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115 VOM WELTALL BIS INS INNERSTE DER ... - Universität Bern

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UNI PRESS<br />

F O R S C H U N G U N D W I S S E N S C H A F T A N D E R U N I V E R S I T Ä T B E R N<br />

<strong>VOM</strong> <strong>WELTALL</strong><br />

DEZEMBER 2002<br />

<strong>BIS</strong> <strong>INS</strong> <strong>INNERSTE</strong><br />

<strong>DER</strong> ZELLEN<br />

<strong>115</strong>


UNI<br />

UNIPRESS<strong>115</strong><br />

PRESS<br />

DEZEMBER 2 0 02<br />

Akkretion auf Neutronensterne<br />

Kleine, kompakte Sterne rasen mit unvorstellbar hohen Geschwindigkeiten<br />

im Weltall umher. Sarah Natalia Sägesser schildert,<br />

wie sich diese Neutronensterne verhalten, die bei der Explosion<br />

einer Supernova entstanden sind.<br />

Erwärmung der Erde um 5 ˚C<br />

so gut wie sicher<br />

Eine neue Klimastudie rechnet mit einer<br />

Erwärmung von rund 5 ˚C bis 2100.<br />

Christian <strong>Bern</strong>hart beschreibt die Vorhersage<br />

und fragt einen Experten, was<br />

man dagegen tun kann.<br />

„Wir müssen dort wohnen,<br />

wo wir auch arbeiten“<br />

Höherer Meeresspiegel, verheerende Stürme: Um Umweltkatastrophen<br />

entgegenzuwirken, fordert im Interview Thomas Stocker<br />

eine andere Mobilität.<br />

Kosmische Killer<br />

Ein Killer-Asteroid könnte die Erde mit einem Schlag verwüsten,<br />

so die Meinung von Astrophysikern. Fritz P. Schaller erkundigte<br />

sich bei <strong>Bern</strong>er Vertretern nach dem wahrscheinlichen<br />

Zeitpunkt.<br />

Wenn Zecken heisse Köpfe machen<br />

Blutparasiten schwächen Przewalski-Wildpferde,<br />

die in Zoos aufwuchsen und jetzt<br />

in der Mongolei ausgewildert werden.<br />

Simon Rüegg ist an vorderster Front dabei.<br />

Und die Gene sind doch schuld<br />

Drei Arbeitsgruppen am Veterinärmedizinischen Institut haben<br />

die Labrador-Retriever-Myopathie genauer untersucht. Tim Bley<br />

zeigt, wie der Labrador-Welpe „Max“ den Anstoss zur Erforschung<br />

dieser Erbkrankheit gegeben hat.<br />

Cum grano salis<br />

Seite 5<br />

Seite 9<br />

Seite 11<br />

Seite 13<br />

Seite 16<br />

Seite 20<br />

Seite 23<br />

Eine Reduktion der Kochsalzzufuhr ist wünschenswert oder nötig,<br />

um zu hohen Blutdruck zu vermeiden. Paolo Ferrari weist nach,<br />

dass eine Beteiligung der Nahrungsmittelindustrie unerlässlich<br />

ist, um dieses Ziel zu erreichen.<br />

Messbilder<br />

Mit einem neuartigen Messgerät können<br />

sehr exakte Aufnahmen über die Konstruktion<br />

von Gebäuden gemacht werden.<br />

Volker Hoffmann schildert das Vorgehen<br />

am Beispiel der westlich von Paris gelegenen<br />

Schlosskapelle von Anet.<br />

Ferien hinter Mauern<br />

An der Mittelmehrküste westlich von Alexandria gibt es über 100<br />

Feriensiedlungen, die ummauert und mit Eingangstoren versehen<br />

sind. Amira Latif beschreibt die Entstehung und die Funktionsweise<br />

dieser «Gated Communities».<br />

Wie die Damaszener<br />

ihre Altstadt sehen<br />

Patrik Meier geht der Frage nach, wie die<br />

Bevölkerung von Damaskus ihre Altstadt<br />

wahrnimmt und welche Strategien sie bei<br />

ihren Diskursen – z. B. traditionelle Normen<br />

und Werte einerseits, Modernisierungsbestrebungen<br />

anderseits – verfolgt.<br />

Seite 27<br />

Seite 31<br />

Seite 36


Physik, Physik, Physik – und manches andere mehr<br />

Vor 20 Jahren wurde der Forschungsreportagen-Wettbewerb<br />

des <strong>Bern</strong>ischen Hochschulvereins<br />

erstmals durchgeführt.<br />

Zunächst alle zwei<br />

Jahre und seit 1992 jedes<br />

Jahr wählt eine Jury aus<br />

Beiträgen über die Forschung<br />

an der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Bern</strong>, eingereicht sowohl<br />

von Uni-Angehörigen wie<br />

auch von Berufsjournalisten,<br />

jene aus, die ihr für ein Leserpublikum von interessierten Laien<br />

am besten geeignet erscheinen. Im Jahre 1982 errang die Arbeit<br />

«Explosionen auf der Sonne» den ersten Preis. Verfasser war Niklaus<br />

Kämpfer, damals lic. phil. II, heute ordentlicher Professor<br />

am Institut für angewandte Physik.<br />

Auch im Wettbewerb des Jahres 2002 stehen die Preisträger fest:<br />

Vier Preise, ein erster, ein zweiter und zwei dritte wurden ausgesprochen<br />

– und zum Erstaunen der Jury befassen sich drei von<br />

ihnen mit einem Thema aus der Physik.<br />

Der erste Preis ging an die junge Astrophysikerin Sarah Sägesser.<br />

Sie brachte es fertig, ihre Diplomarbeit über Neutronensterne<br />

so lebhaft darzustellen, dass in den Augen der Jury der Beitrag<br />

trotz der Komplexität seines Inhaltes ein spannendes Lesevergnügen<br />

ist.<br />

Christian <strong>Bern</strong>hart, der Gewinner des zweiten Preises und den<br />

Lesern der <strong>Bern</strong>er Zeitung als Journalist bestens bekannt, berichtet<br />

ebenfalls über die Arbeit von <strong>Bern</strong>er Physikern. Es geht<br />

um ein am Physikalischen Institut entwickeltes neuartiges Modell,<br />

welches weit genauere Voraussagen über die Klimaentwicklung<br />

in den nächsten rund 100 Jahren zulässt, als dies bisher<br />

der Fall war.<br />

Ein wissenschaftliches Thema kann sehr wohl so dargestellt werden,<br />

dass es auch eine Leserschaft aller Altersstufen zu faszinieren<br />

vermag. Dies hat einer der beiden mit einem dritten Preis<br />

ausgezeichneten Autoren bewiesen. Fritz Schaller, der Wissenschaftsredaktor<br />

der Schweizer Familie, spricht in seinem Beitrag,<br />

der sich auf die Arbeiten des <strong>Bern</strong>er Astrophysikers Thomas Luder<br />

stützt, von den Asteroiden und der – wenn auch geringen –<br />

Wahrscheinlichkeit, dass ein Riesenexemplar dieser Dinger unvermutet<br />

auf unsere Erde prallt.<br />

Wenigstens einer der vier Preisträger hat indessen ein Thema gewählt,<br />

dass von der Physik recht weit entfernt ist: Simon Rüegg,<br />

ein Veterinärmediziner, berichtet nämlich in seinem Artikel von<br />

einer der unterwarteten Schwierigkeiten, die sich der Auswilderung<br />

der seit 1965 in der Mongolei, ihrer ursprünglichen Heimat,<br />

ausgestorbenen Przewalskipferde entgegenstellen.<br />

4 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

Neben diesen preisgekrönten Arbeiten stellen wir unserer Leserschaft<br />

eine ganze Anzahl weiterer Beiträge vor, die uns in<br />

den letzten Monaten zugegangen sind. Unterschiedliche Themen<br />

kommen hier zum Zug: Eine erbliche Hundekrankeit, die<br />

sich immer weiter ausbreitet; die Tatsache, dass in unserer Ernährung<br />

vor allem die Fertigprodukte einen viel zu hohen Salzgehalt<br />

haben und so zumindest teilweise für zu hohen Blutdruck<br />

verantwortlich sind; eine hochmoderne Messmethode, die in der<br />

Architekturgeschichte zur Anwendung kommt; schliesslich zwei<br />

Artikel aus Ethnologenkreisen, von denen einer die «gated communities»<br />

der Reichen an der Mittelmeerküste Ägyptens unter die<br />

Lupe nimmt, während der andere davon berichtet, wie die Altstadt<br />

von Damaskus von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern<br />

wahrgenommen wird.<br />

Es kommt also in dieser Nummer von UNI PRESS keineswegs<br />

allein die Physik zu Wort. Unsere Leserinnen und Leser werden<br />

unter den Artikeln bestimmt etwas finden, das ihren Interessen<br />

entspricht. Unser Team würde sich aber natürlich freuen, wenn<br />

alle Beiträge des Heftes bei ihnen Anklang fänden.<br />

Annemarie Etter<br />

UNIPRESS <strong>115</strong>/Dezember 2002<br />

Verantwortliche<br />

Herausgeberin<br />

Stelle für Öffentlichkeitsarbeit<br />

der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong><br />

Prof. Dr. Annemarie Etter<br />

Dr. Beatrice Michel<br />

Fred Geiselmann<br />

Redaktionsadresse<br />

Schlösslistrasse 5, 3008 <strong>Bern</strong><br />

Tel. 031 631 80 44<br />

Fax 031 631 45 62<br />

E-mail: press@press.unibe.ch<br />

http://publicrelations.<br />

unibe.ch/<br />

Layout<br />

Patricia Maragno<br />

Titelbild<br />

Christine Blaser<br />

Erscheinungsweise<br />

4mal jährlich; nächste Nummer<br />

April 2003<br />

Druck und Inserate<br />

Stämpfli AG<br />

Hallerstrasse 7<br />

3012 <strong>Bern</strong><br />

Tel. 031 300 66 66<br />

Tel. 031 300 63 82 (Inserate)<br />

Adressänderungen<br />

Bitte direkt unserer<br />

Vertriebsstelle melden:<br />

«<strong>DER</strong> BUND»<br />

Vertrieb UNIPRESS<br />

Bubenbergplatz 8<br />

3001 <strong>Bern</strong><br />

Auflage<br />

14000 Exemplare


Astronomische Raser im Weltall<br />

Akkretion auf Neutronensterne<br />

Kleine, kompakte Sterne rasen mit unvorstellbar hohen<br />

Geschwindigkeiten im Weltall umher. Es handelt sich<br />

dabei um Neutronensterne, die bei der Explosion eines<br />

Sternes (Supernova) entstanden sind. Das Innere<br />

der Neutronensterne ist sehr dicht. Obwohl ihr Radius<br />

nur etwa 10 km beträgt, haben sie eine Masse von<br />

1,4 Sonnen.<br />

Weshalb flitzen kleine, kompakte Sterne<br />

mit unvorstellbar hohen Geschwindigkeiten<br />

in der Gegend herum? Diese Frage<br />

hat mich während meiner Diplomarbeit<br />

am Physikalischen Institut der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Bern</strong> bei Prof. Willy Benz beschäftigt.<br />

Zuerst mit analytischen Rechnungen (Papier<br />

und Bleistift) und später mit Computersimulationen<br />

versuchte ich den rasenden<br />

Neutronensternen auf die Schliche zu<br />

kommen. Das Resultat? Nun, da müssen<br />

Sie schon den ganzen Artikel lesen!<br />

Akkretion = gravitative Massenakkumulation<br />

= das Einverleiben von Materie<br />

(meist Gas) durch einen Stern mithilfe<br />

seiner Gravitationsanziehung<br />

Was sind Neutronensterne?<br />

Neutronensterne (NS) sind die kompakten<br />

Überreste einer Sternexplosion (Supernova).<br />

Bei dieser Explosion, bei der innert<br />

einer Sekunde 100-mal mehr Energie abgegeben<br />

wird, als die Sonne während ihres<br />

NS<br />

.<br />

M<br />

Abb. 1: Asymmetrischer Masseneinfall von<br />

rechts. (gestrichelt: Hülle; gewellte Pfeile:<br />

Neutrinos ν).<br />

ganzen Lebens abstrahlt, wird der grösste<br />

Teil der Masse, die Hülle, abgeworfen. Im<br />

Innern bleibt ein kompakter Stern zurück,<br />

der vorwiegend aus Neutronen besteht (-><br />

Neutronenstern) und so dicht ist wie ein<br />

Atomkern. Obwohl er die Masse von etwa<br />

1,4 Sonnen hat, so hätte er doch mit seinem<br />

Radius von 10 km spielend Platz zwischen<br />

<strong>Bern</strong> und Thun.<br />

MNS = 1,4 Sonnenmassen = 1,4 M ¤<br />

RNS = 10 km<br />

Ein Löffel Neutronensternmaterie wiegt<br />

mehrere Tonnen!<br />

Crashdown!<br />

Ein kleiner Teil der bei der Supernovaexplosion<br />

abgestossenen Hülle erreicht<br />

nicht die Fluchtgeschwindigkeit und fällt<br />

deshalb wieder auf den Neutronenstern<br />

zurück.<br />

Abb. 2: Crab-Nebel (Supernova-Überrest),<br />

aufgenommen mit dem Röntgensatelliten<br />

CHANDRA.<br />

Wenn wir davon ausgehen, dass dieses<br />

Material nicht ganz symmetrisch verteilt<br />

ist (nehmen wir an, es hat mehr Materie<br />

rechts), so wird dieses Material den<br />

Neutronenstern vor allem auf einer Seite<br />

(nämlich rechts) treffen und die Oberfläche<br />

dort besonders aufheizen (s. Abb. 1).<br />

Die Temperaturen und Dichten sind dort<br />

so enorm hoch, dass die Wärme nicht<br />

mehr in Photonen (Licht) abgestrahlt<br />

werden kann. Die Photonen bleiben in<br />

dieser dichten Materie gefangen. Jedoch<br />

können stattdessen Neutrinos (ν) abgestrahlt<br />

werden, die dann die Energie wegtragen<br />

können. Diese abgestrahlten Neutrinos<br />

üben nun eine rücktreibende Kraft<br />

auf den Neutronenstern aus («sie stossen<br />

sich vom Stern ab») und können ihn so beschleunigen!<br />

Viele winzige, masselose Teilchen können<br />

auch einen Stern bewegen!<br />

Abb. 3: Vela-Nebel (Supernova-Überrest),<br />

aufgenommen mit dem Röntgensatelliten<br />

CHANDRA.<br />

Mit Auszeichnung<br />

Die Arbeit «Akkretion auf Neutronensterne»<br />

von Sarah Natalia<br />

Sägesser ist beim Forschungsreportagen-Wettbewerb<br />

2002<br />

des <strong>Bern</strong>ischen Hochschulvereins<br />

mit dem 1. Preis ausgezeichnet<br />

worden. Die Preissumme beträgt<br />

Fr. 5000.–.<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

5


Der Röntgensatellit<br />

CHANDRA<br />

1999 wurde der Röntgensatellit<br />

CHANDRA in seine Umlaufbahn hochgeschickt.<br />

Seitdem wurden durch<br />

das CHANDRA-Teleskop Zehntausende<br />

neuer Quellen hochenergetischer<br />

Strahlung entdeckt und hochauflösende<br />

Bilder (s. Abb. 2 und 3)<br />

geschossen. Für weitere Informationen<br />

und phantastische Bilder:<br />

http://chandra.harvard.edu<br />

Kosmische Leuchttürme<br />

Da Neutronensterne so winzig klein sind,<br />

ist es einfacher, eine Stecknadel auf dem<br />

Mond zu sehen, als einen Neutronenstern<br />

zu entdecken. So dachte man – bis eines<br />

Tages ein Pulsar entdeckt wurde.<br />

Abb. 4: Skizze eines Pulsars.<br />

Pulsare sind Neutronensterne, die einen<br />

kontinuierlichen Strahl aussenden. Da<br />

dieser Strahl irgendwo auf der Oberfläche<br />

entsteht und sich der Stern zudem um<br />

seine eigene Achse dreht, sieht es für uns<br />

so aus, als würde dieser Stern pulsieren (-><br />

Pulsare), da sein Strahl unser Gesichtsfeld<br />

nur einmal pro Umdrehung überstreicht<br />

(sogenanntes Leuchtturm-Modell, siehe<br />

Abb. 5). Nur dank diesem enorm energiereichen<br />

Strahl können wir Neutronensterne,<br />

oder eben Pulsare, überhaupt<br />

6 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

entdecken. Es wird erwartet, dass alle<br />

Neutronensterne Pulsare sind. Wir sehen<br />

jedoch nicht jeden dieser Strahlen (da er in<br />

einen anderen Raumwinkel zeigt), weswegen<br />

uns einige Neutronensterne nicht als<br />

Pulsare bekannt sind.<br />

Abb. 5: Illustration des Leuchtturm-Modells.<br />

Rasende Neutronensterne<br />

Typische Sterne, wie unsere Sonne, bewegen<br />

sich durchs Weltall mit Geschwindigkeiten<br />

von etwa 40 km/Sekunde. Damit<br />

verglichen flitzen Neutronensterne nur so<br />

durch unsere Galaxie – mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit<br />

von 450 km/s, und<br />

der Gitarrennebel-Pulsar weist sogar eine<br />

Geschwindigkeit von über 1600 km/s auf!<br />

Damit verglichen sind alle irdischen Geschwindigkeiten<br />

verschwindend klein: Der<br />

Gepard erreicht eine Spitzengeschwindigkeit<br />

von 120 km/Stunde oder 0,03 km/s<br />

und selbst eine Concorde fliegt gerade mal<br />

mit 0,6 km/s.<br />

Kick!<br />

Wie kann nun ein Neutronenstern eine solch<br />

hohe Geschwindigkeit erhalten? Früher<br />

glaubte man, dass der Stern seine Umlauf-<br />

Entdeckung der Pulsare<br />

Die Doktorandin Jocelyn Bell entdeckte 1967 den ersten Pulsar. Nach 8 Wochen<br />

Arbeit, täglich über 30 m Papier nach Signalen durchforstend, entdeckte sie<br />

schliesslich ein regelmässiges Signal mit einer Periode von 1 1 /3 Sekunden. Den<br />

Nobelpreis für ihre Arbeit erhielt 1974 ihr Doktorvater, Prof. Anthony Hewish. 1993<br />

wurde ein weiterer Nobelpreis in die Pulsarforschung vergeben, was eindrücklich<br />

bestätigt, welche Bedeutung den Neutronensternen beigemessen wird. Der Preis<br />

von 1993 ging an Prof. Joseph H. Taylor und Prof. Russel A. Hulse, beide an der<br />

<strong>Universität</strong> Princeton tätig. Taylor war bereits 1991 in <strong>Bern</strong> mit der Einstein-Medaille<br />

ausgezeichnet worden.<br />

geschwindigkeit, die er in einem Doppelsternsystem<br />

hatte, einfach beibehalten hat:<br />

Durch die Supernova wird das Binärsystem<br />

aufgebrochen, und der Neutronenstern<br />

saust nun mit der gleichen Geschwindigkeit,<br />

mit der er vorher den andern Stern umkreist<br />

hat, weiter durchs All. Jedoch kann<br />

man so nur Geschwindigkeiten von einigen<br />

hundert km/s erklären und keinesfalls den<br />

Gitarren-Pulsar mit seinen 1600 km/s!<br />

Unzählige Beobachtungen und Berechnungen<br />

weisen heute darauf hin, dass dem<br />

Stern in der Supernovaexplosion ein sogenannter<br />

«Geburts»-Kick verliehen wurde,<br />

der den Stern innert kurzer Zeit enorm beschleunigte.<br />

Wie gross ist so ein Kick?<br />

Die Geschwindigkeiten, mit denen Neutronensterne<br />

durchs Weltall rasen, erscheinen<br />

uns riesig. Vergleicht man jedoch den<br />

Energieaufwand, der für diese Beschleunigung<br />

benötigt wird, mit der in der Supernova<br />

freigewordenen Energie, so sieht man<br />

dass nur ein Bruchteil, nämlich 0,1 %, dafür<br />

aufgewendet wird.<br />

Ein wenig Astrophysik<br />

Die Einfallsrate M: Normalerweise ereignen<br />

sich astrophysikalische Akkretionsprozesse<br />

am sogenannten Eddington-Limit.<br />

Wenn die Wärme des einfallenden<br />

Materials nicht mehr genügend schnell<br />

durch Photonen ans All abgegeben werden<br />

kann, stagniert der Prozess: Es bildet<br />

Stellt man eine kleine Impulserhaltungsgleichung<br />

auf (Impuls =<br />

Masse x Geschwindigkeit = m<br />

x v) und nimmt man an, dass die<br />

auf den Neutronenstern einfallende<br />

Masse eine Asymmetrie α von nur<br />

1 % besitzt, so erhält man:<br />

Mtot vNS = α v fall ≈ 1400 km/s<br />

MNS Dabei nimmt man an, dass das<br />

Material frei auf den Neutronenstern<br />

herunterfällt (Fallge -<br />

schwindigkeit vfall) und dass eine<br />

Gesamtmasse (Mtot) von 0,1 Sonnenmassen<br />

auf den Stern herabstürzt.<br />

(Da der Stern vor der Explosion<br />

eine Masse von etwa 20<br />

Sonnen hatte, ist ein Zehntel Sonnenmasse<br />

eine realistische Annahme.)


Abb. 6: Typische Simulation, mit einer Einfallsrate von 0,1 Sonnenmassen/Sek. (0,1<br />

M ¤/s). Der Neutronenstern ist der schwarze Punkt in der Mitte. Bild rechts unten wurde<br />

um einen Faktor 2 vergrössert. Klar ersichtlich ist der asymmetrische Einfall von rechts.<br />

sich ein stabiles Gleichgewicht zwischen<br />

einfallendem Material und Abstrahlung.<br />

Diesen Zustand nennt man Eddington-limitiert.<br />

Hyperkritisch! In meinen Simulationen<br />

rechne ich mit Einfallsraten, die mehr als<br />

Milliardenfach über dem Eddington-Limit<br />

liegen – nämlich 0,1–10 Sonnenmassen/<br />

Sekunde. Eine Akkretion, die so hoch über<br />

dem Normalen liegt, nennt man hyperkritisch.<br />

Sie kann nur stattfinden, falls genügend<br />

Neutrinos produziert werden, die<br />

dann anstelle der Photonen die Wärme<br />

wegtragen.<br />

Abb. 7: Dieses Bild zeigt sogenannte Rayleigh-Taylor-Instabilitäten<br />

in der Materie<br />

um den Neutronenstern.<br />

Und nun hard-core Astrophysik<br />

Simulationen und Resultate: Für all meine<br />

Berechnungen habe ich angenommen, dass<br />

mein Stern vollkommen rund ist, nicht rotiert<br />

und kein Magnetfeld besitzt. All diese<br />

Annahmen sind für eine erste Abschätzung<br />

richtig. Ebenfalls bin ich davon ausgegangen,<br />

dass das einfallende Material<br />

direkt (radial) auf den Stern herunterfällt<br />

und nicht in eine Spiralbewegung gerät<br />

(keine Winkelgeschwindigkeit).<br />

Wie sieht so eine Simulation aus? Abb. 6<br />

spiegelt eine typische Simulation wieder.<br />

Man sieht, wie Masse asymmetrisch von<br />

Abb. 8: Kick (oben) und stetige Beschleunigung<br />

(unten).<br />

rechts auf den Neutronenstern (schwarzer<br />

Punkt) einfällt. Die innere Energie<br />

der einfallenden Teilchen ist farbcodiert<br />

(rot: energiereich, schwarz: energiearm).<br />

Die Länge der Pfeile illustriert dabei die<br />

Geschwindigkeit der einfallenden Materie.<br />

Um diese Bilder zu erhalten, die jeweils<br />

etwa 0,4 Millisekunden (ms) voneinander<br />

entfernt liegen, musste mein Computer<br />

etwa eine Stunde rechnen. Für eine Simulation<br />

von 20 ms musste ich schon eine<br />

Woche auf das Ergebnis warten!<br />

Kochtopf!<br />

Mein Lieblingsbild ist Abb. 7, welche sogenannte<br />

Rayleigh-Taylor-Instabilitäten<br />

zeigt. Es treten hier ähnliche Phänomene<br />

auf wie bei einem mit Wasser gefüllten<br />

Kochtopf. Analog der Kochplatte ist hier<br />

die Sternoberfläche heiss und es kommt<br />

zu Turbulenzen in der umgebenden Materie,<br />

wie im Wasser, das zu kochen, zu sprudeln<br />

und sich umzuwälzen beginnt.<br />

Wie schnell können<br />

Neutronensterne werden?<br />

In den Abb. 8–9 ist ersichtlich, wie die<br />

Geschwindigkeit des Neutronensterns anwächst,<br />

sobald Neutrinos abgestrahlt werden<br />

(nach ca. 5ms). Die höchste Einfallsrate,<br />

mit der ich gerechnet habe, ist M =<br />

10 M ¤/s .<br />

Wie aus Abb. 8 (oben) ersichtlich ist, muss<br />

die Beschleunigung nicht gleichmässig erfolgen<br />

(unten), sondern es kann tatsächlich<br />

zu einem Kick kommen. Extrapoliert<br />

man diese Geschwindigkeiten zu höheren<br />

Zeiten, so wird klar, dass so Geschwindigkeiten<br />

von bis zu 2000 km/s erreicht<br />

werden können. Für kleinere Einfallsraten<br />

(Abb. 9) ist der ganze Beschleunigungsprozess<br />

etwas gemächlicher – es können<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

