Inhalt AUFSÄTZE URTEILSANMERKUNGEN ... - ZIS
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<strong>Inhalt</strong><br />
<strong>AUFSÄTZE</strong><br />
Strafrecht<br />
Eine strafrechtswissenschaftliche Bußpredigt<br />
Replik auf Rotsch, <strong>ZIS</strong> 2008, 1<br />
Von Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Bonn 67<br />
Internationales Strafrecht<br />
Der Prozessgegenstand im japanischen Strafprozessrecht<br />
Von Prof. Dr. Morikazu Taguchi, Tokio 70<br />
Srafvollstreckung im Heimatstaat – der geplante<br />
EU-Rahmenbeschluss zur transnationalen Vollstreckung<br />
von Freiheitsstrafen<br />
Von Wiss. Assistentin Dr. Christine Morgenstern, Greifswald 76<br />
Strafrecht<br />
Zehn Jahre Strafbarkeit wettbewerbsbeschränkender<br />
Absprachen bei Ausschreibungen gemäß § 298 StGB<br />
Von Wiss. Mitarbeiter David Pasewaldt, Hamburg 84<br />
Strafprozessrecht<br />
Bewegliche Zuständigkeit versus gesetzlicher Richter<br />
Von Rechtsanwältin Dr. Wiebke Arnold, Kiel 92<br />
<strong>URTEILSANMERKUNGEN</strong><br />
Strafprozessrecht<br />
BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06<br />
Zur Revisibilität der Beweiswürdigung beim<br />
freisprechenden Urteil („Bäcker von Siegelsbach“)<br />
(Wiss. Mitarbeiter Dr. Frank Dietmeier, M.A., Düsseldorf) 101<br />
BUCHREZENSIONEN<br />
Strafrecht<br />
Uwe Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in<br />
Deutschland, 2006<br />
(Prof. Dr. Michael Hettinger, Mainz) 106<br />
Heribert Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, 7. Aufl., und<br />
Heribert Ostendorf, Jugendstrafrecht, 4. Aufl., 2007<br />
(Prof. Dr. Frank Neubacher, M.A., Jena) 109<br />
Susanne Pielsticker, § 46a StGB – Revisionsfalle oder<br />
sinnvolle Bereicherung des Sanktionenrechts?, 2004<br />
(Rechtsanwalt Dr. Andreas Mertens, Fachanwalt für Strafrecht,<br />
Köln) 111<br />
Steuerstrafrecht<br />
Oliver Sahan, Keine Steuererklärungspflicht bei Gefahr<br />
strafrechtlicher Selbstbelastung, 2006<br />
(Rechtsanwalt Dr. Christian Pelz, Fachanwalt für Strafrecht,<br />
Fachanwalt für Steuerrecht, München) 113
Eine strafrechtswissenschaftliche Bußpredigt<br />
Replik auf Rotsch, <strong>ZIS</strong> 2008, 1<br />
Von Prof. Dr. Ingeborg Puppe, Bonn<br />
Wo zwei oder drei Strafrechtswissenschaftler beisammen<br />
sind, da ist er mitten unter ihnen, der strafrechtsdogmatische<br />
Bußprediger. Auf jedem Kongress und jeder Tagung ergreift<br />
er irgendwann das Wort, um mit bitterem Ernst oder heilsamem<br />
Spott die Sünden seiner andächtigen Zuhörer zu geißeln.<br />
Denn diese allein in ihrer Gelehrteneitelkeit und Ruhmbegierde,<br />
ihrer Originalitätssucht und ihrem Karrierismus<br />
trifft die Schuld daran, dass die deutsche Strafrechtswissenschaft<br />
ohne jeden Einfluss auf die Praxis und daher völlig<br />
unnütz ist. Deshalb verdienen sie es denn auch nicht besser,<br />
als dass die Praxis sie seit vielen Jahren mit konsequenter<br />
Nichtbeachtung straft. Lasset ab von eurem eitlen, unnützen<br />
Tun und besinnet euch auf die Bedürfnisse der Praxis, deren<br />
demütige Diener ihr doch sein sollt.<br />
Unter dem eindeutig Stellung nehmenden Titel „Zur Hypertrophie<br />
des Rechts, Plädoyer für eine Annäherung von<br />
Wissenschaft und Praxis“ ist in dieser Zeitschrift soeben eine<br />
weitere solche Bußpredigt aus der Feder von Thomas Rotsch<br />
erschienen. In der Einleitung präzisiert der Verfasser, was er<br />
unter Hypertrophie des Rechts versteht, nicht etwa die Flut<br />
von ständig geänderten Gesetzen oder die unberechenbare<br />
Kasuistik in der Rechtsprechung, sondern die Hypertrophie<br />
der Strafrechtswissenschaft, von der es heißt: „In keinem<br />
anderen Strafrechtssystem der Welt sind Strafrechtswissenschaftler<br />
mit einer solchen Akribie der letzten Verästelung<br />
einer praktisch irrelevanten Theorie auf der Spur. Dass aber<br />
eine bis zum Exzess betriebene Vergenauerung der Dogmatik<br />
in der an ganz anderen Notwendigkeiten ausgerichteten Praxis<br />
nicht mehr ankommt, liegt auf der Hand“ 1 . Akribie und<br />
Streben nach der größtmöglichen Genauigkeit, in jedem anderen<br />
Fachgebiet unverzichtbare Qualitätskriterien wissenschaftlicher<br />
Arbeit, sind also in der Strafrechtswissenschaft<br />
eher fehl am Platze.<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Zeit, zu der die<br />
Strafrechtswissenschaft der Vorwurf der Theorielastigkeit<br />
und Praxisferne wohl zu Recht traf, weil sie nichts Wichtigeres<br />
zu tun hatte, als den Streit um die finale und die sog.<br />
kausale Handlungslehre mit dem Eifer eines Glaubenskrieges<br />
auszutragen und vor allem die Finalisten bestrebt waren, jede<br />
praktische Konsequenz allein aus ihrem Deliktssystem und<br />
seinen Begriffen abzuleiten. Zu Recht hat sich damals die<br />
Praxis auf diese Streitigkeiten nicht eingelassen. Aber das ist<br />
der Schnee vom vorigen Jahrtausend. Wie steht es um das<br />
Verhältnis von Wissenschaft und Praxis heute?<br />
Die Strafrechtswissenschaft ist den Konsequenzen der<br />
Auffassung des BGH, dass Mord und Totschlag verschiedene<br />
Delikte sind und demgemäß die höchstpersönlichen Mordmerkmale<br />
strafbegründende i.S.v. § 28 Abs. 1 StGB sind, 2<br />
1<br />
<strong>ZIS</strong> 2008, 1 (2, Spalte 2).<br />
2<br />
Seit BGHSt 1, 369 (370): „Wer in einer in § 211 StGB<br />
beschriebenen Weise einen Menschen tötet, wird nach dieser<br />
Bestimmung als Mörder bestraft, wer vorsätzlich tötet nach<br />
§ 212 StGB als Totschläger“. „Das Gesetz kennzeichnet eben<br />
mit aller Akribie in die feinsten Verästelungen nachgegangen.<br />
3 Ist also diese Akribie der Grund dafür, dass die seit über<br />
60 Jahren einhellig vorgebrachte Kritik der Wissenschaft an<br />
dieser Rechtsauffassung beim BGH immer noch nicht angekommen<br />
ist? Ist sie der Grund dafür, dass unsere höchsten<br />
Richter, statt sich mit dieser Kritik auseinander zu setzen, den<br />
Instanzgerichten, ganz ohne wissenschaftliche Akribie, immer<br />
neue Remeduren verordnen, um wenigstens die absurdesten<br />
Konsequenzen der eigenen Ausgangsthese zu umgehen?<br />
Dass auch diese Remeduren einer allzu akribischen<br />
wissenschaftlichen Prüfung nicht stand halten 4 liegt auf der<br />
Hand.<br />
die in § 211 StGB aufgeführten Begehensweisen der Tötung<br />
nicht als schwere Fälle des Totschlags, sondern als eine andere<br />
Straftat als Mord […]. § 50 Abs. 2 StGB kann jedoch auf<br />
die Beweggründe des § 211 StGB schon deshalb nicht zutreffen,<br />
weil sie nicht die Strafe schärfen, sondern die Strafbarkeit<br />
des Täters als Mörder erst begründen“ (S. 371 f.). Auch<br />
die Einführung des heutigen § 28 Abs. 1 StGB, also die Strafmilderung<br />
bei strafbegründenden persönlichen Merkmalen,<br />
hat dem BGH keinen Anlass gegeben, seine Auffassung der<br />
Mordmerkmale als strafbegründende zu überdenken (BGHSt<br />
22, 375 [377]; NStZ 1981, 299; StV 1984, 69; NStZ-RR<br />
2003, 139).<br />
3<br />
Küper, JZ 1991, 910; ders., JZ 2006, 1157 (1159); Puppe,<br />
in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar,<br />
Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2006, Band 1, §§ 28/29 Rn. 27<br />
f.; Horn, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar<br />
zum Strafgesetzbuch, 6. Aufl., 50. Lieferung, Stand: April<br />
2000, § 211 Rn. 25 ff.; Schneider, in: Joecks/Miebach (Hrsg.),<br />
Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2005, Vor<br />
§ 211 Rn. 136 ff.; Jähnke, in: ders./Laufhütte/Odersky<br />
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 11. Aufl.<br />
2003, Vor § 211 Rn. 41 ff.; zuletzt zusammenfassend Geppert,<br />
Jura 2008, 34 (38 ff.).<br />
4<br />
Schon dass der BGH ganz selbstverständlich eine Strafbarkeit<br />
des Teilnehmers nach § 212 StGB annimmt, wenn er<br />
nicht weiß, dass der Täter ein Mordmerkmal erfüllt (BGHSt<br />
1, 369 [372]) steht zu seiner These im Widerspruch, dass<br />
Mord und Totschlag verschiedenartige Delikte seien. Gleich<br />
zwei Mal zu dieser These in Widerspruch steht die Lehre von<br />
den „gekreuzten“ Mordmerkmalen (BGHSt 23, 39; 50, 1 [9 f.]).<br />
Denn nach der These von den strafbegründenden Mordmerkmalen<br />
begründet weder das Mordmerkmal, das nur der<br />
Täter erfüllt, noch das Mordmerkmal, das nur der Teilnehmer<br />
erfüllt, dessen Strafbarkeit aus dem vollen Strafrahmen des<br />
§ 211 StGB. Um zu verhindern, dass die Beihilfe oder die<br />
versuchte Anstiftung zum Mord durch einen Beteiligten, der<br />
kein Mordmerkmal erfüllt, wegen der nach der Rechtsansicht<br />
des BGH gebotenen doppelten Strafmilderung nach § 49 StGB<br />
(= sechs Monate bis elf Jahre und drei Monate) milder bestraft<br />
wird, als wenn die Haupttat ein Totschlag wäre (dann nur<br />
einfache Anwendung des § 49 StGB auf den Strafrahmen des<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
67
Ingeborg Puppe<br />
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Ist übermäßiges Bestreben nach Genauigkeit auch der<br />
Grund dafür, dass die in der Literatur kaum weniger einhellig<br />
geübte Kritik an der extrem subjektiven Täterlehre, 5 die den<br />
BGH in den Stand versetzt, jeden an der Vorbereitung eines<br />
Deliktes Beteiligten mit der Begründung zum Mittäter zu<br />
erklären, dass die gebotene Gesamtbetrachtung aller relevanten<br />
Umstände die Wertung ergibt, dass er „dieses enge Verhältnis<br />
zur Tat haben wollte“ 6 , beim BGH auch seit Jahrzehnten<br />
nicht ankommt?<br />
Eine „bis zum Exzess betriebene Vergenauerung“ ist es<br />
denn wohl auch, wenn die Wissenschaft 7 und inzwischen<br />
auch manch verzweifelter Praktiker 8 vergebens die Forderung<br />
erheben, der BGH möge seine Unterscheidung zwischen<br />
dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit bei Tötungsdelikten<br />
soweit vergenauern, dass wenigstens in den meisten<br />
Fällen voraussehbar ist, welche Sachverhaltswürdigung und<br />
welche Entscheidungsbegründung vor seinen Augen bestehen<br />
kann. Die Instanzgerichte geben sich gewiss auch hier alle<br />
Mühe, es dem BGH recht zu machen, und doch vergeht kein<br />
Monat, in dem nicht in der NStZ oder NStZ-RR eine höchst-<br />
§ 212 StGB = zwei Jahre bis elf Jahre und drei Monate),<br />
bemüht der BGH das konkurrenzrechtliche Institut der Sperrwirkung<br />
des milderen Tatbestandes, um eine Mindeststrafe<br />
von zwei Jahren zu begründen (BGH NStZ 2006, 34; 288<br />
[290]). Damit widerspricht er aufs Neue seiner Ausgangsthese.<br />
Denn nach dieser ist die Beihilfe oder der Anstiftungsversuch<br />
zum Mord durch einen Teilnehmer der kein Mordmerkmal<br />
erfüllt, der mildere und die Beihilfe oder versuchte<br />
Anstiftung zum Totschlag nun einmal der strengere Tatbestand.<br />
Auch der Vorschlag, der Frage, ob ein Anstifter ein<br />
Mordmerkmal erfüllt, ihre Relevanz durch den Erfahrungssatz<br />
zu nehmen, dass Auftragskiller heimtückisch vorzugehen<br />
pflegen (BGHSt 50, 1 [6 f.]; BGH NStZ 2006, 288 [289]), ist<br />
mit allgemeinen Grundsätzen der Teilnahmelehre nicht vereinbar.<br />
Wenn der Haupttäter ein anderes und schwereres<br />
Delikt erfüllt als mit dem Anstifter verabredet, so ist das ein<br />
qualitativer Täterexzess, für den der Anstifter auch dann nicht<br />
verantwortlich ist, wenn er erfahrungsgemäß damit rechnen<br />
muss.<br />
5 Schünemann, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Fn. 3), § 25<br />
Rn. 32 f.; ders., GA 1986, 293 (330); Roxin, Strafrecht, Allgemeiner<br />
Teil, Band 2, 2003, § 25 Rn. 25 f.; Joecks, in:<br />
ders./Miebach (Fn. 3), § 25 Rn. 27; Zaczyk, GA 2006, 411<br />
(412); Puppe, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2005, § 38<br />
Rn. 11 ff.; insbesondere Bespr. von BGHRR, § 25 Abs. 2<br />
Tatinteresse 5, § 39 Rn. 5 ff.<br />
6 Aus neuester Zeit BGH NStZ 2007, 531; 2006, 94; NStZ-<br />
RR 2004, 40 (41); 2002, 74 (75); StraFo 1998, 166; StV<br />
1983, 501; BGHRR, § 25 Abs. 2 Tatinteresse 5.<br />
7 Verrel, NStZ 2004, 309; Geppert, Jura 2001, 55 (59); Fahl,<br />
NStZ 1997, 392; Neumann in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen<br />
(Fn. 3), § 212 Rn. 14 ff.; Joecks (Fn. 5), § 16 Rn. 31;<br />
Canestrari, GA 2004, 210 (213); Rudolphi, in: ders. u.a. (Fn.<br />
3), § 16 Rn. 44; Puppe (Fn. 3), § 15 Rn. 34; dies., Strafrecht,<br />
Allgemeiner Teil, Bd. 1, 2005, § 16 Rn. 11 ff., mit Besprechung<br />
zahlreicher höchstrichterlicher Entscheidungen.<br />
8 Trück, NStZ 2005, 233; Schneider (Fn. 3), § 212 Rn. 46 ff.<br />
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68<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
richterliche Entscheidung zum Tötungsvorsatz erscheint. 9<br />
Meistens wird den Instanzgerichten bescheinigt, dass sie es<br />
wieder einmal nicht Recht gemacht haben, weil sie entweder<br />
dem Umstand nicht ausreichend Rechnung getragen haben,<br />
dass bei äußerst lebensgefährlichen Gewalthandlungen der<br />
Tötungsvorsatz nahe liegt, oder dem Umstand, dass vor dem<br />
Tötungsvorsatz eine hohe Hemmschwelle steht. 10 Während es<br />
dem Strafrechtswissenschaftler Vogel „vorzugswürdig“ erscheint<br />
„die fallanschauungsgesättigten Rechtsprechungsformeln<br />
zugrunde zu legen und im übrigen unter Berücksichtigung<br />
aller Umstände des Einzelfalles zu entscheiden“ 11 handelt<br />
es sich nach dem Urteil eines Praktikers um „eine Leerformel,<br />
die von den Tatgerichten gar nicht ausfüllbar ist. Sie<br />
dient im Ergebnis dazu, dem BGH die jederzeitige Möglichkeit<br />
offen zu halten, auch ein in sich stimmiges Tatgerichtsurteil<br />
aufzuheben“. 12 Gebietet es also nun der Geist der Zeit,<br />
der Strafrechtswissenschaft übertriebene Akribie vorzuwerfen<br />
und ihr als Vorbild nicht-hypertrophen Strafrechts die<br />
Praxis des BGH vorzuhalten?<br />
Rotsch jedenfalls tut dies anhand der Frage, wann ein<br />
Vorgesetzter, der einen vollverantwortlichen Untergebenen<br />
irgendwie zu einer Straftat veranlasst, deren mittelbarer Täter<br />
ist. Unter Berufung auf eine „ungewöhnlich freimütige“ 13<br />
Äußerung des an der Entscheidung BGHSt 40, 218 beteiligten<br />
Bundesrichters Nack legt Rotsch dar, dass der BGH keineswegs<br />
die Roxinsche Lehre von der mittelbaren Täterschaft<br />
kraft Beherrschung eines organisatorischen Machtapparats<br />
adaptiert hat, sondern einen eigenen und viel weiteren Begriff<br />
der mittelbaren Täterschaft hinter einem vollverantwortlich<br />
handelnden unmittelbaren Täter vertritt, der auf jeden Firmenchef<br />
anwendbar ist, der sich bei seiner Erwartung, seine<br />
Untergebenen würden zu seinen Gunsten eine Straftat begehen,<br />
auf „regelhafte Abläufe“ stützen kann. 14 Dazu heißt es<br />
dann weiter: „Freilich hat sich die Rechtsprechung von der<br />
Idee Roxins in vielerlei Hinsicht längst entfernt, und mittlerweile<br />
so viele unterschiedliche Begründungsparameter verwandt,<br />
dass sie ganz pragmatisch in all denjenigen Fällen, in<br />
9<br />
Im Jahre 2007 wurden in diesen Zeitschriften 12 Judikate<br />
des BGH veröffentlicht, in denen er die Instanzgerichte darüber<br />
instruiert hat, wie sie ihre Entscheidung zwischen Vorsatz<br />
und Fahrlässigkeit bei Tötungsdelikten zu treffen und zu<br />
begründen haben (NStZ 2007, 150, 331, 639, 700; NStZ-RR<br />
2007, 43, 86, 141, 199, 267, 268, 304, 307).<br />
10<br />
Vgl. die Nachweise bei Schneider (Fn. 3), § 212 Rn. 12 ff.;<br />
Puppe (Fn. 3), § 15 Rn. 90 ff.<br />
11<br />
Vogel, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Fn. 3), § 15 Rn. 128.<br />
12<br />
Trück, NStZ 2005, 233 (238).<br />
13<br />
<strong>ZIS</strong> 2008, 1 (3, Spalte 1).<br />
14<br />
Nack, GA 2006, 342 (343 f.), der als Rechtsquelle dieses<br />
neuen Instituts der mittelbaren Täterschaft kraft „regelhafter<br />
Abläufe“ nicht nur ein obiter dictum in BGHSt 40, 218 (230)<br />
anführt, sondern zuerst ein Gespräch mit einem seiner Senatskollegen<br />
in einer Beratungspause, an das er sich „noch<br />
gut erinnert“: „Wir waren uns beide einig, dass eine – die<br />
praktisch bedeutsamste – Fallgruppe mit einbezogen werden<br />
musste: die vom Chef eines Unternehmens veranlasste Straftat“<br />
(GA 2006, 342 [343]).
