
demjenigen, der die Bohnen für 20 Lira<br />
verkauft. Ich esse die Bohnen und bin zufrieden.<br />
In der Neustadt hingegen muss<br />
ich Pizza und Hot Dog essen. Heute sind<br />
wir amerikanisiert, wir imitieren Amerika<br />
und den Westen.»<br />
Auf pragmatischer Ebene bedeutet die<br />
als westlich wahrgenommene Technologie,<br />
welche mit der Neustadt assoziiert<br />
wird, eine Erleichterung des Lebens. Auf<br />
der ideologischen Ebene hingegen wird<br />
die Neustadt aufgrund dieser westlichen<br />
Technologie als schlechte Wohnumgebung<br />
bewertet. Durch die «Amerikanisierung»<br />
der Neustadt sei diese als Wohnumgebung<br />
nicht mehr mit dem traditionellen<br />
arabischen Leben kompatibel, so lautet die<br />
häufigste ideologische Begründung. Der<br />
Fortschritt ist demnach die einzige Qua-
Die Gentrifikation<br />
Der Begriff Gentrifikation bezeichnet die (Wieder-)Aufwertung der innenstadtnahen<br />
Wohnquartiere. Merkmal der Gentrifikation ist das schnelle Ansteigen des<br />
Anteils an Bewohnern der (oberen) Mittelschicht in ehemaligen Arbeiterwohnquartieren<br />
bzw. in zuletzt von Arbeitern bewohnten Gebieten. Dieser Vorgang<br />
geht einher mit einer architektonischen Aufwertung in Form von Renovierungen<br />
und Modernisierung sowie der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen.<br />
Gentrifikation umfasst damit auch eine (Re-)Investition in die Wohnungen<br />
und eine Verbesserung der Infrastruktur der betroffenen Gebiete. Diese Veränderungen<br />
implizieren Mietpreiserhöhung bei gleichzeitiger Verdrängung bisheriger<br />
Bewohner.<br />
lität, welche der Neustadt zugeschrieben<br />
wird. Ansonsten übernimmt sie in der<br />
Wahrnehmung der Interviewten vielmehr<br />
die Rolle einer Negativprojektion der Altstadtqualitäten.<br />
Die Wahrnehmung<br />
der Bevölkerung<br />
und ihr sozialer Umgang<br />
Die Neustadt als Negativprojektion der<br />
Altstadtqualitäten findet sich auch in der<br />
zweiten Kategorie der Wahrnehmung wieder:<br />
in der Wahrnehmung der Bevölkerung<br />
und ihres sozialen Umgangs untereinander.<br />
Hier wird erstens zwischen Nachbarschaft<br />
in der Neustadt und Nachbarschaft<br />
in der Altstadt unterschieden und zweitens<br />
zusätzlich zwischen den «ursprünglichen»<br />
und den «neuen» Altstadtbewohnern differenziert.<br />
Daher ist in den Aussagen der<br />
Interviewten eine Dichotomie, eine Ge-<br />
genüberstellung «Nachbarschaft in der<br />
Neustadt versus Nachbarschaft in der Altstadt»,<br />
erkennbar.<br />
Die Nachbarschaft in der Altstadt wird fast<br />
durchwegs positiv wahrgenommen. Positiv<br />
deshalb, weil in der Altstadt eine rege<br />
Interaktion stattfinde und die Nachbarschaftshilfe<br />
funktioniere. In der Neustadt<br />
hingegen kenne kein Nachbar den anderen,<br />
und keiner helfe dem anderen. Dementsprechend<br />
wird die Nachbarschaft in der<br />
Neustadt negativ bewertet. Diese Bewertung<br />
sei völlig angebracht, denn zusätzlich<br />
würden die Nachbarn der Neustadt einander<br />
nicht grüssen und nur noch per Telefon<br />
miteinander kommunizieren.<br />
Doch die Damaszener Bevölkerung wird<br />
nicht nur geographisch (Altstadt/Neustadt)<br />
differenziert, auch die Altstadtbevölke-<br />
Abb. 2: Lichtspiel in einer<br />
engen Gasse.<br />
rung selbst wird auf Basis der fast schon<br />
klassischen festen Redewendung «Früher<br />
war alles besser als heute» in zwei Gruppen<br />
unterteilt: die «ursprünglichen» Bewohner<br />