7


Abb. 9: Beschleunigungen mit verschiedenen<br />

Einfallsraten (1 M ¤/s; 0.1<br />

M ¤/s).<br />

jedoch immer noch Geschwindigkeiten<br />

von einigen hundert km/s produziert werden.<br />

In Abb. 9 sieht man ebenfalls, dass<br />

der Stern nicht nur beschleunigt, sondern<br />

auch kurz abgebremst wurde (schraffierte<br />

Fläche). Dies ist darauf zurückzuführen,<br />

dass Materie in der Bewegungsrichtung<br />

des Sterns auf diesen gefallen ist und ihn<br />

so kurzzeitig gebremst hat. Bei noch niedrigeren<br />

Einfallsraten (M < 0,1 M ¤/s) tritt<br />

eine so kleine Beschleunigung auf, dass<br />

die beobachteten Geschwindigkeiten der<br />

Neutronensterne nicht mehr erklärt werden<br />

können. Wie also aus den Abb. 8–9<br />

ersichtlich ist, hängt somit die erreichte<br />

Pulsargeschwindigkeit stark von der Einfallsrate<br />

ab.<br />

Zusammenfassung: Wie aus den Abb. 8<br />

bis 9 ersichtlich ist, kann dieser Prozess<br />

des asymmetrischen Einfalls durchaus<br />

verantwortlich sein für die enorm hohen<br />

Geschwindigkeiten der Neutronensterne.<br />

Probleme<br />

Wichtigster Faktor in diesen Berechnungen<br />

ist die Einfallsrate M, andere Parameter<br />

(und es sind deren viele!) beeinflussen<br />

die Beschleunigung des Neutronensterns<br />

in weit geringerem Masse. Leider ist die<br />

Einfallsrate jedoch nicht direkt beob-<br />

Beispiel<br />

Wenn also bei einer Einfallsrate von<br />

1 Sonnenmassen/Sek. für eine Dauer<br />

von 1 Sek. Materie auf den Stern<br />

(M = 1,4 M ¤) herunterfällt, wird dieser<br />

mehr als 2 Sonnen schwer und<br />

kollabiert somit zu einem Schwarzen<br />

Loch.<br />

1 M ¤/s x 1s = 1 M ¤<br />

1 M ¤ + 1,4 M ¤ = 2,4 M ¤ > 2 M ¤<br />

8 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

achtbar, und bis heute werden die meisten<br />

Computersimulationen aus Zeitgründen<br />

abgebrochen, bevor Material wieder<br />

auf den Stern zurückfällt. Es ist also äusserst<br />

unklar, ob solch hyperkritische Einfallsraten,<br />

wie ich sie benütze, um die<br />

Geschwindigkeiten in Abb. 8 und 9 zu erzeugen,<br />

überhaupt auftreten.<br />

Zudem kann auch das Problem der Bildung<br />

eines Schwarzen Loches auftreten:<br />

Ein Neutronenstern, der eine Masse von<br />

mehr als ~ 2 Sonnen besitzt, wird instabil<br />

und kollabiert zu einem Schwarzen Loch.<br />

Dies bedeutet wiederum, dass der Prozess<br />

des asymmetrischen Einfalls sehr kurzlebig<br />

ist und es deshalb fast unmöglich<br />

sein wird, ihn zu beobachten.<br />

Ausblick<br />

Als Nächstes müssen sicher weitere Vorläufersimulationen<br />

gemacht werden, um<br />

abzuklären, wie hoch die Einfallsrate (M)<br />

ist, wie gross die totale zurückfallende<br />

Masse (Mtot), und auch wie die Asymmetrie<br />

(α) genau aussieht. Mit diesen genaueren<br />

Ausgangsparametern können dann<br />

präzisere Simulationen durchgeführt<br />

werden, die von korrekten Anfangsbedingungen<br />

(Materieverteilung und -einfall)<br />

ausgehen. Auch unser Programm-Code<br />

könnte noch verbessert werden, indem wir<br />

unter anderem detailliertere Neutrinophysik<br />

einbauen würden, oder auch die Spe-<br />

Abb. 10: Raumkrümmung um ein Schwarzes<br />

Loch. Das bedeutet, dass wenn wir eine<br />

totale einfallende Masse Mtot [Einfallsrate<br />

x Zeitdauer des Einfalls = M x t = Mtot] haben,<br />

die grösser als ~ 0,5 Sonnenmassen<br />

ist, so wird der Neutronenstern zu einem<br />

Schwarzen Loch.<br />

zielle Relativitätstheorie berücksichtigen<br />

würden. (In manchen Simulationen haben<br />

wir überlichtschnelle Partikel – was leider<br />

keine physikalische Revolution, sondern<br />

schlichtwegs falsch ist.)<br />

Fazit<br />

Obwohl also an den Modellen und den Input-Parametern<br />

noch einiges zu verbessern<br />

ist, zeigen meine Berechnungen, dass<br />

asymmetrisch einfallende Materie und die<br />

daraus folgende asymmetrische Neutrinoabstrahlung<br />

durchaus für Neutronensterngeschwindigkeiten<br />

von über 1000 km/s<br />

verantwortlich sein können.<br />

Sarah Natalia Sägesser<br />

Lindenmattstrasse 42<br />

3065 Bolligen<br />

Literatur<br />

• LYNE A. G. AND LORIMER D. R. (1994) High Birth<br />

Velocities of Radio Pulsars. Nature 389, 127–129.<br />

• Meine Diplomarbeit kann gelesen werden /oder<br />

Fragen unter: suru@gmx.net<br />

Empfehlenswerte Zusammenfassungen sind:<br />

• http://arxiv.org/abs/astro-ph/9912522<br />

• http://www.livingreviews.org/Articles /....../<br />

Volume4/2001-51orimer/<br />

Nach einem Casino benannt<br />

Die wichtigsten Neutrinoemissionsreaktionen sind die sogennannten URCA-Prozesse.<br />

Noch heute trifft man in verschiedenen Papers auf die ausgefeiltesten Erklärung<br />

für diesen Namen. Tatsache ist: George Gamov nahm an einer Konferenz<br />

in Rio de Janeiro teil, als er diese Reaktionen berechnete, durch die der Neutronenstern<br />

in immensem Masse Energie verliert. Dazu spielte er jeden Abend in seinem<br />

Lieblingscasino und verlor dabei soviel und so schnell Geld wie der Neutronenstern<br />

seine Neutrinos: Und wie hiess das Casino? Ganz richtig: URCA!


«Nature» publiziert <strong>Bern</strong>er Klimastudie<br />

Erwärmung der Erde um 5 ºC<br />

so gut wie sicher<br />

Leben wir wie bisher mit hohem Erdölverbrauch weiter,<br />

wird sich die Erde bis 2100 um rund 5 ºC erwärmen, prognostiziert<br />

die neuste Klimastudie der <strong>Bern</strong>er <strong>Universität</strong>.<br />

Die wissenschaftliche Vorhersage beruht auf 25 000<br />

Berechnungen und wurde vom «Nature»-Magazin veröffentlicht.<br />

Mit einer umfangreichen Computersimulation<br />

gelang es Reto Knutti in seiner<br />

Doktorarbeit, die breitgefasste Meinung<br />

von 123 internationalen Klimaexperten<br />

stark einzuschränken. Anfangs 2001 hatten<br />

diese, von der UNO beauftragten Forscher<br />

der zwischenstaatlichen Sachverständigengruppe<br />

über Kilmaänderungen<br />

(IPCC) die Erwärmung der Erde in einem<br />

breiten Bereich von 1,4 bis 5,8 ºC bis<br />

ins Jahre 2100 vorausgesagt. Und mit ihren<br />

komplexen Klimamodellen ohne klare<br />

Gesamtaussage dabei jene bestärkt, die<br />

mit Massnahmen zuwarten wollen. «Eine<br />

enorme Komplexität verhindert klare Beweise»<br />

titelte beispielsweise die NZZ. Und<br />

Bush fühlte sich laut NZZ in seiner Klimapolitik<br />

bestätigt.<br />

«Mit 40% Wahrscheinlichkeit wird die Erwärmung<br />

im Jahre 2100 den vom IPCC<br />

gesetzten Bereich überschreiten, lediglich<br />

5 % Wahrscheinlichkeit besteht, dass<br />

der Bereich unterschritten wird.» Diese,<br />

im wissenschaftlichen Jargon abgefasste<br />

Hauptaussage der <strong>Bern</strong>er-Klimastudie<br />

tönt zwar nicht spektakulär, schafft jedoch<br />

die bisher vermissten klaren Beweise her-<br />

Mit Auszeichnung<br />

Die Arbeit «Erwärmung der Erde<br />

um 5 ˚C so gut wie sicher» von<br />

Christian <strong>Bern</strong>hart ist beim<br />

Forschungsreportagen-Wetbewerb<br />

2002 des <strong>Bern</strong>ischen Hochschulvereins<br />

mit dem 2. Preis ausgezeichnet<br />

worden. Die Preissumme<br />

beträgt Fr. 3000.–.<br />

bei. Klipp und klar gesagt, ist es durchaus<br />

möglich, dass die Erwärmung über 6 ºC<br />

liegt. «Wir peilen die Unsicherheit aus<br />

Modellen und Daten nicht mehr über den<br />

Daumen, sondern können diese Unsicherheiten<br />

explizit rechnen», sagt Reto Knutti<br />

zu seiner Doktorarbeit an der Forschungsabteilung<br />

Klima- und Umweltphysik am<br />

Physikalischen Institut der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Bern</strong>, die vom Schweizerischen Nationalfonds<br />

finanziert wurde. Die Untersuchung<br />

wurde im Wissenschaftsmagazin<br />

«Nature» veröffentlicht und wird im Heft<br />

in ihrer Aussage von einer zweiten Studie<br />

gestützt. Zu beiden Studien der zynischironische<br />

Kommentar der Nature-Redaktion:<br />

«Die politischen Meinungsmacher<br />

sollten in ihren Vorschlägen die Möglichkeit<br />

eines sehr warmen Klimas nicht unberücksichtigt<br />

lassen».<br />

Die Methode, die Knutti für seine Berechnungen<br />

gewählt hatte, hielt 15 grössere<br />

Computer während Monaten in Trab. Das<br />

Team der <strong>Bern</strong>er Physiker liess nämlich<br />

25 000 Kombinationen durchrechnen, die<br />

ein am Institut entwickeltes Klimamodell<br />

lieferte. Darin waren Unsicherheiten über<br />

Treibhauskonzentrationen, Sonnenaktivität,<br />

Vulkan- und Schwefelemissionen sowie<br />

Wasserdurchmischung des Ozeans systematisch<br />

als Varianten enthalten (Abbildungen<br />

1 bis 3). Ausschlaggebend war<br />

aber, dass eine daraus errechnete Kombination<br />

sich einleuchtend mit den aufgezeichneten<br />

Klimadaten des 20. Jahrhunderts<br />

in Vergleich setzen liess. Knutti<br />

zu den 25 000 Berechnungen: «Nur jene,<br />

die in Bezug auf die beobachteten Daten<br />

stimmen, wurden in der Prognose berück-<br />

Abb. 1: Aktiver Vulkan Soufriere Hills auf<br />

Monserrat. (Bild: NASA)<br />

Abb. 2: Sichtbare Grenze zwischen wärmerem<br />

Golfstrom (unten) und kälteren, nördlicheren<br />

Strömungen vor der Küste Amerikas.<br />

(Bild: NASA)<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

9


Abb. 3: Unterschiedliche Farben des Wassers<br />

zeigen, wo Meeresströmungen verlaufen.<br />

Hier der warme Golfstrom im Nordatlantik<br />

(dunkler, unterer Teil). Auch die Luft<br />

über dem Wasser zeigt die Temperaturunterschiede<br />

an: über dem warmen Golfstrom<br />

klar, über den kälteren Wassern im<br />

Norden ist es neblig. (Bild: NASA)<br />

sichtigt.»<br />

Der rigorose Vergleich führte zu einer<br />

namhaften Korrektur der Annahmen des<br />

IPCC-Berichts vom letzten Jahr. Die von<br />

Menschenhand provozierte Abschirmung<br />

des Sonnenlichts durch die feinen Teilchen<br />

aus Abgasen, mit welchen sich die Luft<br />

sättigt, über Städten Dunstglocken bildet<br />

und sogar Wolken entstehen lässt, diese<br />

kühlende Wirkung wurde im IPCC-Bericht<br />

rund doppelt so hoch eingestuft, als<br />

nun die Berechnungen ergeben haben.<br />

Die grösste noch bestehende Unsicherheit<br />

liegt nun darin, ob die – in der Regel vom<br />

Volk gewählten – Politiker willens sind,<br />

der Erwärmung mit wirksamen Massnah-<br />

10 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

Globale Erwärmung (ºC)<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

Messdaten Modellrechnungen<br />

-1<br />

1850 1900 1950 2000 2050 2100<br />

Jahr<br />

Abb. 4: Die Abbildung zeigt die gemessene globale Erwärmung der Erde (schwarz) über<br />

die vergangenen 140 Jahre mit den Unsicherheiten der Messdaten (grau schattiert) und<br />

die prognostizierte Erwärmung für zwei IPCC-Szenarien. Für das optimistische IPCC-Szenario<br />

B1 (grau schattiert) mit nachhaltiger Entwicklung, schnellem technologischen Fortschritt<br />

auch in Dritt-Weltländern wird eine Erwärmung von maximal 2,5 ºC berechnet.<br />

Für das Szenario A2 (rot schattiert), das von einer Weltentwicklung wie bisher ausgeht,<br />

liegt die maximal errechnete Erwärmung bei 4,5 ºC. (Grafik: Reto Knutti, Uni <strong>Bern</strong>)<br />

men einen Riegel zu schieben oder nicht.<br />

Hierzu haben Knutti und Kollegen ihre<br />

Daten nach zwei IPCC-Szenarien durchgerechnet<br />

(s. Abb. 4). Das Szenario B1 mit<br />

moderater Erwärmung im Bereich von 1,5<br />

bis 2,5 ºC nimmt an, dass umweltpolitisch<br />

das Steuer radikal herumgerissen wird<br />

und neue umweltfreundliche Techniken<br />

auch der Dritten Welt zugänglich sind, die<br />

armen Länder also aufholen und eine Welt<br />

mit einer nachhaltigen Wirtschaft und Bevölkerung<br />

entsteht. Szenario A2 mit einer<br />

Erwärmung im Bereich von 2,5 bis 4,5º C<br />

wiederspiegelt eine Welt, in der die Bevölkerung<br />

stetig wächst, die Industrieländer<br />

reicher werden und die Dritte Welt ärmer<br />

wird, also eine Welt in der heute bekann-<br />

A2<br />

B1<br />

ten Aufteilung. Die IPCC-Annahme, die<br />

einer Erwärmung von 5,8 ºC das Wort redet<br />

und auf eine starke Zunahme fossiler<br />

Energien abstellt, haben die 15 Computer<br />

am <strong>Bern</strong>er Institut nicht durchgerechnet.<br />

Die Resultate hierfür würden sicherlich<br />

für eine globale Erwärmung von weit<br />

über 6 ºC sprechen.<br />

Christian <strong>Bern</strong>hart<br />

Morgartenstrasse 21<br />

3000 <strong>Bern</strong> 22<br />

Der Beitrag «Erwärmung der Erde um 5˚C so gut<br />

wie sicher“ wurde erstmals in der «<strong>Bern</strong>er Zeitung»<br />

am 19.4.2002 auf Seite 2 publiziert.


Interview mit Thomas Stocker, Professor am Institut für Klima- und Umweltphysik<br />

«Wir müssen dort wohnen,<br />

wo wir auch arbeiten»<br />

Höherer Meeresspiegel, verheerende Stürme:<br />

Um Umweltkatastrophen entgegenzuwirken, fordert<br />

Thomas Stocker eine andere Mobilität.<br />

Prof. Thomas Stocker<br />

Wie viel wärmer wirds in rund hundert<br />

Jahren, wenn wir weiter wie bisher mit hohem<br />

Energieverbrauch leben?<br />

THOMAS STOCKER: Diese Annahme, die<br />

kaum falsch ist, führt dazu, dass es in den<br />

Tropen 3 bis 4 ºC wärmer wird. In den hohen<br />

Breitengraden, in Nordeuropa, Norwegen,<br />

Schweden sowie in Sibirien und Kanada,<br />

in den arktischen Bereichen kann es<br />

bis zu 12 ºC wärmer werden.<br />

In der von «Nature» veröffentlichten Studie<br />

haben Sie für das oben erwähnte Szenario<br />

den globalen Temperaturanstieg<br />

von bis zu 4,5 ºC als vorausgesagt.<br />

In unserer Studie machen wir Aussagen<br />

über eine global mittlere Temperatur. Das<br />

ist eine rechnerische Grösse, die so niemand<br />

erlebt. Die Erwärmung wickelt sich<br />

so ab, dass in den Tropen der Anstieg geringer<br />

ist. In den höheren Breitengraden<br />

jedoch, mit weniger Schnee und kürzeren<br />

Wintern, also mit einer positiven Rückkoppelung,<br />

können die Temperaturerhöhungen<br />

im Bereich von 7 bis 12 ºC liegen.<br />

Welche Folgen hat dieser drastische Temperaturanstieg?<br />

Wenn es global überall wärmer wird, erwärmt<br />

sich ebenso das Ozeanwasser. Das<br />

Wasser dehnt sich aus und es kommt zu einer<br />

Erhöhung des Meeresspiegels.<br />

« Heute gefrorene Gebiete in der<br />

Schweiz werden auftauen ».<br />

Wie hoch wird der Meeresspiegel steigen?<br />

Im schlimmsten Fall, also bei einer globalen<br />

Erwärmung von 5,8 ºC, schätzt man,<br />

dass der Meeresspiegel bis knapp einen<br />

Meter ansteigen wird.<br />

In knapp hundert Jahren müssen also die<br />

Holländer Amsterdam räumen.<br />

Die Holländer werden sich dieser Herausforderung<br />

stellen können und dank ihrer<br />

wirtschaftlichen Kraft mit Erhöhung und<br />

Verstärkung der Deiche das Problem lösen.<br />

Aber in Regionen wie Bangladesch oder<br />

den Malediven kann keine bestehende<br />

Infrastruktur ausgebaut werden. Ebenso<br />

reicht die wirtschaftliche Kraft kaum, um<br />

dem Problem wirksam zu begegnen. So<br />

haben bereits heute Bewohner des Inselstaates<br />

Tuvalu im Südpazifik ihre neun Inseln<br />

wegen Erhöhung des Meeresspiegels<br />

verlassen müssen.<br />

Was passiert in der Schweiz?<br />

Sicher wird sich die Schneebedeckung ändern.<br />

Die Gletscher gehen zurück. Heute<br />

gefrorene Gebiete, also Permafrost, werden<br />

auftauen. Die Vegetation wird sich<br />

verändern.<br />

Die Aussage Ihrer Studie widerspricht<br />

nicht jener, die bereits im Januar 2001<br />

vom Expertengremium der UNO gemacht<br />

wurde. Sie ist aber viel genauer und wohl<br />

der Grund für die prominent platzierte<br />

Veröffentlichung in «Nature»?<br />

Unsere Aussage basiert auf den ersten Simulationen,<br />

die alle heute bekannten physikalischen<br />

Unsicherheiten in einem konsistenten,<br />

in sich geschlossenen System berücksichtigt<br />

und in ein Klimamodell einbaut.<br />

Die Wahrscheinlichkeit der Erwär-<br />

Um das Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel zu fördern, muss die individuelle Mobilität<br />

verteuert werden. (Bild: BilderBox)<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

11


Noch unsicher ist die Auswirkung der Erwärmung auf die Wolkenbedeckung.<br />

mung haben wir auf dieser Grundlage<br />

erstmals in einer logischen Abfolge berechnet<br />

und im Gegensatz zu IPCC systematische<br />

Unsicherheiten für die Prognosen<br />

ermittelt.<br />

Eine hieb- und stichfeste Berechnung, für<br />

die Sie voll gerade stehen?<br />

Natürlich, sonst hätten wir die Studie nicht<br />

eingereicht. Es ist ja bekannt, dass «Nature»<br />

die Studien von Experten hart begutachten<br />

lässt. Von zehn eingereichten<br />

Studien wird weniger als eine publiziert.<br />

« Für den Wintersport in der<br />

Schweiz wird es schwierig »<br />

Auf was müssen sich bereits unsere Enkelkinder<br />

in 50 Jahren gefasst machen?<br />

Unsere Simulationen zeigen, dass die Temperatur<br />

bereits in den ersten Jahren stetig<br />

ansteigt und zwar ungeachtet, ob wir das<br />

ungehinderte Energiewachstum oder die<br />

Umkehr als Szenario wählen. Eine gewisse<br />

Trägheit ist der globalen Gesellschaft<br />

nämlich eigen, bis sie umsteigt und<br />

neue Technologien zur Verfügung stellt.<br />

Die grösste Unsicherheit in der Voraussage<br />

für die nächsten 20 Jahren ist die Frage,<br />

wie die Wolkenbedeckung auf die Erwärmung<br />

reagiert. Wird es wärmer, verdunstet<br />

mehr Wasser, das Wolken bildet. Gleichzeitig<br />

enthält eine wärmere Atmosphäre<br />

12 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

(Bild: BilderBox)<br />

mehr Wasserdampf, der nicht unbedingt<br />

in Wolken übergeht. Je nach dem, wo und<br />

welcher Art die Wolken sind, führt es zur<br />

Abkühlung oder Erwärmung. Es ist aber<br />

höchst unwahrscheinlich, dass die richtigen<br />

Typen von Wolken am gewünschten<br />

Ort die Erwärmung gerade ausgleichen.<br />

Davon bin ich fest überzeugt,<br />

Für gehäufte orkanartige Stürme ist ebenfalls<br />

die Erwärmung schuld?<br />

Solche Stürme brauchen eine minimale<br />

Wassertemperatur von etwa 27 ºC, um entstehen<br />

zu können. Solche Gebiete müssen<br />

notwendigerweise zunehmen, wenn sich<br />

der ganze Planet erwärmt. Und ihre Flächen<br />

werden grösser. Es ist wahrscheinlich,<br />

dass sich mehr Stürme dieser Art<br />

entwickeln.<br />

Grindelwald muss sich vom Schnee verabschieden?<br />

Man wird weniger Gletscher sehen. Im<br />

Winter gehört Grindelwald und Adelboden<br />

zur Zone, in der es für den Wintersport<br />

schwierig wird. Hart für die Bevölkerung,<br />

die sich in den letzten hundert Jahren auf<br />

die Einkünfte aus dem Wintersport eingestellt<br />

hat. Wenn es warm wird, ist es auch<br />

mit dem Kunstschnee vorbei.<br />

Ist die Erwärmung nur menschenbedingt?<br />

Die globale Erwärmung von 0,6 ºC von<br />

1900 bis heute ist nach heutiger Erkenntnis<br />

zu gut einem Drittel Mensch gemacht.<br />

Die Zeit von 1990 bis heute war eines der<br />

wärmsten Jahrzehnte. Der Mensch wird<br />

zu 90 % dran beteiligt sein, wenn die globale<br />

Erwärmung im Jahr 2100 bei etwa<br />

5 ºC liegt.<br />

Können wir die Erwärmung überhaupt<br />

noch stoppen oder ist es eh zu spät?<br />

Ich bin nicht überzeugt, dass es heute<br />

schon zu spät ist. Vor allem müssen wir<br />

den Pro-Kopf-Verbrauch von fossilen Energieträgern<br />

verringern. Davon verbrauchen<br />

die USA-Amerikaner bei gleich hohem<br />

Lebensstil dreimal mehr pro Kopf<br />

als die Europäer. Wir in Europa benützen<br />

mehr das Tram, den Zug oder das Velo.<br />

Die industriellen Länder müssen den<br />

Pro-Kopf-Anteil ausgleichen und dann<br />

schliesslich massiv herunterfahren.<br />

Wissenschafter warnen schon seit Jahren.<br />

Welche Taten müssen endlich den vielen<br />

Worten folgen?<br />

Ein 3-Liter-Auto, das die ganze Familie<br />

befördert, wäre ein Fortschritt, genügt<br />

aber nicht. Wir brauchen eine andere Mobilität,<br />

müssen noch mehr auf öffentliche<br />

Verkehrsmittel umsteigen, dezentralisierter<br />

arbeiten, um den Arbeitsweg zu verkürzen.<br />

Wir müssen dort wohnen, wo wir<br />

auch arbeiten. Und wir werden nicht darum<br />

kommen, die Mobilität zu verteuern.<br />

« Wir haben es in der Hand, diese<br />

Entwicklung zu stoppen »<br />

Was wird die Menschen zur Vernunft bringen?<br />

Ich glaube, es braucht Zeit. Sicher jedoch<br />

weniger als hundert Jahre, denn die Anzeichen<br />

von Katastrophen häufen sich. Der<br />

Meeresspiegel steigt an, die Sturm- und<br />

Katastrophenereignisse, die auch in Zukunft<br />

nicht mehr versichert werden können,<br />

nehmen zu. Wir haben es aber in der<br />

Hand, diese Entwicklung zu stoppen.<br />

Christian <strong>Bern</strong>hart


Ein Killer-Asteroid würde die Erde mit einem Schlag k.o. boxen<br />

Kosmische Killer<br />

Astrophysiker sind sich einig: Ein Riesen-Asteroid wird die<br />

Erde verwüsten. Die Frage ist nur, wann: in einer Million<br />

Jahren oder in einem halben Jahr?<br />

Die Erde lebt riskant. Vor wenigen Monaten<br />

entging unser Planet einer Katastrophe.<br />

Am Montag, dem 7. Januar 2002, flog der<br />

Asteroid «2001YB5», ein 300 Meter dicker<br />

Brocken aus Eisen und Fels, in zweifachem<br />

Mondabstand an unserem Planeten<br />

vorbei. Für uns Laien ist dieser Abstand<br />

sehr gross, für Astronomen aufregend<br />

klein. «Nehmen wir an, unser Kopf wäre<br />

die Erde, und eine Gewehrkugel flöge<br />

zehn Meter daran vorbei. Dann würden<br />

wir uns besorgt fragen, ob nicht mal ein<br />

Schuss uns treffen kann», sagt Thomas Luder,<br />

Astrophysiker am Physikalischen Institut<br />

der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong>. Gut möglich,<br />

dass eines Tages ein kosmisches Geschoss,<br />

ein Asteroid, so mächtig wie der Säntis,<br />

mit über 36 000 Stundenkilometern auf<br />

der Erde einschlägt. «Dass in der Zukunft<br />

ein Riesen-Asteroid die Erde treffen wird,<br />

ist gewiss», sagt der 28-jährige Thomas<br />

Luder. «Wir wissen nur nicht, wann. Ob<br />

in einem halben Jahr oder in hundert Millionen<br />

Jahren.»<br />

Himmlische Glühwürmchen<br />

Jede Nacht können wir Sternschnuppen<br />

beobachten, Leuchtspuren von Meteoren.<br />

Ob klein wie ein Sandkorn oder wie ein<br />

Kieselstein, sie rasen in die Atmosphäre<br />

und verglühen im Nu. Während bestimmten<br />

Nächten lässt sich der Tanz der himmlischen<br />

Glühwürmchen besonders gut beobachten.<br />

Dann nämlich, wenn die Erdbahn<br />

die so genannten Meteorströme kreuzt: am<br />

12. August die Perseiden, am 17. November<br />

die Leoniden, am 13. Dezember die<br />

Geminiden. Einige dieser Meteoriten verglühen<br />

nicht vollständig in der Lufthülle,<br />

sondern prasseln auf das Meer oder auf<br />

die Erdoberfläche. Wissenschafter schätzen<br />

die Zahl der Meteoriten, die sich jährlich<br />

bis zum Erdboden durchschlagen, auf<br />

etwa 300 000. «Erst ab einem Durchmesser<br />

von 50 Metern können Asteroiden auf<br />

der Erde Schaden anrichten», beruhigt Luder.<br />

Ab einer Grösse von einem Kilometer<br />

sprechen die Astronomen von «Killer-Asteroiden»,<br />

weil der Einschlag eines solchen<br />

Alter Bekannter: Dieser Asteroid, der einem Hundeknochen ähnelt, wurde bereits im Jahr<br />