Eine strafrechtswissenschaftliche Bußpredigt<br />
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denen sie den Hintermann für den eigentlichen Übeltäter hält,<br />
diesen eben auch als Täter bestrafen kann.“ Sodann urteilt<br />
Rotsch über die Stellungnahme der Wissenschaft dazu wie<br />
folgt: „Der natürlich weiter geführte wissenschaftliche Streit,<br />
an dem ich zugegebenermaßen nicht ganz unbeteiligt bin, ist<br />
unter praktischen Gesichtspunkten um so unverständlicher,<br />
als die Strafrahmen von Anstiftung und Täterschaft identisch<br />
sind, vgl. das Gesetz! Das ist die Hypertrophie des Strafrechts“<br />
15 . Als wahrer Büßer bekennt sich also Rotsch hier<br />
auch zu seinen eigenen Sünden, womit er sich wohltuend von<br />
den meisten Bußpredigern unterscheidet, die es vorziehen,<br />
ausschließlich die Sünden anderer mit ihrem Spott zu geißeln.<br />
16<br />
Aber zur Sache: Ist es „unter praktischen Gesichtspunkten“<br />
unverständlich, wenn sich die Strafrechtswissenschaft<br />
und eben auch der BGH einige Gedanken über den Unterschied<br />
zwischen Anstifter und mittelbarem Täter machen?<br />
Dass unser StGB nicht den allgemeinen Urheberbegriff verwendet,<br />
sondern ausdrücklich zwischen Anstiftung und Täterschaft<br />
unterscheidet (vgl. das Gesetz!), bringt hinreichend<br />
deutlich zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber den Anstifter<br />
trotz der Identität der Strafrahmen in der Regel milder beurteilt<br />
und bestraft sehen will, als den Täter. Die Hypertrophie<br />
des Strafrechts besteht nach Auffassung von Rotsch aber<br />
wohl vor allem darin, dass die Strafrechtswissenschaft trotz<br />
der „ganz pragmatischen“ Lösung des BGH doch nicht aufhört,<br />
sich um eine gerechte und klare Unterscheidung zwischen<br />
Anstiftung und mittelbarer Täterschaft zu bemühen,<br />
und daran zu zweifeln, dass jeder Chef, z.B. ein Kleinunternehmer<br />
17 , ein Tierarzt 18 oder Rechtsanwalt 19 , als mittelbarer<br />
15 <strong>ZIS</strong> 2008, 1 (3, Spalte 2).<br />
16 Z.B. Naucke, ZStW 85 (1973), 399 (403 ff.), der zum Beleg<br />
für die praktische Unverbindlichkeit der Strafrechtswissenschaft<br />
u.a. anführt, dass sich in der Festschrift für Kohlrausch<br />
von 1944 kein Protest gegen die Todesstrafe im<br />
Kriegsstrafrecht findet (S. 406); vor allem aber Burkhardt, in:<br />
Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft<br />
vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 111 ff. (141 ff.),<br />
der als Beispiel für „das Elend“ der deutschen Strafrechtswissenschaft<br />
seinen Zuhörern eine amüsant zusammengestellte<br />
Zitatenparade von Diskussionsbeiträgen zur aberratio ictus<br />
vorführt, die er selbst (a.a.O., Fn. 114) als „katastrophal“<br />
bezeichnet, weil die praktische Bedeutung der Frage, ob der<br />
Täter, der auf A zielt aber B trifft, wegen versuchter oder<br />
vollendeter Körperverletzung strafbar sei, um die es doch<br />
ausschließlich gehe, in krassem Missverhältnis zu dem in<br />
dieser Diskussion getriebenen dogmatischen und auch philosophischen<br />
Aufwand stehe. Aber den kurz zuvor erschienenen<br />
Aufsatz von Burkhardt über „abweichende Kausalverläufe<br />
in der analytischen Handlungstheorie“ in der Festschrift<br />
für Nishihara von 1998, in dem die angloamerikanische philosophy<br />
of action bemüht wird, um die h.L. von der Maßgeblichkeit<br />
der aberratio ictus zu begründen, findet man in dieser<br />
Lachparade nicht.<br />
17 BGH NStZ 1998, 568; Nack, GA 2006, 342 (344).<br />
18 BGH JR 2004, 245, mit Anm. Rotsch.<br />
Täter zu bestrafen ist, wenn er aufgrund „regelhafter Abläufe“<br />
von seinen Untergebenen die Begehung einer Straftat<br />
erwartet. Praktisch und nicht hypertroph ist es, „mit Hilfe<br />
vieler Parameter“, stets denjenigen, den man „für den eigentlichen<br />
Übeltäter hält“, auch zum Täter zu machen. Um zu<br />
entscheiden, ob man den Chef für den „eigentlichen Übeltäter“<br />
halten will, unter welchen Voraussetzungen und aus<br />
welchen Gründen man dies tut, bedarf es offenbar keiner<br />
weiteren Vergenauerung der Entscheidungskriterien, erst<br />
recht keines weiteren strafrechtsdogmatischen oder gar<br />
rechtsphilosophischen Nachdenkens.<br />
Was soll also nun ein bußfertiger Strafrechtswissenschaftler<br />
tun? Rotschs Gewährsmann für nicht hypertrophes Strafrecht,<br />
Bundesrichter Nack, lobt die Reaktion der Gerichte auf<br />
die von seinem Senat ins Leben gerufene neue Rechtsfigur<br />
der mittelbaren Täterschaft mit den folgenden Worten: „Das<br />
Kriterium der regelhaften Abläufe hat sich seitdem in der<br />
Rechtsprechung insgesamt und auch beim BGH durchgesetzt.<br />
Die Gerichte haben das so definierte Institut der mittelbaren<br />
Täterschaft schlicht angewandt und nicht weiter hinterfragt,<br />
was sicher daran lag, dass es den Problemen der Praxis am<br />
besten Rechnung trägt.“ 20<br />
19 BGH – 5 StR 268/99, UA S. 16 f. (insoweit in NStZ 2000,<br />
596 nicht abgedruckt).<br />
20 GA 2006, 342 (344).<br />
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69
Der Prozessgegenstand im japanischen Strafprozessrecht*<br />
Von Prof. Dr. Morikazu Taguchi, Tokio<br />
I. Einführung<br />
Das Strafprozessrecht ist immer ein politisches Produkt. Das<br />
gilt nicht nur für die rechtspolitische, sondern auch für die<br />
rechtstheoretische Seite des Strafprozessrechts. Deutschland<br />
und Japan sind im Zweiten Weltkrieg gleichermaßen besiegt<br />
und von den Alliierten besetzt worden. Aber es gab einen<br />
großen Unterschied bezüglich des Einflusses der politischen<br />
Situation im Hinblick auf das Strafprozessrecht beider Länder.<br />
Deutschland wurde nicht vom anglo-amerikanischen<br />
Recht beeinflusst und hat bisher auch wenig Interesse daran<br />
gezeigt, abgesehen von Herrmann in Augsburg. 1 Dagegen<br />
wurde Japan besonders vom Parteiprinzip des angloamerikanischen<br />
Rechts beeinflusst. Das Prinzip hat sich sehr<br />
stark auch auf den Bereich des Prozessgegenstands ausgewirkt.<br />
Heute haben wir viele gemeinsame strafrechtliche Probleme,<br />
z.B. die organisierte Kriminalität, die Wirtschaftskriminalität,<br />
die Computerkriminalität usw. Sich mit diesen<br />
weltweiten, allgemeinen Problemen auseinanderzusetzen, ist<br />
natürlich eine wichtige Aufgabe der Rechtsvergleichung.<br />
Aber zugleich ist es meiner Meinung nach auch eine wichtige<br />
Aufgabe, sich mit nicht allgemeinen, sondern mehr speziellen<br />
Problemen einzelner Länder auseinanderzusetzen und so das<br />
gegenseitige Verständnis zu vertiefen. Deswegen greife ich<br />
hier ein für Deutschland ziemlich fremdes Thema auf.<br />
Natürlich gibt es bereits wichtige Aufsätze in deutscher<br />
Sprache, die die Eigenschaften des japanischen Strafprozessrechts<br />
vorgestellt haben. Besonders lesenswert sind die Aufsätze<br />
von Herrmann und Hirano 2 aus dem Jahre 1990 3 und<br />
von Itoda 4 aus dem Jahre 1982. 5 Aber ich habe diesen Beiträgen<br />
zwei Bemerkungen hinzuzufügen. Erstens ist es eine Tat-<br />
* Universität Waseda, Tokio, Japan; derzeit Gastforscher am<br />
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales<br />
Strafrecht in Freiburg i.Br. Der Beitrag geht auf einen Vortrag<br />
zurück, den ich am 5. November 2007 vor der Juristischen<br />
Fakultät der Universität Augsburg gehalten habe. Ich<br />
bedanke mich sehr bei Professor em. Dr. Joachim Herrmann<br />
und Professor Dr. Henning Rosenau für die Gelegenheit zu<br />
diesem Vortrag und zu diesem Beitrag. Frau Petra Lehser<br />
vom Max-Planck-Institut möchte ich herzlich für ihre große<br />
sprachliche Unterstützung danken.<br />
1<br />
Vgl. Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung<br />
nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens,<br />
1971.<br />
2<br />
Verstorbener Professor an der Universität Tokio.<br />
3<br />
Vgl. Herrmann, in: Coing u.a. (Hrsg.), Die Japanisierung<br />
des westlichen Rechts – Japanisch-deutsches Symposion in<br />
Tübingen vom 26. bis 28. Juli 1988, 1990, S. 397 ff; Hirano,<br />
in: Coing (a.a.O.), S. 387 ff.<br />
4<br />
Professor em. an der Universität Ritsumeikan in Kyoto.<br />
5<br />
Vgl. Itoda, in: Oehler (Hrsg.), Strafrechtliche und strafprozessuale<br />
Fragen aus dem japanischen Recht, Japanisches Recht,<br />
Bd. 11, 1982, S. 45 ff. Vgl. auch Saeki, in: Oehler (a.a.O.),<br />
S. 71 ff.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
70<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
sache, dass das japanische Parteiprinzip ein klarer Kompromiss<br />
mit der Instruktionsmaxime war. Und zweitens, dass das<br />
so stark abgeänderte Parteiprinzip sich besonders seit den<br />
90er Jahren wieder sehr stark in Richtung angloamerikanisches<br />
Parteiprinzip neigt. Gerade deswegen ist<br />
heute noch das Prozessgegenstandsproblem eine sehr wichtige<br />
Aufgabe in Japan.<br />
II. Die Entstehungsgeschichte der japanischen Strafprozessordnung<br />
1. Der politische Prozess der Gesetzgebung<br />
a) Die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete das Kommando der<br />
Alliierten zunächst die Reform der japanischen Verfassung.<br />
Am 3. November 1946 wurde die neue Japanische Verfassung<br />
verkündet. Das Kommando der Alliierten wurde „General<br />
Headquarters“, kurz GHQ, genannt. Nach Meinung des<br />
GHQ sollte die alte Strafprozessordnung, die 1922 nach dem<br />
Vorbild des deutschen Rechts verkündet worden war, auch<br />
vollständig reformiert werden. Nur diese beiden Gesetze<br />
wurden nach dem Krieg vollständig reformiert. Die japanische<br />
Seite begann mit der Reformarbeit im August 1946.<br />
Aber ihr Entwurf entsprach in wesentlichen Punkten nicht<br />
den Vorstellungen des GHQ. Deshalb wurde ein besonderer<br />
Beratungsausschuss eingesetzt.<br />
Die förmlichen Ausschussmitglieder bestanden aus vier<br />
amerikanischen und elf japanischen Juristen. Außerdem gab<br />
es je 15 bis 20 nicht förmliche Mitglieder. Unter den japanischen<br />
förmlichen Mitgliedern waren neben den Praktikern<br />
auch zwei Universitätsprofessoren: Professor Dr. Shigemitsu<br />
Dando von der Universität Tokio und Professor Dr. Kinsaku<br />
Saito von der Universität Waseda. Wir wissen heute über den<br />
Gesetzgebungsprozess genau Bescheid. Das ist der Tatsache<br />
zu verdanken, dass Professor Dando viele Dokumente hinterlassen<br />
und in seinem Buch auch interne Verhältnisse beschrieben<br />
hat. 6<br />
Es gibt eine interessante Episode. Am Anfang waren die<br />
amerikanischen Kommissionsmitglieder nur Juristen, die<br />
nicht genügend Kenntnisse vom deutschen Recht hatten.<br />
Daher konnten sie mit den japanischen Juristen, die bis dahin<br />
hauptsächlich die deutsche Strafprozessrechtswissenschaft<br />
studiert hatten, keine hinreichend ineinandergreifende Diskussion<br />
führen. Deswegen hat das GHQ Dr. Alfred C. Oppler<br />
in den Ausschuss geschickt. Er war Deutscher, ehemals Richter<br />
am Bundesverwaltungsgericht in Berlin und von den Nationalsozialisten<br />
in die USA vertrieben worden. In der Folge<br />
kam es zu einer heftigen Diskussion zwischen den amerikanischen<br />
und den japanischen Juristen.<br />
Der verstorbene Professor Saito war mein Doktorvater.<br />
Daher konnte ich unmittelbar von ihm viel darüber erfahren.<br />
Und es gibt noch eine weitere, sehr interessante Episode.<br />
Wenn die japanische Seite kurz davor war, über die amerika-<br />
6<br />
Vgl. Dando, Waga Kokoro no Tabiji [Mein innerer Weg],<br />
1987, S. 110 ff. (auf Japanisch).