und die «neuen» Bewohner. So<br />
erwähnen viele der ‹ursprünglichen» Bewohner,<br />
dass die Bewohner der Altstadt<br />
früher wie eine Familie gewesen seien.<br />
Diese familiäre Harmonie sei jedoch<br />
durch die Einwanderung der «neuen» Bewohner<br />
zerstört worden. Die Verschlechterung<br />
der sozialen Umstände in der Altstadt<br />
wird somit auf die veränderte Zusammensetzung<br />
der Altstadtbevölkerung zurückgeführt.<br />
Dass den «neuen» Bewohnern<br />
dabei die Rolle des Sündenbocks zugeschrieben<br />
wird, verdeutlichen die Aussagen<br />
zweier älterer Altstadtbewohner:<br />
«Die Atmosphäre der Zuneigung gibt es<br />
noch in der ganzen Altstadt, bis auf die<br />
Quartiere, in welche viele Fremde aus fernen<br />
und unterschiedlichen Regionen einwanderten.<br />
In diesen gibt es keine Harmonie,<br />
sondern gegenseitige Abneigung.»<br />
«Die arabische menschliche Behandlung<br />
hat sich [durch die Einwanderung der<br />
neuen Bewohner] verändert, sie ist wie<br />
bei euch in Europa: niemand gibt einem<br />
zu essen und niemand gibt einem etwas,<br />
niemand betritt das Haus eines anderen;<br />
es gibt kein soziales Leben mehr.»<br />
Die Damaszener Bevölkerung wird also in<br />
die drei Klassifikationstypen «ursprüngliche»<br />
Altstadtbewohner, «neue Altstadtbewohner»<br />
und Neustadtbewohner unterteilt.<br />
Als Ergebnis dieser Klassifikation<br />
der Bevölkerung wird eine Gemeinschaft<br />
der «ursprünglichen» Bewohner konstituiert,<br />
die sich selber als ¿åm⁄ (aus ˙åm<br />
stammend, wobei ˙åm der ältere Name für<br />
Damaskus ist) bezeichnen. Es handelt sich<br />
bei dieser Gemeinschaft notgedrungen um<br />
eine Gemeinschaft, die nur in der Vorstellung<br />
existiert, denn die meisten «ursprünglichen»<br />
Altstadtbewohner sind ausgewandert.<br />
Dementsprechend zeichnet sich diese<br />
erdachte ¿åm⁄-Gemeinschaft nicht durch<br />
eine räumliche Nähe aus, sondern es wird<br />
vielmehr eine Nähe auf Basis der sozialen<br />
Affinität (Wesensverwandschaft) angestrebt,<br />
d. h. eine Nähe des Denkens,<br />
Fühlens, Handelns und Verstehens. Damit<br />
sich die ¿åm⁄ als eine Wir-Gruppe<br />
wahrnehmen können, muss gleichzeitig<br />
eine «Nicht-Wir-Gruppe» definiert wer-<br />
UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
37
den. Entsprechend konstruieren sie sich<br />
eine Wir-Gruppen-Identität durch die Abgrenzung<br />
zu den Neustadtbewohnern und<br />
durch den Ausschluss der neuen Bewohner<br />
in der Altstadt. Diese Wir-Gruppen-Identität<br />
und das soziale Netzwerk werden mittels<br />
familiärer Begriffe versprachlicht. So<br />
sprechen die ¿åm⁄ einander als «Sohn der<br />
Altstadt [ibn al-mad⁄na]» oder «Sohn meines<br />
Viertels [ibn al-hårat⁄]» an, und betrachten<br />
sich selbst als Mitglied der «Familie<br />
des Viertels [ ‘a’ilat al-ªåra]». Durch<br />
diese Versprachlichung wird versucht, die<br />
Grenzen der ¿åm⁄-Gemeinschaft sprachlich<br />
zu manifestieren und nach aussen zu<br />
kommunizieren.<br />
Das Bait Arabi<br />
In der dritten Kategorie der Wahrnehmung,<br />
dem Bait Arabi, zeigt sich deutlich<br />
eine Geschlechterdiskrepanz in den<br />
Äusserungen der befragten Männer und<br />
Frauen. So wird das Bait Arabi von den<br />
männlichen Gesprächspartnern vor allem<br />
aufgrund der Konstruktion, und – exakter<br />
ausgedrückt, – aufgrund des Innenhofs<br />
und der daraus resultierenden Naturverbundenheit<br />
geschätzt.<br />
Das Bait Arabi wird von den befragten<br />