1880 entdeckt. (Bild: NASA)<br />

Brockens die Erde verwüsten könnte.<br />

Nach statistischen Berechnungen kommt<br />

es durchschnittlich alle 500 000 Jahre einmal<br />

zu einer Kollision der Erde mit einem<br />

Asteroiden dieses Formats. Thomas Luder<br />

hat vor kurzem am Physikalischen Institut<br />

der Uni <strong>Bern</strong> seine Doktorarbeit abgeschlossen.<br />

Er untersuchte, wie sich Asteroiden-<br />

und Kometeneinschläge auf das<br />

Weltklima auswirken würden. Nach einer<br />

Faustregel verursacht ein Asteroid einen<br />

Krater, der ungefähr zwanzigmal grösser<br />

ist als er selbst. Der Besucher von Anfang<br />

Jahr, Asteroid «2001 YB5», hätte Zürich<br />

samt den angrenzenden Gemeinden ausgelöscht,<br />

wäre er in der City niedergegangen.<br />

Ausserdem wären grosse Teile der<br />

Schweiz durch die Druckwelle verwüstet<br />

worden.<br />

Horror beginnt<br />

vor dem Aufprall<br />

Schon vor dem Aufprall beginnt der Horror.<br />

«Ein Asteroid muss vor dem Aufprall<br />

die Atmosphäre verdrängen», sagt Thomas<br />

Luder. «An seiner Stirnseite entstehen<br />

ein gewaltiger Druck und eine höllische<br />

Hitze, an seiner Rückseite hingegen<br />

kurzfristig ein Leerraum, der die Luft ansaugt<br />

und damit heftige Stürme auslöst.»<br />

Im Jahr 1908 raste ein Asteroid oder vielleicht<br />

auch ein Kometenkern auf unseren<br />

Planeten zu, zwischen 50 und 100 Meter<br />

gross. Bevor er die Erdoberfläche erreichte,<br />

explodierte er einige Kilometer<br />

hoch über Tunguska in Ostsibirien. Es entstand<br />

kein Krater, aber auf einer Fläche so<br />

gross wie die Kantone <strong>Bern</strong> und Freiburg<br />

wurden die Wälder geknickt und in Brand<br />

gesetzt. Die ganze Energie des rasenden<br />

Geschosses entlädt sich im Bruchteil ei-<br />

Mit Auszeichnung<br />

Die Arbeit «Kosmische Killer» von<br />

Fritz P. Schaller ist beim Forschungsreportagen-Wettbewerb<br />

2002 des <strong>Bern</strong>ischen Hochschulvereins<br />

mit dem 3. Preis ausgezeichnet<br />

worden. Die Preissumme<br />

beträgt Fr. 2000.–.<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

13


ner Sekunde, wenn der Asteroid mit etwa<br />

50 000 Stundenkilometern auf dem Erdboden<br />

oder dem Meer einschlägt. «Schon<br />

ein relativ kleiner, zehn Meter grosser Asteroid<br />

explodiert mit der Wucht einer Hiroshima-Bombe»,<br />

sagt Thomas Luder.<br />

Über der japanischen Stadt Hiroshima haben<br />

die USA im Jahr 1945 ihre erste Atombombe<br />

gezündet. Sie tötete 200 000 Menschen<br />

und verwundete weitere 100 000.<br />

Die Explosion eines Asteroiden bewirkt<br />

allerdings im Unterschied zur Atombombe<br />

keine radioaktive Strahlung.<br />

Riesenwellen verwüsten Küsten<br />

Der Asteroid und die Erdkruste der Umgebung<br />

verflüssigen sich beim Aufprall.<br />

Ein Killer-Asteroid von einem Kilometer<br />

und grösser wirbelt Millionen Tonnen<br />

Staub in die Atmosphäre. Dieser verteilt<br />

sich weltweit. Wälder und Steppen<br />

brennen, Stickoxide und Schwefelgase<br />

werden freigesetzt. Die Russ- und Staubwolke<br />

hält das Sonnenlicht von der Erde<br />

ab. Darunter wird es kalt. Wochen- und<br />

monatelang. Trifft ein Killer-Asteroid hingegen<br />

ins Meer, dann löst er Riesenwellen<br />

aus, so genannte Tsunamis, die sich<br />

über Zehntausende von Kilometern ausbreiten<br />

und alle Küstenstriche verwüsten.<br />

Die Erde wird vom Killer-Asteroiden so-<br />

14 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

Wie man die Killerbrocken bekämpfen will<br />

Die Abwehr von Asteroiden arbeitet mit teils fantastischen Szenarien. Diese bestehen<br />

aber erst auf dem Papier. Die meisten Fachleute empfehlen, die kosmischen<br />

Geschosse auf ungefährliche Bahnen abzudrängen. Sie zu sprengen, wäre zu<br />

gefährlich, weil die Trümmerteile nicht zu kontrollieren wären. In jedem Fall müsste<br />

die Gefahr frühzeitig erkannt sein, damit die nötigen Berechnungen und Vorbereitungen<br />

getroffen werden könnten.<br />

Atombombe<br />

Gezündet in Asteroidnähe, könnte eine Atombombe die nötige Energie liefern.<br />

Problematisch wären die vorsorgliche Lagerung von Atombomben im All und die<br />

politische Kontrolle des gefährlichen Arsenals.<br />

Riesiger Sonnenspiegel<br />

Ein solcher auf der Erde platzierter, viele Quadratkilometer grosser Spiegel würde<br />

die Oberfläche des Asteroiden anschmelzen und damit einen Rückstoss erzeugen,<br />

der ihn aus der Bahn schleudert. Die Operation wäre heikel, da man einen<br />

knapp an der Erde vorbeifliegenden Asteroiden in das Gravitationsfeld steuern<br />

könnte.<br />

Raketenmotor oder Laserantrieb<br />

Angedockt an den Asteroiden, würde ein solcher Antrieb den Kurs des Asteroiden<br />

verändern. Die Operation wäre technisch höchst aufwändig und würde<br />

viel Zeit beanspruchen.<br />

zusagen mit einem einzigen Schlag k.o. geboxt.<br />

Danach erholt sie sich aber wieder.<br />

Was überlebt hat, organisiert sich neu. Der<br />

Blaue Planet, der aus der Ferne des Welt-<br />

Bombardement aus den Tiefen des Alls<br />

Tausende von Hochgeschwindigkeitsgeschossen aus dem Weltraum treffen den<br />

Planeten Erde. Die meisten verglühen in der Atmosphäre.<br />

Kometen<br />

Riesige tiefgefrorene Brocken aus Eis, Gas, Stein und Staub. Es sind Irrläufer aus<br />

der Oortschen Wolke, einem solaren Urnebel in der Tiefe des Sonnensystems.<br />

Ihren sagenhaften Schweif erhalten die Kometen, wenn sie in Sonnennähe geraten<br />

und dabei angestrahlt und erwärmt werden.<br />

Meteoriten<br />

Etwa faustgrosse kosmische Eisenstücke. Sie verglühen bei Eintritt in die Atmosphäre.<br />

Gelegentlich erreichen Meteoriten den Erdboden. Einzelne werden auch<br />

gefunden.<br />

Asteroiden<br />

Brocken aus Fels und Eisen aus der Jugendzeit des Sonnensystems, entstanden<br />

vor etwa 4,6 Milliarden Jahren. Die grosse Mehrheit kreist im Asteroidengürtel<br />

zwischen den Planeten Mars und Jupiter.<br />

Weltraumschrott<br />

Überreste von Objekten, die von Menschen in den Weltraum befördert wurden.<br />

Raketenteile, tote Satelliten, Schrott von Weltraum-Spaziergängen. Beispielsweise<br />

stürzten die Überreste der russischen Raumstation Mir am 23. März 2001 in<br />

den Südpazifik ab.<br />

alls so lieblich aussieht, könnte ohne weiteres<br />

ein von Kratern vernarbtes Gesicht<br />

aufweisen wie der Mond. Einzig die Atmosphäre<br />

bewirkt, dass die meisten Asteroiden<br />

verglühen oder explodieren, bevor<br />

sie einschlagen. Zudem verwischen Erosion<br />

und geologische Vorgänge die Spuren<br />

der grösseren Einschläge. Bislang sind<br />

etwa 150 irdische Einschlagstellen ausgemacht.<br />

Die grösste bekannte Katastrophe<br />

ereignete sich vor 65 Millionen Jahren bei<br />

der Halbinsel Yukatan, Mexiko. Der As-<br />

Scharf beobachtet: Eine unbemannte Raumsonde<br />

umfliegt den Asteroiden Braille (Modell).<br />

(Bild: NASA)


teroid mass schätzungsweise fünfzehn Kilometer.<br />

Vieles spricht dafür, dass dieser<br />

Einschlag die Herrschaft der Dinosaurier<br />

ausgelöscht und damit den Weg bereitet<br />

hat für die Weltmacht der Säugetiere, die<br />

sich von da an ungehemmt entwickelten.<br />

Vor 15 Millionen Jahren schlug ein Asteroid<br />

in unserer Nähe ein, in der Schwäbischen<br />

Alb. Beim Anflug zerbrach er in<br />

zwei Teile, die zwei Krater von 24 und<br />

von 4 Kilometer Durchmesser aushoben:<br />

heute das landschaftlich hübsche Nördlinger<br />

Ries und das Steinheimer Becken.<br />

Solche Krater sind oft nur mühsam auszumachen,<br />

weil Erosion, Vegetation und Jahreszeiten<br />

die Narben im Lauf von Jahrmillionen<br />

verwischten.<br />

Die Asteroiden sind Überreste aus der Zeit,<br />

als vor 4,6 Milliarden Jahren das Sonnensystem<br />

entstand. Unser Zentralgestirn war<br />

damals von einer riesigen Gas- und Staubwolke<br />

umgeben. Das kosmische Gemisch<br />

verdichtete sich zu neun Planeten. Aber<br />

nicht restlos. Die Restmaterie des Sonnensystems<br />

fliegt als Asteroidenbrocken<br />

auf einer Bahn zwischen Mars und Jupiter,<br />

etwa 600 Millionen Kilometer von<br />

uns entfernt. Nach Beobachtungen des<br />

Programms «Sloan Digital Sky Survey»<br />

gibt es in diesem Gürtel 700 000 Asteroiden<br />

von Killergrösse. Vermutlich ist aber<br />

erst die Hälfte derer bekannt, die sich der<br />

Erde nähern.<br />

Zurzeit keine Kollisionsgefahr<br />

Irrläufer davon pfeifen auch uns um die<br />

Ohren. Vor allem in Amerika erspähen<br />

Teleskope und digitale Kameras erdnahe<br />

Asteroiden und Kometen. Computer berechnen<br />

ihre Bahnen. Die offizielle Registrierstelle<br />

für Asteroiden und Kometen,<br />

das Minor Planet Center im amerikanischen<br />

Cambridge, hat bis vergangenen Januar<br />

1737 erdnahe Asteroiden und 44 Kometen<br />

verzeichnet. 513 davon haben einen<br />

Durchmesser von wenigstens einem Kilometer.<br />

Die Forscher versichern: Keiner<br />

der erdnahen Objekte befindet sich zurzeit<br />

auf Kollisionskurs zur Erde. Der erdnahe<br />

Asteroid Eros gilt als der Superstar<br />

der Astronomen. Er sieht aus wie eine fliegende<br />

Kartoffel und ist doch ein Brocken<br />

mächtig wie der Säntis, 33,6 Kilometer<br />

lang und 12,8 Kilometer breit. Seine bisher<br />

grösste Nähe zu unserem Planeten erreichte<br />

er 1975: 22 Millionen Kilometer.<br />

Keiner ist so genau vermessen, fotografiert<br />

und erforscht wie Eros. Ein Jahr lang<br />

umkreiste die Raumsonde Near Shoema-<br />

ker ihren Eros und schoss 200 000 Bilder.<br />

Darauf, am 12. Februar 2001, landete die<br />

Sonde auf dem Asteroiden und sendet weiter<br />

Daten zur Erde. Die Bewunderung für<br />

Superstar Eros könnte in Schrecken umschlagen,<br />

würde der «Säntis» auf Kollisionskurs<br />

zur Erde geraten. Er besitzt die<br />

doppelte Masse jenes Asteroiden, der vor<br />

65 Millionen Jahren das Leben auf der<br />

Erde umkrempelte. «Angenommen, wir<br />

wüssten, in fünf Jahren droht die Kollision<br />

eines Killer-Asteroiden mit der Erde.<br />

Dies würde Panik und Chaos in unserer<br />

Gesellschaft auslösen», befürchtet Thomas<br />

Luder. «Ein Trost, dass es nicht häufig<br />

passiert.» Der Blick zurück auf Jahrmillionen<br />

Erdgeschichte lehrt überdies:<br />

Selbst der grösste Asteroid könnte die<br />

Erde nicht aus ihrer Bahn um die Sonne<br />

kippen. Kein Asteroid kann das Leben total<br />

auslöschen. Das kann nur der Mensch<br />

mit seinem nuklearen Arsenal.<br />

Fritz P. Schaller<br />

Wiesenstrasse 10<br />

8700 Küsnacht<br />

Der Beitrag «Kosmische Killer» wurde erstmals in<br />

der «SCHWEIZER FAMILIE» im Juni 2002 auf<br />

Seite 22 ff publiziert.<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

15


Wenn Zecken<br />

heisse Köpfe machen<br />

Przewalskipferde, auf mongolisch Takhi, werden seit<br />

über zehn Jahren in der Mongolei ausgewildert. Piroplasmen,<br />

Blutparasiten, führen jedoch zu erhöhter Sterblichkeit<br />

bei den Pferden und gefährden das Projekt. Seit 2001<br />

erforscht ein junger Tierarzt des Institutes für Tierpathologie<br />

der Uni <strong>Bern</strong> die Zusammenhänge zwischen Pferden, den<br />

übertragenden Zecken und den Krankheitserregern.<br />

Urumtschi<br />

Jimsar<br />

Gobi B<br />

Tachin-Tal<br />

Gobi A<br />

Verbreitungsgebiet um 1890<br />

Naturschutzgebiet<br />

Zuchtstation<br />

«Mit nassen Schuhen stehe ich knietief im<br />

sulzigen Schnee und schaufle die weissen<br />

Massen auf die Seite. Wir stecken in<br />

der Mitte einer Hochebene im Altaj-Gebirge,<br />

an deren südlichen Ende unsere Forschungsstation<br />

sein soll. Bevor wir sie erreichen,<br />

werden wir uns allerdings noch<br />

weitere 30 Stunden mühsam mit unseren<br />

vier russischen Jeeps durch den mongolischen<br />

Schnee wühlen. Bis hierher wa-<br />

Mit Auszeichnung<br />

Hustain Nuruu<br />

Die Arbeit «Wenn Zecken heisse<br />

Köpfe machen» von Simon Rüegg<br />

ist beim Forschungsreportagen-Wettbewerb<br />

2002 des <strong>Bern</strong>ischen Hochschulvereins<br />

mit dem 3. Preis ausgezeichnet<br />

worden. Die Preissumme<br />

beträgt Fr. 2000.–.<br />

16 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

Ulan Bator<br />

MONGOLEI<br />

Wuwei<br />

Lanzhou<br />

RUSSLAND<br />

CHINA<br />

ren wir schon zwei Tage unterwegs mit<br />

dem Flugzeug nach Peking, von dort nach<br />

Ulaanbaatar und von dort mit einem Propellerflugzeug<br />

in die Wüste Gobi nach Altai.<br />

Dass die Wüste im Winter schneebedeckt<br />

ist, hatte ich zwar gelesen, aber es ist<br />

trotzdem ein überraschendes Bild, diese<br />

Steinlandschaft mit einer weissen Decke<br />

zu sehen. – Hier werde ich also das<br />

nächste halbe Jahr verbringen und Pferdeblut<br />

und Zecken sammeln.» So beginnt das<br />

Tagebuch von Simon Rüegg, einem Doktoranden<br />

des Zentrums für Fisch- und Wildtiermedizin<br />

am Institut für Tierpathologie<br />

in <strong>Bern</strong>. Seinen Auftrag hat er von Dr.<br />

Chris Walzer, dem Tierarzt des Zoo Salzburg.<br />

Er ist verantwortlich für die wissenschaftliche<br />

Betreuung bei der Auswilderung<br />

von Przewalskipferden in der Mongolei,<br />

und der Jubiläumsfond der Österreichischen<br />

Nationalbank finanziert dabei<br />

die Forschung.<br />

Takhi, 1877 entdeckt und<br />

1965 ausgestorben<br />

Przewalskipferde wurden Ende des 19. Jahrhunderts<br />

vom gleichnamigen russischen<br />

Expeditionsleiter entdeckt. Allerdings<br />

wusste er um seine Entdeckung nicht und<br />

brachte das Fell und den Schädel eines<br />

solchen Pferdes als Jagdtrophäe aus der<br />

Dschungarei (Westen der Mongolei) nach<br />

St. Petersburg zurück. Erst fünf Jahre später<br />

stellte Iwan Semjonowitsch Poljakow<br />

fest, dass es sich um die Überreste «eines<br />

ausserordentlich interessanten Tieres<br />

handelt, welches der Wissenschaft bis dahin<br />

nicht bekannt war» und veröffentlichte<br />

seine Beobachtungen. Zu Ehren des grossen<br />

Forschungsreisenden benannte er das<br />

Urwildpferd Equus przewalskii, Przewalskipferd.<br />

Kaum 90 Jahre nach seiner Entdeckung,<br />

1965, war das Pferd in freier Wildbahn<br />

ausgestorben.<br />

Wenige Exemplare überlebten in Gefangenschaft,<br />

in Zoos oder privaten Haltungen.<br />

Einige begeisterte Pferdenarren setzten<br />

sich daraufhin zusammen und planten<br />

die Auswilderung ihrer Schützlinge. Mit<br />

Hilfe der mongolischen Regierung wurden<br />

dann 1990 die ersten Przewalskipferde<br />

(mongolisch Takhi, sprich «Tachi»)<br />

nach Takhin Tal im Südwesten der Mongolei<br />

gebracht. Der Erfolg liess jedoch auf<br />

sich warten. Die Tiere waren krank, hatten<br />

Parasiten und wollten sich nicht richtig<br />

vermehren. 1999 wurde die «International<br />

Takhi Group» (ITG) gegründet<br />

(siehe Kasten «Die International Takhi<br />

Group» Seite 19). Diese internationale<br />

Stiftung, der neben den Initianten, Zoovertreter,<br />

Tierärzte und andere Fachpersonen<br />

angehören, führt seither das Projekt.<br />

Im Rahmen der medizinischen Betreuung<br />

der Pferde konzentriert sich Dr. Chris Walzer<br />

neben der direkten, kurativen Behandlung<br />

seiner Schützlinge hauptsächlich auf<br />

die Prävention. Tiere in freier Wildbahn<br />

lassen sich nicht behandeln, und meist ist<br />

das einzige, was sich feststellen lässt, der<br />

Tod. Diese Todesfälle werden nun alle<br />

vor Ort systematisch untersucht und Pro-


36 Stunden dauerte die Fahrt<br />

über die Hochebenen des Altai-<br />

Gebirges bis, wir das Forschungscamp<br />

am Rande des Nationalparks<br />

erreichten. Der sulzige<br />

Schnee lag so hoch, dass die<br />

Fahrzeuge immer wieder freigeschaufelt<br />

werden mussten.<br />

ben aller Organe nach <strong>Bern</strong> ins Institut für<br />

Tierpathologie geschickt. Dort übernimmt<br />

Dr. Nadia Robert im Zentrum für Fisch-<br />

und Wildtiermedizin die Anfertigung der<br />

histologischen Schnitte und versucht, unter<br />

Berücksichtigung der Befunde im Feld,<br />

die Todesursache festzustellen. Dank dieser<br />

Untersuchungen hat sich herausgestellt,<br />

dass wahrscheinlich Blutparasiten,<br />

Piroplasmen genannt, für eine erhöhte<br />

Mortalität und die schlechte Entwicklung<br />

der Pferdepopulation verantwortlich<br />

sind (siehe Kasten «Piroplasmen»). Um<br />

der Sache weiter auf den Grund zu gehen,<br />

wurde der frischgebackene Tierarzt Simon<br />

Rüegg im Rahmen seiner Doktorarbeit in<br />

die Wüste Gobi geschickt. Das Ziel seines<br />

Projektes war es, herauszufinden, woher<br />

diese Parasiten kommen, wer sie überträgt<br />

und wie häufig sie vorkommen.<br />

Die Blutentnahmen bei den<br />

Hauspferden waren jedes<br />

Mal ein soziales Ereignis.<br />

Die Nomaden kamen von<br />

weit her, um die Gelegenheit<br />

zu nutzen und ihre Verwandten<br />

und Bekannten zu<br />

besuchen.<br />

Piroplasmen, Erreger des Pferdefiebers<br />

Piroplasmen sind einzellige Parasiten, die die roten Blutkörperchen befallen. Sie<br />

vermehren sich in diesen und verursachen dadurch Blutarmut und Fieber. Übertragen<br />

werden sie von Zecken. Diese infizieren sich mit den Einzellern, während<br />

sie auf einem Pferd ihre Blutmahlzeit einnehmen. Die Piroplasmen vermehren<br />

sich dann im Darmgewebe der Zecken und befallen von dort die Speicheldrüsen<br />

und Eierstöcke. Mit dem Speichel werden sie bei der nächsten Blutmahlzeit<br />

in das nächste Pferd injiziert, wo sich der Kreislauf in den roten Blutkörperchen<br />

wieder schliesst.<br />

Die nächsten Verwandten der Piroplasmen sind Plasmodien, die Erreger der Malaria<br />

des Menschen. Piroplasmen sind allerdings artenspezifisch, das heisst, dass<br />

an Pferdepiroplasmen nur Pferdeartige erkranken. In der Regel haben die Tiere<br />

dabei leichtes Fieber und sind vor allem müde. Unter Stressbedingungen und bei<br />