Der Prozessgegenstand im japanischen Strafprozessrecht<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
nische Seite zu siegen, sagte die amerikanische Seite: „Ja, wir<br />
haben die japanischen Meinungen verstanden. Also schicken<br />
wir die zwei Meinungen zu dem Kommandeur Douglas Mac-<br />
Arthur, damit dieser entscheidet.“ Das war ein gefährliches<br />
Zeichen, weil es damals klar war, dass MacArthur keinesfalls<br />
die japanische, sondern immer die amerikanische Meinung<br />
annehmen würde. Wenn also klar wurde, dass die japanische<br />
Seite sich fast durchsetzen konnte, musste sie einen Kompromiss<br />
vorschlagen, der den Mittelweg beider Meinungen<br />
ging. 7<br />
b) Die Aufnahme des Begriffs „Count“ (Klagegrund)<br />
Die Aufnahme des Begriffs des Klagegrundes war schon<br />
politisch unentbehrlich. Aber die Auffassung der Japaner<br />
hinsichtlich der Möglichkeit der Verhandlung innerhalb der<br />
Tatidentität war auch überzeugend. Ein Kompromiss war das<br />
Klagegrundänderungssystem. Ich zitiere hier eine Diskussion<br />
über die Klagegrundänderung im Mai 1948. 8<br />
Die Amerikaner sagten: Der Zweck der Anklageschrift<br />
besteht in der Verteidigung des Angeklagten.<br />
Daraufhin die Japaner: Z.B. lautet die Anklage auf Raub,<br />
aber das Gericht stellt stattdessen eine Erpressung fest und<br />
befiehlt dem Staatsanwalt die Änderung der Anklageschrift<br />
vom Raub zur Erpressung. Wenn der Staatsanwalt dennoch<br />
die Anklageschrift nicht verändert, ist der Angeklagte dann<br />
unschuldig?<br />
Die Amerikaner sagten: Ja, natürlich ist er unschuldig.<br />
Daraufhin die Japaner: Aber es ist eine Tatsache, dass er<br />
jemandem drohte und jemandem etwas wegnahm. Und ein<br />
Raub und eine Erpressung beziehen sich auf denselben Sachverhalt.<br />
Die Amerikaner: Deswegen gibt der vorsichtige Staatsanwalt<br />
beide Klagegründe an. Es handelt sich nicht um eine<br />
Tatsache, sondern nur um einen Klagegrund.<br />
Nach der amerikanischen Auffassung wurde der Angeklagte<br />
nicht wegen der Erpressung, die nicht in der Anklageschrift<br />
stand, angeklagt. Sie kannten den Begriff der Tatidentität<br />
nicht. Um wegen Erpressung zu verurteilen, war ein<br />
Kompromiss nötig, nämlich ein System zur Änderung der<br />
Anklageschrift.<br />
Nach solchen Diskussionen wurde der Entwurf am 10. Juli<br />
1948 im Parlament verabschiedet und trat am 1. Januar<br />
1949 in Kraft. Vielleicht war es nur in dieser besonderen<br />
politischen Situation möglich, dass ein gemischtes Rechtssystem<br />
aus dem amerikanischen und dem deutschen Strafprozessrecht<br />
entworfen worden ist.<br />
7<br />
Aber zugleich sollte nicht übersehen werden, dass Oppler<br />
damals aus der Erinnerung berichtete: „Wir mussten uns dazu<br />
ermahnen, dem kontinental-europäischen japanischen Rechtssystem<br />
das Wohl des angelsächsischen Rechtssystems nicht<br />
aufzunötigen“, Jurist 551 (1974), 70 (auf Japanisch).<br />
8<br />
Vgl. Matsuo, Keijihougaku no Chihei (Collection of Essays<br />
on Criminal Justice: An Academic Lawyer’s Perspective),<br />
2006, S. 122 ff. (auf Japanisch).<br />
2. Die neuen Vorschriften über den Prozessgegenstand<br />
a) Die genauere Beschreibung des Klagegrundes<br />
In der Anklageschrift wird die Tatsache der öffentlichen<br />
Anklage dargestellt (§ 256 Abs. 2b jap. StPO). Den Begriff<br />
„Tatsache der öffentlichen Anklage“ könnte man anders<br />
ausdrücken als „die Tatsache an sich“, oder wenn ich den<br />
deutschen Begriff benutze, als „konkretes Vorkommnis“.<br />
Wie man diese Tatsache beschreiben soll, zeigt Absatz 3 sehr<br />
ausführlich. Danach muss „bei der Darstellung der Tatsache<br />
der öffentlichen Anklage der Klagegrund deutlich werden“.<br />
Das Wort „Klagegrund“ bedeutet auf Englisch „Count“.<br />
Dieser Paragraph gehörte zu einem der schwierigsten Paragraphen<br />
der japanischen Strafprozessordnung. Warum man in<br />
der Anklageschrift den Klagegrund klar beschreiben muss,<br />
warum die Tatsache an sich nicht ausreicht, werde ich später<br />
ausführen.<br />
b) Die Veränderung des Klagegrundes<br />
Wenn in der Hauptverhandlung eine neue Tatsache bekannt<br />
geworden ist, gibt es zwei Möglichkeiten. Einerseits kann der<br />
Richter im Hinblick auf den ursprünglichen Klagegrund<br />
freisprechen. Der Staatsanwalt kann sodann eine neue Anklage<br />
erheben, ähnlich wie im anglo-amerikanischen Rechtssystem.<br />
Andererseits kann der Staatsanwalt den alten Klagegrund<br />
in einen neuen verändern und der Richter kann darüber<br />
urteilen. Japan hat dieses System übernommen. § 312 Abs. 1<br />
jap. StPO besagt: „Das Gericht muss, wenn die Staatsanwaltschaft<br />
dies beantragt und soweit die Identität der Tatsache<br />
nicht berührt wird, Nachträge, Rücknahmen, Änderungen des<br />
Klagegrundes oder der Strafvorschriften, die in der Anklageschrift<br />
genannt werden, zulassen.“<br />
Das war ganz anders, als es das System im angloamerikanischen<br />
Recht und auch im deutschen Recht vorsieht,<br />
weil jenes in der Regel die Änderung des Klagegrundes und<br />
dieses den Begriff des Klagegrundes nicht anerkannte. Man<br />
könnte sagen, es liegt gerade in der Mitte zwischen beiden<br />
Systemen. Für den sogenannten Mittelweg oder den Kompromiss<br />
eröffnen sich zwei Möglichkeiten, eine einfache<br />
Zusammenfügung oder eine konsequente Vereinigung von<br />
zwei Systemen. Die strafprozessrechtswissenschaftliche<br />
Geschichte nach dem Krieg war geprägt von den starken<br />
Bemühungen, diese grundsätzlich unterschiedlichen Systeme<br />
zu vereinigen.<br />
III. Die Einbürgerung des Begriffs „Count“ in Japan<br />
1. Tatsachen-Theorie vs. Count-Theorie<br />
a) Der Streit der Auslegung<br />
Die traditionelle Auffassung vom Prozessgegenstand, die<br />
ähnlich wie die der deutschen Lehre war, behauptete, der<br />
Klagegrund sei nicht der Prozessgegenstand, sondern nur ein<br />
Begriff für den Schutz des Angeklagten.<br />
Der Prozessgegenstand solle auch im neuen Strafprozessrecht<br />
die Tatsache an sich sein. Deswegen ändere das Gericht<br />
nicht den Prozessgegenstand, wenn es den Angeklagten ohne<br />
ein Klagegrundänderungsverfahren wegen eines anderen als<br />
des ursprünglichen Klagegrundes verurteilte. Der Fehler, dass<br />
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Morikazu Taguchi<br />
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das von § 312 jap. StPO geforderte Verfahren nicht durchgeführt<br />
wird, sei nicht ein absoluter, sondern nur ein relativer<br />
Grund für die Aufhebung des Urteils. Dagegen behauptete<br />
die neue Auffassung, der Klagegrund solle jetzt der Prozessgegenstand<br />
im neuen Strafprozessrecht sein. Deswegen ändere<br />
das Gericht den Prozessgegenstand, wenn es den Angeklagten<br />
wegen eines anderen als des ursprünglichen Klagegrundes<br />
ohne ein Klagegrundänderungsverfahren verurteilte.<br />
Das Urteil müsse deshalb aufgehoben werden.<br />
Die erste Auffassung kann man die Tatsachen-Theorie 9 ,<br />
die zweite die Count-Theorie 10 nennen. Beide Auffassungen<br />
waren als Auslegung der geltenden Strafprozessordnung<br />
theoretisch möglich, und jede hatte aber andere Grundlagen<br />
hinsichtlich der rechtspolitischen Prinzipien: die Instruktionsmaxime<br />
oder das Parteiprinzip. Dieser Gegensatz war der<br />
grundlegende Streitpunkt in der Strafprozessrechtswissenschaft<br />
nach dem Krieg.<br />
b) Der Triumph der Count-Theorie<br />
Der Streit endete mit dem Triumph der Count-Theorie. Die<br />
Gründe dafür lagen hauptsächlich im Opportunitätsprinzip 11<br />
und dem sogenannten „Prinzip der Anklageschrift allein“.<br />
Hier möchte ich insbesondere das Letztere erklären.<br />
Nach der alten Strafprozessordnung konnte der Staatsanwalt<br />
alle Protokolle mit der Anklageschrift an das Gericht<br />
schicken. Der Richter konnte diese Protokolle vor der Hauptverhandlung<br />
prüfen und am Anfang der Hauptverhandlung<br />
den Angeklagten vernehmen. Nach dem Parteiprinzip besteht<br />
jedoch die Gefahr, dass der Richter mit einem Vorurteil die<br />
Hauptverhandlung leitet, weil der Verdacht des Staatsanwaltes<br />
aufgrund der Aktenkenntnis übernommen wird. Daher<br />
besagt § 256 Abs. 6 jap. StPO: „Der Anklageschrift dürfen<br />
weder Schriftstücke noch andere Gegenstände beigefügt<br />
werden; ebenfalls darf der <strong>Inhalt</strong> von Schriftstücken nicht<br />
zitiert werden, wenn zu befürchten ist, dass das Gericht dadurch<br />
im Voraus in Bezug auf den Fall beeinflusst wird.“<br />
Dies wird „Prinzip der Anklageschrift allein“ genannt. 12 Das<br />
ist ein ziemlich seltsamer Begriff. Es bedeutet, dass der<br />
Staatsanwalt nur eine Anklageschrift an das Gericht schicken<br />
darf.<br />
9 Z.B. Dando, Keijisoshouho-koyo [Grundriss des Strafprozessrechts],<br />
7. Aufl. 1967, S. 204 (auf Japanisch); ders., Japanese<br />
Criminal Procedure, übersetzt von George Jr., 1965,<br />
S. 173 (auf Englisch); Saito, Keijisoshouho [Strafprozessrecht],<br />
Bd. 1, 1961, S. 100 f. (auf Japanisch).<br />
10 Z.B. Hirano, Keijisoshouho [Strafprozessrecht], 1958,<br />
S. 131 ff. (auf Japanisch); Matsuo, Keijisoshouho [Strafprozessrecht],<br />
Bd. 1, 2. Aufl. 1999, S. 172 ff. (auf Japanisch);<br />
Tamiya, Keijisoshouho [Strafprozessrecht], 2. Aufl. 1996,<br />
S. 185 ff. (auf Japanisch).<br />
11 Seit der im Jahr 1880 verkündeten ersten japanischen StPO<br />
ist Japan – anders als Deutschland – immer dem Opportunitätsprinzip<br />
gefolgt (vgl. § 248 jap. StPO im geltenden Gesetz).<br />
Über die Besonderheiten des japanischen Opportunitätsprinzips<br />
vgl. Herrmann (Fn. 3), S. 413 f.<br />
12 Vgl. Hirano (Fn. 3), S. 392; Saeki (Fn. 5).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
72<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
Der Staatsanwalt kann weder Beweise noch eine Liste der<br />
Beweise mit der Anklageschrift beim Gericht einreichen.<br />
Infolgedessen kennt der Richter vor der Hauptverhandlung<br />
Einzelheiten des Verbrechens nur, soweit er sie dem <strong>Inhalt</strong><br />
der Anklageschrift entnehmen kann. Der Richter darf die<br />
Verhandlung nur anhand der Anklageschrift führen. Die<br />
Beweisanträge werden also zuerst durch die Parteien gestellt,<br />
und die Zeugenbefragung wird auch zuerst im Kreuzverhör<br />
durchgeführt. 13 Das ist ein Kernbereich des Parteiprozesses.<br />
Der Grund für dieses System liegt hauptsächlich in dem Gebot,<br />
die Neutralität des Richters zu wahren.<br />
Jedenfalls ist der Richter an den Klagegrund in der Anklageschrift<br />
gebunden. Das wird „die Bindungskraft des<br />
Klagegrundes“ genannt. Aber im Gesetz bleibt noch der<br />
Begriff der „Tatsache“ oder der „Tatidentität“. Nach der<br />
Auslegung der Count-Theorie soll der Begriff der Tatsache<br />
nur der Begrenzung der Änderung des Klagegrundes dienen<br />
und ist nicht Prozessgegenstand. Insofern blieb der Begriff<br />
der Tatsache oder der Tatidentität auch in der Count-Theorie<br />
bestehen. Die Grenze der Tatidentität ist identisch mit der der<br />
Tatsachen-Theorie. Die Begründung dafür besteht aber nicht<br />
in der Prozessgegenstandslehre, sondern in der gleichzeitigen<br />
Verfolgungsmöglichkeit der Tatsachen an sich durch den<br />
Staatsanwalt. 14<br />
2. Die Entscheidungen<br />
a) Die Notwendigkeit der Veränderung des Klagegrundes<br />
Es besteht heute kein Zweifel daran, dass der Japanische<br />
Höchste Gerichtshof die Count-Theorie anerkannt hat. Aber<br />
hier stellt sich das Problem, was „die neue Tatsache“ bedeutet.<br />
Es ist klar, dass die unwesentlich veränderte neue Tatsache,<br />
z.B. dass 101 Euro anstatt 100 Euro gestohlen wurden,<br />
keine neue Tatsache in diesem Sinne ist. Man kann es ein<br />
Problem „der Identität des Klagegrundes“ nennen. Nach der<br />
herrschenden Meinung und aufgrund gerichtlicher Entscheidungen<br />
hängt die Frage, ob eine „neue Tatsache“ gegeben ist,<br />
nicht davon ab, wie groß der Unterschied zwischen den Tatsachen<br />
ist, sondern wie stark die Verteidigung des Angeklagten<br />
dadurch beeinflusst wird. 15<br />
13<br />
Nach dem Gesetz sind die Beweiserhebung und die Zeugenprüfung<br />
von Amts wegen auch möglich (§§ 298 Abs. 2,<br />
304 Abs. 1 jap. StPO), aber sie bilden unter der Herrschaft<br />
des Parteiprinzips nur die Ausnahme.<br />
14<br />
Die objektive Grenze für die Änderung des Klagegrundes<br />
und für die Rechtskraft (ne bis in idem) stimmt überein, und<br />
zwar wird letztere vom sogenannten „double jeopardy“-<br />
Prinzip ähnlich wie im anglo-amerikanischen Recht bestimmt.<br />
15<br />
Nach den Entscheidungen und der h.M. soll der Grad der<br />
Beeinflussung danach bemessen werden, ob allgemein die<br />
Möglichkeit besteht, dass der Angeklagte benachteiligt wird,<br />
nicht, ob es einen konkreten Nachteil gibt.
Der Prozessgegenstand im japanischen Strafprozessrecht<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
b) Die Anordnung der Veränderung des Klagegrundes von<br />
Amts wegen<br />
Es gibt noch ein wichtiges Problem. § 312 Abs. 2 jap. StPO<br />
besagt: „Das Gericht kann Nachträge oder Änderungen des<br />
Klagegrundes oder der Strafvorschriften anordnen, wenn es<br />
dies im Hinblick auf den Verlauf der Verhandlung für angemessen<br />
hält.“ Nach dieser Vorschrift kann das Gericht dem<br />
Staatsanwalt aufgeben, dass er den alten Klagegrund in den<br />
neuen Klagegrund ändert. Aber diese Auslegung steht im<br />
Widerspruch zu dem Verständnis des Prozessgegenstandes<br />
der Count-Theorie.<br />
Deswegen hat der Höchste Gerichtshof zwei Entscheidungen<br />
gefällt. Ich berichte kurz den Sachverhalt der ersten<br />
Entscheidung. Der Angeklagte stritt mit einem Mann in einer<br />
Gaststätte. Er bedrohte ihn mit einem geladenen Jagdgewehr.<br />
Die Frau des Angeklagten wollte ihn aufhalten. Als er seine<br />
Frau zur Seite schieben wollte und sich bewegte, erschoss er<br />
den anderen Mann in der Gaststätte. Der Verletzte war tot.<br />
Der Staatsanwalt klagte den Mann wegen vorsätzlicher Tötung<br />
an und wollte den Klagegrund nicht in den der fahrlässigen<br />
Tötung ändern. Die erste Instanz sprach den Angeklagten<br />
frei.<br />
In dieser Situation entschied der Höchste Gerichtshof, das<br />
Gericht habe in der Regel keine Pflicht zur Anordnung der<br />
Klagegrundänderung, auch wenn die Möglichkeit, dass eine<br />
neue Tatsache bewiesen wird, hoch einzuschätzen sei. Aber<br />
ausnahmsweise müsse es die Klagegrundänderung dem<br />
Staatsanwalt gegenüber anordnen, wenn die neue Tatsache<br />
schwer und die Beweise eindeutig seien. In diesem besonderen<br />
Fall musste das Gericht dem Staatsanwalt also die Klagegrundänderung<br />
aufgeben. 16<br />
Es gibt noch eine wichtige Entscheidung. Wenn der<br />
Staatsanwalt trotz der Anordnung des Gerichts den Klagegrund<br />
nicht ändert, bleibt der alte Klagegrund weiter bestehen.<br />
Mit anderen Worten, die Anordnung des Gerichts hat<br />
keine Gestaltungskraft. 17 Die Aufstellung des Prozessgegenstandes<br />
ist demgemäß ausschließlich eine Aufgabe des<br />
Staatsanwaltes, nicht des Richters.<br />
IV. Die neue Entwicklung der Frage des Prozessgegenstandes<br />
1. Die Veränderung der „Issues“ (Streitpunkte)<br />
In der Frage des Prozessgegenstandes zeigt sich heute in<br />
Japan noch eine weitere Entwicklung. Ein Anzeichen dafür<br />
gab es schon in einer Entscheidung des Höchsten Gerichtshofes<br />
im Jahre 1983.<br />
Der Staatsanwalt behauptete, die Verschwörung für ein<br />
Verbrechen habe „zwischen dem 12. März und dem<br />
14. März“ stattgefunden. Aber der Streitpunkt in der Hauptverhandlung<br />
war nur, ob die Verschwörung „am 13. März“<br />
stattfand. Der Angeklagte behauptete, ein Alibi für diesen<br />
16<br />
Beschluss vom Höchsten Gerichtshof vom 12.12.1968,<br />
Keishu 22-12-1352 (auf Japanisch).<br />
17<br />
Urteil vom Höchsten Gerichtshof vom 28.4.1965, Keishu<br />
19-3-270 (auf Japanisch). Infolgedessen wird das Gericht den<br />
Angeklagten wegen des alten Klagegrundes freisprechen.<br />
Zeitpunkt zu haben. Die erste Instanz indes stellte plötzlich<br />
eine Verschwörung „am 12. März“ im Urteil fest und verurteilte<br />
ihn entsprechend. Der Höchste Gerichtshof sagte, das<br />
sei eine unzulässige Überraschung für den Angeklagten und<br />
deshalb rechtswidrig. Wenn das Gericht eine Verschwörung<br />
„am 12. März“ feststellen wolle, müsse es ein Verfahren zur<br />
Änderung des Streitpunktes durchführen. 18<br />
Aufgrund dieser Entscheidung ist der Richter nicht nur an<br />
den Klagegrund, sondern auch an die konkreten Streitpunkte<br />
in der Hauptverhandlung gebunden. Das Prinzip des Klagegrundes<br />
wird hier in Wirklichkeit noch weiter ausgedehnt.<br />
Dieser Standpunkt des Höchsten Gerichtshofes wurde später<br />
mit einer Entscheidung aus dem Jahr 2001 bestätigt. 19<br />
2. Das neue Vorbereitungsverfahren für die Streitpunkte und<br />
die Beweise vor der Hauptverhandlung seit 2005<br />
Der Standpunkt, auf die Streitpunkte großes Gewicht zu<br />
legen, wurde von der neuen Reform der Strafprozessordnung<br />
aus dem Jahre 2004 noch verstärkt. Das neu eingeführte Laienrichtersystem<br />
beginnt ab 2009. Um die Hauptverhandlung<br />
vor dem Laienrichtergericht reibungslos zu vollziehen, wurde<br />
ein neues Vorbereitungsverfahren in die Strafprozessordnung<br />
aufgenommen. Es wird „das Ordnungsverfahren vor der<br />
Hauptverhandlung“ genannt. Diese neue Strafprozessordnung<br />
trat im Jahre 2005 in Kraft. 20<br />
Nach dem neuen Gesetz können die Parteien in der Regel<br />
in der Hauptverhandlung keine anderen Streitpunkte mehr<br />
vortragen als die, die im Vorbereitungsverfahren bestimmt<br />
worden sind. Natürlich ist der Richter auch an diese Streitpunkte<br />
gebunden. Man dachte, je klarer und konkreter der<br />
Prozessgegenstand bestimmt ist, desto leichter kann der Laienrichter<br />
den <strong>Inhalt</strong> der Hauptverhandlung verstehen und<br />
auch die Hauptverhandlungsdauer verkürzt werden. Aber<br />
dafür muss besonders der Verteidiger des Angeklagten im<br />
Vorbereitungsverfahren sehr sorgfältig die Streitpunkte be-<br />
stimmen. Die Aufgabe des Verteidigers ist enorm wichtig<br />
geworden. 2004 wurde auch das Verteidigungssystem sehr<br />
