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KUNST KULTUR JOKER 9

Georg Scholz zum 75. Todestag

Werkschau „Georg Scholz NAH“ im Kunstforum Waldkirch

So umfassend und detailliert

war das Werk von Georg Scholz

(1890-1945) noch nie zu sehen.

Derzeit gelingt es einer Ausstellung

in Waldkirch fast alle seiner

Schlüsselwerke zusammenzuführen,

die ansonsten in der

Welt verstreut sind. Die außergewöhnliche

Schau wurde möglich,

weil der Fotograf Roland Krieg

FineArt-Pigment-Prints von digitalen

Bildern hergestellt hat,

die ihm zahlreiche Museen zur

Verfügung stellten – Gemälde,

Zeichnungen, Lithografien. Ergänzt

durch Detailaufnahmen,

Skizzen, Zeichnungen und Texte

entsteht, präsentiert in Themenräumen,

eine beeindruckende

„Nah-sicht“ auf Scholz‘ Werk,

die dem Betrachter dessen Motive

und Erzählungen vor Augen

führt, insbesondere auch dank

der kenntnisreichen Kuratorin

Evelyn Flögel, die sich seit vielen

Jahren für das Werk von Georg

Scholz (1890-1945) engagiert.

Rund 100 Bilder sind an den

Wänden gegenwärtig, zudem die

gleiche Anzahl in einer Beamerschau.

Als Protagonist des Verismus

und der Neuen Sachlichkeit

gehört Scholz zu den herausragenden

Künstlern der ersten

Georg Scholz: „Bahnwärterhäuschen“,1925

Hälfte des 20. Jahrhunderts, den

sein kritisch analytischer Blick

bekannt machte. In Wolfenbüttel

geboren, studierte er ab 1908 in

Karlsruhe, dann bei Lovis Corinth

in Berlin. Der Erste Weltkrieg

erschütterte ihn, demzufolge

werden Militär, nationaler

Kleingeist und kapitalistische

Ausbeutung zum Thema seiner

Bilder, die ihn in die Nähe von

George Grosz rücken. Im Aquarell

„Zeitungsträger“ (1921) etwa

fährt ein protziger Zigarrenraucher

im Automobil, während

zwei magere Zeitungsträger zu

Foto: Kunstpalast Düsseldorf

Fuß vor einer Fabrik unterwegs

sind. Sein Sinn für Groteskes und

Monströses erweist sich an dem

Gemälde „Industriebauern“, mit

dem Scholz 1920 auf der „Ersten

Internationalen Dada-Messe“

in Berlin vertreten war. Stetig

entwickelt sich sein Stil, der von

scharfer Zeitkritik bis hin zur

hyperrealistischen Schilderung

reicht, nicht zuletzt in puncto Sexualität.

Von 1923 bis 1933 lehrte

Scholz an der Akademie Karlsruhe;

1925 war er in der Mannheimer

Schau „Neue Sachlichkeit“

mit sieben Gemälden vertreten,

darunter „Das Bahnwärterhäuschen“,

eine nüchtern fixierte

Szene, die kaum eine Spur des

Malprozesses aufweist.

Sodann wird Georg Scholz

vom NS-Regime verfemt und

1933 seines Lehramts in Karlsruhe

enthoben. Er kann sich nach

Waldkirch zurückziehen, lebt

aber in Angst; heimlich wagt er

sich noch an Porträts und Landschaftsbilder,

die weiterhin seine

technische Brillanz zeigen, doch

eine gebrochene Schaffenskraft.

Als Mann des Widerstandes

setzte ihn die französische Besatzungsmacht

1945 zum Bürgermeister

von Waldkirch ein,

aber vierzig Tage später starb er.

Nun lässt sich dieser innovative

und spannende Künstler neu in

Augenschein nehmen.

GeorgScholzHaus, Kunstforum

Waldkirch. Fr + Sa 15-18, So +

Feiertage 11-15Uhr. www.georgscholz-haus.de.

Bis 01.11.2020

Cornelia Frenkel

Krisenschauorte Clarissa Thieme stellt im Kulturwerk 66 in Freiburg aus

Irene Schüller, Malerin und

Filmemacherin in Freiburg

übernahm noch 2019 die Kuratur

für diese Ausstellung im

Rahmen des Nocturne-Programms.