Erschöpfung kann die Krankheit allerdings zum Tod führen. Durch ihre Auswilderung<br />

in der Mongolei sind die Przewalskipferde stark gestresst, was dazu führt,<br />

dass viele Verluste durch diese Krankheit verursacht werden, obwohl es eigentlich<br />

keine tödliche Krankheit ist.<br />

Hauspferde infizieren Takhi<br />

In der Mongolei werden Tiere völlig frei<br />

gehalten. Es gibt keinen Grundbesitz und<br />

deshalb können die nomadischen Hirten<br />

ihre Tiere überall weiden lassen. Das führt<br />

dazu, dass auch in dem Gebiet, wo die<br />

Takhi ausgewildert werden, Hauspferde<br />

vorkommen. Wegen der nahen Verwandtschaft<br />

der beiden Tierarten sind Takhi für<br />

die Krankheiten der Hauspferde empfänglich.<br />

Weil die Takhi neu im Gebiet sind,<br />

wesentlich schwieriger einzufangen sind<br />

und es ausserdem erst wenige davon gibt,<br />

richtete sich das Augenmerk des Projektes<br />

hauptsächlich auf die Hauspferde. Einer<br />

repräsentativen Anzahl wurde Blut entnommen,<br />

um Antikörper gegen Piroplasmen<br />

nachzuweisen. Zudem wurden Zecken<br />

von den Pferden gesammelt, um ihre<br />

Art und die Befallsaison zu bestimmen sowie<br />

die Piroplasmen in deren Speicheldrüsen<br />

nachzuweisen.<br />

Kultur und Forschung<br />

Die kulturellen Bedingungen machten das<br />

Projekt zu logistischer Schwerstarbeit. Nomaden,<br />

wie es der Name schon sagt, sind<br />

nämlich stets auf Wanderschaft. Selbst<br />

wenn mongolische Hirten nur vier bis<br />

sechs Mal jährlich ihren Standort ändern,<br />

muss man in der Bevölkerung völlig integriert<br />

sein, um zu wissen, wer wann wo<br />

ist. Dank der Hilfe mongolischer Mitarbeiter<br />

war es möglich, Termine mit den Hirten<br />

auszuhandeln, an denen sie ihre Pferde<br />

bei ihrer Jurte haben würden. «Meistens<br />

fuhren Tumur und ich früh morgens mit<br />

unserem Geländebus los. Alle Nomaden<br />

aus der Region wussten, wohin ich fuhr.<br />

Viele hatten mit Tumur dann abgemacht,<br />

dass sie mit uns mitfahren würden. Bevor<br />

wir also in unsere endgültige Fahrtrichtung<br />

losfuhren, klapperten wir einige<br />

Jurten der Region ab. Ich war jedes Mal<br />

erstaunt, wie viele Personen in so ein Fahrzeug<br />

passten. Rekord war eine ganze Jurte<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

17


mit zwölf weiteren Passagieren und zwei<br />

Schafen», berichtet der junge Forscher.<br />

«Wie bei jedem Besuch in der Mongolei,<br />

wurde dann als erstes gesalzener Tee in<br />

der Jurte des Gastgebers getrunken. In der<br />

Regel war nur die Frau des Hauses mit ihren<br />

Kindern da. Der Mann war unterwegs,<br />

um seine Pferde einzutreiben. Wenn ich<br />

Glück hatte, kam die Pferdeherde innerhalb<br />

der nächsten zwei Stunden, wenn ich<br />

Pech hatte, musste ich am nächsten Tag<br />

wiederkommen. Es gab Tage, an denen ich<br />

ausschliesslich in Jurten sass, wartete und<br />

Tee trank.»<br />

Um eine aussagekräftige Studie zu machen,<br />

musste er jeweils der Hälfte jeder<br />

Herde Blut nehmen. Jedes Pferd, dem<br />

Blut aus der Halsvene entnommen wurde,<br />

wurde mit dem Lasso eingefangen, auf den<br />

Boden geworfen und gefesselt. Das Blut<br />

wurde in Röhrchen mit Gerinnungshemmer<br />

gegeben. Damit wurde ein Blutausstrich<br />

auf einer kleinen Glasscheibe gemacht,<br />

die, nach einer Färbung, unter dem<br />

Mikroskop auf Parasiten abgesucht wurde.<br />

Der Rest des Blutes wurde über Nacht stehen<br />

gelassen, damit sich die roten Blutkörperchen<br />

setzten. Der Überstand, das<br />

Plasma, wurde dann abpipettiert und bei<br />

–10 °C in einer Camping-Tiefkühltruhe<br />

eingefroren. Von kulturellen Missverständnissen,<br />

die selbst hierbei bedeutende<br />

Steine in den Weg legten, weiss er<br />

ein Liedchen zu singen: «Eines Morgens<br />

wollte ich weitere Proben in den Tiefkühler<br />

geben, und musste feststellen, dass<br />

alles aufgetaut war. Die mongolischen Mitarbeiter<br />

hatten wegen der sommerlichen<br />

Temperaturen ihr ganzes Fleisch und ihre<br />

Milch darin gelagert. Da es nur eine kleine<br />

Truhe ist, ist natürlich alles aufgetaut. Für<br />

die Qualität der Proben ist es jedoch wichtig,<br />

dass sie nicht auftauen. Dementsprechend<br />

sauer war ich. Aber mein Unmut<br />

stiess auf völliges Unverständnis.»<br />

Nichtsdestotrotz brachte er im September<br />

250 Proben nach Österreich und reiste damit<br />

etwas später für weitere Untersuchungen<br />

nach Hildesheim in Deutschland. Dort<br />

führte er im Labor Dr. Böse, einem Referenzlabor<br />

für Pferdekrankheiten, einen sogenannten<br />

Immunfluoreszenz-Antikörper-<br />

Test (IFAT) durch, um Antikörper gegen<br />

Piroplasmen nachzuweisen. Dazu benötigte<br />

er Reagenzien und Infrastruktur, die<br />

ihm vom Labor grosszügigerweise zur<br />

18 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

Verfügung gestellt wurden. Die Artenbestimmung<br />

der Zecken machte er in <strong>Bern</strong>.<br />

Allerdings hat er sich dafür aus Neuenburg,<br />

der Hochburg der Zecken-Forschung, die<br />

entsprechenden Übersetzungen der russischen<br />

Literatur besorgt.<br />

Statistik,<br />

ein Werkzeug der Medizin<br />

Nachdem diese elementaren Untersuchungen<br />

beendet waren, ging es an die Auswertung<br />

der Resultate. Auch wenn die<br />

Statistik so manchem ein Buch mit sieben<br />

Siegeln darstellt, ist sie von grosser Wichtigkeit<br />

für die Interpretation solcher Ergebnisse.<br />

Im Falle der Piroplasmose bei Przewalskipferden<br />

stellte sich vor allem die<br />

Frage nach dem Zeitpunkt der ersten Infektion.<br />

Zu ihrer Beantwortung wurden<br />

verschiedene Alterskategorien gebildet<br />

und untereinander verglichen. Um nun<br />

zu entscheiden, ob ein Unterschied zwischen<br />

zwei Gruppen aus Zufall entstanden<br />

ist oder auch wirklich besteht, verwendete<br />

der junge Forscher statistische<br />

Testverfahren. Er fand, dass Pferde, die<br />

jünger als ein Jahr sind, wesentlich seltener<br />

Antikörper gegen Piroplasmen haben<br />

als ältere Tiere. Unter der Annahme, dass<br />

die Krankheit in der untersuchten Population<br />

endemisch sei (sich zuverlässig in<br />

einer Population reproduziert), kann sich<br />

Simon Rüegg das gut vorstellen: «Denn<br />

junge Tiere sind naiv und entwickeln erst<br />

Antikörper, wenn sie mit Piroplasmen konfrontiert<br />

werden. Diese behalten sie dann<br />

lebenslänglich. Entsprechend ist also der<br />

Prozentsatz seropositiver Tiere (Tiere, die<br />

Antikörper haben) höher, je älter die untersuchten<br />

Tiere einer Gruppe sind.» Dieses<br />

Verhalten der Krankheit hat er nun in<br />

einem mathematischen Modell beschrieben.<br />

In Zusammenarbeit mit dem Institut<br />

für Mathematik in Freiburg hat er eine<br />

Funktion entwickelt, deren Aufzeichnung<br />

sich gleich verhält wie die Resultate, die<br />

er im Feld gefunden hat. «Demnach sind<br />

ab dem Alter von fünf Jahren sozusagen<br />

alle Tiere seropositiv. Ausserdem konnten<br />

wir mit diesem Modell zeigen, dass 20 %<br />

der neugeborenen Fohlen ebenfalls schon<br />

mit dem Erreger der Piroplasmose infiziert<br />

sein müssen.» Als nächsten Schritt<br />

in seinen Untersuchungen hat der Doktorand<br />

die Przewalskipferde mit den domestizierten<br />

Pferden verglichen. Dabei fand<br />

er heraus, dass knapp halb so viele Przewalskipferde<br />

Antikörper gegen Piroplasmen<br />

hatten als er erwartet hätte. Bei näherer<br />

Betrachtung der Biologie der Zecken<br />

wurde ihm dann klar weshalb: «In der Regel<br />

infiziert sich eine Zecke im Stadium<br />

der Larve oder Nymphe und überträgt<br />

dann als adulte Zecke die Krankheit auf<br />

das nächste Tier. Bei Dermacentor nuttalli,<br />

der Zecke, die wir auf den Pferden<br />

gefunden haben, verhält es sich allerdings<br />

etwas anders. Erstens sitzt jedes Stadium,<br />

das heisst Larve, Nymphe und Adulte auf<br />

einem anderen Wirtstier. Die beiden ersten<br />

parasitieren auf Kleinsäugern, und nur die<br />

erwachsenen Zecken sitzen auf den Pfer-<br />

Takhis wurden mit dem Narkosegewehr eingefangen. Auch ihnen wurde Blut genommen.<br />

Danach wurde ihnen ein Gegenmittel gespritzt, mit dem sie schnell wieder völlig<br />

bei Bewusstsein waren.


den. Dementsprechend kann sich dieselbe<br />

Zecke nicht als Larve oder Nymphe mit<br />

Pferdepiroplasmen infizieren, sondern nur<br />

als Adulte. Das heisst, um erfolgreich Piroplasmen<br />

zu übertragen, muss die Zecke<br />

in ihrem erwachsenen Stadium mindestens<br />

zwei Pferde, ein infiziertes und ein<br />

empfängliches, beissen. In der Regel beissen<br />

Zecken jedoch nur einmal in jedem<br />

Stadium. Hier kommt nun die zweite ungewöhnliche<br />

Eigenschaft der Zecke zum<br />

Zug, nämlich die, dass erwachsene Parasiten<br />

auf mehr als einem Wirtstier sitzen.<br />

Eine weitere Bedingung muss nun noch<br />

eingehalten werden: infizierte und nicht<br />

infizierte Pferde müssen in nahem Kontakt<br />

zueinander sein, denn sonst kann sich<br />

die Zecke nicht infizieren und gleich auf<br />

ein empfängliches Tier überspringen. Die<br />

Takhi, die wir aus Europa in die Mongolei<br />

bringen, haben noch nie mit Piroplasmose<br />

zu tun gehabt. Sie stellen also die empfänglichen<br />

Pferde dar. Wenn wir sie in Takhin<br />

Tal auswildern, halten wir sie zuerst ein<br />

Jahr in Gehegen. In freier Wildbahn leben<br />

sie dann in einer Haremgruppe. Deshalb<br />

haben sie selten bis gar keinen Kontakt<br />

zu Hauspferden. So kommt es, dass sie<br />

ITG INTERNATIONAL TAKHI-GROUP<br />

wesentlich seltener mit Piroplasmen infiziert<br />

werden und Antikörper gegen diese<br />

bilden, als wenn sie in engem Kontakt zu<br />

Hauspferden leben würden».<br />

Ein Teil der Fragestellung war nun also<br />

beantwortet, wenn auch noch viele Fragen<br />

offen sind. Aus tierärztlichem, aber<br />

auch aus finanziellem Interesse des Projektes<br />

war die Prävention der Krankheit<br />

ein weiteres Ziel der Arbeit. Schliesslich<br />

ist der Erfolg eines Auswilderungsprojektes<br />

nicht zuletzt abhängig von der Überlebensrate<br />

der ausgewilderten Tiere. Nach-<br />

Die International Takhi Group<br />

Die International Takhi Group, kurz ITG, ist eine internationale Stiftung, die 1999<br />

gegründet wurde. Mitglieder sind verschiedene Stiftungen, Tierparks und Privatpersonen.<br />

Wichtig ist vor allem die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Erhaltungszuchtprogramm<br />

(EEP), dem Species Survival Plan (SSP) aus den USA<br />

und der IUCN Equid Specialist Group (IUCN = International Union for the Conservation<br />

of Nature, eine Organisation der UNO). In der Mongolei arbeitet die<br />

ITG eng mit dem Mongolian Ministry for Environment and Natural Resources zusammen.<br />

Gemeinsam führen die beiden Partner die Feldstation in Takhin Tal im<br />

Gobi B Nationalpark.<br />

Weitere Information über die ITG findet sich unter: http://www.takhi.org<br />

Feldstation der ITG am Rande des Gobi B Nationalparks.<br />

Mit Hilfe der Forschungsarbeit am Zentrum für Fisch- und Wildtiermedizin sehen die Takhis<br />

in der Mongolei einer erfreulichen Zukunft entgegen.<br />

dem die Takhi sich während eines Jahres<br />

an die dortigen klimatischen und sozialen<br />

Verhältnisse gewöhnt haben, werden sie<br />

der freien Wildbahn übergeben und sind<br />

für die betreuenden Tierärzte sozusagen<br />

unerreichbar. Es galt also, eine präventive<br />

Massnahme zu finden, die langfristig<br />

vor dem Krankheitsausbruch schützt, aber<br />

innerhalb dieses ersten Jahres unter Aufsicht<br />

vorgenommen werden konnte. Da es<br />

keine Impfung gibt, empfiehlt der Doktorand<br />

nun, dass man die Przewalskipferde<br />

mit Piroplasmen infiziert und dann mit einem<br />

Medikament behandelt, sobald sie die<br />

ersten Krankheitszeichen zeigen. Um sicher<br />

zu gehen, dass alle Takhi die Krankheit<br />

durchmachen, werden Zecken von infizierten<br />

Hauspferden gesammelt und den<br />

Takhi aufgesetzt. Nach dieser ersten Erkrankung<br />

sind die Tiere dann lebenslang<br />

immun gegen Piroplasmen.<br />

14 neue Przewalskipferde<br />

in der Mongolei<br />

Im Juni 2002 sind weitere 14 Przewalskipferde<br />

aus Europa in die Mongolei geflogen.<br />

Sie haben bis jetzt noch nie Piroplasmen<br />

gesehen und werden im Laufe<br />

ihres Lebens in freier Wildbahn damit<br />

konfrontiert werden. Sie werden die ersten<br />

sein, die sich dieser neuen Massnahme<br />

unterziehen müssen. Dafür werden sie vor<br />

der Krankheit geschützt sein. Doch selbst<br />

wenn sie jetzt gegen Piroplasmen immun<br />

sein werden, gibt es noch viele Gefahren,<br />

die in der mongolischen Steppe auf<br />

sie lauern und denen sie sich werden stellen<br />

müssen.<br />

Simon Rüegg<br />

World Association of Zoos<br />

and Aquaria<br />

Lindenrain 3<br />

3012 <strong>Bern</strong><br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

19


<strong>Bern</strong>er Veterinäre erforschten die erbliche Labrador-Retriever-Myopathie<br />

Und die Gene<br />

sind doch schuld ...<br />

Weder beim Zwei- noch beim Vierbeiner gibt es «neue»<br />

oder «alte» Krankheiten. Doch wenn es moderne wissen-<br />

schaftliche Mittel einem Team der Veterinärmedizinischen<br />

Fakultät in <strong>Bern</strong> erlauben, einem eigens aufgedeckten<br />

Phänomen mit Inbrunst und trotzdem seriös auf den Grund<br />

zu gehen, dann ist das erstens Glück im Unglück und zweitens<br />

spannend. (Arbeits-)Gruppen aus dem Departement für<br />

klinische Veterinärmedizin, dem Institut für Tierneurologie<br />

und dem Institut für Genetik und Tierernährung<br />

erforschten gemeinsam die Labrador-Retriever-Myopathie,<br />

eine Erbkrankheit, die eine fatale Muskelzerstörung bei dieser<br />

Familienhunderasse bewirken kann. Die Erkrankung ist<br />

beim Menschen ebenfalls bekannt.<br />

Mitte der 1970er-Jahre erstmals in den<br />

USA beschrieben, ist die Labrador-Retriever-Myopathie<br />

von zunehmender Bedeutung,<br />

weil sie erblich ist und beide Geschlechter<br />

betrifft. Auf der anderen Seite<br />

des Atlantik tritt diese Muskelerkrankung<br />

schon lange nicht mehr nur sporadisch auf.<br />

Sie ist unter den Haltern der als Familien-<br />

und auch Arbeitshunde beliebten Labradors<br />

gefürchtet, weil ihr Ausbreiten bisher<br />

durch züchterische Massnahmen kaum zu<br />

verhindern war und erkrankte Tiere niemals<br />

heilbar sind. Die Muskulatur hat einen<br />

«irreparablen» Defekt. Seit einigen<br />

Jahren werden auch in Europa immer<br />

wieder Welpen mit dem typischen Erkrankungsbild<br />

beim Tierarzt vorgestellt.<br />

«Max» bringt die Forscher<br />

auf die Spur<br />

Als 1997 der schmächtige schwarze Labrador-Welpe<br />

«Max» an unserem Institut<br />

für Neurologie des Tierspitals <strong>Bern</strong> vorgestellt<br />

wurde, war natürlich nicht abzusehen,<br />

dass er der Auslöser für eine «klinische<br />

Studie» und «genetische Analysen»<br />

sein würde – und vielleicht Motivation für<br />

weitere Arbeiten. Der junge Hund zeigte<br />

die typischen Symptome einer Labrador-<br />

Retriever-Myopathie: der Kopf wurde tief<br />

getragen, der Rücken war aufgekrümmt,<br />

der Gang unkoordiniert; Max zeigte beim<br />

Spiel Phasen akuter Schwäche und brach<br />

dann zusammen, blieb erschöpft liegen<br />

20 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

oder bewegte sich noch «hasenhüpfend»<br />

vorwärts. In Erholungsphasen verschwanden<br />

die Symptome – bis zur nächsten Belastung.<br />

Die Diagnose dieser schweren Form der<br />

Myopathie wurde durch spezielle Untersuchungen<br />

bestätigt: durch das Aufzeichnen<br />

von spontanen elektrischen Impulsen<br />

in der Muskulatur und durch die Begutachtung<br />

von mikroskopischen Muskelpräparaten.<br />

Es zeigten sich schwere Zerstörung<br />

von Muskelzellen, deren krankhafte<br />

Vergrösserung und auch eine Verkleinerung<br />

und Lücken im Zwischengewebe<br />

(Abb. 1). Es gibt Fälle von leicht erkrankten<br />

Hunden, die mit nur kleinen Handicaps<br />

alt werden können. Doch die Schwächephasen<br />

bei «Max» wurden mit der Zeit<br />

zum Dauerzustand und der Welpe musste<br />

früh euthanasiert werden.<br />

Einsichtige Züchter<br />

Seine Züchter waren natürlich entsetzt und<br />

– im Wissen um den erblichen Hintergrund<br />

der Erkrankung und um unsere guten Argumente<br />

– verantwortungsbewusst und bereit,<br />

den gesamten Wurf samt Elterntieren<br />

gründlich untersuchen zu lassen; die Entnahme<br />

von Muskelproben (Biopsien) war<br />

eingeschlossen. Dass ein weiterer Welpe<br />

mit offensichtlicher Schwäche ausfindig<br />

gemacht wurde, war für Professor André<br />

Jaggy und seine Mitarbeiter keine<br />

Überraschung. Doch dass die neun übrigen<br />

Hunde klinisch völlig gesund schienen,<br />

jedoch in der mikroskopischen Beurteilung<br />

alle «kranke Muskulatur» zeigten,<br />

war eine kleine Sensation.<br />

«Max» stammte aus einer angesehenen<br />

Labrador-Zucht, deren Abkömmlinge bekannt<br />

als gesunde, ausdauernde und leis-<br />

Abb. 1: Der histologische Muskelschnitt zeigt kaum mittelgrosse, runde gesunde Muskelzellen,<br />

die Mehrzahl der Zellen ist aber zerklüftet, krankhaft verkleinert oder aufgetrieben<br />

(dunkel gefärbt). Das dazwischen liegende Bindegewebe (hell gefärbt) zeigt breite<br />

Balken oder klafft auseinander.


tungsfähige Familien- und Gebrauchshunde<br />

sind. In der Vergangenheit war nie<br />

ein Tier dieser «Grossfamilie» mit der erblichen<br />

Muskelerkrankung aufgefallen.<br />

Doch unsere Resultate konnten vermuten<br />

lassen, dass vielleicht weitere Verwandte<br />

mit abnormaler/krankhafter Muskulatur<br />

unentdeckt ein erfülltes Leben lebten<br />

– und sich vermehrten und so vielleicht<br />

neue «Mäxe» produzierten. Dass<br />

«Max» einer gesunden Zuchtlinie entstammen<br />

könnte, war eine beruhigende<br />

Vorstellung, dass seine Verwandten aber<br />

Träger einer unentdeckten Erbkrankheit<br />

sein und diese an ihre Nachkommen weitergeben<br />

könnten, war eine höchst unangenehme<br />

Vermutung.<br />

Gibt es einen neuen,<br />

bisher unbekannten Erbgang?<br />

Die Studie bekam früh Unterstützung –<br />

Professor Claude Gaillard vom Institut für<br />

Genetik der Veterinärmedizinischen Fakultät<br />

bot sein Know-how und seine Mitarbeit<br />

an. Wenn man es umsetzen könnte,<br />

eine grössere Anzahl Labradors zu untersuchen,<br />

deren genaue Verwandschaftsverhältnisse<br />

zu klären – also einen Stammbaum<br />

zu konstruieren – und die Computer<br />

mit den gewonnenen Untersuchungsergebnissen<br />

zu füttern, könnte das Thema «Labrador-Retriever-Myopathie»<br />

auch von<br />

der Vererbungslehre her neu angegangen<br />

werden. Gäbe es zu dem bisher an-<br />

Abb. 2: Durch einen kleinen<br />

Hautschnitt wird beim narkotisierten<br />

Tier mit einem<br />

schneidenden Hohlmessr<br />

eine kleine Probe aus der<br />

Oberschenkelmuskulatur<br />

entnommen.<br />

genommenen «Mendel’schen Erbgang» 1 )<br />

eine Variante? Wäre die Weitergabe der<br />

Myopathie-Gene somit komplizierter und<br />

deshalb züchterisch schlecht kontrollierbar<br />

und mithin noch schlechter zu verhindern?<br />

Eine Biopsie würde Klarheit bringen. Bei<br />

einer Biopsie wird einem Tier (oder einem<br />

menschlichen Patienten) mit einem scharfen<br />

Hohlmesser eine Muskelprobe entnommen.<br />

Das ist ein kleiner Eingriff, der in<br />

kurzer Allgemeinnarkose nicht schmerzhaft<br />

ist. Nach einem kurzem Hautschnitt<br />

kann mit einem scharfen Hohlzylinder<br />

eine Probe entnommen (Abb. 2) und das<br />

entnommene Muskelgewebe anschliessend<br />

untersucht werden. Mit biochemischen<br />

Verfahren werden dabei im Speziallabor<br />

einzelne Strukturen des Gewebes<br />

unterschiedlich angefärbt und mikroskopisch<br />

beurteilt.<br />

Ahnenforschung mit 164 Tieren<br />

Schlussendlich bestand unser Untersuchungsgut<br />

– mit Ergänzungen auch aus<br />

dem Ausland – aus 58 Labrador-Retrievern.<br />

Sieben Hunde (12,1 %) zeigten die<br />

offensichtliche Labrador-Retriever-Myopathie.<br />

Als völlig normal konnten wir<br />

1 Der Augustinerpater Gregor J. Mendel hat in der<br />

zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Kreuzungsversuchen<br />

an Erbsen und Bohnen die nach<br />

ihm benannten Mendel’schen Gesetze bei der Vererbung<br />

einfacher Merkmale entdeckt.<br />

nur zehn Tiere (17,2 %) einstufen. Das<br />

war eine kleine Sensation. Ohne krankhafte<br />

«äusserliche» Symptome, doch mit<br />

den beschriebenen krankhaften Befunden<br />

in den Muskelproben wurden weitere<br />

41 Labrador-Retriever dokumentiert. Das<br />

waren 70,7 % aller 58 untersuchten Tiere.<br />

Aus der kleinen Sensation war eine grössere<br />

geworden.<br />

Jetzt musste Ahnenforschung betrieben<br />

werden. Mit Hilfe der Abstammungsurkunden<br />

dieser 58 Tiere konnte der Stammbaum<br />

mit einem Umfang von insgesamt<br />

164 Hunden konstruiert werden und somit<br />

zur Klärung der Verwandschaftsverhältnisse<br />

dienen. Und was dem Auge in dem<br />

Wirrwarr von Strichen, Bögen, Kreisen<br />

und Kästchen nicht gelingt, nämlich<br />

die Übersicht in Befunde und Verwandtschaft<br />

zu bekommen, brachte der Rechner<br />

zustande.<br />

Deutungsversuche<br />

mit vier Vererbungsmodellen<br />

Das Befundmaterial wurde für die statistische<br />

Berechnung vier verschiedener Vererbungsmodelle<br />

genutzt, die den Vererbungsmodus<br />

der in «unserer» Population<br />

auftretenden Myopathie klären sollte:<br />

Das «Hauptgen-Modell» macht ein spezielles<br />

Gen für das Auftreten der Erkrankung<br />

verantwortlich, das «Modell der gemischten<br />

Vererbung» rechnet zusätzlich<br />

mit den Einfluss eines weiteren Genabschnitts,<br />

und das «Umwelt-Modell» räumt<br />

z. B. einmal Haltungs- oder Ernährungsumstände,<br />

aber auch ausserordentliche genetische<br />

Störungen ein. Wir wandten die Berechnungen<br />

auf zwei Datensätze an: ein<br />

Datensatz konzentrierte sich auf die Verwandschaftsbeziehung<br />

von Muskelbiopsiegetesteten<br />

Tieren (bloss «abnormale» Tiere<br />

wurden zu den übrigen gezählt) – der<br />

zweite Datensatz bezog sich auf die offensichtlich<br />

kranken Hunde. Unsere Analysen<br />

belegten einen eindeutig genetischen<br />

Hintergrund der Myopathie. Das «Hauptgen-Modell»<br />

dominierte über die anderen,<br />

und wir machten – wie auch von früheren<br />

Wissenschaftern postuliert – eine nicht<br />

geschlechtsgebundene unterdrückte Vererbung<br />

für die Myopathie verantwortlich<br />

(rezessiver Erbgang).<br />

Allerdings bekamen wir Ergebnisse zur<br />

Übertragungswahrscheinlichkeit «krankmachender<br />

Genabschnitte», die eine der-<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