weitreichend verbessert. 21<br />
18<br />
Urteil vom Höchsten Gerichtshof vom 13.12.1983, Keishu<br />
37-10-1581 (auf Japanisch).<br />
19<br />
Beschluss vom Höchsten Gerichtshof vom 11.4.2001,<br />
Keishu 55-3-127 (auf Japanisch).<br />
20<br />
Vgl. The Justice System Reform Council (Hrsg.), Recommendations<br />
of the Justice System Reform Council – For a<br />
Justice System to Support Japan in the 21st Century –, 2001,<br />
p. 31 (“A new preparatory procedure presided over by the<br />
court should be introduced in order to sort out the contested<br />
issues and to establish a clear plan for the proceedings in<br />
advance of the first trial date.”); http://www.kantei.go.jp/<br />
foreign/judiciary/2001/0612report. html.<br />
21<br />
Z.B. wurde das neue Pflichtverteidigungssystem im Ermittlungsverfahren<br />
eingeführt.<br />
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3. Das neue Laienrichtergericht ab 2009<br />
Wie schon erwähnt, ist das neue Laienrichtergesetz im Jahre<br />
2004 erlassen worden; es wird ab 2009 in Kraft treten. 22 Das<br />
Laiengericht besteht aus drei Berufsrichtern und sechs Laienrichtern<br />
(oder bei leichteren Fällen einem Berufsrichter und<br />
vier Laienrichtern). Im neuen System werden die Laien nur<br />
für eine Strafsache gewählt, ähnlich wie im angloamerikanischen<br />
Schwurgerichtssystem. Es gibt keine Amtsdauer<br />
des Laienrichters. Aber sie können an der Verhandlung<br />
nicht nur bei der Schuldfrage, sondern auch bei der Frage der<br />
Strafzumessung teilnehmen, ganz ähnlich wie im deutschen<br />
Schöffengerichtssystem. 23<br />
Da es das Laiengericht heute noch nicht gibt, kann ich<br />
hier natürlich nur meine Vermutung über seine Funktionsweise<br />
äußern. Wie ich bereits erwähnte, hat der japanische<br />
Laienrichter keine Amtsdauer, er beschäftigt sich immer nur<br />
mit einer Strafsache. Der deutsche Schöffe beschäftigt sich<br />
mit den Strafsachen vier oder fünf Jahre lang. Daher hat er<br />
die Möglichkeit, dass er mit den Strafverfahren etwas vertraut<br />
wird. Weil der japanische Laienrichter dagegen immer ein<br />
reiner Laie bleibt, gibt es ein starkes Verlangen, dass der<br />
Prozessgegenstand und die Streitpunkte immer gleich und<br />
klar bleiben sollen 24 . Erst dann, wenn die Laienrichter den<br />
Prozessgegenstand ausreichend verstehen können, können sie<br />
die Vorgänge der Hauptverhandlung verstehen und ihre Aufgabe<br />
als Laienrichter erfüllen. Dass der <strong>Inhalt</strong> der Hauptverhandlung<br />
verständlich für die Laienrichter wird, bedeutet<br />
zugleich, dass er auch verständlich für den Angeklagten wird.<br />
Das ist meiner Meinung nach der wichtigste Effekt des Laienrichtersystems.<br />
Im Laiengericht wird also die Bedeutung des Klagegrundes<br />
und der Streitpunkte noch größer und es wird nicht nur<br />
aus dogmatischen, sondern auch aus praktischen Gründen<br />
wichtiger, dass eine neue Tatsache oder neue Streitpunkte<br />
nicht erst in der Hauptverhandlung aufgedeckt werden. Aufgrund<br />
dieser neuen Entwicklungstendenz wird sich meiner<br />
Ansicht nach das Verständnis des Prozessgegenstandes noch<br />
22<br />
Gesetz über die Teilnahme der Saiban-in [Laienrichter] an<br />
der strafprozessualen Hauptverhandlung, 2004. Vgl. The<br />
Justice System Reform Council (Fn. 20), p. 69 (“Through<br />
having the people participate in the trial process, and through<br />
having the sound common sense of the public reflected more<br />
directly in trial decisions, the people’s understanding and<br />
support of the justice system will deepen and it will be possible<br />
for the justice system to achieve a firmer popular base.”).<br />
23<br />
Bei der Abstimmung haben die Laien das gleiche Stimmrecht<br />
wie die Berufsrichter. Allein mit einer Mehrheit Seitens<br />
der Laien kann der Angeklagte aber nicht verurteilt werden.<br />
Das Mehrheitsprinzip soll nur dann wirksam sein, wenn die<br />
Stimmen der Berufsrichter zusammen mit den Stimmen der<br />
Laien eine Mehrheit ergeben.<br />
24<br />
Bezüglich der Beweisaufnahme werden auch das Mündlichkeitsprinzip<br />
und das Unmittelbarkeitsprinzip gestärkt. Die<br />
Praxis, die Protokolle der Ermittlungsorgane als Ausnahme<br />
vom Prinzip des Verbots des Beweises vom Hörensagen in<br />
der Hauptverhandlung zuzulassen, wird sich von nun an nicht<br />
mehr harmonisch mit diesen Prinzipien vereinbaren lassen.<br />
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weiter in Richtung der Count-Theorie, also nach dem Parteiprinzip<br />
hin verschieben.<br />
V. Schluss<br />
Der Strom des Prozessgegenstandes fließt von der Tatsache<br />
an sich über den Klagegrund in Richtung des Streitpunkts,<br />
und er wird nicht mehr zurückfließen können. Die Bedeutung<br />
dieses Stroms ist, dass die Zuständigkeit für die Festlegung<br />
des Prozessgegenstandes sich vom Richter zu den Parteien,<br />
besonders zum Staatsanwalt und Verteidiger, verschiebt. Das<br />
bedeutet auch, dass die Aufgaben der Parteien in der Strafjustiz<br />
wichtiger werden. Bis heute spielte hauptsächlich der<br />
Richter die zentrale Rolle, auch wenn die Count-Theorie die<br />
herrschende Meinung geworden ist. Aber von nun an werden<br />
die Parteien eine sehr wichtige Rolle spielen müssen, nicht<br />
nur im theoretischen, sondern auch im praktischen Sinne.<br />
Auf der verlängerten Gerade liegt das Problem, ob der<br />
Angeklagte ein Schuldanerkenntnis („guilty plea“) abgeben<br />
kann, wie es im anglo-amerikanischen Recht der Fall ist. 25<br />
Obwohl das in Japan umstritten ist, stehe ich dem positiv<br />
gegenüber. Aber ich vertrete leider noch die Meinung der<br />
Minderheit. 26 Natürlich halte ich auch das amerikanische<br />
Schuldantwortsystem („arraignment“) infolge der Verhandlung<br />
nur unter den Parteien („plea bargaining“) nicht für gut.<br />
Ein mit einer Art von Wahrheitsprinzip übereinstimmendes<br />
Schuldantwortsystem, also ein etwa nach dem kontinentaleuropäischen<br />
Recht verbessertes System, ist meiner Meinung<br />
nach wünschenswert.<br />
In dieser Hinsicht ist die Absprache-Praxis in Deutschland<br />
sehr interessant. Ob das Wesen der Absprache eine Verständigung<br />
zwischen den Parteien oder eine Anerkennung des<br />
Geständnisses des Angeklagten durch das Gericht ist, ist<br />
besonders interessant. 27 Ich möchte meine Aufmerksamkeit<br />
aus rechtsvergleichender Sicht auch darauf richten, ob der<br />
deutsche Gesetzgeber in Zukunft jedenfalls die Absprache<br />
gesetzlich regeln wird, wozu der Große Senat des Bundesgerichtshofes<br />
„appelliert“ hat. 28<br />
Allerdings ist die rechtliche Situation in Japan sehr flexibel.<br />
Es gibt viele Elemente, die in Bewegung geraten sind,<br />
z.B. das neue Laienrichtersystem 29 , das neue Vorbereitungs-<br />
25<br />
Das ist natürlich eine Diskussion für die Gesetzgebung,<br />
weil § 319 Abs. 2 StPO bestimmt, dass der Angeklagte in<br />
keinem Fall allein aufgrund seines Geständnisses verurteilt<br />
werden darf.<br />
26<br />
Vgl. Taguchi, Keijisoshoho [Strafprozessrecht], 4. Aufl.<br />
2006, S. 32 (auf Japanisch); ders., Keijisosho no mokuteki<br />
[Der Zweck des Strafprozesses], 2007, S. 1 ff., 21 ff. (auf<br />
Japanisch). Positiv auch Tamiya (Fn. 10), S. 409. Die traditionelle<br />
Lehre (z.B. Dando, Jurist 930 [1989], 5 [auf Japanisch])<br />
verneint dies hingegen ausdrücklich. Der Standpunkt<br />
der h.M. ist nicht eindeutig.<br />
27<br />
Vgl. z.B. Meyer-Goßner, NStZ 2007, 425.<br />
28<br />
Vgl. BGHSt 50, 40 (64).<br />
29<br />
Z.B. ist nach einer Meinungsumfrage vom Amt des Kabinetts<br />
im Dezember 2006 die Antwort des Volkes: ich möchte<br />
am Strafgericht teilnehmen (20,8%); wenn es möglich ist,<br />
möchte ich nicht teilnehmen, aber wenn dies meine Pflicht
Der Prozessgegenstand im japanischen Strafprozessrecht<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
system und das neue Verteidigungssystem usw. Am Anfang<br />
meines Beitrags habe ich gesagt, das Strafprozessrecht sei<br />
immer ein politisches Produkt. Ob sich die Prozessgegenstandslehre<br />
in Japan in Zukunft wandeln wird, wie ich hier<br />
geschrieben habe, hängt letztendlich davon ab, ob das japanische<br />
Volk sich von seiner traditionell starken Abhängigkeit<br />
vom Staat befreien kann. 30 Japan befindet sich heute in einer<br />
Zeit der Prüfung seit der großen Reform nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg. Ich hoffe, es wird nicht mein Traum bleiben, dass<br />
Japan diese Prüfung bestehen kann, auch wenn dafür sicherlich<br />
mehr Zeit erforderlich sein wird.<br />
VI. Anhang<br />
Japanische Strafprozessordnung (Auszug)<br />
§ 256 StPO (Anklageschrift)<br />
(1) Die Erhebung der öffentlichen Anklage erfolgt durch<br />
Einreichen der Anklageschrift.<br />
(2) Die Anklageschrift muss folgende Einzelheiten enthalten:<br />
(a) den Namen des Angeklagten und hinreichende Merkmale,<br />
um den Angeklagten zu identifizieren,<br />
(b) die Tatsache der öffentlichen Anklage,<br />
(c) die gesetzliche Bezeichnung der Straftat.<br />
(3) Bei der Darstellung der Tatsache der öffentlichen Anklage<br />
muss der Klagegrund deutlich werden. Zur Klarstellung<br />
des Klagegrundes ist der Straftatbestand nach Zeit, Ort und<br />
Tathergang soweit wie möglich zu bestimmen.<br />
(4) Die strafbare Handlung muss durch Angabe der anzuwendenden<br />
Gesetzesvorschriften erfolgen. Ein Irrtum in<br />
der Angabe der anzuwendenden Gesetzesvorschriften berührt<br />
die Wirksamkeit der Anklage nicht, es sei denn, dass daraus<br />
ein erheblicher Nachteil für die Verteidigung des Angeklagten<br />
entstehen könnte.<br />
(5) Mehrere Klagegründe und mehrere Strafvorschriften<br />
können eventualiter oder kumulativ dargestellt werden.<br />
(6) Der Anklageschrift dürfen weder Schriftstücke noch<br />
andere Gegenstände beigefügt werden; ebenfalls darf der<br />
<strong>Inhalt</strong> von Schriftstücken nicht zitiert werden, wenn zu befürchten<br />
ist, dass das Gericht dadurch im Voraus in Bezug<br />
auf den Fall beeinflusst wird.<br />
§ 312 StPO (Änderungen der Anklageschrift)<br />
(1) Das Gericht muss, wenn die Staatsanwaltschaft dies<br />
beantragt und soweit die Identität der Tatsache nicht berührt<br />
wird, Nachträge, Rücknahmen, Änderungen des Klagegrundes<br />
oder der Strafvorschriften, die in der Anklageschrift genannt<br />
werden, zulassen.<br />
(2) Das Gericht kann Nachträge oder Änderungen des<br />
Klagegrundes oder der Strafvorschriften anordnen, wenn es<br />
ist, muss ich teilnehmen (44,5%); auch wenn es meine Pflicht<br />
ist, möchte ich nicht teilnehmen (33,6%). Nach dieser Untersuchung<br />
ist die Haltung des Volkes zur Teilnahme an der<br />
Strafjustiz noch nicht positiv.<br />
30<br />
Hirano (Fn. 3), S. 394, hat geschrieben: „Die Japaner bringen<br />
der staatlichen Autorität mehr Vertrauen entgegen als<br />
andere Völker.“<br />
dies im Hinblick auf den Verlauf der Verhandlung für angemessen<br />
hält.<br />
(3) Das Gericht muss die Angeklagten unverzüglich über<br />
die nachgetragenen, zurückgenommenen oder abgeänderten<br />
Teile in Kenntnis setzen, wenn Nachträge, Rücknahme oder<br />
Änderungen des Klagegrundes oder von Strafvorschriften<br />
erfolgen.<br />
(4) Glaubt das Gericht, befürchten zu müssen, dass Nachträge<br />
oder Änderungen des Klagegrundes oder Strafvorschriften<br />
einen wesentlichen Nachteil für die Verteidigung des<br />
Angeklagten darstellen könnten, so muss es auf Antrag des<br />
Angeklagten oder seines Verteidigers durch Beschluss die<br />
Hauptverhandlung für die Dauer aussetzen, die der Angeklagte<br />
für die Vorbereitung seiner ausreichenden Verteidigung<br />
benötigt.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
75
Strafvollstreckung im Heimatstaat – der geplante EU-Rahmenbeschluss zur transnationalen<br />
Vollstreckung von Freiheitsstrafen<br />
Von Wiss. Assistentin Dr. Christine Morgenstern, Greifswald<br />
I. Einleitung: Das Problem der ausländischen Inhaftierten<br />
in europäischen Gefängnissen<br />
In europäischen Gefängnissen sitzen viele Ausländer ein, in<br />
der Regel sind sie, gemessen an der Bevölkerung, insgesamt<br />
überrepräsentiert. 1 Viele von ihnen stammen aus anderen EU-<br />
Staaten, wobei die Situation in den Mitgliedstaaten ganz<br />
unterschiedlich ist. Genaue Angaben lassen sich nicht machen,<br />
weil viele Staaten EU-Bürger nicht gesondert in Statistiken<br />
ausweisen. In England und Wales 2 sind z.B. gut die<br />
Hälfte aller inhaftierten Ausländer Europäer. In Schweden 3<br />
kommt knapp die Hälfte der ausländischen Gefangenen aus<br />
anderen nordischen Staaten, wohingegen etwa in Spanien die<br />
Mehrzahl der ausländischen Gefangenen keine Europäer<br />
sind. 4 Ausländer, die ihren Lebensmittelpunkt nicht in dem<br />
Staat haben, in dem sie verurteilt wurden und nun inhaftiert<br />
sind, sind im Gefängnis oft isoliert. Besonders problematisch<br />
ist, dass sie nach ihrer Entlassung zumeist abgeschoben werden<br />
– geeignete Resozialisierungsbemühungen, ebenso wie<br />
angemessene Entlassungsvorbereitungen sind kaum möglich.<br />
Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, Ausländer ihre<br />
Strafe in ihrer Heimat verbüßen zu lassen. Während dies<br />
international schwierig sein mag, sollte innerhalb der Europäischen<br />
Union eine solche transnationale Vollstreckung leichter<br />
zu realisieren sein.<br />
So einigte sich der Rat der Justiz- und Innenminister 5 am<br />
15.2.2007 weitgehend auf die Formulierung eines Rahmenbeschlusses<br />
zur Umsetzung des Prinzips der gegenseitigen<br />
Anerkennung von Urteilen in Strafsachen. Dabei soll die EUweite<br />
Vollstreckung derjenigen Urteile, durch die eine freiheitsentziehende<br />
Strafe oder Maßnahme verhängt wird, ermöglicht<br />
bzw. erleichtert werden, wenn bestimmte Voraussetzungen<br />
erfüllt sind. Bislang basierte die Überstellung ausländischer<br />
Gefangener in ihre Heimat innerhalb Europas im<br />
Wesentlichen auf bilateralen Abkommen oder auf dem Übereinkommen<br />
des Europarates über die Überstellung verurteilter<br />
Personen vom 21.3.1983. 6 Das Verfahren wird im Allgemeinen<br />
als kompliziert und langwierig empfunden. Als<br />
1 Van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel, in: dies.<br />
(Hrsg.), Foreigners in European Prisons, 2007, S. 7.<br />
2 Hammond, in: van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/<br />
Dünkel (Fn. 1), S. 823.<br />
3 Johnson, in: van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dün-<br />
kel (Fn. 1), S. 787.<br />
4 De la Cuesta, in: van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/<br />
Dünkel (Fn. 1), S. 758.<br />
5 Pressemitteilung des Bundesjustizministeriums vom<br />
15. Februar 2007, abrufbar unter http://www.bmj.de.<br />
6 Convention on the Transfer of Sentenced Persons, CETS<br />
No. 112. Alle Konventionen des Europarates sind (mit Ratifizierungsstand<br />
und weiteren Erläuterungen) abrufbar unter<br />
http://www.conventions.coe.int.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
76<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
Haupthindernis gilt 7 zum einen das Zustimmungsbedürfnis<br />
des Betroffenen und zum anderen, dass der Heimatstaat zur<br />
Übernahme in der Regel nicht verpflichtet ist. Ein Zusatzprotokoll<br />
zum Übereinkommen von 1997, 8 das die Zustimmung<br />
der inhaftierten Person nicht mehr in allen Fällen für erforderlich<br />
hält, wurde nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert.<br />
Derzeit gilt also für den Regelfall, dass der ausländische<br />
Straftäter, unabhängig ob Bürger der Europäischen Union<br />
oder nicht, die Freiheitsstrafe in dem Staat verbüßt, in dem er<br />
auch verurteilt wurde. 9 Erst danach wird er im Rahmen eines<br />
ausländerrechtlichen Verfahrens in seine Heimat abgeschoben,<br />
wo dies möglich ist. Allerdings ist die tatsächliche Verbüßungszeit<br />
z.B. in Deutschland wegen der folgenden ausländerrechtlichen<br />
Maßnahmen gem. § 456a StPO regelmäßig<br />
kürzer, eine Abschiebung erfolgt teilweise (je nach Verwaltungsvorschriften<br />
der Bundesländer) schon nach Verbüßung<br />
von einem Drittel der Strafe. 10<br />
II. Rechtlicher Hintergrund: Das Prinzip der gegenseitigen<br />
Anerkennung<br />
Alleinige rechtliche Grundlage für die Überstellung ausländischer<br />
Strafgefangener innerhalb der europäischen Union soll<br />
nach dem Willen des Rates der Europäischen Union zukünftig<br />
also der „Rahmenbeschluss betreffend die Anwendung<br />
des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen<br />
in Strafsachen, durch die Haftstrafen oder freiheitsentziehende<br />
Maßnahmen verhängt werden, zum Zweck der Vollstreckung<br />
in der Europäischen Union“ (bzw. dessen nationale<br />
Umsetzungsgesetze) sein. Dieses Titelungetüm ersetzt den<br />
griffigeren, aber umstrittenen ursprünglichen Titel „Europäische<br />
Vollstreckungsanordnung“. 11<br />
Auch obwohl die Europäische Union im Strafrecht grundsätzlich<br />
nicht Recht setzend tätig werden kann, gibt es bekanntlich<br />
in beständig zunehmendem Maße Aktivitäten, die<br />
Auswirkungen auf die Entstehung nationaler strafrechtlich<br />
7<br />
Rat der Europäischen Union, Addendum zur Initiative zum<br />
Rahmenbeschluss vom 22.4.2005, 5597/05 Add. 1; vgl. auch<br />
Lemke, ZRP 2000, 173, und Mix, Die Vollstreckungsübernahme<br />
im Internationalen Strafrecht, 2003, S. 110 f., mit Hinweisen<br />
auf die tatsächlichen Schwierigkeiten, die sich aus<br />
bürokratischen Hindernissen, eklatanten Unterschieden bei<br />
der Strafzumessung und der Strafrestaussetzung ergeben.<br />
8<br />
Additional Protocol to the Convention on the Transfer of<br />
Sentenced Persons, CETS No. 167.<br />
9<br />
Der o.g. Studie zufolge werden Staatsbürger, die in der<br />
Fremde inhaftiert sind, von ihren Heimatstaaten insgesamt<br />
wenig unterstützt; das gilt auch innerhalb der Europäischen<br />
Union, vgl. van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel<br />
(Fn. 1), S. 77.<br />
10<br />
Übersicht bei Schmidt, Verteidigung von Ausländern,<br />
2. Aufl. 2005, S. 199 ff.<br />
11<br />
Vgl. European Parliament, 2006, Position, 1st reading,<br />
14.6.2006, Doc. T6-0256/2006.