Männer als das ideale Wohnhaus empfunden,<br />
welches dem Individuum viel<br />
Freiraum gewährt. Die Qualitäten des<br />
Bait Arabi, speziell diejenigen des Innenhofs,<br />
sind aus der Aussage eines Altstadtbewohners<br />
deutlich ersichtlich: «Den ganzen<br />
Tag draussen im Innenhof, wir stellen<br />
einen Tisch und die Stühle neben den<br />
Brunnen und setzen uns (wir, die Kinder<br />
und die Gäste), essen und trinken<br />
den morgendlichen Kaffee. Alle sind hier<br />
während des Tages, vom Sonnenaufgang<br />
der Sonne bis zu ihrem Untergang, und wir<br />
blicken in den Himmel und die Weite. Die<br />
Gerüche, jede Sache dringt hierher in den<br />
Innenhof. Ich liebe das Leben in einem alten<br />
Bait Arabi.»<br />
Die interviewten Frauen hingegen kritisierten<br />
in den Gesprächen die offene<br />
Konstruktion des Bait Arabi. Diese Kritik<br />
beruht hauptsächlich auf den zeitaufwendigen<br />
Reinigungsarbeiten, welche durch<br />
den Innenhof entstehen. Denn die Zimmer<br />
können nur über den Innenhof erreicht<br />
werden, und so wird immerzu Schmutz ins<br />
Zimmer getragen. Aufgrund der beschwerlichen<br />
Reinigungsarbeiten ziehen drei der<br />
38 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />
Abb. 3: Grundriss eines<br />
Bait Arabi.<br />
(Aus: Damskus, Aleppo, Philipp von<br />
Zabern, Mainz am Rhein)<br />
vier interviewten Frauen eine geschlossene<br />
Etagenwohnung in der Neustadt dem<br />
Bait Arabi vor. Diese Wohnpräferenz wird<br />
aus der Aussage einer jungen Altstadtbewohnerin<br />
deutlich:<br />
«Was mich als junge Frau betrifft, so<br />
möchte ich, sobald ich heirate, in einer<br />
geschlossenen Etagenwohnung leben, d. h.<br />
wenn ich das Haus reinige, so bleibt es sauber.<br />
Hier ist das Problem gross, im Bait<br />
Arabi gibt es ein Schmutzproblem.»<br />
Diskursstrategien<br />
Diese Ergebnissen zeigen, dass die verschiedenen<br />
Wahrnehmungskategorien mit unterschiedlichen<br />
Bildern assoziiert werden.<br />
Es werden Raumbilder geschaffen,<br />
die sich entweder ergänzen oder in Konkurrenz<br />
zueinander stehen. Für die Konstruktion<br />
dieser Raumbilder ist nicht der<br />
Raum an sich entscheidend, sondern vielmehr<br />
die Art und Weise, wie darüber geredet<br />
wird und wie dadurch eine bestimmte<br />
Konnotation erwächst. (Konnotation: Ein<br />
Begriff wird positiv oder negativ besetzt).<br />
Die Altstadt übernimmt somit die Funktion<br />
einer Projektionsfläche für Normen<br />
und Werte.<br />
Diese Normen und Werte füllen demnach<br />
die Raumbilder mit Bedeutungsinhalten.<br />
Da die Raumbilder jedoch mit unterschiedlichen<br />
Bedeutungen gefüllt werden,<br />
ringen sie sich um die Definition des Raumes.<br />
In diesem Definitionskampf spielt der<br />
Diskurs als Deutungsmacht eine zentrale<br />
Rolle. Folglich zielt die Strategie der Diskurse<br />
in der Regel darauf ab, den Raum zu<br />
besetzen und dadurch die eigene Raumdefinition<br />
durchzusetzen. Bei der Untersuchung<br />
der drei Wahrnehmungskategorien<br />
kristallisierten sich zwei Diskursstrategien<br />
heraus: der Gentrifikations-Diskurs und<br />
der Identitätsbildungs-Diskurs.<br />
Gentrifikations-Diskurs<br />
Der Gentrifikations-Diskurs (s. Kasten<br />
«Die Gentrifikation») wird hauptsächlich<br />
von der Unesco und der internationalen<br />
Gemeinschaft geführt. Doch auch Damaszener,<br />
welche längere Zeit in Europa<br />
verbracht haben, orientieren sich in ihrem<br />
