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literatur KULTUR JOKER 17

Nah beieinander, fern von allem

Der Auftritt des Gastlandes Kanada bei der Frankfurter Buchmesse wurde auf nächstes Jahr verschoben –

wir werfen einen Blick auf das dortige literarische Geschehen und stellen die Autorin Marie-Claire Blais vor

Marie-Claire Blais

Dass eine internationale Messe

mit mehreren Hunderttausend

Besucher*innen über vier

Tage hinweg ohne Hallenausstellung

funktionieren kann,

klingt ungewöhnlich, aber 2020

hat bewiesen: Pandemien machen

erfinderisch. Daher findet

die Frankfurter Buchmesse als

„Special Edition“ dieses Jahr

mit einem digitalen Ausstellungsprogramm

und nur einigen

wenigen physischen, dafür aber

umso mehr virtuellen Formaten

statt. Einzig der Auftritt des

Gastlandes Kanada wurde – ver-

Kanada-Abend mit Andreas Hoppe

Vortrag, Gespräch und Film im Buchladen in der Rainhof Scheune

Foto: Suhrkamp Verlag

Als sein Sehnsuchtsland bezeichnet

der Schauspieler Andreas

Hoppe Kanada, Gastland

der diesjährigen Frankfurter

Buchmesse. Seit vielen Jahren

unternimmt er Reisen dorthin.

Er ist mit First Nations / Ureinwohnern

befreundet, hat sich

lange gegen den Ölsandabbau

eingesetzt und versucht dieses

Thema in Deutschland publik

zu machen, hat an einer verrückten,

arktischen Challenge

im Yukon teilgenommen oder

einfach nur das Land und seine

Naturwunder und entspanntfreundlichen

Menschen besucht.

Von diesen Abenteuern

und Erlebnissen berichtet

Andreas Hoppe am Sonntag,

den 11. Oktober um 18 Uhr

im Buchladen in der Rainhof

Scheune in Kirchzarten-Burg,

ein Abend mit Geschichten,

Texten, Fotos und Filmausschnitten.

Reservierung ist erforderlich

Tel. 07661-9880921 oder

info@buchladen-rainhof.de

Andreas Hoppe

Foto: Philipp von Recklinghausen

ständlicherweise – auf nächstes

Jahr verschoben. Virtuell wird

der Ehrengast trotzdem mit

einem vielfältigen Kulturprogramm

präsent sein, womit es in

der Geschichte der Buchmesse

erstmalig einen Doppelauftritt

gibt. Höchste Zeit einen Blick

auf das literarische Geschehen

im Great White North zu werfen

oder, genauer gesagt, auf eine

der gegenwärtig spannendsten

kanadischen Autor*innen: Marie-Claire

Blais.

25 Jahre hat es gedauert, bis

„Soifs“ (frz. Pl.: Durst) von Nicola

Denis unter dem Titel „Drei

Nächte, drei Tage“ ins Deutsche

übersetzt wurde – dabei blickt

die mittlerweile 81-jährige Blais

auf ein Werk von insgesamt 58

Romanen, Dramen, Gedichtbänden

und Essays zurück.

Ihren ersten Roman „La Belle

Bête“ veröffentlichte die frankokanadische

Autorin im Alter

von gerade einmal 20 Jahren,

mit „Une Saison dans la Vie

d‘Emmanuel“ und der darauffolgenden

Verleihung des Prix

Médicis etablierte sich Blais

Mitte der 1960er-Jahre endgültig

zur festen Größe innerhalb

der kanadisch-französischen Literaturlandschaft.

Es folgten u.a.

zwei Guggenheim-Fellowships,

eine Nobelpreis-Nominierung

und zahllose weitere Auszeichnungen

– trotzdem ist Marie-

Claire Blais im englischen – wie

deutschsprachigen Raum immer

noch weitestgehend unbekannt.

Dies könnte damit zusammenhängen,

dass es manchmal

nicht ganz einfach ist, die Notwendigkeit

oder gar den Sinn

eines Romans zu sehen, der weder

Story noch Plot verhandelt.

Wahrscheinlich werden deshalb

auch so viele Werke der sogenannten

Weltliteratur (Joyce,

Proust) zwar sehr oft verkauft,

aber umso seltener gelesen. Mit

„Drei Nächte, drei Tage“ verhält

es sich ähnlich.

Der zugegebenermaßen nicht

ganz einfache Roman ist das

erste und titelgebende Buch

eines auf zehn Bände angelegten

Zyklus, den Marie-Claire Blais

im Jahr 2018 mit der Veröffentlichung

des letzten Buchs „Une

réunion près de la mer“ vollendete.