Strafvollstreckung im Heimatstaat<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
relevanter Normen haben. 12 Es wird sogar davon gesprochen,<br />
dass sich solche Zentralisierungstendenzen in „atemberaubender<br />
Weise durchgesetzt“ hätten. 13 Dabei ist traditionell<br />
allerdings nur von einer Annäherung der nationalen Strafgesetze<br />
die Rede. Fraglich ist aber, ob das politische Programm<br />
der EU zunehmend durch eigene Rechtsetzungsinitiativen auf<br />
die – nach Brüsseler Auffassung – schleppenden Vereinheitlichungsbemühungen<br />
reagieren will. Aus verschiedenen Dokumenten<br />
der jüngeren Zeit geht hervor, dass man hier mit<br />
den Mitgliedstaaten unzufrieden ist, sei es, dass formuliert<br />
wird: „Es müssen entschiedene Anstrengungen unternommen<br />
werden, um das gegenseitige Verständnis zwischen den Justizbehörden<br />
und den verschiedenen Rechtsordnungen zu<br />
verbessern.“; dass festgestellt wird: „Die justizielle Zusammenarbeit<br />
in Straf- und Zivilsachen könnte durch die Festigung<br />
des gegenseitigen Vertrauens […] noch weiter gestärkt<br />
werden“ 14 oder dass Umsetzungsmängel beim Europäischen<br />
Haftbefehl moniert werden.<br />
Nach dem Vertrag von Maastricht will die Europäische<br />
Union langfristig auf eine Rechtsvereinheitlichung im Strafrecht<br />
zusteuern, um in bestimmten Bereichen (zunächst Organisierte<br />
Kriminalität, Terrorismus, illegalem Drogenhandel,<br />
vgl. Art. 29 Abs. 2 dritter Spiegelstrich EUV und Art. 31e<br />
EUV) wirksame gemeinsame Maßnahmen ergreifen zu können.<br />
Unabhängig also von der Frage, ob Kriminalstrafrecht<br />
durch das Völkerrechtssubjekt EG originär geschaffen werden<br />
kann, wird im Rahmen der sog. Dritten Säule der EU, der<br />
intergouvernementalen „Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit<br />
in Strafsachen (PJZS)“ eine Harmonisierung<br />
(oder auch „Europäisierung“) der Strafvorschriften vorangetrieben.<br />
Das Mittel der Wahl ist dabei der Rahmenbeschluss<br />
nach Art. 34 Abs. 2 S. 2b EUV, der parallel zur Richtlinie der<br />
EG konstruiert ist und bestimmte Mindeststandards zur Verringerung<br />
von Unterschieden zwischen den nationalen Strafrechtsordnungen<br />
setzen soll. Diese Rahmenbeschlüsse sind<br />
für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels<br />
verbindlich, überlassen ihnen aber die Wahl und Form der<br />
Mittel. Rechtsangleichung und Rechtsetzung sind allerdings<br />
nicht mehr immer zu trennen.<br />
Die Minimalfassung der reformierten vertraglichen<br />
Grundlage für die Europäische Union, der sog. Reformvertrag<br />
15 berücksichtigt ein Prinzip bei der Verwirklichung des<br />
Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts besonders:<br />
das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung 16 von gerichtli-<br />
12<br />
Lorenzmeier, <strong>ZIS</strong> 2006, 576.<br />
13<br />
Weigend, ZStW 116 (2004), 275 (282).<br />
14<br />
Beide Zitate aus dem Haager Programm zur Stärkung von<br />
Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union<br />
(2005/C 53/01, 53/11 f.).<br />
15<br />
Nachdem ein Verfassungsvertrag für Europa gescheitert<br />
ist, wird der auf dem EU-Gipfel vom 18./19.10.2007 in Lissabon<br />
beschlossene Reform- (zuvor: Grundlagen-)vertrag<br />
große Teile des Verfassungsentwurfes übernehmen; vgl. zu<br />
den neuen Entwicklungen Rabe, NJW 2007, 3153.<br />
16<br />
Hierzu Gleß, ZStW 116 (2004), 353; Böse, in: Mommsen/<br />
Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2004,<br />
S. 233 ff.; sehr kritisch Schünemann, ZRP 2003, 185.<br />
chen und außergerichtlichen Entscheidungen (Art. I-42 und<br />
Art. III-257 des Verfassungsvertrages vom 29.10.2004 über<br />
die Verfassung der Europäischen Union). Schon jetzt wird<br />
die gegenseitige Anerkennung in Strafsachen (auch wenn das<br />
sprachliche Bild eher verwirrend ist) als „Eckstein“ der dritten<br />
Säule, also der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit<br />
in Strafsachen, bezeichnet. 17 Dieses Prinzip soll die<br />
politische Erklärung von gegenseitigem Vertrauen in das<br />
rechtsstaatliche Zustandekommen von justiziellen Entscheidungen<br />
in allen Mitgliedstaaten der EU konkretisieren. Danach<br />
sollen Entscheidungen der Strafjustiz eines Mitgliedstaats<br />
in allen anderen Mitgliedstaaten der EU gleichermaßen<br />
anerkannt werden. Die Überlegung ist – schlicht formuliert –,<br />
dass das mit dem Beitritt zur EU von den Mitgliedstaaten<br />
untereinander gezeigte Vertrauen eine ausreichende Grundlage<br />
für eine solche gegenseitige Anerkennung, also der Verkehrsfähigkeit<br />
auch strafrechtlicher Entscheidungen, ist.<br />
Warum sollte man sich auf eine Entscheidung eines französischen<br />
Richters oder eines litauischen Staatsanwaltes nicht<br />
ebenso verlassen können wie auf die eines deutschen? Die<br />
politische Etablierung dieses Prinzips folgt der Einsicht, dass<br />
eine umfassende Angleichung der Strafrechtsordnungen<br />
unrealistisch ist, sie trägt überdies auch grundsätzlich dem<br />
Gesichtspunkt der Subsidiarität (Art. 2 EUV; Art. 5 EGV;<br />
Art. 23 Abs. 1 GG) Rechnung. 18<br />
Auf diese Weise soll über eine komplizierte bilateral oder<br />
multilateral angelegte Rechtshilfe hinausgegangen werden.<br />
Erklärtes Ziel ist eine gesteigerte Effizienz und ein gewisser<br />
Ausgleich für die durch den Wegfall der Grenzkontrollen<br />
erschwerte Arbeit der Strafverfolgungsbehörden, die eben<br />
auch mehr grenzüberschreitendes Verbrechen mit sich gebracht<br />
haben dürfte. In den Schlussfolgerungen von Tampere<br />
heißt es ausdrücklich: „Straftäter dürfen keine Möglichkeiten<br />
finden, die Unterschiede in den Justizsystemen der Mitgliedstaaten<br />
auszunutzen.“ Dass die Sicherheit der Unionsbürger<br />
stets so betont wird (so heißt es z.B. im Entwurf des Verfassungsvertrags<br />
in Art. III-257 Abs. 3: „Die Union wirkt darauf<br />
hin, […] ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.“;<br />
ähnlich formuliert Art. 29 EUV) und die Bürgerfreiheiten<br />
hintan stehen müssen, wird immer wieder kritisiert. 19 Der<br />
Eindruck, man könne sich insbesondere auf transnationaler<br />
Ebene freiheitsschützende Schranken für strafverfolgungsrechtliche<br />
Eingriffe angesichts der Bedrohungen durch Terrorismus<br />
und massive grenzüberschreitende Kriminalität immer<br />
weniger leisten, spiegelt dabei ein sich in der Kriminalpolitik<br />
national wie „global verbreitendes Bedürfnis an Sicherheit,<br />
17 Nr. 33 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen<br />
Rates in Tampere (15./16.10.1999), http://www.<br />
europa.eu.int/council/off/conclu/oct99/oct99_de.htm; bestätigt<br />
z.B. durch das Haager Programm zur Stärkung von Freiheit,<br />
Sicherheit und Recht in der Europäischen Union (2005/<br />
C 53/01).<br />
18 Wasmeier, ZEuS 2006, 23 (31 f.).<br />
19 Z.B. Weigend, ZStW 116 (2004), 275 (276); Hassemer,<br />
ZStW 116 (2004), 307.<br />
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77
Christine Morgenstern<br />
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Kontrolle und Bestrafung“ 20 wider. Zumeist entzündet sich<br />
die teils heftige Kritik am ersten konkreten Rahmenbeschluss<br />
des Rates oder auch dessen nationalen Umsetzungen, dem<br />
Europäischen Haftbefehl von 2002. 21<br />
III. Der Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsübernahme<br />
Vor dem geschilderten Hintergrund ist es auf europäischer<br />
Ebene folgerichtig, nicht nur bei der Strafverfolgung, sondern<br />
auch bei der Strafvollstreckung praktikable Instrumente zur<br />
grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung zu schaffen. Vor-<br />
weg ist zuzugeben, dass es sich bei dem Versuch, ein einheitliches,<br />
effizientes und dabei gerechtes Instrument für die<br />
transnationale Vollstreckung zu entwerfen, um ein schwieriges<br />
Unterfangen handelt. Das wird dann klar, wenn man die<br />
widerstreitenden Interessen der Akteure, d.h. des betroffenen<br />
Verurteilten, des Urteilsstaates und des Heimat- (später also<br />
des Vollstreckungs-)staates, bedenkt: 22<br />
1. Die Interessen der Beteiligten<br />
Im Interesse des Verurteilten liegt es zumeist, die Strafe zu<br />
Hause abzubüßen, wo er sein gewohntes und seiner Resozialisierung<br />
eher förderliches Umfeld vorfindet bzw. während<br />
der Haft zu ihm leichter Kontakt aufrecht erhalten kann.<br />
Selbst wenn dies nicht so ist, kann für ihn die Haft im Ausland<br />
eine besondere zusätzliche Härte bedeuten, die er vermeiden<br />
will. Manchmal wird ein Rückkehrwille nicht vorhanden<br />
sein, etwa, wenn die Haftbedingungen im Urteilsstaat<br />
als angenehmer empfunden werden, die Aussetzungsregeln<br />
günstiger sind oder das langwierige und im Ausgang unsichere<br />
Verfahren gescheut wird. 23 Der Urteilsstaat hingegen wird<br />
in der Regel die Haft an einem Ausländer nicht selbst vollstrecken<br />
wollen, es sei denn, er befürchtet eine nationalen<br />
Interessen (bzw. Strafzwecken) zuwiderlaufende Strafvollstreckung<br />
im Ausland, etwa durch eine aus seiner Sicht zu<br />
frühe Strafrestaussetzung. Ansonsten ist der Strafvollzug an<br />
Ausländern besonders schwierig, belastet die Kapazitäten der<br />
Haftanstalten und die Haushalte. Die Motivation, sich aus-<br />
20<br />
Hassemer, ZStW 116 (2004), 307 (308); Sieber, ZStW 103<br />
(1991), 957 (963), spricht im grundlegenden Beitrag zum<br />
Europäischen Strafrecht bereits von einem „auf Sicherheit<br />
und damit Einheit zielenden Zeitgeist“.<br />
21<br />
Rahmenbeschluss des Rates vom 13.6.2002 über den Europäischen<br />
Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen<br />
den Mitgliedstaaten (2002/584/JI, Amtsblatt der Europäischen<br />
Gemeinschaften vom 18.7.2002, L 190/1 bis L 190/18); zur<br />
schwierigen Umsetzung in Deutschland jüngst Sinn/Wörner,<br />
<strong>ZIS</strong> 2007, 204 und Heger, <strong>ZIS</strong> 2007, 221.<br />
22<br />
Vgl. Satzger, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept<br />
für die Europäische Strafrechtspflege, 2006, S. 147 ff. (148),<br />
der allerdings die Interessen teilweise etwas anders akzentuiert.<br />
23<br />
Diese Gründe gaben inhaftierte Briten im Rahmen einer<br />
Studie an, vgl. Greenlaw/Parkinson (Hrsg.), Bringing Prisoners<br />
Home. International Prisoner Transfer in the 21 st Century,<br />
2002, S. 34 ff.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
78<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
ländischer Straftäter möglichst umfassend zu entledigen, lässt<br />
sich aus dem Entwurf des Rahmenbeschlusses gut ablesen. In<br />
den letzten Jahren suchten insbesondere Staaten mit einem<br />
besonders hohen Anstieg des Ausländeranteils an der Gefangenenpopulation<br />
wie Großbritannien und Österreich mitunter<br />
verzweifelt anmutend nach Lösungen. 24 Eine entsprechende<br />
Motivation trat auch deutlich zutage, als es in Deutschland<br />
um die Umsetzung des o.g. Zusatzprotokolls zum Europaratsübereinkommen<br />
ging. 25 So hatte im Vorfeld die bayerische<br />
Staatskanzlei 26 formuliert: „Rund 30% der etwa 80.000<br />
Gefangenen in den deutschen Justizvollzugsanstalten sind<br />
ausländische Staatsangehörige, die den deutschen Steuerzahler<br />
mehr als 600 Mio. Euro im Jahr kosten […]“.<br />
Der Vollstreckungsstaat wird hingegen die schwächste<br />
Motivation haben, seine Staatsbürger oder gar diejenigen, die<br />
dort nur ihren Wohnsitz haben, zur Vollstreckung einer Strafe<br />
bei sich aufzunehmen. Dafür sprechen aus seiner Sicht lediglich<br />
die Fürsorgepflicht gegenüber den Landsleuten und ihre<br />
besseren Resozialisierungschancen, wenn sie wegen Ausweisung<br />
aus dem Urteilsstaat ohnehin irgendwann in die Heimat<br />
zurückkehren. Dass solche Erwägungen angesichts der Überbelegung<br />
in den meisten europäischen Gefängnissen bzw. der<br />
überall angespannten Lage öffentlicher Haushalte eher theoretischer<br />
Natur sind, zeigt am besten das Beispiel Polens:<br />
Ende 2004 verbüßten gut 1.700 Polen Freiheitsstrafen in<br />
anderen EU-Staaten, bei gleichzeitig ca. 80.000 Insassen in –<br />
häufig überbelegten – polnischen Gefängnissen. 27 Obwohl<br />
damit keineswegs das Land mit den meisten potenziell Heimatüberstellten,<br />
hat Polen als einziger Mitgliedstaat einen<br />
fünfjährigen Aufschub zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses<br />