Diskurs am globalen (Wieder-)Aufwertungstrend<br />
der Altstädte. Der Diskurs wird<br />
geführt, weil man sich als Avantgardist der<br />
Gentrifikationsbewegung oder als kulturell<br />
und historisch bewusste Person darstellen<br />
möchte. Vor allem der zweite Punkt<br />
scheint mir im Diskurs von drei interviewten<br />
Männern bewusst oder unbewusst mitzuschwingen,<br />
denn alle drei sprechen der<br />
syrischen Gesellschaft ein kulturelles Bewusstsein<br />
ab. Das kulturelle Bewusstsein<br />
der syrischen Gesellschaft kann aber nur<br />
im Vergleich mit einer anderen Gesellschaft<br />
als fehlend bewertet werden. So<br />
vergleichen die befragten Personen die<br />
syrische Gesellschaft oftmals mit ihrem<br />
«Bild» von Europa. Dieser erste Diskurs<br />
hat seitens der drei interviewten Männer<br />
somit auch das Ziel, sich vom syrischen
Abb. 4: Innenhof eines Bait Arabi.<br />
«Mittelmass» abzugrenzen und sich symbolisch<br />
den «kulturell bewussteren» Europäern<br />
zugehörig darzustellen.<br />
Identitätsbildungs-Diskurs<br />
Eine andere Zugehörigkeit betonen die<br />
s˘ - am - i in ihrem Identitätsbildungs-Diskurs.<br />
Für sie ist die Zugehörigkeit zur Altstadt<br />
eines der konstituierenden Elemente ihrer<br />
Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft kann<br />
sich aber nur mittels Grenzziehung definieren,<br />
und so werden die Neustadtbewohner<br />
und die neuen Bewohner der Altstadt<br />
aufgrund ihrer unterschiedlichen Zugehörigkeit<br />
resp. unterschiedlichen Herkunft<br />
ausgegrenzt. Für einen Grossteil der «potentiellen»<br />
¿åm⁄ aus der Damaszener Mittel-<br />
und Oberschicht ist die Altstadt jedoch<br />
negativ konnotiert, wodurch die Diskursführer<br />
ein Problem mit der räumlichen<br />
Realisierung ihrer Gemeinschaft haben.<br />
Demnach bezieht sich die ¿åm⁄-Identität<br />
notgedrungen auf eine symbolische Gemeinschaft<br />
auf Basis der sozialen Affinität.<br />
Diese Betonung der sozialen Affinität<br />
und damit einhergehend die Ausblendung<br />
der gegenwärtigen räumlichen Situation<br />
wird durch die schon fast klassische Redewendung<br />
«Früher war alles besser als<br />
heute» mitgestaltet. Dieser Rückgriff auf<br />
eine nostalgische Vergangenheit ermöglicht<br />
den s¿åm⁄, sich als Bewahrer und<br />
Autorität bezüglich der «Tradition» und<br />
«Lokalität» darzustellen. Diese Selbst-<br />
Darstellung gibt ihnen im Gentrifikationsprozess<br />
eine hohe Definitionsmacht. Sie<br />
fordern eine Gentrifikation in Form des<br />
incumbent upgrading (s. Kasten «Das incumbent<br />
upgrading») und eröffnen sich<br />
dadurch die Möglichkeit, durch ihre Autorität<br />
bezüglich «Tradition» und «Lokalität»<br />
den Transformationsprozess in ihrem<br />
Sinne mitzugestalten und für eigene<br />
Zwecke zu nutzen. Folglich beabsichtigen<br />
die ¿åm⁄, die «traditionelle» Lebensweise,<br />
inklusive der «traditionellen» Ordnung<br />
und Machtstruktur, vor dem Wandel<br />
zu bewahren. Ein weiteres willkommenes<br />
Produkt der Gentrifikation könnte die<br />
Umwandlung der symbolischen ¿åm⁄-Gemeinschaft<br />
in eine sozio-räumliche Tatsache<br />
sein, denn durch den Prozess der<br />
Aufwertung würden die finanzschwachen<br />
ländlichen Bewohner aus der Altstadt verdrängt.<br />
Es zeigt sich, dass der Gentifikations- sowie<br />
der Identifikations-Diskurs trotz unterschiedlicher<br />
Logiken eine gemeinsame<br />
Forderung aufweisen. Sie beide fordern<br />