Mit diesem mehrere tausend

Seiten starken und gut 200 Charaktere

umfassenden Projekt hat

sich Blais stilistisch, entgegen

ihrem Frühwerk, weitestgehend

von konventioneller Erzählliteratur

weg und hin zu einer

impressionistisch-subjektiven

Prosa bewegt, die in ihren besten

Momenten an die späte Virginia

Woolf oder die Polyphonie Faulkners

erinnert; nicht umsonst

stammt das Epigraph von „Drei

Nächte, drei Tage“ aus Woolfs

letztem und avanciertestem Roman

„The Waves“.

Das Setting der Erzählung ist

im Grunde schnell bestimmt:

Ende Dezember 1999, eine namenlose

Insel im Golf von Mexiko,

eine handvoll exzentrischer

Charaktere. Apokalyptischer

Hedonismus auf der einen, soziale

Ungleichheit auf der anderen

Seite. Inmitten von Künstlerinnen,

Drag Queens, Geflüchteten

und Ku-Klux-Klan-Anhängern

versuchen die Anwältin

Renata und ihr Lebensgefährte

Claude, nah beieinander, fern

von allem, wie es im ersten Satz

heißt, Ruhe und Erholung in der

tropischen Abgeschiedenheit zu

finden, während die Insel sich

in der Erwartung des nahenden

Millenniums und der Geburt

eines asthmatischen Kindes in

zunehmend opulenteren und gewaltsameren

Ausschweifungen

verliert.

Der Anspruch des Buchs ist dabei

in jeglicher Hinsicht radikal

– einen einzigen Punkt gewährt

uns „Drei Nächte, drei Tage“ auf

den 391 Seiten der deutschen

Übersetzung. Über hunderte

Seiten hinweg reihen sich Blais‘

Parataxen (gram.: gleichrangige

Aneinanderreihung von Hauptsätzen)

zu einer rauschhaften

Sprachkaskade, welche die wiederkehrende

Atemlosigkeit Renatas,

die sich von einer Pneumektomie,

der tumorbedingten

Entfernung eines Lungenflügels

erholt, quasi körperlich erfahrbar

macht. Unbeirrt von den äußeren

Kontinuitätsregeln (Zeit,

Raum), mit denen das klassisch

lineare Erzählen unsere Sehund

Lesegewohnheiten geprägt

hat, folgt diese Erzählung ihrem

eigenen und inneren poetischen

Rhythmus. Wo andere Bücher

ihre Leser*innen ins Vogelnest

setzen, von wo aus sie bequem

die Entfaltung der Handlung verfolgen

dürfen, wirft einen „Drei

Nächte, drei Tage“ schonungslos

in seinen vielstimmigen Chor

aus Stimmen hinein, dessen

scheinbar willkürliches Ineinander

von Gedanken, Wahrnehmungen

und Erinnerungen an

ein barockes Fresko erinnert, das

bei jedem Anblick gleichzeitig

Neues und Bekanntes erkennen

lässt. Analog zu Virginia Woolfs

späten Romanen entwickelt hier

die Sprache selbst ein subversives

Potenzial, indem sie die logischen

Zwänge des klassischen

Satzbaus und zielgerichteten

Denkens unterläuft und somit

einen neuen, von Hierarchien befreiten

Erfahrungsraum eröffnet.

Marie Claire-Blais schreibt

sich so zweifellos in die Tradition

feministischer Literatur des

20. Jahrhunderts ein – einerseits

indem sie ihre Sprache zur revolutionären

Praxis macht, andererseits

indem sie eine Erzählung

konstruiert, die Einblicke in die

Wahrnehmung ihrer Figuren,

die, wie unsere auch, von internalisierten

Geschlechter- und

Rollenbildern geprägt ist, unvermittelt

zulässt und damit

immer wieder aufzeigt, wie solche

Konstruktionen manchmal

kritisch hinterfragt, manchmal

bewusst ignoriert werden.

Diese erfrischende Uneindeutigkeit

des Romans macht gerade

seine Qualität aus – während

anderswo Entscheidungen regieren,

plädiert „Drei Nächte, drei

Tage“ für ein emphatisches Nebeneinander

von Erfahrungen;

moralischer wie amoralischer,

utopischer wie dystopischer,

ängstlicher wie hoffnungsvoller,

und wird damit in einer Gegenwart,

die zunehmend nach Vereindeutigung

strebt, zu einem

umso wichtigeren, notwendigen

Buch.

Marie-Claire Blais, „Drei

Nächte, drei Tage“, Bibliothek

Suhrkamp 2020

Danny Schmidt

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