21


art einfache, bisher vermutete Übertragung<br />

im Mendel‘schen Sinne anzweifelten.<br />

Ausserdem war das «Umwelt- Modell» besonders<br />

ausdrucksstark. Das «Hauptgen-<br />

Modell» allein reichte offensichtlich nicht<br />

aus, die Vererbung der Myopathie bei Labrador-Retrievern<br />

zu erklären.<br />

Zukunfts-Überlegungen<br />

der Forscher<br />

Wenn wir die Ergebnisse dieser aufklärerischen<br />

Bemühungen kritisch zusammenfassen,<br />

müssen wir das Phänomen der<br />

krankhaften Muskelveränderungen bei<br />

als «nicht erkrankt» erscheinenden Labradors<br />

noch einmal besonders hervorheben.<br />

Das klingt paradox, doch es könnte<br />

möglich sein, dass sich bei diesen Tieren<br />

die Symptome bis zu einer gewissen Phase<br />

der Erkrankung gar nicht wahrnehmen lassen,<br />

insbesondere, wenn die Hunde nicht<br />

zu starken körperlichen Belastungen herangezogen<br />

werden. Die unterschiedlichen<br />

Erkrankungs-Schweregrade wurden ja gerade<br />

bei Hunden aus Arbeitslinien, also bei<br />

Tieren mit besonderer körperlichen Beanspruchung,<br />

beschrieben.<br />

Es wäre daher von wissenschaftlichem Interesse,<br />

die von uns untersuchten Hunde<br />

über einen längeren Zeitraum zu beobachten,<br />

weitere Belastungstests durchzuführen,<br />

wiederholt neue Muskelbiopsien<br />

vorzunehmen und die Zahl der untersuchten<br />

Tiere mit verwandten Tieren zu erweitern,<br />

um die individuellen Verläufe der<br />

Krankheit zu dokumentieren und weitere<br />

Arbeiten anzuregen. Wir vermuten, dass<br />

die von uns «nur» mikroskopisch als be-<br />

22 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

Abb. 3: Der Labrador, eine beliebte<br />

Familienhunderasse.<br />

troffen identifizierten Labradors mit grosser<br />

Wahrscheinlichkeit später auch sichtbare<br />

Alltagsprobleme bekommen werden<br />

(Abb. 3).<br />

Offene Fragen<br />

Es wurde gesagt, dass die Ergebnisse unserer<br />

Analysen mit der bisher akzeptierten<br />

These der Vererbung durch ein verantwortliches<br />

Gen übereinstimmen. Es<br />

scheinen jedoch weitere Faktoren für den<br />

offensichtlichen Ausbruch der Myopathie<br />

nötig zu sein. Das kann der Einfluss spontaner<br />

Unregelmässigkeiten in der Übertragung<br />

genetischer Information sein. Aber<br />

auch Umweltfaktoren könnten in Frage<br />

kommen wie Ernährung oder Haltungsumstände,<br />

physikalische und chemische<br />

Einflüsse im weitesten Sinne. Wir postulieren<br />

eine nach «Mendel» gängigem<br />

Schema nicht erklärbare Vererbung und<br />

weichen damit von der bisher gültigen<br />

These ab.<br />

In der Natur ist bei offenen Fragen der<br />

Blick in Richtung verwandte Spezies sicherlich<br />

eine gute Idee, in unserem Fall<br />

also die Brücke von der Tier- zur Humanmedizin,<br />

die bekanntlich oft und in beide<br />

Richtungen geschlagen wird. Beim Menschen<br />

ist eine erbliche Muskelerkrankung<br />

bekannt, die viele Gemeinsamkeiten mit<br />

der des Labradors zeigt. Diese Muskelerkrankung<br />

beim Menschen wurde inzwischen<br />

in sieben Untergruppen aufgeteilt –<br />

für jede betroffene Gruppe ist jeweils ein<br />

eigener Genabschnitt verantwortlich. Für<br />

die Labrador-Retriever-Myopathie ist das<br />

ebenso denkbar. Möglicherweise präsen-<br />

tieren sich in unserer Retrieverpopulation<br />

eine oder sogar mehrere Formen einer erblichen<br />

Myopathie, die das Vererbungsbild,<br />

so wie es sich uns darstellte, komplex<br />

macht.<br />

Zukünftige Arbeiten sollten die diskutierten<br />

Zusammenhänge näher charakterisieren.<br />

Dafür sind allerdings Befunderhebungen<br />

mehrerer hundert Labrador-Retriever<br />

nötig. Die Beurteilung von Muskelbiopsieproben<br />

ist das sensitivste Mittel, betroffene<br />

Hunde zu ermitteln. Bis neue Erkenntnisse<br />

gewonnen sind, sollten Züchter grösste<br />

Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein<br />

bei der Wahl von Elterntieren walten lassen,<br />

und durch Biopsie identifizierte Tiere<br />

sollten sie von der Zucht ausschliessen.<br />

Dr. med.-vet. Tim Bley<br />

Im Altried 39<br />

8051 Zürich


Salz in den Nahrungsmitteln<br />

Cum grano salis<br />

Kochsalz ist besonders wichtig für die Regulation des Blutdrucks.<br />

Klinische Untersuchungen haben gezeigt, dass eine<br />

hohe Kochsalzzufuhr den Blutdruck erhöhen kann. Es besteht<br />

kein Zweifel daran, dass eine Einschränkung des<br />

Kochsalzkonsums bei bestehendem Bluthochdruck indiziert<br />

sein kann. Gleichwohl wird von verschiedenen Experten<br />

eine Verminderung der Kochsalzzufuhr auf weniger als 6 g<br />

pro Tag auch zum Zweck der primären Prävention empfohlen.<br />

Eine solche Reduktion der Salzkonsums kann durch<br />

medizinische Massnahmen alleine nicht erreicht werden.<br />

Eine Beteiligung der Nahrungsmittelindustrie, um dieses Ziel<br />

zu erreichen, ist unerlässlich.<br />

Kochsalz –<br />

entwicklungsgeschichtliche<br />

Überlegungen<br />

In der Evolution hat sich der Mensch zum<br />

Lebewesen entwickelt, der möglichst viel<br />

des eingenommenen Kochsalzes konservieren<br />

muss. Kochsalz ist das wichtigste<br />

Salz des Extrazellulärraumes (d. h. des<br />

Raums mit den ausserhalb der Zelle befindlichen<br />

Flüssigkeiten) und damit besonders<br />

wichtig für die Regulation des Blutdrucks.<br />

Man nimmt an, dass der Mensch<br />

in den ersten zehn Millionen Jahren seiner<br />

Existenz, als Sammler und Jäger, täglich<br />

mit etwa 1 g Kochsalzeinnahme zurecht<br />

kommen musste (Abb. 1). Wegen der variablen<br />

Verfügbarkeit an Kochsalz brauchte<br />

der Mensch dafür einen Regulationsmechanismus.<br />

Diese Rolle wurde vom<br />

Aldosteron wahrgenommen. Aldosteron<br />

ist ein Hormon, dass zu einer Verminderung<br />

der Kochsalzausscheidung durch die<br />

Niere führt, wenn ein Mangel an Salzangebot<br />

besteht. Aldosteron stellt deshalb<br />

entwicklungsgeschichtlich einen Überlebensvorteil<br />

dar. Man kann sich unschwer<br />

“The salt assault”<br />

Abb. 1: Täglicher Kochsalzkonsum des Menschen im Laufe der Evolution.<br />

vorstellen, dass Individuen, deren Niere<br />

möglichst viel Kochsalz zu resorbieren<br />

vermochte, einen Überlebensvorteil aufwiesen.<br />

Durch die Agrarrevolution wurde<br />

es nötig, die im Überschuss produzierten<br />

Nahrungsmittel aufzubewahren (Abb. 1).<br />

Kochsalz fand hier Einzug als Konservierungsmittel.<br />

Somit kam es in den letzten<br />

5000 Jahren zu einer exponentiellen<br />

Zunahme der Kochsalzeinnahme. In<br />

den westlichen Ländern beträgt zurzeit<br />

die durchschnittliche Kochsalzeinnahme<br />

über 10 g pro Tag (Abb. 1). Man kann sich<br />

unschwer vorstellen, dass sich in dieser Situation<br />

plötzlich ein Überlebensvorteil in<br />

eine krankmachende Angelegenheit verwandelt,<br />

in diesem Fall eine Hypertonie.<br />

Kochsalz – Definitionen und<br />

Funktionen<br />

Kochsalz ist chemisch gesehen Natriumchlorid.<br />

In 1 g Kochsalz sind 0,4 g Natrium<br />

und 0,6 g Chlorid enthalten. Aus ernährungsphysiologischer<br />

Sicht handelt es<br />

sich bei den beiden Elementen Natrium<br />

und Chlorid um lebensnotwendige Mineralstoffe,<br />

die an vielen Prozessen beteiligt<br />

sind. Natrium ist das wichtigste Kation des<br />

Extrazellulärraumes und damit besonders<br />

wichtig für die Aufrechterhaltung des osmotischen<br />

Druckes und die Regulation<br />

des Blutdrucks. Weiterhin ist Natrium am<br />

Aufbau des Membranpotentials für die Erregungsleitung,<br />

für Transportprozesse sowie<br />

an der Enzymregulation beteiligt. Im<br />

Körper eines 70 kg schweren Erwachsenen<br />

sind rund 135 g Kochsalz enthalten.<br />

Mit dem Urin werden täglich (je nach Zufuhr)<br />

etwa 8 bis 12 g Kochsalz ausgeschieden.<br />

Über den Stuhl oder Schweiss werden<br />

im Normalfall nur geringe Mengen ausgeschieden.<br />

Kochsalz – Vorkommen<br />

und Verwendung<br />

Der Salz-Gehalt in Lebensmitteln in unverarbeitetem<br />

Zustand ist in der Regel gering,<br />

er kann aber, je nach Art der Zubereitung,<br />

erheblich ansteigen. Es kann davon ausgegangen<br />

werden, dass etwa 80 % der Salzzufuhr<br />

aus «versteckten» Salzen in verarbeiteten<br />

Lebensmitteln stammen (Abb. 2).<br />

Die täglich im Haushalt zum Zusalzen verwendete<br />

Speisesalzmenge wird dagegen<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

23


nur auf durchschnittlich 1,5 bis 2 g (unter<br />

20 %) geschätzt. Zu den kochsalzreichen<br />

Lebensmitteln mit einem Salzgehalt<br />

von über 1 g Kochsalz/100 g gehören insbesondere<br />

Brot- und Backwaren, Fleisch-<br />

und Wurstwaren, die meisten Käsesorten<br />

und Salzgebäck; aber auch diverse Fertiggerichte<br />

und Fertigsaucen sind hier zu<br />

nennen (Abb. 2). Da Natrium in Lebensmitteln<br />

überwiegend als Kochsalz vorliegt,<br />

werden etwa 95 % der Natriumzufuhr auf<br />

Natriumchlorid zurückgeführt. Aus diesen<br />

Gründen kann aus dem Natriumgehalt im<br />

allgemeinen auch auf den Kochsalzgehalt<br />

geschlossen werden.<br />

Bluthochdruck<br />

In der Schweiz sterben jährlich ca. 26 000<br />

Personen an Krankheiten des Kreislaufsystems.<br />

Eine der Hauptursachen für Herz-<br />

und Kreislauferkrankungen ist der zu hohe<br />

Blutdruck (Hypertonie). Der Blutdruck ist<br />

eine Funktion des Herzminutenvolumens<br />

und des peripheren Gefässwiderstandes.<br />

Entsprechend einem Report der WHO<br />

aus dem Jahre 1996 ist als Hypertonie die<br />

Blutdruckhöhe zu definieren, bei der eine<br />

Diagnostik und Behandlung mehr Nutzen<br />

als Schaden anrichtet. Die klinische Bedeutung<br />

der Hypertonie liegt in den Folgeerkrankungen<br />

von Herz und Gefässen,<br />

wie Schlaganfälle, koronare Herzkrankheit<br />

und Herzinfarkt, Herzinsuffizienz<br />

oder periphere arterielle Verschlusskrankheit.<br />

Es gibt keinen Schwellenwert<br />

des Blutdrucks, unter welchem das Risiko<br />

für diese Komplikationen nicht vorliegt.<br />

Umgekehrt wurde gut dokumentiert, dass<br />

bei diastolischen Blutdruckwerten über<br />

70 mm Hg das Risiko für Komplikationen<br />

kontinuierlich ansteigt (Abb. 3). Eine<br />

Analyse von über 420 000 Bluthochdruck-<br />

Patienten über eine Beobachtungszeit von<br />

durchschnittlich zehn Jahren zeigte, dass<br />

der Risikounterschied, einen Hirnschlag<br />

oder eine koronare Herzkrankheit zu erleiden,<br />

pro 5 mm Hg 30 % bzw. 20 % beträgt<br />

(Abb. 3).<br />

Bei der Hypertonie handelt es sich um eine<br />

multifaktorielle Erkrankung, deren Entstehung<br />

auf verschiedene Faktoren zurückgeführt<br />

wird. Neben der genetischen<br />

Disposition kommt dem Übergewicht<br />

eine besondere Bedeutung zu. Des weiteren<br />

werden ein hoher Alkoholkonsum, Bewegungsmangel,<br />

chronischer Stress sowie<br />

24 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

28 % Brot- und Backwaren<br />

11% Sonstige<br />

14 % fertige Mahlzeiten<br />

eine erhöhte Kochsalzzufuhr mit der Entstehung<br />

der primären Hypertonie in Verbindung<br />

gebracht.<br />

Kochsalz und Blutdruck<br />

Bereits seit Jahrzehnten wird der Zusammenhang<br />

zwischen diätetischer Kochsalzzufuhr<br />

und dem Blutdruck diskutiert. Eine<br />

MEDLINE-Recherche (Januar 1966/Juli<br />

2001) zu der Verknüpfung der Begriffe<br />

«salt» (Salz) oder «sodium chloride»<br />

(Natriumchlorid) und «blood pressure»<br />

(Blutdruck) oder «hypertension» (Bluthochdruck)<br />

ergab eine Anzahl von 9290 Arbeiten<br />

nur zu dieser Thematik. Epidemiologische<br />

Untersuchungen liessen vermuten,<br />

dass ein hoher Kochsalzkonsum für die<br />

Entwicklung der Hypertonie und ihr häufiges<br />

Vorkommen in der Bevölkerung mit<br />

verantwortlich ist. Darüber hinaus konnte<br />

in klinischen Untersuchungen festgestellt<br />

werden, dass eine hohe Kochsalzzufuhr<br />

19 % Wurst- und Fleischwaren<br />

7 % Käse<br />

3 % Milchprodukte<br />

18 % Gewürze und Zutaten<br />

Abb. 2: Prozentualer Anteil an der Kochsalzzufuhr nach Lebensmittelgruppe.<br />

den Blutdruck erhöhen kann und dass eine<br />

Salzrestriktion bei einigen Patienten mit<br />

Hypertonie zu einer Senkung eines erhöhten<br />

Blutdrucks führt. Drei kürzlich veröffentlichte<br />

Meta-Analysen analysierten die<br />

Ergebnisse aus 108 kontrollierten Untersuchungen,<br />

bei denen der blutdrucksenkende<br />

Effekt einer Reduktion der Kochsalzzufuhr<br />

bei Patienten mit Hypertonie<br />

überprüft wurde. Diese Analysen zeigten,<br />

dass eine durchschnittliche Reduktion<br />

der Kochsalzeinnahme um 6 g/Tag<br />

eine Änderung des systolischen und diastolischen<br />

Blutdrucks um –5 bzw. –2 mm<br />

Hg hervorrufen kann. Von der DASH-<br />

Studiengruppe (Dietary Approaches to<br />

Stop Hypertension) wurde der Einfluss<br />

auf den Blutdruck bei verschiedenen Ernährungsformen<br />

(Kontrolldiät vs. DASH-<br />

Diät = Obst-, gemüsereiche und fettarme<br />

Ernährung) und variierender Kochsalzzufuhr<br />

von 3, 6 und 9 g pro Tag über jeweils<br />

Abb. 3: Risiko für Hirnschlag und koronare Herzkrankheit in Relation zum diastolischen<br />

Blutdruck.


Abb. 4. Salzsensitivität: Salzsensitive (SS) Individuen reagieren auf eine erhöhte Kochsalzaufnahme<br />

mit einer Blutdrucksteigerung, während dies bei salzresistenten (SR) Individuen<br />

kaum der Fall ist.<br />

30 Tage bei 412 Personen untersucht. Die<br />

Ergebnisse zeigen, dass eine Senkung der<br />

Kochsalzzufuhr auf unter die derzeit empfohlene<br />

Menge von 6 g den Blutdruck sowohl<br />

in der Kontrollgruppe als auch in<br />

der DASH-Diät-Gruppe deutlich senken<br />

kann, wobei die deutlichsten Effekte bei<br />

Kombination beider Massnahmen festgestellt<br />

wurden.<br />

Salzempfindlichkeit<br />

Die individuellen Reaktionen auf eine<br />

Salzrestriktion sind sehr unterschiedlich,<br />

was auf eine unterschiedliche Salzempfindlichkeit<br />

zurückgeführt wird. Es wird<br />

G<br />

1<br />

SR<br />

geschätzt, dass nur etwa 20–30 % der Bevölkerung<br />

und etwa knapp die Hälfte der<br />

Hypertoniker auf eine erhöhte Kochsalzaufnahme<br />

mit einer Blutdrucksteigerung<br />

reagieren. Die Salzsensitivität kommt<br />

häufiger bei schwarzen als bei weissen<br />

Personen vor. Letztere Beobachtung deutet<br />

auf eine genetisch bedingte Störung<br />

der kochsalzabhängigen Blutdruckregulation<br />

hin.<br />

Welches sind die molekularen Grundlagen<br />

für diese salzabhängige Blutdruckregulation?<br />

Das durch die Nahrung aufgenommene<br />

Kochsalz wird hauptsächlich durch<br />

Abb. 5. Kochsalzreabsorption in Prozent entlang des Nephrons (Grundelement der<br />

Niere). G=Glomerulum (Filtration), 1–4 = unterschiedliche Abschnitte des Nierentubulus<br />

(Resorption).<br />

2<br />

3<br />

SS<br />

4<br />

die Niere ausgeschieden. Die Niere besteht<br />

aus rund einer Million kleinster Funktionseinheiten,<br />

Nephrone genannt (Abb. 5).<br />

Bestandteile eines Nephrons sind das Glomerulum,<br />

das als Filter dient, und der Tubulus<br />

(das Röhrchen), bei dem zwischen<br />

den proximalen (d. h. näher beim Glomerulum<br />

gelegenen) und den distalen (entfernteren)<br />

Abschnitten unterschieden wird.<br />

Kochsalz wird im Glomerulum (G) filtriert<br />

und dann entlang des Nephrons zu<br />

99 % rückresorbiert. Der grösste Teil des<br />

filtrierten Kochsalzes wird proximal-tubulär<br />

resorbiert (1), etwa 1 /4 wird in den distalen<br />

Tubulusabschnitten (2–4) wieder<br />

aufgenommen. Wird in einem Tubulusabschnitt<br />

zuviel Kochsalz rückresorbiert,<br />

wird es bei Salzbelastung nicht möglich<br />

sein, das überschüssige Kochsalz zu eliminieren,<br />

und der Blutdruck steigt an. Bei<br />

einer Tubulusstörung mit ungenügender<br />

Kochsalzreabsorption wird bei Salzbelastung<br />

das überschüssige Kochsalz problemlos<br />

eliminiert, und der Blutdruck<br />

steigt nicht an. Der Blutdruck wird sogar<br />

tief sein, wenn ungenügend Kochsalz zugeführt<br />

wird, falls die Niere das Kochsalz<br />

nicht zurückhalten kann.<br />

Im Verlauf der letzten Dekade ist eine<br />

Vielzahl vererblicher Erkrankungen molekular<br />

charakterisiert worden, die mit<br />

einer gestörten Blutdruckregulation einhergehen.<br />

Aus diesen Forschungserkenntnissen<br />

lassen sich zwei wesentliche Aspekte<br />

hervorheben:<br />

Erstens: Die bis heute bekannten genetisch<br />

bedingten Störungen der Blutdruckregulation<br />

sind durch Störungen der Kochsalzreabsorption<br />

im Nierentubulus bedingt.<br />

Zweitens: Es gibt Mutationen, die eine Hypertonie<br />

verursachen, aber auch Mutationen,<br />

die vor einer Hypertonie schützen.<br />

Empfehlungen zur Prävention<br />

Entsprechend den Therapie-Empfehlungen<br />

verschiedener nationaler und internationaler<br />

Gremien sollten Hochdruckkranke<br />

nicht mehr als 6 g Kochsalz pro Tag mit<br />

der Nahrung aufnehmen. Die WHO empfahl<br />

1996 im Hinblick auf die primäre Prävention<br />

«eating less salt» und erklärte<br />

eine durchschnittliche Kochsalzzufuhr<br />

von unter 6 g pro Tag zum Ziel. Des weiteren<br />

wurde gefordert, dass jedes Land entsprechend<br />

seinen spezifischen Gegebenheiten<br />

geeignete Massnahmen zur Blut-<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

25


druckkontrolle ergreifen sollte. Diese<br />

Ziele sind mit einer individuellen Beratung<br />

des Patienten (für Hochdruckkranke) und<br />

mit einer Änderung des Lebensstils (als<br />

Primärprävention) alleine nicht erreichbar,<br />

da 80 % des täglichen Kochsalzkonsums<br />

in Form von verstecktem Kochsalz<br />

eingenommen wird (Abb. 2). Als unerlässliche<br />

Massnahme musste gefordert<br />

werden, dass seitens der Lebensmittelindustrie<br />

das Angebot salzarmer Produkte<br />

erhöht und Natriumgehalte gekennzeichnet<br />

werden sollten.<br />

Wie wird eine wirksame<br />

Kochsalzreduktion erreicht?<br />

Es muss nochmals betont werden, dass<br />

individuelle Interventionen sehr schwierig<br />

sind. Es gibt dafür mehrere Gründe.<br />

Zum einen ist das kochsalzempfindliche<br />

Blutdruckverhalten genetisch determiniert<br />

und noch existieren dafür keine im Praxisalltag<br />

verwendbaren diagnostischen Tests.<br />

Zum anderen ist die geläufige Empfehlung<br />

«kein Nachsalzen» unwirksam, da der Gehalt<br />

an «verstecktem» Kochsalz in Fertigprodukten<br />

so hoch und kaum vermeidbar<br />

ist (1 kg Brot enthält ca. 10 g Kochsalz).<br />

UNIVERSITÄT BERN<br />

Collegium generale<br />

26 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

Es sind deshalb globale Interventionen nötig,<br />

die auch die Nahrungsmittelindustrie<br />

mit einbeziehen müssen. Nur so wird es<br />

möglich, das tägliche Kochsalzangebot<br />

so zu ändern, dass für das Kollektiv, aber<br />

auch für den individuellen Patienten mit<br />

Hypertonie eine wirksame Salzreduktion<br />

erreicht werden kann.<br />

Warum ist es bis heute nicht gelungen,<br />

den Kochsalzkonsum zu reduzieren?<br />

Eine mögliche Erklärung liegt darin,<br />

dass wirtschaftliche Interessen gegenüber<br />

wissenschaftlich noch nicht zweifelsfrei<br />

demonstrierten Vorteilen einer<br />

deutlichen Abnahme des täglichen Kochsalzkonsums<br />

überwiegen. Ein wichtiger<br />

Aspekt in dieser Hinsicht ist die Feststellung,<br />

dass die Produzenten von «gesalzenen<br />

Produkten» auch Getränke anbieten.<br />

Eine Reduktion des Salzkonsums reduziert<br />

auch den Flüssigkeitsbedarf, wie in<br />

einer englischen Studie deutlich gezeigt<br />

wurde. Eine Halbierung des Salzkonsums<br />

(von 10 auf 5 g/Tag) führte dazu, dass die<br />

Teilnehmer 350 ml Flüssigkeit weniger<br />

pro Tag zu sich nahmen. Das entspricht<br />

eine Dose Cola/Fanta/Sprite oder ähn-<br />

Wie verstehen wir Fremdes?<br />

lichem zu durchschnittlich 1.50 Franken<br />

(x 7,2 Millionen CH-Einwohner), was ungefähr<br />

10 Millionen Franken Verlust pro<br />

Tag für die Nahrungsmittelindustrie bedeuten<br />

würde. Die Nahrungsmittelindustrie<br />

argumentiert, dass salzarme Produkte<br />

nicht gekauft würden, weil sie nicht<br />

schmeckten. Eine australische Studie belegt<br />

indessen, dass eine 20%ige Reduktion<br />

des Salzgehaltes im Brot zu keiner Veränderung<br />

der Salzwahrnehmung führt.<br />

Ein Angebot natriumreduzierter Lebensmittel<br />

dürfte auf jeden Fall in der Sekundärprävention<br />

von Bedeutung sein. Im Rahmen<br />

der Primärprävention könnten solche<br />

Produkte helfen, dass die von verschiedenen<br />

Expertengremien als ausreichend bezeichnete<br />

Kochsalzmenge von 6 g/Tag<br />

nicht überschritten wird und so einen Beitrag<br />

zu einem bewussteren und verbesserten<br />

Ernährungsverhalten leisten.<br />

PD Dr. med. Paolo Ferrari<br />

Abteilung für Nephrologie/Hypertonie<br />

Inselspital<br />

Tel. 031 632 31 42, Fax 031 632 97 34<br />

E-Mail: paolo.ferrari@insel.ch<br />

Kulturhistorische Vorlesungen des Collegium generale im Wintersemester 2002/2003 für Hörer und Hörerinnen aller Fakultäten<br />

und ein weiteres Publikum. Jeweils Mittwoch, 18.15 bis 19.15 Uhr im Hauptgebäude der <strong>Universität</strong>, Hochschulstrasse 4, 1. OG,<br />

