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24 KULTUR JOKER nachhaltig

„Klima vor Acht“ oder „Climate-Silence“?

Missverhältnis in der Medienberichterstattung nicht mehr nachvollziebar

„Boah, diese Frisur! Und die

Klamotten! Unfassbar, diese

Farben!“ Sicher, darüber

kann man sich aufregen, wenn

Börse-vor-Acht-Moderatorin

Anja Kohl zur Primetime die

Welt der Aktien in die gute

Stube bringt. Man kann aber

auch kritisieren, dass dieses

Nischenthema – nur 6 Prozent

aller Deutschen besitzen überhaupt

Aktien – uns übertrieben

prominent und häufig serviert

wird und dass das Wort „Klima“

bestenfalls als „Konsumklima“

Erwähnung findet. Das

mag für diejenigen angemessen

sein, die noch nicht wissen,

dass die Klimakrise unsere Existenz

auf der Erde bedroht. Für

Wissenschaftler*innen, die die

Dramatik der Lage genau kennen,

ist dieses Missverhältnis

nicht nachvollziehbar.

Genau da beißt dich die

Katze in den Schwanz, hier

geht es schlecht informierten

Journalist*innen wie allen anderen,

die nicht merken was da im

Argen liegt. Die Klimaforscherin

Prof. Katharine Hayhoe hat

das Medienversagen in einem

bemerkenswerten Ted-Talk auf

den Punkt gebracht: Mehr als

¾ aller Amerikaner gaben in

einer Umfrage der Yale Universität

an, über die Medien nicht

über den Klimawandel informiert

zu werden. Wer darüber

nicht Bescheid weiß, kann sich

der Illusion hingeben, es könnte

alles irgendwie noch gut gehen.

Zugegeben, es ist ja wirklich

kaum vorstellbar, dass wir in

einigen Jahren nicht mehr jeden

Morgen duschen können, wenn

das Wasser nicht mehr reicht.

Oder dass wir uns in einigen

Jahren nach Sommern wie den

letzten dreien sehnen, weil da

die Hitze doch noch irgendwie

auszuhalten war. Viele wissen

einfach nicht, dass wir auf planetare

Verhältnisse zu rennen,

wo nur noch auf wenigen Breitengraden

Landwirtschaft und

Nahrungsmittel–Produktion

möglich ist, die also überhaupt

für Menschen bewohnbar sind.

Hatten wir noch nicht. Kann‘s

also auch nicht geben. So war‘s

Anfang des Jahres auch in Sachen

Corona: “Du glaubst doch

nicht im Ernst, dass hier das öffentliche

Leben eingeschränkt

wird!“ Doch. Auch Dinge, die

wir selbst noch nie erlebt haben,

gibt es. Doch woher soll man

Dinge wissen, über die nicht

angemessen berichtet wird?

Was im Krisenfall möglich

wird, haben wir bei der Corona-

Medienberichterstattung erlebt.

Plötzlich klappt das mit dem

Bildungsauftrag und ganz viele

Menschen wissen, was Aerosole

sind und wie damit Viren

übertragen werden.

Climate-Silence nennt sich

das Phänomen, welches das

ohrenbetäubende Schweigen

im Blätterwald charakterisiert.

Nun entstand eine Bewegung,

die genau dort ansetzen will.

KlimaVor8 nennt sich die Initiative,

die unsere Sinne dafür

schärfen will, dass es nicht nur

Montags bis Freitags vor den 20

Uhr-Nachrichten in der ARD,

sondern auch auf anderen viel

gesehenen Programmplätzen

Die Seiten NACHHALTIG werden unterstützt von:

Börsennachrichten ohne Ende

gibt, währen das Klima keinen

festen Sendeplatz hat. Das

Medienversagen geht sogar so

weit, dass über diverse Kanäle

dramatische Berichte über die

Kalifornischen Waldbrände

flackern, in denen das Wort

„Klima“ nicht ein einziges Mal

erwähnt wird. Sendezeit gibt’s

für Menschen, die sich um ihre

Katzen sorgen oder für Trump,

der ohne journalistische Einordnung

von unaufgeräumten

Wäldern und „explodierenden

Bäumen“ plappern darf. Weil

die ARD der Ansicht ist, dass

daran nichts geändert werden

soll, hat die KlimaVor8-Initiative

beschlossen, die erste

Film-Staffel selbst zu produzieren.