eine (Wieder-)Aufwertung der Altstadt<br />
inklusive einer Renovation der historischen<br />
Bausubstanz. Logischerweise versucht<br />
jeder Diskursverfechter den anderen<br />
für seine Zwecke zu instrumentalisieren.<br />
Ob allerdings die beiden Diskursstrategien<br />
trotz der gleichen Forderung ihr Ziel parallel<br />
erreichen, ist mehr als fraglich.<br />
Die Rolle des syrischen Staates<br />
Welche Position nimmt nun der syrische<br />
Staat ein bezüglich der Forderung nach<br />
einer (Wieder-)Aufwertung der Damaszener<br />
Altstadt? Der Staat hat bisher nach<br />
Das incumbent upgrading<br />
Incumbent upgrading ist eine Form der Gentrifikation, bei welcher die Initiative<br />
von den Bewohnern ausgeht, besonders wenn sie selbst Eigentümer der Häuser<br />
sind. Somit wird der Aufwertungsprozess der innenstadtnahen Wohnviertel<br />
von den Bewohnern selbst gewünscht und initiiert. In diesem Fall ist es somit ein<br />
Transformationsprozess, welcher sich von innen heraus vollzieht. Der Unterschied<br />
zum klassischen Gentrifikationsprozess ist, dass beim incumbent upgrading die<br />
veränderte Infrastruktur oftmals dieselben Benutzer hat.<br />
Meinung der interviewten Personen seine<br />
Aufgabe der Renovation und Erhaltung<br />
der Damaszener Altstadt nicht wahrgenommen.<br />
Er könnte sich in Zukunft aber<br />
der Interessen der s¿åm⁄ bedienen, indem<br />
er ihnen die Aufgabe der Erhaltung und<br />
Renovation der Gebäude überlässt. Der<br />
Staat könnte dadurch die im Rahmen der<br />
Wiederaufwertung der Altstadt gesprochenen<br />
Gelder der internationalen Geber gezielt<br />
einsetzen; oder aber weiterhin, wie<br />
von einigen Interviewten vermutet, anderweitig<br />
verwenden. Die Wiederaufwertung<br />
würde auch zu einer Zunahme der Bau-<br />
und Renovationsgesuche führen. Mit der<br />
Bewilligung von mehr Gesuchen könnten<br />
die Staatsbeamten in Anbetracht der bisherigen<br />
Korruptionspraktiken ein höheres<br />
Einkommen erzielen. Der syrische Staat<br />
dürfte sich daher wahrscheinlich dem<br />
Gentrifikations-Prozess anschliessen.<br />
Die Verlierer<br />
Die Akteure der beiden Diskursstrategien<br />
sowie der Staat sind an einer Wiederaufwertung<br />
der Damaszener Altstadt interessiert<br />
oder werden es in Zukunft wahrscheinlich<br />
sein. Jedoch stellt sich auch die<br />
Frage nach den «Verlierern» dieses angestrebten<br />
Transformationsprozesses. Zu den<br />
Verlierern werden gewiss die Frauen gehören,<br />
die über keine Stimme in der Gestaltung<br />
der zukünftigen Altstadt verfügen.<br />
Ihrer Kritik an einer Übernahme der<br />
«traditionellen» Ordnung und Machtstruktur<br />
sowie ihrer funktionalistischen Kritik<br />
an der Lebensweise in einem Bait Arabi<br />
wird von den zuständigen Behörden anscheinend<br />
kein Gewicht beigemessen.<br />
Auch die neuen Bewohner in der Altstadt,<br />
die in jedem der untersuchten Diskurse die<br />
Rolle des Sündenbocks für die Verschlechterung<br />
der gegenwärtigen Situation in der<br />
Altstadt übernehmen müssen, gehören zu<br />
den Verlierern.<br />
Die Lizentiatsarbeit soll zur Sensibilisierung<br />
und Bewusstseinsbildung der für die<br />
Damaszener Altstadt zuständigen Behörden<br />
beitragen. Ziel wäre es, dass die gesamte<br />
Bevölkerung an der Planung der<br />
Damaszener Altstadt teilhaben und die<br />
Zukunft mitgestalten könnte.<br />
Patrik Meier<br />
Lizentiand am Institut für Ethnologie<br />
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