Hörsaal 110 (Auditorium maximum). Leitung: Prof. Dr. Rupert Moser<br />

2003<br />

8.1. Unbewusste Prägung durch die Kultur der Fachdisziplin – Dr. Antonio Valsangiacomo<br />

eine Erschwernis für das interdisziplinäre Verstehen Uni <strong>Bern</strong><br />

15.1. Entwicklungszusammenarbeit im Spannungsfeld Dr. Anne-Marie Holenstein, Zürich<br />

zwischen Eigenem und Fremden<br />

22.1. Literatur als Medium, Fremdes zu verstehen Prof. Dr. Peter Rusterholz, Uni <strong>Bern</strong><br />

29.1. Eigenes und Fremdes im Körper: Die Bedeutung der Chemokine PD Dr. Pius Lötscher, Uni <strong>Bern</strong><br />

Die Veranstaltungen des Collegium generale sind öffentlich und unentgeltlich. Programmänderungen bleiben vorbehalten. Auf Wunsch wird der<br />

Besuch der Veranstaltungen durch das Collegium generale bestätigt. Anschrift: Collegium generale, Falkenplatz 7, 3012 <strong>Bern</strong>,<br />

Tel.: 031 631 86 35, Fax: 031 631 45 26; E-Mail: moser@hdu.unibe.ch, Internet: www.collegiumgenerale.unibe.ch


Ein Laserscanner im Dienste der Bauforschung<br />

Messbilder<br />

An einem historisch und architektonisch bedeutenden Ort,<br />

nämlich in der Schlosskapelle von Anet, rund 80 km westlich<br />

von Paris, kam ein neuartiges Messgerät zu seinem<br />

ersten Einsatz, das seit Mai dieses Jahres den Archäologien<br />

und dem Lehrstuhl für Architekturgeschichte und Denkmalpflege<br />

der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong> zur Verfügung steht.<br />

Auf Antrag der Philosophisch-historischen<br />

Fakultät der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong> hat<br />

die Regierung die nicht unbeträchtlichen<br />

Mittel zum Kauf des Laserscanners Cyrax<br />

2500 3D-Imaging System bewilligt. Seitens<br />

der Architekturgeschichte war der<br />

Anschaffungswunsch vor allem in Hinblick<br />

auf das Nationalfondsprojekt «Die<br />

Hagia Sophia in Istanbul. Entwurfsverfahren<br />

und Bauprozesse» vorgetragen worden,<br />

bei dessen Bearbeitung die Notwendigkeit<br />

exakter Bauaufnahmen sich immer dringender<br />

herausgestellt hat.<br />

Der erste Einsatz und «Probelauf» des Cyrax<br />

2500 fand im Mai dieses Jahres im<br />

Schloss Anet statt. Während dreier Tage<br />

übte sich ein Team der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong><br />

zusammen mit einer Leica-Ingenieurin –<br />

und unter den wohlwollenden Augen der<br />

Schlossherrin – in der neuen Messtechnik.<br />

Aufgenommen wurde die Schlosskapelle.<br />

Ein berühmtes Bauwerk …<br />

Wodurch war die Wahl dieses Bauwerks<br />

motiviert? Das Schloss Anet ist ein<br />

Hauptwerk der französischen Baukunst<br />

Abb. 1: Anet, Schlosskapelle.<br />

Der Aussenbau von<br />

Osten. (Foto: Volker Hoffmann)<br />

und wurde zwischen 1548 und 1553 vom<br />

grössten französischen Architekten des<br />

Jahrhunderts, von Philibert Delorme, für<br />

die Herzogin Diane de Poitiers, die geistreiche<br />

und subtile Favoritin König Heinrichs<br />

II., erbaut. Die partielle Zerstörung<br />

des Schlosses zu Anfang des 19. Jahrhunderts<br />

hat die Kapelle nahezu unbeschadet<br />

überstanden (Abb. 1–3).<br />

Diese Kapelle nun, eine überkuppelte Rotunde<br />

mit Kreuzarmen und zwei Türmen,<br />

ist ein Bauwunder der Stereotomie. Unter<br />

Stereotomie versteht man den Steinschnitt<br />

in seiner Anwendung auf den Gewölbebau.<br />

Die Konstruktion stereometrischer Körper<br />

mit doppelt gekrümmten Flächen verlangt<br />

eine hoch entwickelte Geometrie. Die<br />

nach den geometrischen Rissen gehauenen<br />

Werksteine müssen so genau bearbeitet<br />

und versetzt sein, dass die Mörtelfugen<br />

beinahe zum Verschwinden gebracht<br />

werden. Die Stereotomie, als Projektionsmethode<br />

eng verwandt mit der Perspektive,<br />

ist die praxisorientierte Vorstufe der darstellenden<br />

Geometrie, deren Theorie Gaspard<br />

Monge (Géométrie descriptive, Pa-<br />

Abb. 2: Anet, Schlosskapelle. Der Innenraum<br />

von Westen, Weitwinkelaufnahme.<br />

Abb. 3: Anet, Schlosskapelle. Senkrechter<br />

Blick in die Kuppel, Weitwinkelaufnahme.<br />

ris 1795) entwickelt hat und die wiederum<br />

die Grundlage der modernen technischen<br />

Zeichnung bildet. Philibert Delorme (1514<br />

bis 1570), Erbauer der Schlosskapelle, war<br />

auch der Verfasser des ersten Traktats über<br />

Stereotomie, das er im dritten und vierten<br />

Kapitel seines Werkes Le premier Tome de<br />

l’architecture (Paris 1567) veröffentlicht<br />

hat. Dieses Traktat hat hohen Rang auch<br />

in der Wissenschaftsgeschichte.<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

(Foto: Volker Hoffmann)<br />

(Foto: Volker Hoffmann)<br />

27


… und seine Kuppel<br />

Der geistesgeschichtliche Hintergrund<br />

und die stereotomisch-exakte Bauweise<br />

der Kapelle hätten als Grund ausgereicht,<br />

sie für den Probelauf unseres Cyrax auszuwählen;<br />

entscheidend war ihre berühmte<br />

Kassettenkuppel, deren Innenschale aus<br />

36 gekurvten, schräg ansteigenden, einander<br />

durchkreuzenden Rippen gebildet<br />

wird. Der geometrische Entwurf dieser<br />

Kuppel, ein Problem der Kugelgeometrie,<br />

ist unverstanden geblieben. Seine Rekonstruktion,<br />

damit auch die Rekonstruktion<br />

des Werkrisses, ist aber ein Forschungsvorhaben<br />

am Lehrstuhl für Architekturgeschichte<br />

– und nun bot sich die Möglichkeit,<br />

anhand genauer Bauaufnahmen<br />

unsere theoretischen Entwürfe zu überprüfen<br />

und weiterzuentwickeln!<br />

Die ersten Messbilder<br />

Der Cyrax 2500 erzeugt Messbilder. Messbilder<br />

sind im Prinzip zentralperspektivische<br />

Abbildungen von Körpern auf einer<br />

Ebene, und diese Bilder lassen sich unter<br />

bestimmten Voraussetzungen entzerren,<br />

also in ein isometrisches Bild umformen,<br />

aus dem sich z. B. der Grundriss und<br />

Aufriss des abgebildeten Körpers zeichnen<br />

und – besitzt man wenigstens zwei reale<br />

Masse – alle realen Masse jenes Körpers,<br />

soweit er im Bilde erschienen ist, gewinnen<br />

lassen. Die Entstehung des Messbildes<br />

fällt zumindest als Möglichkeit zusammen<br />

mit der Erfindung der abbildenden<br />

Zentralperspektive durch den Florentiner<br />

Filippo Brunelleschi am Anfang des<br />

15. Jahrhunderts. Zur perspektivischen Abbildung<br />

des Baptisteriums und der Piazza<br />

della Signoria hat er (soweit wir das heute<br />

wissen können) auf der Grundlage der euklidischen<br />

Optik erstmals einen Perspektivapparat<br />

gebaut. Er besteht aus einem<br />

Fadennetz (Projektionsebene) und einer<br />

Lochplatte (Augpunkt) (Abb. 4). Vom<br />

28 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

fixierten Auge aus kann der «Sehstrahl»<br />

durch das Fadennetz hindurch das Objekt<br />

Zeile für Zeile, Punkt für Punkt abtasten.<br />

Die Schnittpunkte des Sehstrahls mit dem<br />

Fadennetz werden Masche für Masche von<br />

Hand auf ein dem Netz analog quadriertes<br />

Täfelchen übertragen. Verbindet man<br />

diese Punkte mit Linien, so erhält man das<br />

zentralperspektivische Abbild des gesehenen<br />

Gegenstandes, das sich dann auch als<br />

Messbild verwerten liesse.<br />

Albrecht Dürers<br />

Beschreibungen<br />

Albrecht Dürer war der Erste, der Perspektivapparate,<br />

vier an der Zahl, in seinem<br />

Werk Unterweisung der Messung mit Zirkel<br />

und Richtscheit (Nürnberg 1525 und<br />

1538) graphisch dargestellt und in ihrer<br />

Handhabung beschrieben hat. Wir reproduzieren<br />

den Zeichner der Laute (1525)<br />

(Abb. 5). Der «Sehstrahl» ist als Faden<br />

materialisiert, das Fadennetz durch einen<br />

Rahmen ersetzt, an dem ein Türchen drehbar<br />

befestigt ist und in dem zwei Stäbe horizontal<br />

und vertikal verschoben werden<br />

können. Der Faden ist rechts mit einem<br />

Gewicht beschwert, wird durch eine Öse<br />

(den «Augpunkt») gezogen und durch den<br />

Rahmen geführt. Mit dem Zeigestift am<br />

linken Ende des Fadens tippt der Opera-<br />

Abb. 5: Albrecht Dürer,<br />

«Der Zeichner der Laute».<br />

Erste graphische Darstellung<br />

eines Perspektivapparates,<br />

1525. (Nach «Unterweisung<br />

der Messung»)<br />

Abb. 4: Der erste Perspektivapparat<br />

(Filippo Brunelleschi,<br />

Anfang 15. Jahrhundert).<br />

Hypothetische<br />

Nachbildung von Volker<br />

Hoffmann. (Foto: V. Hoffmann)<br />

teur auf eine bildrelevante Stelle der Laute.<br />

Den Ort, an dem der Faden den Rahmen<br />

durchdringt, fixiert der Zeichner als Kreuzungspunkt<br />

der beiden Stäbe; der Faden<br />

wird dann zurückgezogen, das Türchen<br />

auf den Rahmen geklappt und der fixierte<br />

Punkt auf dessen Zeichenfläche markiert.<br />

Sind genügend Punkte abgetragen und mit<br />

Linien verbunden, so ist ein genaues zentralperspektivisches<br />

Abbild der Laute entstanden.<br />

Dies Beispiel zeigt sehr schön, dass schon<br />

vor Jahrhunderten mit der Möglichkeit,<br />

auf rein mechanischem Wege zentralperspektivische<br />

Bilder zu erzeugen, experimentiert<br />

worden ist – und zeigt zugleich<br />

die praktischen Grenzen dieses Verfahrens,<br />

die durch die umständliche Manipulation<br />

abgesteckt sind. Der Zeitpunkt,<br />

zu dem die mit Apparaten (zu denen auch<br />

die Camera obscura gehört) erzeugten perspektivischen<br />

Abbildungen als Messbilder<br />

Verwendung fanden, lässt sich heute noch<br />

nicht genau angeben; ich vermute allerdings,<br />

dass bereits Brunelleschi mit Messbildern<br />

experimentiert hat.<br />

Die Weiterentwicklung<br />

dank der Photographie<br />

Erst die Erfindung der Photographie (J. N.<br />

Niépce, 1826) machte die Entwicklung des<br />

modernen, wirklich brauchbaren Messbildes<br />

möglich. Die photographische Kamera<br />

ist ein Perspektivapparat, das Photo eine<br />

zentralperspektivische Abbildung, die sich<br />

in eine isometrische umformen lässt; ihr<br />

Vorteil besteht darin, dass sie viel schneller<br />

und viel genauer herzustellen ist, als<br />

dies mit den Perspektivapparaten Brunelleschis,<br />

Dürers und anderer jemals möglich<br />

gewesen wäre. Albrecht Meydenbauer<br />

war es nun, der das photographische<br />

Messbildverfahren – nach Vorarbeiten von


Abb. 6: Albrecht Meydenbauers<br />

erste Messkammer,<br />

1867. (Nach «Hundert<br />

Jahre Architektur im<br />

Messbild»)<br />

Abb. 7: Anet, Schlosskapelle.<br />

Perspektive des Innenraumes.Cyrax-Aufnahme,<br />

Modellierung<br />

Nikolaos Theocharis<br />

Abb. 8: Anet, Schlosskapelle.<br />

Grundriss und<br />

Fussbodenmuster. Cyrax-<br />

Aufnahme, Modellierung<br />

Nikolaos Theocharis.<br />

J. Laussedat (1851) – in der Anwendung<br />

auf Bauwerke seit 1860 begründet, entwickelt<br />

und zu hoher Reife gebracht hat. 1885<br />

konnte er in Berlin die Königlich-preussische<br />

Messbild-Anstalt gründen, die später<br />

zum Messbildarchiv wurde und bis<br />

heute als eine Abteilung des Brandenburgischen<br />

Landesamtes für Denkmalpflege<br />

fortbesteht. Die von Meydenbauer konstruierten<br />

Photoapparate, Messkammern<br />

genannt, hatten Weitwinkelobjektive und<br />

Bildnegativträger in Gestalt von 40 x 40<br />

cm grossen Glasplatten (Abb. 6). Mit ihnen<br />

liessen sich Messbilder von hoher Auflösung<br />

(Abbildungsschärfe) herstellen und<br />

danach in geometrische Zeichnungen,<br />

Grundrisse, Durchschnitte, Ansichten in<br />

beliebigem Massstab austragen. Meydenbauer<br />

selbst schätzte deren «Genauigkeit<br />

im Massstab 1 : 100 auf etwa 5–8 cm für<br />

die grossen Abmessungen bis 100 m Länge<br />

und Höhe (ca. 1/1500)».<br />

Die Photogrammetrie ist seitdem ständig<br />

weiterentwickelt und auf das berührungsfreie<br />

Messen sowohl im Makro- als auch<br />

im Mikrobereich erweitert worden. Es<br />

gibt die Stereophotogrammetrie und es<br />

gibt CD-Messkammern, die Aufnahmen<br />

können digitalisiert, auf dem Bildschirm<br />

bearbeitet und mit CAD (computer aided<br />

design) gekoppelt werden etc. Abgesehen<br />

von einfachen Aufgaben, wie sie etwa das<br />

Ausmessen einer Hausfront darstellt, ist<br />

die unmittelbare Anwendung dieser entwickelten<br />

Messtechnik in den kleinen <strong>Universität</strong>sinstituten<br />

der Geisteswissenschaften<br />

allerdings kaum möglich, da es dort in<br />

der Regel an der personellen und apparativen<br />

Ausstattung und am nötigen Sachverstand<br />

fehlt. Man ist auf die Dienste staatlicher<br />

oder privater Institute angewiesen,<br />

findet selten zur rechten Zeit die Finanzmittel,<br />

um deren Arbeit zu honorieren –<br />

und, was schwerer wiegt: bei der Bearbeitung<br />

und Lösung kniffliger Fragen müssen<br />

der Operateur der Apparate und der Wissenschafter<br />

räumlich und persönlich eng<br />

zusammenarbeiten – ein unverzichtbares<br />

Zusammenspiel, das bei der Auslagerung<br />

von Arbeitsvorgängen nur selten zustande<br />

käme.<br />

Der Cyrax 2500<br />

Der neue Laserscanner Cyrax 2500<br />

scheint nun für den Gebrauch in kleinen,<br />

nicht auf Messtechnik spezialisierten Instituten<br />

bestens geeignet zu sein. Seine Ar-<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

29


Abb. 9: Anet, Schlosskapelle. Schnitt durch die Kuppel und Parallelprojektion. Cyrax-<br />

Aufnahme, Modellierung Nikolaos Theocharis.<br />

beitsweise stellt Manuel Gerber in einem<br />

eigenen Beitrag auf Seite 31 dar, so dass<br />

ich zum Schluss kommen kann.<br />

Der erste Zweck der Cyrax-Aufnahmen<br />

der Schlosskapelle von Anet war das Einüben<br />

in die neue Technik, der zweite war,<br />

die Lösung eines Problems zu suchen, das<br />

uns seit längerem beschäftigt: die Beschreibung<br />

der Kuppelgeometrie. Es ist<br />

dies ein nichtklassisches Problem der Geometrie<br />

der Kugel, das sich ohne exakte<br />

Bauaufnahme nur theoretisch behandeln<br />

liess. Dank des neuen Geräts sind wir einen<br />

grossen Schritt vorangekommen und<br />

dürfen annehmen, die vielleicht definitive<br />

Lösung dieser in der Geschichte der darstellenden<br />

Geometrie interessanten Frage<br />

gefunden zu haben. Damit können wir<br />

dem Plan, über die Kapelle von Anet eine<br />

wissenschaftlich-didaktische Ausstellung<br />

30 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

zu konzipieren, ernsthaft näher treten und<br />

sie hoffentlich 2004 auf Wanderschaft<br />

schicken. Als Resultate der «Fingerübungen»,<br />

die viel Fingerspitzengefühl verlangt<br />

haben, bilden wir hier lediglich drei Beispiele<br />

«modellierter» Cyrax-Aufnahmen<br />

ab, eine Perspektive des Innenraumes von<br />

einem in der Realität unmöglichen Betrachterstandpunkt<br />

aus «gesehen» (Abbildung<br />

7), den aus dem dreidimensionalen<br />

«Modell» gewonnenen Grundriss mit<br />

der ebenfalls rechnergestützten Einzeichnung<br />

des geometrischen Fussbodenmusters<br />

(Abb. 8) und den Schnitt durch die<br />

Kuppel mit Parallelprojektion ihrer Kassetten<br />

und Rippen (Abb. 9).<br />

Ein Zukunftsprojekt<br />

Im Oktober 2002 wollen wir das Hauptziel<br />

unserer Forschungsarbeit ansteuern,<br />

die Hagia Sophia in Istanbul. Im Rahmen<br />

des Nationalfondsprojektes werden wir<br />

mit dem Cyrax-Aufnahmen in dem weltberühmten,<br />

532–537 unter Kaiser Justinian<br />

I. errichteten Kuppelbau machen,<br />

parallel dazu auch photogrammetrische<br />

Aufnahmen. Der Erste, der – 1902 – die<br />

Hagia Sophia photogrammetrisch aufgenommen<br />

hat, war Albrecht Meydenbauer;<br />

wir werden, genau hundert Jahre später,<br />

wahrscheinlich die ersten sein, die sie mit<br />

einem Laserscanner vermessen.<br />

Prof. Dr. Volker Hoffmann<br />

Institut für Kunstgeschichte<br />

Abteilung für Architekturgeschichte<br />

und Denkmalpflege<br />

Die <strong>Bern</strong>er Teilnehmer am Probelauf<br />

von Anet waren: Prof. Dr. Volker<br />

Hoffmann, Dipl. Ing. Nikolaos<br />

Theocharis, Dipl. Arch. Robert Walker,<br />

lic. phil. Francine Giese (Architekturgeschichte),<br />

lic. phil. Manuel<br />

Gerber, stud. phil. Vladimir Dianiska<br />

(Vorderasiatische Archäologie),<br />

cand. phil. nat. Fabian Dolf<br />

(Geographie). Das Team möchte<br />

sich bei der Schlossherrin, Frau Baronin<br />

L. de Yturbe, für die freundliche<br />

Unterstützung bedanken.


3D Long Range Laser Scanning<br />

Der Cyrax 2500 gehört zu den ersten feldtauglichen und leicht zu bedienenden Vertretern einer neuen Generation von Vermessungsgeräten,<br />

den 3D Long Range Laser Scannern. Im Unterschied zur konventionellen Vermessung mit Lasertheodoliten<br />

werden beim Laser Scanning nicht einige wenige relevante Punkte eingemessen, sondern mehrere Hunderttausend pro Aufnahme.<br />

Das Resultat ist eine hochaufgelöste, dreidimensionale «Punktwolke», welche einen kegelförmigen Raumausschnitt<br />

aus der Perspektive des Scanners äusserst präzise abbildet. Messschatten, die hinter den gescannten Objekten entstehen,<br />

werden über die Kombination mehrerer Scans von verschiedenen Positionen aus kompensiert.<br />

Die Funktionsweise ist bei den meisten Scannern dieselbe: ein pulsierender Laser wird über drehbare Spiegel so abgelenkt,<br />

dass er kolumnenweise einen bestimmten Raumausschnitt abtastet. Gemessen wird die Orientierung der Spiegel, die Zeit,<br />

die der Laser für die Strecke vom Scanner zum Objekt und zurück benötigt (time-of-flight), sowie die Intensität des reflektierten<br />

Signals. Für jeden Punkt auf der Oberfläche eines Objekts stehen damit seine x-, y- und z-Koordinaten sowie ein Intensitätswert<br />

zur Verfügung.<br />

Der Cyrax 2500 hat ein Scanfenster von 40°x40°, seine Reichweite liegt bei ca. 100 m. In dem so definierten kegelförmigen<br />

Raumausschnitt von ca. 120 000m 3 beträgt der Messfehler für die Position eines einzelnen Punktes selbst auf die Maximaldistanz<br />

nur wenige Millimeter, für modellierte Oberflächen ist er noch wesentlich kleiner.<br />

Unabhängig von der gewählten Scanauflösung nimmt die Messpunktdichte innerhalb dieses Raumes mit zunehmender Distanz<br />

ab. In der Regel wird deshalb zuerst ein Überblicksscan mit der maximalen Auflösung (1000 000 Punkte) gemacht, in<br />

welchen dann Detailscans von derselben Scannerposition aus, aber mit höherer Messdichte eingehängt werden; der minimale<br />

Punktabstand bei Detailscans beträgt 0,25 mm. Für die Aufnahme eines solchen Kombinationsscans mit 2 000 000<br />

Messpunkten werden etwa 40 Minuten benötigt. Da der gesamte Scanvorgang im Voraus programmiert wird und automatisch<br />

abläuft, kann während dieser Zeit an der Registrierung oder Modellierung bereits vorhandener Punktwolken gearbeitet<br />

oder die sich aufbauende Punktwolke in Echtzeit visualisiert und kontrolliert werden.<br />

Die detaillierte Vermessung der Schlosskapelle von Anet dauerte nur drei Arbeitstage. In dieser Zeit wurden ca. 70 000 000<br />

Messungen von 19 verschiedenen Scannerpositionen aus durchgeführt. Da die einzelnen Punktwolken nicht in ein unabhängiges,<br />

bereits vorhandenes Messnetz eingepasst werden konnten, wurden sie über gemeinsame Messmarken mehrerer<br />

Scans zusammengefügt. Auf diese Weise gelang selbst die anfänglich als problematisch eingeschätzte Verbindung der Innen-<br />

und Aussenraumscans mit hinreichender Präzision (problematisch deshalb, weil sich die Überlappung dieser beiden Bereiche<br />

auf einen schmalen Streifen im Torbereich beschränkte und die gemeinsamen<br />

Messmarken wesentlich näher beieinander lagen als von Leica empfohlen). Mit konventionellen<br />

Methoden wäre eine ähnlich detaillierte und präzise Bauaufnahme unabhängig<br />

vom Aufwand an Personal und Zeit nicht möglich gewesen.<br />

Der Cyrax 2500<br />

Nach dem erfolgreichen Testlauf in Anet übernimmt das Institut für Vorderasiatische<br />

Archäologie und Altorientalische Philologie im Frühling 2003 im Auftrag des DEZA<br />

die vollständige Vermessung und 3D-Visualisierung des Banteay Srei-Tempels in Ankor,<br />

Cambodia. Geplant ist ausserdem der Einsatz des Geräts zur orthophotographischen<br />

Grabungsaufnahme in Tall al-Hamidiya sowie zur der mikrotopographischen<br />

Vermessung verschiedener Siedlungshügel in Vorder- und Zentralasien als Grundlage<br />

einer Studie zum Erosionsverhalten komplexer archäologischer Baustrukturen.<br />

Manuel Gerber, lic. phil.<br />

Institut für Vorderasiatische Archäologie und Altorientalische Philologie<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