Das Crowdfunding für

die Produktion warf selbst die

glühendsten Optimisten vom

Hocker. In weniger als 4 Stunden

waren 20.000 € auf dem

Spendenkonto.

Liebe Leser*innen, ab jetzt

werden Sie nicht mehr wegdenken

können. Ab sofort wird

es Ihnen auffallen, wenn Sie

mit geschärften Sinnen fernsehen.

Womöglich stoppen

jetzt sogar einige von Ihnen die

Sende-Dauer, um nachzuhalten,

wieviel Nachrichten-Zeit

für welche Themen vergeben

wird. Minutenlang jauchzende

Filmsternchen, die überwältigt

sind vom XY-Award, während

in Sibirien, Brasilien und im

südlichen Afrika die Klimabrände

toben. Selbst hartgesottene

Kicker*innen beißen

mitunter in die Fernbedienung,

wenn endlos kostbare Nachrichten-Sendeminuten

dem Männerfußball

gewidmet werden,

während ein Hurrikan auf eine

Küste knallt oder Starkregen

ein Sandsäcke-umringtes AKW

bedroht.

Ähnliche Experimente lassen

sich auch bei der Zeitungslektüre

machen: Eine x-beliebige

Tageszeitung als pdf aus dem

Netz gezogen lieferte folgendes

Schnelltest-Ergebnis in der

94-seitigen Samstags-Ausgabe:

8 Mal kam das Wort „Klima“

vor. Darunter wertlose Treffer

wie „vollklimatisiert und komfortabel“

im Reiseteil über ein

Kreuzfahrtschiff sowie „Klimaanlagen,

Steckdosen und

WLAN“ in Zügen. Es scheint

als wüssten nur die wenigsten

Journalist*innen, dass „der

Mensch ein enormes geophysisches

Experiment durchführt“.

Als wüssten sie nicht,

dass genau diese Bewertung

zum menschengemachten Klimawandel

aus der Feder der

wissenschaftlichen Berater des

US-Präsidenten stammt. Und

schon gar nicht, dass es sich

dabei um Präsident Lyndon

B. Johnson handelt, der vor 55

Jahren den Regierungsbericht

erhielt, welcher eindringlich vor

der Klimakatastrophe warnte.

Ein halbes Jahrhundert später

führte eine Schülerin ein

Zeitungsexperiment durch.

Sie wollte wissen was passiert,

wenn eine große Zeitung ankündigt,

„das Klima ins Zentrum

der Berichterstattung zu

stellen, so dass es die gesamte

Redaktion durchdrang“. Greta

Thunberg verfolgte die Berichterstattung

fünf Wochen lang

am Stück. Das Ergebnis war

nicht besonders beeindruckend:

Shopping: 22 %, Flugreisen: 11

%, Autos: 7 %, Klimakrise: 0,7

%. Vor dieser vollmundigen

Ankündigung lag die Klimaund

Umweltberichterstattung

in mehreren großen Tageszeitungen

übrigens im selben Bereich.

Da drängt sich die Frage

auf, welchen Stellenwert das

Klima wohl in deutschen Medien

hat.

Erst kürzlich ist bei der Journalistin

Sara Schurmann der

Groschen gefallen. Sie hat in

einem viel beachteten offenen

Brief ihre Kolleg*innen aufgerufen,

„die Klimakrise endlich

in ihrem ganzen Ausmaß anzuerkennen

– und das eigene

Handeln danach auszurichten:

Sie sollten bei jeder Berichterstattung

die Auswirkungen auf

das Klima mitdenken.“ Mehr

als 50 Medienmacher*innen

unterstützen ihren Aufruf.

Die Autorin bekam erfreulich

freundliche Reaktionen, als

sie den Brief in bisher schlecht

„klimatisierte“ Filterblasen weiterreichte.

Text und Bild Eva Stegen

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