erreicht. 28<br />
2. Die transnationale Vollstreckung als Konsequenz des Prinzips<br />
der gegenseitigen Anerkennung<br />
Im Kern soll die Vollstreckungsübernahme so ablaufen, dass<br />
der Urteils- bzw. Ausstellungsstaat ein Strafurteil, das eine<br />
freiheitsentziehende Sanktion beinhaltet, zusammen mit einem<br />
Formblatt an den späteren Vollstreckungsstaat übermit-<br />
24 In Österreich wurde ernsthaft die Möglichkeit diskutiert, in<br />
Rumänien eine Haftanstalt für in Österreich inhaftierte Rumänen<br />
zu bauen und zu betreiben (Presseaussendung des<br />
Österreichischen Bundespräsidenten vom 2.5.2006, www.<br />
hofburg.at). In Großbritannien geriet der Innenminister unter<br />
Druck als bekannt wurde, dass Abschiebemöglichkeiten für<br />
ausländische Inhaftierte nicht konsequent genutzt wurden, die<br />
Regierung reagierte darauf u.a. mit Überlegungen für eine<br />
Geldprämie für rückkehrwillige ausländische Häftlinge, vgl.<br />
Press Release vom 10.10.2006, www.homeoffice.gov.uk und<br />
Bericht der Frankfurter Rundschau online vom 11.10.2006.<br />
25 Gesetz zur Änderung des Überstellungsausführungsgesetzes<br />
und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in<br />
Strafsachen vom 17.12.2006, BGBl. I 2006 Nr. 62 vom<br />
21.12.2006.<br />
26 Pressemitteilung vom 26.5.2996, www.bayern.de.<br />
27 Stando-Kawecka, in: van Kalmthout/Hofstee-van der Meulen/Dünkel<br />
(Fn. 1), S. 666 und 685.<br />
28 Erwägungsgrund 6c cis.
Strafvollstreckung im Heimatstaat<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
telt, um dort die Vollstreckung der Strafe zu bewirken. Dabei<br />
sollen sich im Grundsatz weder die verurteilte Person noch<br />
der Vollstreckungsstaat gegen dieses Begehren wehren können<br />
(bzw. nur in eng umrissenen Grenzen). In konsequenter<br />
Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung ist<br />
– wiederum im Grundsatz – eine Anpassung der zu vollstreckenden<br />
Strafe an die Gegebenheiten im Vollstreckungsstaat<br />
nicht vorgesehen. Parallel zu den Vorgaben beim Europäischen<br />
Haftbefehl gilt auch hier der Katalog von 32 Delikten<br />
bzw. Deliktsgruppen, bei denen auf eine Prüfung der beiderseitigen<br />
Strafbarkeit verzichtet wird.<br />
3. Die Entwicklung des Rahmenbeschlussentwurfes<br />
Derzeit liegt ein noch nicht in allen Details fertig gestellter<br />
Text des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsübernahme<br />
vor, 29 über den jedoch eine politische<br />
Einigung erzielt ist und den auch das Europäische Parlament<br />
in einer zweiten Runde abgesegnet hat. 30 Das Generalsekretariat<br />
des Rates hat den Text bereits freigegeben, obwohl er<br />
noch nicht offiziell verabschiedet worden ist. Am ersten Text,<br />
der auf Initiative von Finnland, Österreich und Schweden im<br />
Januar 2005 vorgelegt wurde, sind im Verlauf der Beratungen<br />
teilweise erhebliche Änderungen vorgenommen worden; von<br />
Interessengruppen vor allem mit Blick auf die Befassung des<br />
Europäischen Parlaments geltend gemachte Bedenken wurden<br />
dort im zuständigen Ausschuss aufgegriffen und teilweise<br />
eingearbeitet, aber auch auf Bedenken anderer Mitgliedstaaten<br />
ist eingegangen worden.<br />
4. Struktur<br />
Der Rahmenbeschluss enthält zunächst 25 Erwägungsgründe.<br />
Im ursprünglichen Entwurf waren es acht, in diesem politisch<br />
wichtigen, aber rechtlich nicht entscheidenden Teil wurde im<br />
Verlauf der politischen Beratungen demnach am meisten<br />
ergänzt. Darauf folgt der eigentliche Text, der ein erstes Kapitel<br />
mit Allgemeinen Bestimmungen, ein zweites Kapitel<br />
unter dem Titel „Anerkennung von Urteilen und Vollstreckung<br />
der Sanktionen“ und ein Schlusskapitel mit Übergangsbestimmungen<br />
etc. enthält. Gefolgt wird der Text von<br />
zwei Anhängen. Der erste beinhaltet ein elf Din-A4-Seiten<br />
29<br />
Council of the European Union, Council Framework Decision<br />
2005/JHA on the application of the principle of mutual<br />
recognition to judgements in criminal matters imposing custodial<br />
sentences or measures involving deprivation of liberty<br />
for the purpose of their enforcement in the European Union.<br />
Die letzte Textfassung liegt bislang nur auf Englisch vor,<br />
Document 9688/07 (limite) vom 22.5.2007.<br />
30<br />
Allerdings hat das Europäische Parlament nun nochmals<br />
eine Ergänzung der Erwägungsgründe angeregt. Sollte diese<br />
nicht aufgenommen oder geändert werden, müsste der Text<br />
nochmals dort vorgelegt werden, sodass sich das Verfahren<br />
noch weiter in die Länge ziehen könnte. Die gesamte Verfahrensgeschichte<br />
ist als „procedure file“ abrufbar auf der Internetseite<br />
des Europäischen Parlaments unter der Referenznummer<br />
CNS/2005/0805, www.europarl.europa.eu/oeil (engl.<br />
Fassung, Stand: 18.2.2008).<br />
langes Formblatt für die einheitliche Abwicklung des transnationalen<br />
Vollstreckungsverfahrens sowie ein Formblatt für<br />
die Kenntnisnahme der verurteilten Person. Der zweite Anhang<br />
berücksichtigt offenbar ebenfalls Kritik, indem er erläutert,<br />
wie die Auswahl der Ablehnungsgründe für den Vollstreckungsstaat<br />
getroffen wurde (Art. 9, siehe sogleich unten).<br />
5. Die allgemeinen Bestimmungen<br />
Im ersten Kapitel sind zunächst Legaldefinitionen enthalten.<br />
Hier ist hervorzuheben, dass der Begriff „sentence“ (in der<br />
deutschen Fassung: „Sanktion“), auch alle anderen freiheitsentziehenden<br />
Maßnahmen im Gefolge eines Urteils in einem<br />
Strafverfahren umfasst, damit auch Maßregeln nach deutschem<br />
Recht. Eine weitere Legaldefinition findet sich noch in<br />
den Erwägungsgründen – hier wird erklärt, was der Rahmenbeschluss<br />
darunter versteht, wenn er davon spricht, dass eine<br />
Person in einem Staat „lebt“. Danach ist das der Ort, an dem<br />
sie für gewöhnlich wohnt und zu dem sie besondere familiäre,<br />
soziale oder berufliche Bindungen aufweist. In Art. 3<br />
findet sich die Zweckbestimmung des Rahmenbeschlusses:<br />
Er soll das Verfahren bestimmen, nach dem ein Mitgliedstaat<br />
– unter Berücksichtigung der erleichterten Resozialisierung<br />
der verurteilten Person – ein Strafurteil anerkennt und vollstreckt.<br />
Die erleichterte Resozialisierung wird also nicht<br />
primär als Zweck des Instrumentes angesehen. Der Artikel<br />
enthält daneben u.a. noch einen allgemeinen Verweis auf die<br />
Achtung der EMRK bzw. die nationale Identität der Mitgliedstaaten<br />
der EU (via Art. 6 EUV).<br />
6. Voraussetzungen und Verweigerung der Vollstreckungsübernahme,<br />
Stellungnahme der betroffenen Person<br />
Von den 23 Artikeln des Hauptkapitels sollen hier nur die<br />
wichtigsten vorgestellt werden. Zunächst werden in Art. 3a<br />
die Kriterien für die Weiterleitung des Urteils und des Formblatts<br />
zur Vollstreckung aufgelistet: Grundsätzlich muss die<br />
verurteilte Person die Staatsangehörigkeit des Vollstreckungsstaates<br />
und den Lebensmittelpunkt dort haben; wenn<br />
sie nicht dort lebt, muss es zumindest der Staat sein, in den<br />
sie ausgewiesen bzw. abgeschoben würde. Möglich ist eine<br />
Vollstreckung schließlich grundsätzlich auch in einem anderen<br />
Mitgliedsstaat, der sich hierzu bereit erklärt. Grundsätzlich<br />
zielt der Rahmenbeschluss auf Bürger von EU-Staaten,<br />
der Vollstreckungsstaat kann sich aber auch bereit erklären,<br />
Drittstaatler zur Vollstreckung aufzunehmen, wenn sie ein<br />
dauerhaftes Bleiberecht haben. Anträge zur Überstellung<br />
dürfen auch vom Verurteilten und vom Vollstreckungsstaat<br />
gestellt werden, aus ihnen erwächst dem Urteilsstaat aber<br />
keine Verpflichtung.<br />
Ein besonders umstrittener Punkt war im Laufe der Verhandlungen<br />
das Zustimmungserfordernis der verurteilten<br />
Person (Art. 5). Weil dieses Erfordernis beim Europäischen<br />
Überstellungsübereinkommen von 1983 als Haupthemmnis<br />
für eine erfolgreiche Anwendung eingeschätzt wurde, sah es<br />
die ursprüngliche Beschlussinitiative für den Regelfall nicht<br />
mehr vor. In der aktuellen Fassung wird nun in Art. 5 zunächst<br />
statuiert, dass die betroffene Person einer Vollstreckungsübernahme<br />
bzw. der Weiterleitung von Urteil und<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
79
Christine Morgenstern<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Formblatt bereits im Vorfeld zugestimmt haben muss. In<br />
Abs. 1a desselben Artikels werden jedoch Ausnahmen gemacht,<br />
die in der Praxis weit reichende Bedeutung haben:<br />
Wenn eine verurteilte Person die Staatsangehörigkeit des<br />
Vollstreckungsstaates hat und dort auch lebt, muss sie nicht<br />
zustimmen; das gleiche gilt, wenn sie in den Vollstreckungsstaat<br />
ausgewiesen oder abgeschoben wird; schließlich, wenn<br />
sie in den Vollstreckungsstaat geflohen ist. Angehört werden<br />
muss der Verurteilte immer, wenn er sich im Urteilsstaat<br />
befindet; sobald der Urteilsstaat dann eine Vollstreckungsübernahme<br />
angestrengt hat, muss der Betroffene – unter<br />
Verwendung eines dem Rahmenbeschluss ebenfalls als Anhang<br />
beigefügten Formblattes – darüber informiert werden.<br />
7. Anpassung der Sanktion und anwendbares Vollstreckungsrecht<br />
Wie in den anderen Instrumenten, die dem Prinzip der gegenseitigen<br />
Anerkennung folgen, ist auch hier ein Katalog von<br />
Straftaten enthalten, bei denen auf eine Prüfung der beiderseitigen<br />
Strafbarkeit zu verzichten ist. An diesem Punkt entzündet<br />
sich zumeist die Kritik am Prinzip der gegenseitigen<br />
Anerkennung. Neben grundsätzlichen Bedenken der Aufgabe<br />
dieses völkerrechtlichen Prinzips wird vor allem bemängelt,<br />
dass die Deliktsgruppen, die dort aufgeführt sind, dem Bestimmtheitsgrundsatz<br />
nicht Rechnung tragen, sondern teilweise<br />
eher eine vage Umschreibung oder grobe Typisierung<br />
darstellen (Bsp. „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“,<br />
„Cyberkriminalität“, „Sabotage“). Diese berechtigte Kritik 31<br />
am – jederzeit durch den Rat erweiterbaren – Katalog soll<br />
hier aus zwei Gründen nicht vertieft werden: Zum einen<br />
dürften in der Praxis zur Vollstreckungsübernahme nur Delikte<br />
aus dem durchaus gesicherten Grundbestand an übereinstimmenden<br />
strafrechtlichen Bewertungen in Europa in Frage<br />
kommen. Zum anderen gibt es gegenüber dem Rahmenbeschluss<br />
zum Europäischen Haftbefehl zwei Neuerungen:<br />
Echte Bagatelldelikte sind ausgeschlossen, weil die Mindesthöchststrafe<br />
immerhin drei Jahre betragen muss (nicht mehr<br />
12 Monate wie beim Europäischen Haftbefehl), außerdem<br />
sieht Art. 7 Abs. 4 nunmehr vor, dass sich die Mitgliedstaaten<br />
vorbehalten können („Declaration notified to the Secretary<br />
General of the Council“), die Positivliste nicht anzuwenden.<br />
Vermutlich stellt dies eine Reaktion auf die einschränkenden<br />
Vorgaben mancher nationalen Verfassungsgerichte zum<br />
Europäischen Haftbefehl dar. 32<br />
Erhält der Vollstreckungsstaat dann vom Urteilsstaat das<br />
Strafurteil und das Formblatt, mit dem er die Vollstreckungsübernahme<br />
begehrt, muss (Art. 8) er diesem Begehren nachkommen;<br />
es sei denn, die o.g. Voraussetzungen sind nicht<br />
erfüllt. In Art. 9 sind die Ablehnungsgründe zusammenge-<br />
31<br />
Vgl. z.B. v. Bubnoff, Der Europäische Haftbefehl, 2005,<br />
S. 68 m.w.N.<br />
32<br />
Eine Erläuterung dieser Entscheidungen findet sich bei<br />
Deen-Racsmány, European Journal of Crime, Criminal Law<br />
and Criminal Justice, 2006, 271, und Nalewajko, <strong>ZIS</strong> 2007, 113.<br />
Hintergrundmaterial und den aktuellen Stand der Dinge gibt<br />
es außerdem bei einem EU/AGIS-geförderten Projekt unter<br />
www.eurowarrant.net.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
80<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
fasst: Neben formalen Gründen sind dies vor allem Verstöße<br />
gegen den ne-bis-in-idem-Grundsatz; eine abweichende Bewertung<br />
etwa der Staatsangehörigkeit des Verurteilten oder<br />
seines Lebensmittelpunktes; Immunität oder Verjährung nach<br />
dem Recht des Vollstreckungsstaates; ein Abwesenheitsurteil,<br />
wenn der Betreffende nicht ordnungsgemäß geladen war<br />
(Merke: Wenn dies der Fall war, muss etwa ein italienisches<br />
Abwesenheitsurteil in Deutschland vollstreckt werden! 33 );<br />
oder wenn der Strafrest weniger als sechs Monate beträgt.<br />
Das Argument, dass die Resozialisierungsvoraussetzungen<br />
im Vollstreckungsstaat im konkreten Fall nicht gegeben sind,<br />
wird hingegen als Zurückweisungsgrund nicht akzeptiert,<br />
darauf weist ausdrücklich nochmals Anhang II des Rahmenbeschlusses<br />
hin. Begründet wird dies damit, dass der Urteilsstaat<br />
in einem solchen Fall ohnehin keine Vollstreckungsübernahme<br />
begehren werde. Auch hier soll also wegen des<br />
postulierten gegenseitigen Vertrauens in die Rechtspflege der<br />
Vollstreckungsstaat an die Einschätzung des Urteilsstaates<br />
gebunden sein.<br />
Wenn der Vollstreckungsstaat die im Rahmenbeschluss<br />
niedergelegten Voraussetzungen für erfüllt hält, kann es<br />
gleichwohl sein, dass er sich außerstande sieht, die konkret<br />
verhängte Strafe zu vollstrecken. Auch dann hat er nur eingeschränkte<br />
Möglichkeiten, die Strafe den Gegebenheiten in<br />
seinem Land anzupassen: Art. 8 Abs. 2 sieht lediglich für den<br />
Fall, dass die Sanktion ihrer Dauer nach mit dem Recht des<br />
Vollstreckungsstaates nicht anwendbar ist, eine Anpassung<br />
vor, er darf dabei aber nicht unter die für das Delikt nach<br />
seinem Recht angedrohte Höchststrafe gehen.<br />
Neben den tatsächlichen Haftbedingungen ist für die Betroffenen<br />
natürlich am wichtigsten, wie lange der Freiheitsentzug<br />
tatsächlich noch dauern wird. Das gesamte Vollstreckungs-<br />
bzw. Vollzugsrecht soll sich nach einer Übernahme<br />
im Grundsatz nach dem Recht des Vollstreckungsstaates<br />
richten (Art. 13). Er muss lediglich die volle bereits verbüßte<br />
Haftzeit von der im Formblatt nach Tagen anzugebenden<br />
Gesamtsstrafe abziehen. Wenn der Urteilsstaat das wünscht,<br />
muss der Vollstreckungsstaat ihm mitteilen, wann er in der<br />
Regel eine bedingte Entlassung vorsieht, der Urteilsstaat<br />
kann dann ggf. das Begehren zurückziehen. Ebenso fakultativ<br />
kann der Urteilsstaat dem Vollstreckungsstaat mitteilen,<br />
wann er bedingt entlässt, auch das kann dann berücksichtigt<br />
werden. Schließlich ist bemerkenswert, dass Amnestien und<br />
Begnadigungen sowohl vom Urteils- wie von Vollstreckungsstaat<br />
ausgesprochen werden können (Art. 15), der<br />
Vollstreckungsstaat ist dann ggf. verpflichtet, die Vollstreckung<br />
sofort zu beenden.<br />
IV. Kritik am geplanten Rahmenbeschluss<br />
Wie erwähnt, ist es grundsätzlich sinnvoll und nötig, eine<br />
Verbesserung der Überstellungspraxis für ausländische Gefangene<br />
anzustreben. Gleichermaßen wurde schon angedeutet,<br />
dass es sich dabei um ein besonders schwieriges Unterfangen<br />
handelt. Aber selbst wenn man dies zugesteht, muss<br />
33<br />
Strenge Maßstäbe für die Ladung legt hier aber das Bundesverfassungsgericht<br />
an, Beschluss vom 3.3.2004 (2 BvR 26/04).