31


«Gated Community»-Forschung in Ägypten<br />

Ferien hinter Mauern<br />

An der Mittelmeerküste westlich von Alexandria reihen<br />

sich über 100 Feriensiedlungen aneinander, die hauptsächlich<br />

binnentouristisch genutzt werden. Zu den augenfälligsten<br />

Gemeinsamkeiten gehören ihre Ummauerung und die<br />

bewachten Eingangstore – typische Merkmale sogenannter<br />

«Gated Communities». Der öffentliche Zugang zu solchen<br />

Siedlungen ist normalerweise erschwert oder unmöglich.<br />

Marina Al-Alamein ist die grösste und national<br />

berühmteste Feriensiedlung Ägyptens.<br />

Marina 1 liegt etwa sechs Kilometer<br />

östlich von Al-Alamein an einer Lagune.<br />

Die Siedlung ist, wie der Begriff «Gated<br />

Community» nahelegt, von einer Mauer<br />

umschlossen; mehrere bewachte Tore<br />

führen in das Dorf hinein (Abb. 1 und<br />

Abb. 2). Marina wurde im Rahmen einer<br />

sozialgeographischen Diplomarbeit an der<br />

<strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong> genauer unter die Lupe<br />

genommen.<br />

Marina als Vorbild<br />

In den 1980er-Jahren veranlasste der<br />

ägyptische Staat den Bau von Marina und<br />

zwei weiterer Dörfer. Die drei staatlichen<br />

Pilotprojekte hatten eine Vorbildfunktion:<br />

Die touristische Erschliessung der Nordwestküste<br />

sollte nationale Wirtschaftszweige<br />

ankurbeln sowie private Investitionen<br />

fördern. Gleichzeitig wurde dem<br />

expandierenden sommerlichen Binnentourismus<br />

Rechnung getragen. An der Mittelmeerküste<br />

ist das Klima im Vergleich zur<br />

stickigen Hitze in den Grossstädten wesentlich<br />

kühler und frischer. Die Küste<br />

wurde in den vergangenen Jahrzehnten<br />

für Millionen Ägypterinnen und Ägypter<br />

zum bevorzugten Ziel für Sommerferien<br />

und Ausflüge.<br />

Mit den ausgedehnten Grünflächen und<br />

dem Einbezug der natürlichen Lagune<br />

steht die architektonische Umsetzung<br />

von Marina im Zeichen suburbaner Gestaltungsideale.<br />

Räumliche Ästhetik war<br />

für den leitenden Architekten Dr. Abdallah<br />

Abdel Aziz ein Hauptanliegen. Ihm<br />

schwebte das Idealbild einer «grünen<br />

1 «Marina» ist die gängige Abkürzung für die offizielle<br />

Bezeichnung «Touristisches Zentrum Marina<br />

Al-Alamein».<br />

32 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

Stadt» vor. Er orientierte sich unter anderem<br />

an amerikanischen Projekten, die er<br />

besucht hatte. Der verantwortliche Bauminister<br />

lehnte indessen den Vorschlag<br />

von Abdel Aziz, mit ausländischen Planungskräften<br />

zusammenzuarbeiten, ab:<br />

«Ich schlug am Anfang vor, eine amerikanische<br />

Firma beizuziehen, um uns das nötige<br />

Know-how für die Entwicklung eines<br />

solchen Projekts zu geben. Aber der Bauminister<br />

ging darauf nicht ein. Er sagte:<br />

Wir sind Ägypter, und wir sind fähig, alles<br />

selber zu tun. Ich antwortete ihm: Nein,<br />

wir brauchen Ausländer ... ».<br />

Abnehmende<br />

Zugangsbeschränkungen<br />

und zunehmende Popularität<br />

Anfangs wurde Marina ausschliesslich an<br />

Kaufinteressierte vermarktet. Diese wurden<br />

über eine nationalstaatliche Bank,<br />

aber auch persönlich angeworben, wie<br />

Dr. Abdel Aziz erklärt: «Ich begann, eine<br />

bestimmte Elite anzuziehen. Ich war mit<br />

dem Direktor dieser Bank befreundet, und<br />

wir bildeten zusammen ein Team, um die<br />

Leute auszuwählen.» Nach dem Erstverkauf<br />

begannen sowohl Privatpersonen als<br />

auch die Verwaltung, Liegenschaften an<br />

Mieterinnen und Mieter anzubieten. Eine<br />

weitere Zielgruppe stellen Tagesbesuche-<br />

Abb. 1: Eines der Gates,<br />

der Tore, die nach Marina<br />

Al-Alamein führen.<br />

(Bild: Günter Meyer)<br />

rinnen und -besucher dar, welche eine<br />

Eintrittsgebühr zu entrichten haben. Um<br />

freien Eintritt zu erhalten, muss die persönliche<br />

Beziehung zu einer in Marina<br />

Al-Alamein ansässigen Person nachgewiesen<br />

(beispielsweise mit einer auf den<br />

Namen des Liegenschaftseigentümers ausgestellten<br />

Mitgliederkarte) oder mit Verhandlungsgeschick<br />

glaubwürdig dargelegt<br />

werden können.<br />

Berühmt-berüchtigt<br />

«Hier verwirklichen sich ihre Träume!»,<br />

steht vielversprechend auf der Informationsbroschüre<br />

über Marina. Nationalen<br />

Bekanntheitsgrad erhielt dieses Feriendorf<br />

im Sommer 1998 wegen Unfällen<br />

und Gesetzeswiderhandlungen, in die<br />

einflussreiche Politiker oder Geschäftsleute<br />

verwickelt waren. Als «Marina-<br />

Syndrom» fasste die ägyptische Presse<br />

damals das Werte und Normen missachtende<br />

Verhalten neureicher Schichten in<br />

Marina zusammen. Ihr rücksichtsloses<br />

Benehmen sei Ausdruck einer sozialen<br />

Krise Ägyptens.<br />

Zur Imagepflege von Marina wurden verschiedene<br />

Massnahmen ergriffen: Dazu<br />

gehören Verkehrsverbote und die allgegenwärtige<br />

Anwesenheit von Wächtern des Sicherheitsdienstes.<br />

Ausserdem treten während<br />

der Sommersaison einmal pro Woche<br />

populäre arabische Musikstars in Marina<br />

auf. Mehrere Fernsehkanäle strahlen die<br />

Konzerte jeweils live aus. Sie sollen den<br />

Eindruck einer guten Stimmung in geordnetem<br />

Rahmen vermitteln. Wie die Werbestrategien<br />

für die Konzerte sowie für kommerzielle<br />

Ausstellungen zeigen, umfasst<br />

das angesprochene Zielpublikum auch Besucher<br />

und Besucherinnen von auswärts


(Abb. 3). Vermutlich haben zusätzlich zu<br />

den genannten Massnahmen die negativen<br />

Schlagzeilen selbst zur Erhöhung der<br />

Attraktivität des Feriendorfes beigetragen.<br />

Während die Mehrheit der Liegenschaftseigentümerinnen<br />

und -eigentümer<br />

bereits 1993 oder früher zum ersten Mal<br />

ihre Ferien in Marina verbrachte, nahm<br />

die Zahl der Mieter und der Besucherinnen<br />

und Besucher nämlich erst seit 1999 beträchtlich<br />

zu. «Marina ist zu populär geworden<br />

durch Gerüchte und Bücher. Deshalb<br />

will jetzt jeder kommen und schauen»,<br />

meint eine Lehrerin aus Kairo, deren Familie<br />

in Marina eine Villa besitzt.<br />

Die steigende Beliebtheit auch für Ausflüglerinnen<br />

und Ausflügler verdankt<br />

Marina sowohl der Mund-zu-Mund-Pro-<br />

Abb. 2: Blick auf die an einer<br />

Lagune gelegene Feriensiedlung<br />

Marina Al-Alamein.<br />

(Bild: Günter Meyer)<br />

paganda als auch den Medien. Für viele im<br />

Rahmen dieser Arbeit Befragte hat Marina<br />

das höchste Prestige aller Feriendörfer an<br />

der Nordwestküste oder sogar ganz Ägyptens:<br />

«Alle meine Bekannten träumen davon,<br />

nach Marina zu kommen. Sie nennen<br />

mich ‹Mariney Lady›, schwärmt eine alteingesessene<br />

Villeneigentümerin.»<br />

Strukturell eine<br />

«Gated Community»<br />

Die Organisationsstruktur von Marina<br />

ist vergleichbar mit jener anderer «Gated<br />

Communities», sei es in Südafrika, Argentinien,<br />

Rumänien oder in den USA (s. Kasten<br />

«Gated Communities» International –<br />

das Forschungsnetzwerk). Eine halbprivate<br />

Verwaltungsfirma ist für Wasser,<br />

Strom, Abfallentsorgung, Unterhalt und<br />

«Gated Communities» International – das Forschungsnetzwerk<br />

Das Konzept der «Gated Communities» stammt aus den USA. Dort ist diese Siedlungsform<br />

seit den 1990er-Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.<br />

Schätzungsweise leben über 48 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner<br />

in ungefähr einer Viertelmillion «Gated Communities». Die starke Zunahme<br />

dieser Wohnform während den vergangenen 20 Jahren beschränkt sich jedoch<br />

nicht auf die USA, sondern kann weltweit beobachtet werden. Ein internationales<br />

Forschungsnetzwerk studiert Ursachen und Folgen dieses global zunehmenden<br />

Siedlungsphänomens.<br />

«Was sind Gründe für die rasante Zunahme von ‹Gated Communities›?» – «Ist<br />

diese Entwicklung Teil der sogenannten ‹Privatisierung des öffentlichen Raumes›?»<br />

– «Was heisst überhaupt ‹öffentlicher Raum›?» Solche Fragen bildeten den Ausgangspunkt<br />

intensiver Diskussionen an der ‹International Conference on Private<br />

Urban Governance›, welche vom 6.–9. Juni 2002 an der <strong>Universität</strong> Mainz stattfand.<br />

(http://www.gated-communities.de/). Über 50 Wissenschafterinnen und<br />

Wissenschafter, hauptsächlich aus Europa und den USA, nahmen an der Konferenz<br />

teil. Sie wurde von Mitgliedern eines interdisziplinären Forschungsnetzwerks<br />

organisiert, das sich mit der Expansion von ‹Gated Communities› als ‹globales<br />

Phänomen› befasst. Empirische Untersuchungen zu ‹Gated Communities›<br />

in Ägypten wurden bisher von Prof. Günter Meyer, <strong>Universität</strong> Mainz, durchgeführt.<br />

Prof. Meyer ist Mitglied des Forschungsnetzwerks und Mitbetreuer der hier<br />

vorgestellten Diplomarbeit. Er leitete 1999 an der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong> einen Blockkurs<br />

über Ägypten.<br />

Sicherheitsdienste zuständig. Für das reibungslose<br />

Zusammenleben stellte die Firma<br />

sogenannte «allgemeine Verhaltensregeln»<br />

auf. Sie umfassen Verkehrsverbote<br />

und Anweisungen für die Gestaltung<br />

privater Wohn- und Gartenflächen sowie<br />

Empfehlungen zum Verhalten in der Öffentlichkeit.<br />

Die Regeln werden den Liegenschaftseigentümerinnen<br />

und -eigentümern<br />

bei der Vertragsunterzeichnung<br />

mitgeteilt. Der Planungsexperte Dr. Milad<br />

Hanna schätzt ihre Verbindlichkeit in<br />

der Praxis aber als gering ein: «Normalerweise<br />

kennen die Leute die Regeln ‹auf<br />

die ägyptische Art›, das heisst, die Auflagen<br />

und Empfehlungen werden nicht deklariert<br />

oder unterzeichnet, und niemand<br />

ist verpflichtet, sie zu befolgen. Es sind<br />

grundsätzliche Regeln, die praktisch alle<br />

kennen. Häufig werden sie mündlich von<br />

einer Familie an die nächste weitergegeben.<br />

Ob sie befolgt werden oder nicht, ist<br />

eine andere Geschichte ... ».<br />

Diese Diskrepanz zwischen der vorgesehenen<br />

Verwaltungsstruktur einerseits und<br />

der praktischen Durchsetzung andererseits<br />

ist auch für «Gated Communities» in anderen<br />

Ländern typisch.<br />

Eine heterogene Bevölkerung ...<br />

In der Forschung werden die Mauern um<br />

«Gated Communities» häufig als Symbol<br />

gesellschaftlicher Fragmentierung und Polarisation<br />

interpretiert. Die unterschiedliche<br />

soziale Herkunft der temporären<br />

Bevölkerung von Marina widerspricht<br />

jedoch dieser Annahme, wie Adel Hammuda,<br />

Schriftsteller und Liegenschaftseigentümer<br />

in Marina, beschreibt: «Wenn<br />

man umhergeht, trifft man sowohl Leute,<br />

die mit dem Bus kamen, als auch solche,<br />

die mit dem Helikopter in Marina landeten.<br />

Einige leben in Palästen und Villen,<br />

andere mieten eine Unterkunft oder gelangen<br />

mit einem Eintrittsticket herein.»<br />

Im Vergleich zur gesamten Gesellschaft<br />

Ägyptens liegt in Marina der Anteil höherer<br />

sozialer Schichten zweifellos über dem<br />

Durchschnitt. Das Dorf ist aber auch für<br />

Mittel- und Unterschichten zugänglich.<br />

... und soziale Abgrenzungen<br />

Die Frage der Zugehörigkeit stellt sich in<br />

Marina vor allem innerhalb der Mauern.<br />

Soziale Entmischung zeigt sich bei der<br />

Nutzung öffentlicher Räume. Zum Bei-<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

33


Abb. 3: Die Autoausstellung «Motorina»<br />

wurde in einem Artikel der ägyptischen<br />

Tageszeitung «Al-Ahram» im Sommer 2000<br />

als «grösste Ausstellung der Geschichte der<br />

Nordwestküste» bezeichnet. (Bild: Amira Latif)<br />

spiel ist ein bestimmter Strand bekannt als<br />

Treffpunkt von Jugendlichen der Kairoer<br />

High Society, deren Eltern Liegenschaften<br />

in Marina besitzen. An einem anderen<br />

Strand sind hauptsächlich Kurzaufenthalterinnen<br />

und -aufenthalter anzutreffen.<br />

Die Zugehörigkeitsfrage ist Gegenstand<br />

von Diskussionen vor Ort. Unter Eigentümerinnen<br />

und Eigentümern sowie unter<br />

den in Marina während der Saison Erwerbstätigen<br />

gehört es gewissermassen<br />

zum guten Ton, über den schlechten Einfluss<br />

von Mietern und Tagesbesuchern zu<br />

lamentieren. Die beiden letztgenannten<br />

Gruppen werden generell tieferen Gesellschaftsschichten<br />

zugeordnet. So erklärt<br />

ein Koch, der seit zehn Jahren in<br />

Marina arbeitet: «Das soziale Niveau war<br />

früher hoch, hier wohnte eine gehobene<br />

Schicht. Dann begannen Gruppen zu erscheinen,<br />

die sich von denen, an die wir<br />

gewöhnt waren, unterscheiden. Das liegt<br />

an den Mietern.»<br />

Als weitere Dimension der Kritik werden<br />

bestimmte soziale Gruppen bemängelt,<br />

deren Verhalten gegen Werte und Sitten<br />

verstosse. Kritik in Form einer Distanzierung<br />

stellt eine Möglichkeit zur eigenen<br />

Positionierung innerhalb der heterogenen<br />

Gesellschaft von Marina dar und hat somit<br />

eine identitätsstiftende Funktion.<br />

Debatten um die Sicherheit ...<br />

Einige Forscherinnen und Forscher zählen<br />

Sicherheitsbedürfnisse zu den wichtigsten<br />

Motivationsgründen für die Niederlassung<br />

in einer «Gated Community».<br />

In bestimmten Regionen haben sie tatsächlich<br />

eine entscheidende Bedeutung.<br />

34 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

In Südafrika beispielsweise wird dieser<br />

Funktion bereits bei der Namengebung<br />

Rechnung getragen: «Gated Communities»<br />

werden dort als «Security Developments»<br />

bezeichnet.<br />

Für die befragten Feriengäste in Marina<br />

ist die Angst vor der Gefährdung von<br />

Leib und Leben sowie durch Eindringlinge<br />

kaum ein Thema und die meisten<br />

sind auch nicht über die Gefährdung ihrer<br />

Besitztümer besorgt. Sicherheitsfragen<br />

stellen sich für sie jedoch innerhalb der<br />

Mauern. Nach den Verkehrsunfällen 1998<br />

wurden Sicherheitsfragen erstmals öffentlich<br />

debattiert. Die staatliche Verwaltung<br />

reagierte darauf mit einer Aufstockung der<br />

Zahl von Sicherheitskräften und der Einrichtung<br />

eines Polizeipostens.<br />

... und Klagen um Werteverluste<br />

Gefühle der Unsicherheit bestehen vielmehr<br />

auf der immateriellen Ebene moralischer<br />

Werte. Für einige befragte Eltern ist<br />

das Konsumverhalten von Jugendlichen in<br />

Marina Ausdruck des beklagten Werteverlusts.<br />

Sie äussern eine diffuse Furcht vor<br />

dem negativen Einfluss auf ihre Kinder.<br />

Analoge Entwicklungsprozesse in vormals<br />

exklusiven Feriensiedlungen veranlassten<br />

Ägyptens Eliten, ihre Sommerresidenzen<br />

von einem Ort zum nächsten zu verlegen.<br />

Die Errichtung der Mauern ist eine Massnahme<br />

zur Beibehaltung der Exklusivität.<br />

In Marina konnten die Mauern den aus<br />

älteren Siedlungen bekannten Entwicklungsverlauf<br />

jedoch nicht verhindern. Wie<br />

im folgenden Abschnitt thematisiert wird,<br />

stehen kurzfristige Vermarktungsstrategien<br />

damit in engem Zusammenhang.<br />

Konsumwelten<br />

Der im Gewerbezentrum von Marina ansässige<br />

Tierhändler und Hundevermieter<br />

ist zufrieden mit dem Geschäft: Besonders<br />

der Favorit unter seinen Mietobjekten, der<br />

grosse, schwarzgetupfte Dalmatiner, ist<br />

ständig ausgebucht. Für umgerechnet<br />

neun Franken pro Stunde rennt er bereitwillig<br />

immer wieder einem neuen Herrchen<br />

hinterher. Immerhin haben Hunde<br />

am bevorzugten Strandabschnitt der Kairoer<br />

Jugend eine ähnliche Bedeutung als<br />

Statussymbol wie Jeeps und andere Prestige-Autos,<br />

von denen meistens das eine<br />

oder andere mitgebracht wird.<br />

Konsumwünsche können in Marina mit<br />

einem breiten Angebot an käuflichen und<br />

mietbaren Gütern unterschiedlicher Preisklassen<br />

befriedigt werden. Das Angebot<br />

beschränkt sich nicht auf den Alltagsbedarf,<br />

sondern umfasst auch Luxusartikel,<br />

wie Markenkleider oder Sportgeräte.<br />

Marina bietet aber nicht nur einen Rahmen<br />

für den Erwerb von Gütern und Dienstleistungen,<br />

sondern ist selbst ein Konsumgut:<br />

Die visuellen und akustischen Eindrücke,<br />

die Landschaft, das Image – oder mit<br />

anderen Worten die qualitativen Eigenschaften<br />

von Marina als Ort werden mit<br />

Marktpreisen versehen und damit zu handelbaren<br />

Gütern gemacht. Die Erhebung<br />

von Gebühren für den Eintritt sowie für<br />

Marina in Zahlen<br />

• Lage: ca. 100 km westlich von Alexandria, 6 km östlich der Ortschaft Al-Alamein<br />

• Länge: 11 km; Fläche: 35 km 2<br />

• Anzahl Wohneinheiten: 8300; Bewohnerkapazität (behördliche Schätzung):<br />

41500<br />

• Preis- und Lohnbeispiele (in CHF; Sommer 2000):<br />

– 3-Zimmer-Appartement (Kaufpreis) 390 000.–<br />

– Miete 2-Zimmer-Wohnung ab 90.–/Tag (ab 2700.–/Monat)<br />

– Gewerbefläche 2x1 m 2 2175.–/Saison (435.–/Monat)<br />

– Lohn Sicherheitsdienstangestellter 90.–/Monat<br />

– Lohn Gärtner 6.50/Tag<br />

– Lohn Reinigungsdienstangestellter 3.–/Tag<br />

– Jetski-Miete 90.–/Stunde<br />

– Internetzugang 9.–/Stunde<br />

– Hundemiete 9.–/Stunde<br />

– Eintrittsticket 6.50/Tag


den Besuch kostenpflichtiger Veranstaltungen<br />

ist ein Beispiel für die Kommerzialisierung<br />

vor Ort.<br />

Die Massenmedien vermitteln<br />

beschönigtes Bild<br />

Zusätzlich wird Marina über die Massenmedien<br />

vermarktet. Werbespots am Fernsehen<br />

oder Reportagen und Inserate in Zeitungen<br />

ermöglichen fast der ganzen Bevölkerung,<br />

an Marina teilzuhaben. Über die<br />

Medien wird jedoch nur ein Ausschnitt der<br />

vielschichtigen Wirklichkeit gezeigt. Es ist<br />

eine gefilterte Sicht, hinter der sich eine<br />

bestimmte Darstellungsabsicht verbirgt:<br />

Zum Beispiel erwecken Live-Übertragungen<br />

von Musikkonzerten aus Marina stets<br />

Abb. 4: Familien aus dem<br />

Delta hat sich am Binnensee<br />

an der Lagune neben dem<br />

Parkplatz niedergelassen.<br />

Sie organisieren 2–3 Mal<br />

pro Saison einen gemeinsamen<br />

Ausflug nach Marina.<br />

Ein eigens dafür gemieteter<br />

Autocar fährt sie direkt bis<br />

zu diesem Strand.<br />

(Bild: Amira Latif)<br />

den Eindruck, dass die Veranstaltung ausverkauft<br />

ist. In Realität bleibt bisweilen<br />

die Mehrheit der Plätze frei, was den Fernsehzuschauerinnen<br />

und -zuschauern dank<br />

gezielt eingesetzter Kameraführung entgeht.<br />

Im Vergleich zur realen Teilnahme lässt<br />

der virtuelle Konsum über die Medien<br />

dem Individuum weniger Spielraum zur<br />

eigenen Interpretation und aktiven Einflussnahme<br />

auf das Geschehen.<br />

Die Darstellungen in den Medien werden<br />

dann in soziale Wirklichkeit überführt,<br />

wenn Feriengäste und Erwerbstätige sie<br />

verinnerlichen und sie in ihre Handlun-<br />

Qualitative Forschung – die Methodik der Diplomarbeit<br />

Ziel in der qualitativen Forschung ist nicht das Testen vorformulierter Hypothesen,<br />

sondern die Formulierung einer Theorie aus den erhobenen Daten. Mit dem theoretischen<br />

Vorwissen über den Forschungsgegenstand gilt es, Forschungsfragen<br />

auszuarbeiten und diese im Rahmen von halbstrukturierten Interviews und Beobachtungen<br />

zu untersuchen. Die qualitative Vorgehensweise ermöglicht es, anfänglich<br />

unberücksichtigte Themen aus dem Forschungsfeld in den Forschungsprozess<br />

zu integrieren und diesen nach Bedarf zu verändern.<br />

Qualitative Forschung interessiert sich für alltägliche Erfahrungen und Prozesse.<br />

Im Zentrum steht die Bemühung der Forscherin oder des Forschers, subjektive Bedeutungen<br />

sozialer Akteure und Akteurinnen zu verstehen, aber auch zu hinterfragen<br />

und zu abstrahieren.<br />

Die Anwendung qualitativer Methoden zieht sich wie ein roter Faden durch die<br />

vorgestellte Diplomarbeit, von der Konzeptualisierung bis zur Datenauswertung.<br />

Betreuerin der Arbeit an der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong> ist Prof. Doris Wastl-Walter, Leiterin<br />

der Gruppe für Sozialgeographie, Politische Geographie und Gender Studies<br />

des Geographischen Instituts. (http://sinus.unibe.ch/sg/).<br />

Die Arbeit basiert auf folgenden Daten:<br />

• Interviews mit 89 Feriengästen, 113 Erwerbstätigen, 13 Experten und 14 Personen<br />

aus der ägyptischen Bevölkerung in Marina, Kairo und Alexandria zwischen<br />

August 2000 und Januar 2001.<br />

• Beobachtungsnotizen, Fotos, Artikel aus der Tagespresse und Werbeprospekte<br />

der Feldforschung in Marina im August und September 2000.<br />

gen vor Ort integrieren. Der Schriftsteller<br />

und Liegenschaftsbesitzer Adel Hammuda<br />

beschreibt den Einfluss der Medien<br />

auf die Wahrnehmung der Bevölkerung in<br />

Marina: «Die Leute sind überzeugt, dass<br />

Marina nur eine Gesellschaft der Reichen<br />

ist, und das stimmt nicht. Aber es liegt in<br />

der Natur der Presse, dass sie keine Zeit<br />

hat, alle Aspekte zu berücksichtigen. Deshalb<br />

kreiert sie Stereotypen, und diese Bilder<br />

bleiben haften bei den Leuten, auch<br />

wenn sie die Gesellschaft hier sehen.»<br />

Die verschiedenen Kommerzialisierungsstrategien<br />

vermindern die ausschliessende<br />

Wirkung der Mauern. Sie fördern einen<br />

Entwicklungsverlauf von Marina, der sich<br />

kaum von demjenigen nicht-ummauerter<br />

Feriensiedlungen unterscheidet.<br />

Zukunftsvision<br />

Die Diplomarbeit über Marina zeigt die<br />

Wichtigkeit auf, den spezifisch lokalen,<br />

kontextbedingten Umständen bei der Diskussion<br />

von «Gated Communities» Rechnung<br />

zu tragen. In der Forschung werden<br />

mehrheitlich die sozial ausschliessenden<br />

Folgen des «Gating», das heisst der Errichtung<br />

von Mauern, diskutiert. Im Fall<br />

von Marina schärft ein Perspektivenwechsel<br />

auf die einschliessenden Effekte<br />

des «Gating» das Bewusstsein für ein ungenutztes<br />

Potenzial: Marina bietet dank<br />

der naturräumlichen und infrastrukturellen<br />

Ausstattung sowie zeitlicher und finanzieller<br />

Ressourcen von Akteurinnen<br />

und Akteuren eine geeignete Plattform<br />

zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen<br />

Lebensentwürfen und für den Dialog<br />

zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten.<br />

Die Umsetzung dieser Vision setzt einen<br />

Prozess der Bewusstseinsbildung voraus,<br />

zu welchem die hier vorgestellte Diplomarbeit<br />

beitragen soll.<br />

Amira Latif<br />

Diplomandin am Geographischen Institut<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