Sie recherchierte und

stieß auf Clarissa Thieme; getroffen

haben sich beide bei der

Berlinale im Februar, wo Thieme

beim Forum der Filmschau

ihre nun auch im T66 gezeigten

Videoarbeiten „What remains“

uraufführen konnte.

„Fissures“ nennt Thieme

ihre Präsentation jetzt, Risse

also, Brüche im Leben, der Geschichte

und besonders auch der

Erinnerungskultur. Etwas, was

die Künstlerin offensichtlich

anstachelt: dagegen möchte sie

künstlerisch angehen. Thieme

begegnet mir freundlich, lächelnd

und gern Auskunft gebend–

das ist von Belang, weil

wesentliche Voraussetzung für

ihren Arbeitserfolg: das Gespräch.

Über halblangen Jeans

trägt sie ein T-Shirt, auf dem in

bosnischer Sprache die Lettern

prangen „Pravo Ljudski“. Menschenrechte

heißt das, und es ist

zugleich der Name eines Dokumentarfilmfestivals

in Sarajevo,

das 2006 ins Leben gerufen

wurde. „Das ist mein Arbeitshemd“

sagt Thieme und meint

damit Hintergründigeres, als

man zunächst vermuten mag.

Im Künstlerturm an der Talstraße

66 zeigt sie zwei Werkgruppen

– das Basement wird

aus Virusgründen nicht bespielt.

Im Obergeschoss sieht

man (mehrsprachig) „Was

bleibt“ – zwei Videos im Kontrapunkt,

das erste eine meditative

Ortsschau am Schauplatz

Sarajevo 2010, knapp 15 Jahre

nach Ende des Bosnienkrieges

also, der mit Bedacht ruhige

Versuch nachzuspüren, was

geschah, verblieb und verschwand:

30 Min. Der zweite

Film – „Re-visited“– gibt die

Neuaufnahme des Sujets, jetzt

ausführlicher kommentierend,

große Poster von Fotos des

ersten Besuchs nun der Landschaft

und den Menschen von

Bosnien-Herzegowina vor Augen

setzend und letztere in den

Dialog, ins Interview leitend:

70 Min. Konzeptuell schon,

aber mitnichten verkopft, sondern

am Ende sehr spielerisch

und leichtfüßig – angesichts des

schweren Gegenstands.

Eine Etage höher findet sich

die Installation „Weiter war

nichts ist nichts“. Der Titel mag

zunächst Rätsel aufgeben. Es

geht um eine andere, eine deutsche

Krisenlage. Im Juni 1984

schrieb die angesehene DDR-

Autorin Christa Wolf einen

Glückwunschbrief an den Ost-

Berliner Aufbau-Verlag, der zu

dessen 40. Geburtstag ein Jahr

später publiziert wurde. Wer

den Text las und liest, heute

muss man ihn wieder neu dekodieren,

erkennt zwischen den

Worten und Zeilen die grundsätzliche

Systemkritik. Wolf

erzählt dort über ein scheinbar

belangloses Brötchenfrühstück

unter Autoren in einem Café in

der sozialistischen Hauptstadt

der Bewegung. Vor allem bewegte

sich die Lampe über dem

Tisch, sie schwankte. Darüber

sinniert Wolf – und erfährt erst

im Nachhinein von der Kollegin

Anna Seghers, dass ein

Erdbeben sich ereignet habe.

So gerinnt der ganze Brief zur

prophetischen Staats-Metapher:

Erdbeben – „weiter war nichts,

ist nichts“, notiert Wolf.

Clarissa Thieme legt einen

großen Stapel von DIN A2-

Ausdrucken (zur Mitnahme

übrigens) ins Zentrum des

Raumes und installiert darüber

eine pendelnde Lampe. Wie

sprechend. An den Wänden

hängt ihre Printserie „quatere“,

die den Wolf-Text in verschiedene

Sprachen übersetzt. Als

Exempel und Ermunterung

gleichsam für die Jetztzeit. Wie

schön, dass die junge Künstlerin

so stilsicher und empfindsam

historisch arbeitet.

Clarissa Thieme, Installation

„Weiter war nichts, ist nichts“

Foto: Thieme

Kulturwerk Talstr. 66, 79102

Freiburg. Do–Sa, 14–18 Uhr

oder n.V. Bis 17. Oktober. Artist

Talk: Do., 15. Okt. 19 Uhr.

Martin Flashar

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