35


Stadtethnologische Forschung im Nahen Osten<br />

Wie die Damaszener<br />

ihre Altstadt sehen<br />

Stadthistorische Studien über die Altstadt von Damaskus<br />

gibt es viele. Diese beschäftigten sich bisher hauptsächlich<br />

mit den architektonischen und stadtplanerischen Besonderheiten<br />

der Damaszener Altstadt. Die lokale Bevölkerung<br />

selbst fand als Folge nie Eingang in die Forschung. Wie aber<br />

nimmt die lokale Bevölkerung ihre Altstadt wahr und welche<br />

Strategien verfolgen ihre Diskurse?<br />

«Derjenige, der in einem Bait Arabi [das<br />

arabische Haus in der Altstadt] geboren<br />

ist, kann nur in einem Bait Arabi wohnen»,<br />

so lautet die Aussage eines Ingenieurs, der<br />

seit seiner Geburt in der Altstadt wohnt.<br />

Eine Zahnärztin, die ebenfalls in der Altstadt<br />

geboren ist, hingegen möchte nicht<br />

mehr dort leben: «Ich ziehe es sicher vor,<br />

momentan nicht in einem Bait Arabi zu<br />

wohnen. Ich habe meine Gründe».<br />

Im Rahmen einer stadtethnologischen Lizentiatsarbeit<br />

an der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong> wurden<br />

die Gründe untersucht, wieso die Altstadt<br />

von Damaskus von der Bevölkerung<br />

positiv oder negativ wahrgenommen und<br />

bewertet wird. Diese Untersuchung basiert<br />

auf 17 Interviews, welche mit Bewohnerinnen<br />

und Bewohnern der syrischen<br />

Hauptstadt durchgeführt wurden. Die<br />

Ergebnisse zeigen, dass die Damaszener<br />

ihre Altstadt durch drei Kategorien wahrnehmen:<br />

erstens durch die Altstadt selbst,<br />

zweitens durch den sozialen Umgang der<br />

Bevölkerung und drittens durch das Bait<br />

Arabi. Diese drei Wahrnehmungseinheiten<br />

bilden zugleich auch die Grundsteine<br />

zweier unterschiedlicher Auffassungen,<br />

dem Gentrifikations-Diskurs (s. Kasten<br />

«Die Gentrifikation») und dem Identitätsbildungs-Diskurs.<br />

Wahrnehmung<br />

der Damaszener Altstadt<br />

Die erste Wahrnehmungs-Kategorie, die<br />

Altstadt selbst, lässt sich durch die starke<br />

Kontrastierung mit der Neustadt charakterisieren.<br />

So wird die Altstadt als eine<br />

Wohnumgebung bewertet, welche sich<br />

durch traditionelle Werte und Lebensstile<br />

36 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

sowie durch enge soziale Bande auszeichnet,<br />

welche in dieser Form in der Neustadt<br />

nicht existieren. Als einzige Kritikpunkte<br />

an der Altstadt nennen die in den Interviews<br />

befragten Damaszener die unzureichende<br />

Infrastruktur und die ungenügende<br />

Versorgung durch Dienstleistungen.<br />

In der Wahrnehmung der Neustadt dominiert<br />

die westliche Technik und der damit<br />

verbundene Fortschritt. Es zeigt sich ein<br />

innerer Zwiespalt zwischen der pragmatischen<br />

und der ideologischen Ebene. Diese<br />

Zwietracht verdeutlicht die Aussage eines<br />

Händlers: «In der Neustadt hat eine Entwicklung<br />

stattgefunden. Die Erfordernisse<br />

des Lebens sind in der Neustadt vorhan-<br />

Abb. 1: Gasse in Damaskener<br />

Altstadt. (Fotos: P. Meier)<br />

den, es gibt die Elektrizität, und es gibt<br />

Abstellplätze für die Autos. Das Leben in<br />

der Neustadt entwickelt sich schneller als<br />

in der Altstadt. (…) Das Leben hier [in<br />

der Altstadt] ist sehr einfach. Will ich beispielsweise<br />

Bohnen essen, so gehe ich zuerst<br />

zum Ofen [Bäckerei] und kaufe Brot,<br />

dann kaufe ich die Zwiebeln und gehe zu<br />

demjenigen, der die Bohnen für 20 Lira<br />

verkauft. Ich esse die Bohnen und bin zufrieden.<br />

In der Neustadt hingegen muss<br />

ich Pizza und Hot Dog essen. Heute sind<br />

wir amerikanisiert, wir imitieren Amerika<br />

und den Westen.»<br />

Auf pragmatischer Ebene bedeutet die<br />

als westlich wahrgenommene Technologie,<br />

welche mit der Neustadt assoziiert<br />

wird, eine Erleichterung des Lebens. Auf<br />

der ideologischen Ebene hingegen wird<br />

die Neustadt aufgrund dieser westlichen<br />

Technologie als schlechte Wohnumgebung<br />

bewertet. Durch die «Amerikanisierung»<br />

der Neustadt sei diese als Wohnumgebung<br />

nicht mehr mit dem traditionellen<br />

arabischen Leben kompatibel, so lautet die<br />

häufigste ideologische Begründung. Der<br />

Fortschritt ist demnach die einzige Qua-


Die Gentrifikation<br />

Der Begriff Gentrifikation bezeichnet die (Wieder-)Aufwertung der innenstadtnahen<br />

Wohnquartiere. Merkmal der Gentrifikation ist das schnelle Ansteigen des<br />

Anteils an Bewohnern der (oberen) Mittelschicht in ehemaligen Arbeiterwohnquartieren<br />

bzw. in zuletzt von Arbeitern bewohnten Gebieten. Dieser Vorgang<br />

geht einher mit einer architektonischen Aufwertung in Form von Renovierungen<br />

und Modernisierung sowie der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen.<br />

Gentrifikation umfasst damit auch eine (Re-)Investition in die Wohnungen<br />

und eine Verbesserung der Infrastruktur der betroffenen Gebiete. Diese Veränderungen<br />

implizieren Mietpreiserhöhung bei gleichzeitiger Verdrängung bisheriger<br />

Bewohner.<br />

lität, welche der Neustadt zugeschrieben<br />

wird. Ansonsten übernimmt sie in der<br />

Wahrnehmung der Interviewten vielmehr<br />

die Rolle einer Negativprojektion der Altstadtqualitäten.<br />

Die Wahrnehmung<br />

der Bevölkerung<br />

und ihr sozialer Umgang<br />

Die Neustadt als Negativprojektion der<br />

Altstadtqualitäten findet sich auch in der<br />

zweiten Kategorie der Wahrnehmung wieder:<br />

in der Wahrnehmung der Bevölkerung<br />

und ihres sozialen Umgangs untereinander.<br />

Hier wird erstens zwischen Nachbarschaft<br />

in der Neustadt und Nachbarschaft<br />

in der Altstadt unterschieden und zweitens<br />

zusätzlich zwischen den «ursprünglichen»<br />

und den «neuen» Altstadtbewohnern differenziert.<br />

Daher ist in den Aussagen der<br />

Interviewten eine Dichotomie, eine Ge-<br />

genüberstellung «Nachbarschaft in der<br />

Neustadt versus Nachbarschaft in der Altstadt»,<br />

erkennbar.<br />

Die Nachbarschaft in der Altstadt wird fast<br />

durchwegs positiv wahrgenommen. Positiv<br />

deshalb, weil in der Altstadt eine rege<br />

Interaktion stattfinde und die Nachbarschaftshilfe<br />

funktioniere. In der Neustadt<br />

hingegen kenne kein Nachbar den anderen,<br />

und keiner helfe dem anderen. Dementsprechend<br />

wird die Nachbarschaft in der<br />

Neustadt negativ bewertet. Diese Bewertung<br />

sei völlig angebracht, denn zusätzlich<br />

würden die Nachbarn der Neustadt einander<br />

nicht grüssen und nur noch per Telefon<br />

miteinander kommunizieren.<br />

Doch die Damaszener Bevölkerung wird<br />

nicht nur geographisch (Altstadt/Neustadt)<br />

differenziert, auch die Altstadtbevölke-<br />

Abb. 2: Lichtspiel in einer<br />

engen Gasse.<br />

rung selbst wird auf Basis der fast schon<br />

klassischen festen Redewendung «Früher<br />

war alles besser als heute» in zwei Gruppen<br />

unterteilt: die «ursprünglichen» Bewohner<br />

und die «neuen» Bewohner. So<br />

erwähnen viele der ‹ursprünglichen» Bewohner,<br />

dass die Bewohner der Altstadt<br />

früher wie eine Familie gewesen seien.<br />

Diese familiäre Harmonie sei jedoch<br />

durch die Einwanderung der «neuen» Bewohner<br />

zerstört worden. Die Verschlechterung<br />

der sozialen Umstände in der Altstadt<br />

wird somit auf die veränderte Zusammensetzung<br />

der Altstadtbevölkerung zurückgeführt.<br />

Dass den «neuen» Bewohnern<br />

dabei die Rolle des Sündenbocks zugeschrieben<br />

wird, verdeutlichen die Aussagen<br />

zweier älterer Altstadtbewohner:<br />

«Die Atmosphäre der Zuneigung gibt es<br />

noch in der ganzen Altstadt, bis auf die<br />

Quartiere, in welche viele Fremde aus fernen<br />

und unterschiedlichen Regionen einwanderten.<br />

In diesen gibt es keine Harmonie,<br />

sondern gegenseitige Abneigung.»<br />

«Die arabische menschliche Behandlung<br />

hat sich [durch die Einwanderung der<br />

neuen Bewohner] verändert, sie ist wie<br />

bei euch in Europa: niemand gibt einem<br />

zu essen und niemand gibt einem etwas,<br />

niemand betritt das Haus eines anderen;<br />

es gibt kein soziales Leben mehr.»<br />

Die Damaszener Bevölkerung wird also in<br />

die drei Klassifikationstypen «ursprüngliche»<br />

Altstadtbewohner, «neue Altstadtbewohner»<br />

und Neustadtbewohner unterteilt.<br />

Als Ergebnis dieser Klassifikation<br />

der Bevölkerung wird eine Gemeinschaft<br />

der «ursprünglichen» Bewohner konstituiert,<br />

die sich selber als ¿åm⁄ (aus ˙åm<br />

stammend, wobei ˙åm der ältere Name für<br />

Damaskus ist) bezeichnen. Es handelt sich<br />

bei dieser Gemeinschaft notgedrungen um<br />

eine Gemeinschaft, die nur in der Vorstellung<br />

existiert, denn die meisten «ursprünglichen»<br />

Altstadtbewohner sind ausgewandert.<br />

Dementsprechend zeichnet sich diese<br />

erdachte ¿åm⁄-Gemeinschaft nicht durch<br />

eine räumliche Nähe aus, sondern es wird<br />

vielmehr eine Nähe auf Basis der sozialen<br />

Affinität (Wesensverwandschaft) angestrebt,<br />

d. h. eine Nähe des Denkens,<br />

Fühlens, Handelns und Verstehens. Damit<br />

sich die ¿åm⁄ als eine Wir-Gruppe<br />

wahrnehmen können, muss gleichzeitig<br />

eine «Nicht-Wir-Gruppe» definiert wer-<br />

UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

37


den. Entsprechend konstruieren sie sich<br />

eine Wir-Gruppen-Identität durch die Abgrenzung<br />

zu den Neustadtbewohnern und<br />

durch den Ausschluss der neuen Bewohner<br />

in der Altstadt. Diese Wir-Gruppen-Identität<br />

und das soziale Netzwerk werden mittels<br />

familiärer Begriffe versprachlicht. So<br />

sprechen die ¿åm⁄ einander als «Sohn der<br />

Altstadt [ibn al-mad⁄na]» oder «Sohn meines<br />

Viertels [ibn al-hårat⁄]» an, und betrachten<br />

sich selbst als Mitglied der «Familie<br />

des Viertels [ ‘a’ilat al-ªåra]». Durch<br />

diese Versprachlichung wird versucht, die<br />

Grenzen der ¿åm⁄-Gemeinschaft sprachlich<br />

zu manifestieren und nach aussen zu<br />

kommunizieren.<br />

Das Bait Arabi<br />

In der dritten Kategorie der Wahrnehmung,<br />

dem Bait Arabi, zeigt sich deutlich<br />

eine Geschlechterdiskrepanz in den<br />

Äusserungen der befragten Männer und<br />

Frauen. So wird das Bait Arabi von den<br />

männlichen Gesprächspartnern vor allem<br />

aufgrund der Konstruktion, und – exakter<br />

ausgedrückt, – aufgrund des Innenhofs<br />

und der daraus resultierenden Naturverbundenheit<br />

geschätzt.<br />

Das Bait Arabi wird von den befragten<br />

Männer als das ideale Wohnhaus empfunden,<br />

welches dem Individuum viel<br />

Freiraum gewährt. Die Qualitäten des<br />

Bait Arabi, speziell diejenigen des Innenhofs,<br />

sind aus der Aussage eines Altstadtbewohners<br />

deutlich ersichtlich: «Den ganzen<br />

Tag draussen im Innenhof, wir stellen<br />

einen Tisch und die Stühle neben den<br />

Brunnen und setzen uns (wir, die Kinder<br />

und die Gäste), essen und trinken<br />

den morgendlichen Kaffee. Alle sind hier<br />

während des Tages, vom Sonnenaufgang<br />

der Sonne bis zu ihrem Untergang, und wir<br />

blicken in den Himmel und die Weite. Die<br />

Gerüche, jede Sache dringt hierher in den<br />

Innenhof. Ich liebe das Leben in einem alten<br />

Bait Arabi.»<br />

Die interviewten Frauen hingegen kritisierten<br />

in den Gesprächen die offene<br />

Konstruktion des Bait Arabi. Diese Kritik<br />

beruht hauptsächlich auf den zeitaufwendigen<br />

Reinigungsarbeiten, welche durch<br />

den Innenhof entstehen. Denn die Zimmer<br />

können nur über den Innenhof erreicht<br />

werden, und so wird immerzu Schmutz ins<br />

Zimmer getragen. Aufgrund der beschwerlichen<br />

Reinigungsarbeiten ziehen drei der<br />

38 UNIPRESS<strong>115</strong>/DEZEMBER 2002<br />

Abb. 3: Grundriss eines<br />

Bait Arabi.<br />

(Aus: Damskus, Aleppo, Philipp von<br />

Zabern, Mainz am Rhein)<br />

vier interviewten Frauen eine geschlossene<br />

Etagenwohnung in der Neustadt dem<br />

Bait Arabi vor. Diese Wohnpräferenz wird<br />

aus der Aussage einer jungen Altstadtbewohnerin<br />

deutlich:<br />

«Was mich als junge Frau betrifft, so<br />

möchte ich, sobald ich heirate, in einer<br />

geschlossenen Etagenwohnung leben, d. h.<br />

wenn ich das Haus reinige, so bleibt es sauber.<br />

Hier ist das Problem gross, im Bait<br />

Arabi gibt es ein Schmutzproblem.»<br />

Diskursstrategien<br />

Diese Ergebnissen zeigen, dass die verschiedenen<br />

Wahrnehmungskategorien mit unterschiedlichen<br />

Bildern assoziiert werden.<br />

Es werden Raumbilder geschaffen,<br />

die sich entweder ergänzen oder in Konkurrenz<br />

zueinander stehen. Für die Konstruktion<br />

dieser Raumbilder ist nicht der<br />

Raum an sich entscheidend, sondern vielmehr<br />

die Art und Weise, wie darüber geredet<br />

wird und wie dadurch eine bestimmte<br />

Konnotation erwächst. (Konnotation: Ein<br />

Begriff wird positiv oder negativ besetzt).<br />

Die Altstadt übernimmt somit die Funktion<br />

einer Projektionsfläche für Normen<br />

und Werte.<br />

Diese Normen und Werte füllen demnach<br />

die Raumbilder mit Bedeutungsinhalten.<br />

Da die Raumbilder jedoch mit unterschiedlichen<br />

Bedeutungen gefüllt werden,<br />

ringen sie sich um die Definition des Raumes.<br />

In diesem Definitionskampf spielt der<br />

Diskurs als Deutungsmacht eine zentrale<br />

Rolle. Folglich zielt die Strategie der Diskurse<br />

in der Regel darauf ab, den Raum zu<br />

besetzen und dadurch die eigene Raumdefinition<br />

durchzusetzen. Bei der Untersuchung<br />

der drei Wahrnehmungskategorien<br />

kristallisierten sich zwei Diskursstrategien<br />

heraus: der Gentrifikations-Diskurs und<br />

der Identitätsbildungs-Diskurs.<br />

Gentrifikations-Diskurs<br />

Der Gentrifikations-Diskurs (s. Kasten<br />

«Die Gentrifikation») wird hauptsächlich<br />

von der Unesco und der internationalen<br />

Gemeinschaft geführt. Doch auch Damaszener,<br />

welche längere Zeit in Europa<br />

verbracht haben, orientieren sich in ihrem<br />

Diskurs am globalen (Wieder-)Aufwertungstrend<br />

der Altstädte. Der Diskurs wird<br />

geführt, weil man sich als Avantgardist der<br />

Gentrifikationsbewegung oder als kulturell<br />

und historisch bewusste Person darstellen<br />

möchte. Vor allem der zweite Punkt<br />

scheint mir im Diskurs von drei interviewten<br />

Männern bewusst oder unbewusst mitzuschwingen,<br />

denn alle drei sprechen der<br />

syrischen Gesellschaft ein kulturelles Bewusstsein<br />

ab. Das kulturelle Bewusstsein<br />

der syrischen Gesellschaft kann aber nur<br />

im Vergleich mit einer anderen Gesellschaft<br />

als fehlend bewertet werden. So<br />

vergleichen die befragten Personen die<br />

syrische Gesellschaft oftmals mit ihrem<br />

«Bild» von Europa. Dieser erste Diskurs<br />

hat seitens der drei interviewten Männer<br />

somit auch das Ziel, sich vom syrischen


Abb. 4: Innenhof eines Bait Arabi.<br />

«Mittelmass» abzugrenzen und sich symbolisch<br />

den «kulturell bewussteren» Europäern<br />

zugehörig darzustellen.<br />

Identitätsbildungs-Diskurs<br />

Eine andere Zugehörigkeit betonen die<br />

s˘ - am - i in ihrem Identitätsbildungs-Diskurs.<br />

Für sie ist die Zugehörigkeit zur Altstadt<br />

eines der konstituierenden Elemente ihrer<br />

Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft kann<br />

sich aber nur mittels Grenzziehung definieren,<br />

und so werden die Neustadtbewohner<br />

und die neuen Bewohner der Altstadt<br />

aufgrund ihrer unterschiedlichen Zugehörigkeit<br />

resp. unterschiedlichen Herkunft<br />

ausgegrenzt. Für einen Grossteil der «potentiellen»<br />

¿åm⁄ aus der Damaszener Mittel-<br />

und Oberschicht ist die Altstadt jedoch<br />

negativ konnotiert, wodurch die Diskursführer<br />

ein Problem mit der räumlichen<br />

Realisierung ihrer Gemeinschaft haben.<br />

Demnach bezieht sich die ¿åm⁄-Identität<br />

notgedrungen auf eine symbolische Gemeinschaft<br />

auf Basis der sozialen Affinität.<br />

Diese Betonung der sozialen Affinität<br />

und damit einhergehend die Ausblendung<br />

der gegenwärtigen räumlichen Situation<br />

wird durch die schon fast klassische Redewendung<br />

«Früher war alles besser als<br />

heute» mitgestaltet. Dieser Rückgriff auf<br />

eine nostalgische Vergangenheit ermöglicht<br />

den s¿åm⁄, sich als Bewahrer und<br />

Autorität bezüglich der «Tradition» und<br />

«Lokalität» darzustellen. Diese Selbst-<br />

Darstellung gibt ihnen im Gentrifikationsprozess<br />

eine hohe Definitionsmacht. Sie<br />

fordern eine Gentrifikation in Form des<br />

incumbent upgrading (s. Kasten «Das incumbent<br />

upgrading») und eröffnen sich<br />

dadurch die Möglichkeit, durch ihre Autorität<br />

bezüglich «Tradition» und «Lokalität»<br />

den Transformationsprozess in ihrem<br />

Sinne mitzugestalten und für eigene<br />

Zwecke zu nutzen. Folglich beabsichtigen<br />

die ¿åm⁄, die «traditionelle» Lebensweise,<br />

inklusive der «traditionellen» Ordnung<br />

und Machtstruktur, vor dem Wandel<br />

zu bewahren. Ein weiteres willkommenes<br />

Produkt der Gentrifikation könnte die<br />

Umwandlung der symbolischen ¿åm⁄-Gemeinschaft<br />

in eine sozio-räumliche Tatsache<br />

sein, denn durch den Prozess der<br />

Aufwertung würden die finanzschwachen<br />

ländlichen Bewohner aus der Altstadt verdrängt.<br />

Es zeigt sich, dass der Gentifikations- sowie<br />

der Identifikations-Diskurs trotz unterschiedlicher<br />

Logiken eine gemeinsame<br />

Forderung aufweisen. Sie beide fordern<br />

eine (Wieder-)Aufwertung der Altstadt<br />

inklusive einer Renovation der historischen<br />

Bausubstanz. Logischerweise versucht<br />

jeder Diskursverfechter den anderen<br />

für seine Zwecke zu instrumentalisieren.<br />

Ob allerdings die beiden Diskursstrategien<br />

trotz der gleichen Forderung ihr Ziel parallel<br />

erreichen, ist mehr als fraglich.<br />

Die Rolle des syrischen Staates<br />

Welche Position nimmt nun der syrische<br />

Staat ein bezüglich der Forderung nach<br />

einer (Wieder-)Aufwertung der Damaszener<br />

Altstadt? Der Staat hat bisher nach<br />

Das incumbent upgrading<br />

Incumbent upgrading ist eine Form der Gentrifikation, bei welcher die Initiative<br />

von den Bewohnern ausgeht, besonders wenn sie selbst Eigentümer der Häuser<br />

sind. Somit wird der Aufwertungsprozess der innenstadtnahen Wohnviertel<br />

von den Bewohnern selbst gewünscht und initiiert. In diesem Fall ist es somit ein<br />

Transformationsprozess, welcher sich von innen heraus vollzieht. Der Unterschied<br />

zum klassischen Gentrifikationsprozess ist, dass beim incumbent upgrading die<br />

veränderte Infrastruktur oftmals dieselben Benutzer hat.<br />

Meinung der interviewten Personen seine<br />

Aufgabe der Renovation und Erhaltung<br />

der Damaszener Altstadt nicht wahrgenommen.<br />

Er könnte sich in Zukunft aber<br />

der Interessen der s¿åm⁄ bedienen, indem<br />

er ihnen die Aufgabe der Erhaltung und<br />

Renovation der Gebäude überlässt. Der<br />

Staat könnte dadurch die im Rahmen der<br />

Wiederaufwertung der Altstadt gesprochenen<br />

Gelder der internationalen Geber gezielt<br />

einsetzen; oder aber weiterhin, wie<br />

von einigen Interviewten vermutet, anderweitig<br />

verwenden. Die Wiederaufwertung<br />

würde auch zu einer Zunahme der Bau-<br />

und Renovationsgesuche führen. Mit der<br />

Bewilligung von mehr Gesuchen könnten<br />

die Staatsbeamten in Anbetracht der bisherigen<br />

Korruptionspraktiken ein höheres<br />

Einkommen erzielen. Der syrische Staat<br />

dürfte sich daher wahrscheinlich dem<br />

Gentrifikations-Prozess anschliessen.<br />

Die Verlierer<br />

Die Akteure der beiden Diskursstrategien<br />

sowie der Staat sind an einer Wiederaufwertung<br />

der Damaszener Altstadt interessiert<br />

oder werden es in Zukunft wahrscheinlich<br />

sein. Jedoch stellt sich auch die<br />

Frage nach den «Verlierern» dieses angestrebten<br />

Transformationsprozesses. Zu den<br />

Verlierern werden gewiss die Frauen gehören,<br />

die über keine Stimme in der Gestaltung<br />

der zukünftigen Altstadt verfügen.<br />

Ihrer Kritik an einer Übernahme der<br />

«traditionellen» Ordnung und Machtstruktur<br />

sowie ihrer funktionalistischen Kritik<br />

an der Lebensweise in einem Bait Arabi<br />

wird von den zuständigen Behörden anscheinend<br />

kein Gewicht beigemessen.<br />

Auch die neuen Bewohner in der Altstadt,<br />

die in jedem der untersuchten Diskurse die<br />

Rolle des Sündenbocks für die Verschlechterung<br />

der gegenwärtigen Situation in der<br />

Altstadt übernehmen müssen, gehören zu<br />

den Verlierern.<br />

Die Lizentiatsarbeit soll zur Sensibilisierung<br />

und Bewusstseinsbildung der für die<br />

Damaszener Altstadt zuständigen Behörden<br />

beitragen. Ziel wäre es, dass die gesamte<br />

Bevölkerung an der Planung der<br />

Damaszener Altstadt teilhaben und die<br />

Zukunft mitgestalten könnte.<br />

Patrik Meier<br />

Lizentiand am Institut für Ethnologie<br />

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