Strafvollstreckung im Heimatstaat<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
man den geplanten Rahmenbeschluss insgesamt kritisch<br />
sehen.<br />
Dass im innereuropäischen Rechtsverkehr schwammige<br />
Formulierungen vorkommen, ist dabei eine Banalität: Streit<br />
ist z.B. schon vorprogrammiert wenn Uneinigkeit besteht, wo<br />
ein Bürger „lebt“ (Erwägungsgrund 11, s.o.). Auch, dass die<br />
Struktur des Rahmenbeschlusses durch viele Einfügungen im<br />
Verlauf der politischen Beratungen kompliziert ist, ist wohl<br />
hinzunehmen. Schwerer wiegt schon, dass das Verfahren<br />
durch die vielen Kompromisse, die im Laufe der Verhandlungen<br />
zu schließen waren und die nun diverse Fragen von<br />
Konsultationen zwischen den beteiligten Behörden abhängig<br />
machen, sehr in die Länge gezogen werden kann. Selbst<br />
wenn ein Urteilsstaat sich relativ schnell entschließt, eine<br />
Vollstreckungsübernahme anzustrengen, darf das Verfahren<br />
bis zur Zusage drei Monate dauern (Art. 10 Abs. 1a), bis zum<br />
tatsächlichen Transfer sind nochmals 30 Tage eingeplant.<br />
Treten „außergewöhnliche Umstände“ auf, können beide<br />
Fristen überschritten werden. Von den ursprünglich vorgeschlagenen<br />
maximal drei bzw. zwei Wochen hat man sich<br />
weit entfernt, wegen der Ausnahmeregelung wird wahrscheinlich<br />
das Ziel, ein schnelles Klärungsverfahren zu schaffen,<br />
selten erreicht. Dass durch die Sonderregelung für Polen<br />
wieder einmal ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“<br />
entsteht, wird dem Rahmenbeschluss ebenfalls nicht zu mehr<br />
Glaubwürdigkeit verhelfen.<br />
Neben diesen eher formalen Aspekten ergeben sich jedoch<br />
vor allem gewichtige Probleme bei der Umsetzung in<br />
nationales Recht: Bezweifeln darf man noch immer, ob gegenseitiges<br />
Vertrauen im Hinblick auf die Strafrechtspflege<br />
der europäischen Nachbarn so weit verbreitet ist, wie behauptet.<br />
Jedenfalls gibt es nicht hinweg zu diskutierende Unterschiede<br />
bei Strafrahmen, Strafzumessung und Vollzugsbedingungen.<br />
Die über Art. 8 Abs. 2 in manchen Fällen vorgesehene<br />
Strafanpassung, die den Vollstreckungsstaat zugleich<br />
zwingt, seine zeitige Höchststrafe für das betreffende Delikt<br />
anzuwenden, ist in Staaten mit sehr weiten Strafrahmen bzw.<br />
hohen Höchststrafen eine schwache Sicherung. Im Hinblick<br />
auf die Vollzugsbedingungen belegt eine Studie 34 in den<br />
Ostseeanrainerstaaten erhebliche Unterschiede, hier seien nur<br />
einige Beispiele genannt: In Schweden ist der Grundsatz der<br />
Einzelunterbringung von Strafgefangenen durchgängig verwirklicht,<br />
während in Lettland oder Litauen Schlafsäle mit 15<br />
oder sogar 30 Insassen die Regel sind. Zugang zu bezahlter<br />
Arbeit hatte nach den Ergebnissen derselben Studie in Polen<br />
lediglich ca. ein Viertel der Gefangenen, in den untersuchten<br />
westdeutschen Anstalten waren es immerhin zwei Drittel.<br />
Erhebliche Unterschiede finden sich auch bei der Lockerungspraxis:<br />
Während in Finnland weitaus die meisten Gefangenen<br />
Urlaub oder Ausgang erhielten, waren es in den<br />
baltischen Staaten oder Polen kaum welche.<br />
Bedenkt man, dass z.B. der deutsche Richter durch gesetzliche<br />
Vorgaben gezwungen ist, schon bei der Strafzumessung<br />
(nach § 46 Abs. 2 StGB ) zu berücksichtigen, wie sich<br />
die Strafe auf das künftige Leben des Betroffenen auswirkt<br />
34<br />
Dünkel, in: Müller-Dietz u.a. (Hrsg.): Festschrift für Heike<br />
Jung zum 65. Geburtstag am 23. April 2007, 2007, S. 99 ff.<br />
und das deutsche Recht das Konzept der individuellen Strafempfindlichkeit<br />
kennt, ist klar, dass die Umstände des Vollzugs<br />
eine erhebliche Bedeutung schon für die Strafzumessungsentscheidung<br />
haben und der Richter sie auch einschätzen<br />
können muss. Sieht er sich nach geltendem Recht mit<br />
ausländischer Haft konfrontiert, die er anrechnen muss (in der<br />
Regel Untersuchungshaft), so kann er den Maßstab der Anrechnung<br />
nach seinem Ermessen bestimmen (§ 51 Abs. 4<br />
StGB), was deutsche Gerichte mit dem Argument der besonderen<br />
Strafhärte bzw. der besonderen Haftbedingungen bislang<br />
durchaus auch mit Strafen aus anderen EU-Staaten (z.B.<br />
Spanien oder Frankreich) taten. 35 Der Rahmenbeschluss hingegen<br />
zwingt zur 1:1-Berücksichtigung bereits verbüßter<br />
Haft (Art. 8 Abs. 2), so dass – zumindest nach geltendem<br />
Recht – ggf. jemand, der in der Türkei Untersuchungshaft<br />
verbüßt hat, durch einen günstigeren Umrechungsmaßstab<br />
besser gestellt wird, als ein Deutscher, der in Litauen inhaftiert<br />
war und den Rest seiner Strafe nun hier verbüßt. Versucht<br />
man also auf der einen Seite, bei transnationalen Fällen<br />
einen Ausgleich zwischen den Rechtsordnungen herzustellen,<br />
bewirkt man auf der anderen Seite möglicherweise eine Ungleichbehandlung<br />
gegenüber inländischen Fällen, die sachlich<br />
nicht gerechtfertigt ist. 36<br />
Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass der Europäische<br />
Gerichtshof für Menschenrechte durchaus Vorgaben<br />
für solche Fälle der transnationalen Vollstreckung macht:<br />
In Frage stand die Überstellung eines in Finnland inhaftierten<br />
Esten in seine Heimat. 37 Sein Antrag wurde im Ergebnis<br />
wegen ungefährer Vergleichbarkeit der tatsächlich noch zu<br />
verbüßenden Strafdauer als unbegründet zurückgewiesen,<br />
auch die geltend gemachten Unterschiede der Haftbedingungen<br />
genügten der Kammer für sich genommen nicht. Die<br />
Richter merken aber an, dass sie die Möglichkeit nicht ausschließen,<br />
dass eine erheblich längere („flagrantly longer“)<br />
Verbüßungszeit im Vollstreckungsstaat Anlass geben könnte,<br />
einen Verstoß gegen Art. 5 EMRK zu prüfen. In diesem Zusammenhang<br />
wird auch noch ein anderes Problem deutlich:<br />
Im Rahmenbeschluss ist stets von den „zuständigen Behörden“<br />
die Rede, die z.B. auch eine teilweise Vollstreckung<br />
aushandeln können (Art. 9a Abs. 2) bzw. die Anpassung der<br />
Strafe vornehmen können (Art. 8). Hier werden die Mitgliedstaaten<br />
im Falle einer Umsetzung darauf zu achten haben,<br />
dass Gerichte mit diesen Fragen befasst sind, andernfalls<br />
droht ein Verstoß gegen den Richtervorbehalt, der sich aus<br />
Art. 5 EMRK ergibt. 38<br />
35<br />
Beispiele bei Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze,<br />
Kommentar, 54. Aufl. 2007, § 51 Rn. 19.<br />
36<br />
Diese Probleme können auch nach dem bisherigen Rechtshilferecht<br />
auftreten, der Rahmenbeschluss bringt hier jedenfalls<br />
aber keine Verbesserung.<br />
37<br />
EGMR, Appl. No. 38704/03 (Veermäe against Finland),<br />
Entscheidung v. 15.03.2005, zu finden unter: http://cmiskp.<br />
echr.coe.int/tkp197/default.htm.<br />
38<br />
Dörr, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Konkordanzkommentar,<br />
2006, Rn. 152 ff. Im oben genannten Fall<br />
war die Anpassung der finnischen Strafe auf die estnischen<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
81
Christine Morgenstern<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Auf den Punkt gebracht werden diese Bedenken, wenn<br />
man die unterschiedlichen gesetzlichen und praktischen Vorgaben<br />
der Mitgliedstaaten bei der Strafrestaussetzung betrachtet,<br />
39 und hier besonders drastisch, wenn man sich Recht<br />
und Praxis bei der lebenslangen Freiheitsstrafe ansieht. Folgendes<br />
Beispiel 40 soll das verdeutlichen: Ein Täter ist in England<br />
wegen Mordes verurteilt worden und bekommt eine<br />
lebenslange Freiheitsstrafe; das urteilende Gericht setzt den<br />
zwingend zu verbüßenden Teil (den sog. „tariff“) auf 12<br />
Jahre fest, erst danach kommt eine Strafrestaussetzung zur<br />
Bewährung („parole“) in Betracht. Danach übernimmt<br />
Deutschland die Vollstreckung. Hier kommt die bedingte<br />
Entlassung (§ 57a Abs. 1 StGB) erst nach 15 Jahren in Betracht.<br />
Muss der Betreffende nun drei Jahre länger in Haft<br />
bleiben, weil er in Deutschland gelandet ist? Würde der Verurteilte<br />
nach Spanien überstellt, ist zu fragen, wie seine Verbüßungszeit<br />
berechnet wird – Spanien kennt keine lebenslange<br />
Freiheitsstrafe. Tritt gem. Art. 8 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses<br />
an deren Stelle dann automatisch die höchste zeitige<br />
Freiheitsstrafe (20 Jahre, bei einem Rückfalltäter 30 Jahre)?<br />
In jedem Fall würde der in England Verurteilte länger<br />
sitzen. Nochmals verschärft wäre die Situation in Litauen:<br />
Dort ist für die lebenslange Freiheitsstrafe gar keine Aussetzungsmöglichkeit<br />
vorgesehen, eine (mögliche) Begnadigung<br />
ist bislang noch niemals ausgesprochen worden. 41<br />
Wird ein „transnationales Vollstreckungsverfahren“ nach<br />
dem Rahmenbeschluss ins nationale Recht umgesetzt, sind<br />
für die Strafvollzugspraxis im Hinblick auf eine nachhaltige<br />
Vollzugsplanung für inhaftierte EU-Ausländer Vor- und<br />
Nachteile denkbar: zumindest könnte ein verlässliches Verfahren<br />
Planungssicherheit schaffen. Hierauf soll an dieser<br />
Stelle nicht weiter eingegangen werden, ein letzter Kritikpunkt<br />
ist aber zu nennen: In den Anwendungsbereich des<br />
Rahmenbeschlusses werden ohne weiteren Kommentar auch<br />
alle diejenigen eingeschlossen, die eine sonstige freiheitsentziehende<br />
Maßnahme im Gefolge eines Strafurteils auferlegt<br />
bekommen haben, damit also auch Maßregelvollzugsinsassen.<br />
Sie werden dann immerhin noch einmal genannt, wenn<br />
es um die Zurückweisungsgründe für den Vollstreckungsstaat<br />
geht (Art. 9 Abs. 1i): Sollte der Vollzug einer entsprechenden<br />
Maßnahme mit dem Rechts- oder Gesundheitssystem des<br />
Staates nicht vereinbar sein, kann der Staat die Vollstreckungsübernahme<br />
zurückweisen. Diese später eingefügte<br />
Vorschrift genügt jedoch nicht: Wegen der besonderen Probleme<br />
bei der Behandlung dieser Gruppe 42 und der rechtlich<br />
Bedingungen durch ein Gericht erfolgt, das betrachtete die<br />
Kammer auch ausdrücklich als notwendig.<br />
39 Vgl. Dünkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),<br />
Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, Bd. 1,<br />
§ 57 Rn. 91.<br />
40 Vgl. Martin, Briefing for the European Parliament of the<br />
Draft Council framework decision on the application of the<br />
principle of mutual recognition to judgments in criminal<br />
matters, www.eurowarrant.net, S. 4. Sein Beispiel ist hier<br />
noch erweitert.<br />
41 Sakalauskas, Strafvollzug in Litauen, 2006, S. 34.<br />
42 Hoffmann, Der Nervenarzt, 2007, S. 57.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
82<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
besonders unübersichtlichen Situation, 43 kann eine Vollstreckungsübernahme<br />
überhaupt nicht parallel zu der von Strafgefangenen<br />
geregelt werden. 44<br />
V. Fazit und Ausblick<br />
Neben praktischen Umsetzungsproblemen für die Mitgliedstaaten<br />
bestehen damit auch verfassungsrechtliche Bedenken<br />
gegen den Rahmenbeschluss, insbesondere im Hinblick auf<br />
den Richtervorbehalt, das Gleichbehandlungsgebot und den<br />
Bestimmtheitsgrundsatz. Die Möglichkeit, diese Probleme<br />
dadurch zu entschärfen, dass man die Vollstreckungsübernahme<br />
immer von der Zustimmung des Betroffenen abhängig<br />
macht (wobei hier dann besondere Aufmerksamkeit auf seine<br />
Informiertheit zu legen wäre), hat man nicht ergriffen, die<br />
Gefahr, dass der Betroffene zum bloßen „Überstellungsobjekt“<br />
45 wird, ist groß. Man ist versucht zu sagen, Individualrechte<br />
würden auf dem Altar der gegenseitigen Anerkennung<br />
geopfert. Obwohl Interessensgruppen und auch Mitgliedstaaten<br />
viele der oben genannten Kritikpunkte im Verlauf der<br />
Beratungen immer wieder genannt haben, ist trotz Nachbesserungen<br />
klar, dass der Rahmenbeschluss vorwiegend den<br />
Interessen des Urteilsstaates und weit weniger dem Ziel besserer<br />
Resozialisierung verpflichtet ist. Für die Verurteilten<br />
wäre es sicher sachgerechter, das alte Europaratsübereinkommen<br />
als Basis zu nehmen und den Urteilsstaat wie auch<br />
den Heimatstaat zu verpflichten, die Gefangenen im Hinblick<br />
auf eine Überstellung entsprechend zu informieren und zu<br />
unterstützen. Ob dann wirklich so viele Gefangene ihre Zustimmung<br />
verweigern würden, ist die Frage – in den genannten<br />
(allerdings sehr kleinen) Studien 46 zumindest gaben die<br />
meisten der Befragten, die keinen Überstellungsantrag gestellt<br />
hatten an, sie hätten die Möglichkeit entweder nicht<br />
gekannt oder das lange und undurchsichtige Verfahren gescheut.<br />
Bei denjenigen, die einen Antrag gestellt hatten, klagten<br />
sehr viele darüber, dass sie häufig monatelang nicht wussten,<br />
ob er überhaupt bearbeitet wurde.<br />
Abschließend sei noch ein kurzer Ausblick gestattet: Das<br />
nächste Projekt der EU in Sachen „gegenseitige Anerkennung“<br />
ist gestartet – diesmal haben Deutschland und Frankreich<br />
einen Rahmenbeschluss „über die Anerkennung und<br />
Überwachung von Bewährungsstrafen und alternativen Sanktionen“<br />
47 entworfen, eine politische Einigung über die we-<br />
43<br />
Sie besteht deshalb, weil zivil- bzw. öffentlich-rechtlich<br />
geregelte Zwangsunterbringung (in vielen Staaten unter<br />
„Health Care Legislation“) und die Unterbringung in der<br />
forensischen Psychiatrie in den Staaten ganz unterschiedlich<br />
voneinander abgegrenzt sind, vgl. Dreßing/Salize, Zwangsunterbringung<br />
und Zwangsbehandlung psychisch Kranker.<br />
Gesetzgebung und Praxis in den Mitgliedsländern der Europäischen<br />
Union, 2004, S. 28.<br />
44<br />
So auch Martin (Fn. 38), S. 2.<br />
45<br />
Das jedoch darf nach dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts<br />
gerade nicht passieren, BVerfGE 96, 100.<br />
46<br />
Greenlaw/Parkinson (Fn. 23); vgl. auch Mix (Fn. 7), S. 110 ff.<br />
zur Situation in Deutschland.<br />
47<br />
Initiative der deutschen und französischen Delegation vom<br />
15.02.2007, zu finden als Dokument 5325/07 auf http://re-
Strafvollstreckung im Heimatstaat<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
sentlichen Punkte ist am Ende der deutschen Ratspräsidentschaft<br />
erzielt worden.<br />
gister.consilium.europa.eu. Vgl. auch die Pressemitteilung<br />
des Bundesjustizministeriums v. 7.12.2007, www.bmj.bund.de,<br />
und Staudigl/Weber, NStZ 2008, 17.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
83
Zehn Jahre Strafbarkeit wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei<br />
Ausschreibungen gemäß § 298 StGB<br />
Von Wiss. Mitarbeiter David Pasewaldt, Wirtschaftsjurist (Univ. Bayreuth), Hamburg*<br />
Jährlich wird durch Wirtschaftskriminalität nach Expertenschätzungen<br />
ein volkswirtschaftlicher Schaden im dreistelligen<br />
Milliardenbereich verursacht. 1 Im Jahr 2006 betrug<br />
allein der Schaden der in Deutschland bekannt gewordenen<br />
Straftaten 4,3 Mrd. Euro. 2 Eine besondere Stellung nehmen<br />
in diesem Zusammenhang rechtswidrige Absprachen bei<br />
Ausschreibungen ein, die sog. Submissionsabsprachen. 3 Deren<br />
strafrechtliche Verfolgung gestaltete sich lange Zeit<br />
schwierig, da der für eine Verurteilung wegen Betruges gemäß<br />
§ 263 StGB erforderliche Schadensnachweis kaum zu<br />
führen ist. 4 Dieses Problem versuchte der Gesetzgeber 1997<br />
zu lösen, indem er mit § 298 StGB einen eigens auf Submissionsabsprachen<br />
zugeschnittenen Tatbestand im Strafgesetzbuch<br />
kodifizierte. 5 Die Beilegung der bis dahin geführten<br />
Diskussion über die strafrechtliche Behandlung von Submissionskartellen<br />
bewirkte er damit allerdings nicht. Vielmehr<br />
wirft der Tatbestand zahlreiche neue Fragen auf, die anlässlich<br />
seines zehnjährigen Bestehens im Folgenden erörtert<br />
werden sollen.<br />
I. Einführung<br />
Gegenstand dieses Beitrags ist die Analyse ausgewählter<br />
Probleme des Tatbestands der wettbewerbsbeschränkenden<br />
Absprachen bei Ausschreibungen gemäß § 298 StGB. Die<br />
aufgeworfenen Fragestellungen sollen den Rechtsanwender<br />
für die Problembereiche der Vorschrift sensibilisieren, gefun-<br />
* Der Verfasser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bucerius<br />
Law School am Lehrstuhl für Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht<br />
und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Thomas Rönnau.<br />
1<br />
Vgl. Richter, in: Müller-Gugenberger/Bieneck (Hrsg.),<br />
Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2006, § 7 Rn. 22; Dannecker,<br />
in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschaftsund<br />
Steuerstrafrechts, 2. Aufl. 2004, S. 189. Genaue Zahlen<br />
sind wegen der hohen Dunkelziffer nicht bekannt.<br />
2<br />
Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2006, Tabellenanhang,<br />
Tabelle 07, S. 6. Diese Summe entspricht gut 50% des durch<br />
Kriminalität verursachten und bundesweit registrierten Gesamtschadens,<br />
hervorgerufen durch gerade einmal 1,5% der<br />
insgesamt erfassten Straftaten.<br />
3<br />
Während die Gesamtzahl der im Jahr 2006 erfassten Wirtschaftsdelikte<br />
gegenüber dem Vorjahr um 7,5% auf 95.887<br />
anstieg, wuchs die Zahl strafbarer Submissionsabsprachen im<br />
selben Zeitraum um 26,3% auf 149, vgl. PKS 2006 (Fn. 2),<br />
S. 209.<br />
4<br />
Hierzu unten III. 6.<br />
5<br />
Eingeführt durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Bekämpfung<br />
der Korruption (Korruptionsbekämpfungsgesetz – KorrBekG)<br />
vom 13.8.1997, vgl. BGBl. I, S. 2038. Eingehend zur Entstehungsgeschichte<br />
des § 298 StGB, Wedlich, Die strafrechtliche<br />
Würdigung von Submissionsabsprachen unter dem Gesichtspunkt<br />
des § 298 StGB, 2004, S. 21 ff.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
84<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
dene Ergebnisse Anwendungsunsicherheiten mindern und<br />
den Umgang mit der Norm erleichtern.<br />
Zunächst wird ein Überblick über das Rechtsgut und die<br />
deliktstypische Einordnung des § 298 StGB gegeben (II.).<br />
Sodann erfolgt die Analyse aktueller Problemstellungen, die<br />
vornehmlich die praktische Anwendung des § 298 StGB<br />
betreffen (III.). Neben der Darstellung und Beurteilung der<br />
hierzu in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen<br />
werden eigene Lösungsansätze entwickelt, wobei in<br />
Ergänzung einer rein juristisch-dogmatischen Betrachtungsweise<br />
insbesondere volkswirtschaftliche Aspekte in die Bewertung<br />
einbezogen werden. Am Ende der Untersuchung<br />
steht eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse, die<br />
auch einen Überblick über aktuelle, internationale Tendenzen<br />
der rechtlichen Beurteilung von Submissionsabsprachen und<br />
deren Behandlung in anderen europäischen Rechtsordnungen<br />
geben soll (IV.).<br />
II. Grundlagen<br />
1. Rechtsgut des § 298 StGB<br />
Das von § 298 StGB geschützte Rechtsgut ist nach einhelliger<br />
Meinung primär der freie, lautere Wettbewerb als Institution<br />
des Wirtschaftslebens. 6 Hinzu tritt der Schutz der Vermögensinteressen<br />
des Veranstalters, 7 wohingegen das Vermögen<br />
der (potentiellen) Mitbewerber durch § 298 StGB<br />
allenfalls mittelbar geschützt wird. 8<br />
Teilweise geäußerte Zweifel 9 und verfassungsrechtliche<br />
Bedenken an der Eignung des „freien Wettbewerbs“ – im<br />
Sinne der „Freiheit der Marktkonkurrenz vor unlauteren,<br />
nicht offenbarten Einflüssen, die das Austauschverhältnis von<br />
Waren und Dienstleistungen einseitig zugunsten eines Beteiligten<br />
verzerren“ 10 – als Schutzgut des § 298 StGB sind indes<br />
unbegründet. Wettbewerb ist das zur Verwirklichung jeder<br />
6<br />
Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 13; Greeve, Korruptionsdelikte in<br />
der Praxis, 2005, Rn. 339; Oldigs, wistra 1998, 291 (293 f.).<br />
Eingehend zur Sozialschädlichkeit von Submissionsabsprachen,<br />
Dannecker, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),<br />
Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2, 2. Aufl.<br />
2005, § 298 Rn. 6 ff.<br />
7<br />
So die h.M., vgl. nur Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 13<br />
m.w.N.; s. auch BT-Drs. 13/5584, S. 14.<br />
8<br />
Vgl. Tiedemann, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.),<br />
Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 11. Aufl. 2005,<br />
§ 298 Rn. 9; Rudolphi, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer<br />
Kommentar zum Strafgesetzbuch, 6. Aufl., 56. Lieferung,<br />
Stand: April 2000, § 298 Rn. 5 m.w.N.; anders König,<br />
JR 1997, 397 (402).<br />
9<br />
Vgl. Oldigs, Möglichkeiten und Grenzen der strafrechtlichen<br />
Bekämpfung von Submissionsabsprachen, 1998, S. 122 ff.;<br />
Lüderssen, in: Dahs (Hrsg.), Kriminelle Kartelle?, 1998, S. 54 f.<br />
10<br />
Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 13; Korte, NStZ 1997, 513 (516);<br />
Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,<br />
54. Aufl. 2007, Vor § 298 Rn. 6 m.w.N.
Zehn Jahre Strafbarkeit wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaftsordnung notwendige<br />
Grundprinzip. Wettbewerbliche Selbststeuerung<br />
dient als selbsttätiges, staatlich eingesetztes Mittel zur Koordination<br />
des Wirtschaftsablaufs, das die Marktfreiheit des<br />
einzelnen sichert, den Nachfragern frei wählbare Alternativen<br />
eröffnet und für den Verbraucher die günstigsten Preise entstehen<br />
lässt. 11 Versteht man Rechtsgüter als „Gegebenheiten<br />
oder Zwecksetzungen, die für die freie Entfaltung des Einzelnen,<br />
die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren<br />
eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen<br />
Systems notwendig sind“ 12 , so erfüllt die Institution<br />
Wettbewerb alle Voraussetzungen, die an ein strafrechtlich<br />
schutzfähiges Rechtsgut zu stellen sind. 13 Überdies hindert<br />
die Tatsache, dass es sich beim Schutzgut Wettbewerb um<br />
ein abstraktes, von sich ändernden gesetzlichen Vorgaben<br />
bestimmtes und deshalb ständigen Wandlungen unterworfenes<br />
Rechtsgut handelt, dessen strafrechtlichen Schutz nicht.<br />
Vielmehr hat der Gesetzgeber durch die Bezugnahme der<br />
kartellrechtlichen Regelungen des GWB und die Anbindung<br />
an die Bestimmungen der jeweils zu beachtenden Vergaberichtlinien<br />
eine klare, rechtsstaatlich unbedenkliche Begrenzung<br />
des Unrechtstatbestands geschaffen. 14<br />
2. Deliktstypische Einordnung<br />
Hinsichtlich der deliktstypischen Einordnung des § 298 StGB<br />
herrscht Streit: während der überwiegende Teil der Literatur<br />
die Norm als abstraktes Gefährdungs- und Tätigkeitsdelikt<br />
versteht, 15 gehen andere 16 von einem Verletzungsdelikt aus.<br />
Für die zuerst genannte Ansicht spricht, neben dem Gesetzeswortlaut<br />
(„Abgabe“ eines Angebots), der bewusste Verzicht<br />
des Gesetzgebers auf das Erfordernis einer Täuschung<br />
11<br />
Näher zu den wirtschaftspolitischen Funktionen des Wettbewerbs(rechts)<br />
Köhler, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm<br />
(Hrsg.), Kommentar zum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb,<br />
25. Aufl. 2007, Einl UWG Rn. 1, 46 ff.<br />
12<br />
Vgl. nur Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1,<br />
4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 7.<br />
13<br />
Auch der von Marx und Hassemer entwickelte sog. personale<br />
Rechtsgutsbegriff führt zu keiner abweichenden Beurteilung.<br />
Er verlangt lediglich, dass Universalrechtsgüter letztlich<br />
dem Einzelnen zu dienen haben, d.h. „sich als – vermittelte –<br />
Interessen des Individuums nachweisen lassen“, vgl. nur<br />
Hassemer, Strafen im Rechtsstaat, 2000, S. 166; ähnlich<br />
Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 60.<br />
14<br />
Ähnlich Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 10. Grundlegend<br />
zum Wettbewerb als strafrechtliches Rechtsgut Tiedemann,<br />
in: Britz u.a. (Hrsg.), Grundfragen staatlichen Strafens, Festschrift<br />
für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag, 2001,<br />
S. 905 ff.<br />
15<br />
Vgl. Greeve (Fn. 6), Rn. 339; Möhrenschlager, in: Dölling<br />
(Hrsg.), Handbuch der Korruptionsprävention, 2007, Kap. 8<br />
Rn. 143; Kosche, Strafrechtliche Bekämpfung wettbewerbsbeschränkender<br />
Absprachen bei Ausschreibungen – § 298<br />
StGB, 2001, S. 138.<br />
16<br />
Vgl. Grützner, Die Sanktionierung von Submissionsabsprachen,<br />
2003, S. 512; Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 12;<br />
Walter, GA 2001, 130 (140).<br />
und eines Vermögensschadens. Eine andere Beurteilung<br />
ergibt sich allerdings, wenn man – der Ansicht Walters 17<br />
folgend – nicht auf den freien Wettbewerb als solchen abstellt,<br />
sondern auf das im Einzelfall vorliegende Ausschreibungsverfahren.<br />
Der darin enthaltene, gewollt kompetitiv<br />
ausgestaltete Preisbildungsvorgang wird tatsächlich schon<br />
durch die Absprache an sich beeinträchtigt, also verletzt. Im<br />
Kern geht es damit um die dogmatische Unterscheidung<br />
zwischen Rechtsgut und Angriffsobjekt: Das durch einen<br />
Straftatbestand geschützte Rechtsgut bezeichnet zunächst ein<br />
Abstraktum, im Fall des § 298 StGB den Wettbewerb. Das<br />
Angriffsobjekt hingegen beschreibt ein „körperliches Substrat“<br />
18 dieses Rechtsguts, bei § 298 StGB das in Frage stehende<br />
Ausschreibungsverfahren. Mit dem Abstellen auf letzteres<br />
ließe sich die Einordnung des § 298 StGB als Verletzungsdelikt<br />
zwar begründen. Indes muss jedes Rechtsgut,<br />
insbesondere normativ-geistige Gebilde wie der Wettbewerb,<br />
dem Täter eine konkrete Angriffsfläche bieten, um deliktische<br />
Anknüpfungspunkte herzustellen. Mit der Ansicht Walters<br />
würde folglich jedes Gefährdungsdelikt in ein Verletzungsdelikt<br />
umgedeutet. Seine Einordnung wäre also nur<br />
haltbar, wollte man die Lehre von den Deliktstypen grundsätzlich<br />
in Frage stellen. 19<br />
Die Wahrheit liegt indes zwischen den beiden dargestellten<br />
Positionen. Weder wollte der Gesetzgeber mit § 298<br />
StGB eine bereits eingetretene Wettbewerbsverletzung, noch<br />
die bloße Vornahme einer nur abstrakt wettbewerbsgefährdenden<br />
Handlung pönalisieren. Ausweislich der Gesetzesbegründung<br />
ging er vielmehr ausdrücklich von einer „Gefährdung“<br />
des freien Wettbewerbs aus, die ihm jedoch erst mit<br />
Abgabe eines auf einer rechtswidrigen Absprache beruhenden<br />
Angebots hinreichend konkret erschien, um eine Strafbarkeit<br />
zu begründen. 20 § 298 StGB stellt damit weder ein<br />
Tätigkeits-, noch ein Verletzungsdelikt, sondern ein Erfolgsdelikt<br />
im Sinne eines konkreten Gefährdungsdelikts dar. 21<br />
III. Problembereiche des § 298 StGB<br />
Nach der Darstellung der Grundlagen, sollen im Folgenden<br />
ausgewählte Probleme der Anwendung des § 298 StGB erörtert<br />
werden.<br />
Gemäß § 298 Abs. 1 StGB wird bestraft, 22 „wer bei einer<br />
Ausschreibung über Waren oder gewerbliche Leistungen ein<br />
Angebot abgibt, das auf einer rechtswidrigen Absprache<br />
17<br />
Vgl. Walter, GA 2001, 130 (134 ff.).<br />
18<br />
Vgl. Roxin (Fn. 12), § 2 Rn. 66.<br />
19<br />
So auch der Tenor des Aufsatzes Walters, GA 2001, 130<br />
(131 ff.); ders., Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 16 f.; ähnlich<br />
Samson, in: ders. (Hrsg.), Festschrift für Gerald Grünwald<br />
zum siebzigsten Geburtstag, 1999, S. 585 ff. (603).<br />
20<br />
Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 14.<br />
21<br />
Insbesondere hindert das Fehlen der Begriffe „Gefahr“<br />
oder „Gefährdung“ im Gesetzeswortlaut diese Einordnung<br />
nicht, vgl. Pasewaldt, <strong>ZIS</strong> 2007, 75 (77) m.w.N. in Fn. 40.<br />
22<br />
Hinsichtlich der angedrohten Freiheitsstrafe von bis zu fünf<br />
Jahren oder Geldstrafe stellt § 298 StGB ein Vergehen dar,<br />
vgl. § 12 Abs. 2 StGB.<br />
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85
David Pasewaldt<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
beruht, die darauf abzielt, den Veranstalter zur Annahme<br />
eines bestimmten Angebots zu veranlassen“. 23<br />
1. Private Ausschreibungen als „Ausschreibung“ i.S.d. § 298<br />
Abs. 1 StGB?<br />
Als Tatsituation verlangt § 298 Abs. 1 StGB das Vorliegen<br />
einer „Ausschreibung“, also eines formalisierten Verfahrens,<br />
mit dem der Veranstalter Angebote einer Mehrzahl von Anbietern<br />
für die Lieferung bestimmter Waren oder das Erbringen<br />
bestimmter Leistungen einholt. 24 In Rechtsprechung 25<br />
und Literatur 26 ist hierbei anerkannt, dass der Tatbestand<br />
neben öffentlichen auch private Ausschreibungen erfasst,<br />
sofern das Vergabeverfahren den §§ 97 ff. GWB oder den für<br />
öffentliche Veranstalter geltenden Bestimmungen der Vergabe-<br />
und Vertragsordnungen für (Bau-)Leistungen (VOB/A<br />
bzw. VOL/A) inhaltlich ähnlich ausgestaltet ist. Im Grundsatz<br />
verdient diese Auffassung Zustimmung. Denn im Hinblick<br />
auf den Wettbewerb als Schutzgut der Vorschrift kann<br />
nicht entscheidend sein, ob dieser im Rahmen öffentlicher<br />
oder privater Ausschreibungen beeinträchtigt wird. Andererseits<br />
bedarf es zum Schutz vor einer uferlosen Ausweitung<br />
einer gewissen Begrenzung des Tatbestandes. Die Frage<br />
lautet daher, wann genau ein der öffentlichen Ausschreibung<br />
„ähnlich ausgestaltetes“ privates Vergabeverfahren anzunehmen<br />
ist.<br />
Greeve verweist in diesem Zusammenhang auf den<br />
Zweck des Ausschreibungsverfahrens, der neben dem Erfordernis<br />
sparsamer Haushaltsführung auch im Vertrauensschutz<br />
der Bieter auf die Einhaltung vergaberechtlicher Bestimmungen<br />
zu sehen sei. Folglich falle ein privates Vergabeverfahren<br />
nur unter § 298 StGB, wenn sich der Auftraggeber von vornherein<br />
verpflichtet, insgesamt wie ein öffentlicher Auftraggeber<br />
zu verfahren. Kennzeichnend dafür seien insbesondere<br />
die Einhaltung formalisierter Verfahrensweisen, die Verpflichtung<br />
zur Annahme des wirtschaftlichsten Angebots, 27<br />
das generelle Verbot zu Nachverhandlungen sowie die verbindliche<br />
Dokumentation des Bindungswillens des Aus-<br />
23<br />
Bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 298<br />
StGB ist grundsätzlich auf die aus dem Kartellrecht bekannten<br />
Begriffe und Definitionen zurückzugreifen, vgl. BT-Drs.<br />
13/5584, S. 14; Wedlich (Fn. 5), S. 92 f.; Otto, wistra 1999, 41<br />
m.w.N.<br />
24<br />
Vgl. Greeve (Fn. 6), Rn. 345; Dannecker (Fn. 6), § 298<br />
Rn. 24. § 298 Abs. 2 StGB stellt freihändige Vergaben mit<br />
vorausgegangenem Teilnahmewettbewerb, die unterhalb der<br />
Auftragsschwellenwerte für eine EU-weite Ausschreibung<br />
zur Anwendung kommen (etwa bei Bauvorhaben mit einem<br />
Gesamtwert von unter 5.278.000 Mio. Euro, vgl. § 100<br />
Abs. 1 GWB i.V.m. § 2 Nr. 4 VgV), einer Ausschreibung<br />
i.S.d. Abs. 1 gleich.<br />
25<br />
Vgl. BGH wistra 2003, 146 = NStZ 2003, 548 m. Anm.<br />
Greeve.<br />
26<br />
Vgl. Heine, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch,<br />
27. Aufl. 2006, § 298 Rn. 4; Otto, wistra 1999, 41;<br />
s. auch BT-Drs. 13/5584, S. 14.<br />
27<br />
Vgl. § 97 Abs. 5 GWB.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
86<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
schreibenden in Form einer vertraglichen Vereinbarung. 28<br />
Dieser Auffassung wäre jedenfalls zuzustimmen, wenn das<br />
Vermögen des Ausschreibenden das vorrangige Rechtsgut<br />
des § 298 StGB darstellte. Dann nämlich wäre es vertretbar,<br />
dass der Ausschreibende sich den Schutz seines Vermögens<br />
durch seine freiwillige und vollständige Bindung an die öffentlichen<br />
Vergaberichtlinien „erkaufen“ müsse. Umgekehrt<br />
wären die Bieter der strafrechtlichen Sanktion des § 298<br />
StGB nur ausgesetzt, wenn sie ihrerseits auf die Einhaltung<br />
der vom Gesetzgeber vorgegebenen Regelungen vertrauen<br />
dürften. 29<br />
Tatsächlich aber dient § 298 StGB, wie dargelegt, primär<br />
dem Schutz des freien Wettbewerbs. 30 Die h.M. zieht daraus<br />
den Schluss, private Ausschreibungen bereits als von § 298<br />
StGB erfasst anzusehen, wenn der private Veranstalter allgemeine<br />
Vergabegrundsätze wie den Gleichbehandlungsgrundsatz<br />
31 und die Beschränkung auf fachkundige, leistungsfähige<br />
und zuverlässige Unternehmen 32 beachtet. 33<br />
Die h.M. vermag dennoch nicht zu überzeugen. Mit ihr<br />
werden letztlich höhere Anforderungen an die Erfassung<br />
öffentlicher, als an die Einbeziehung privater Ausschreibungen<br />
gestellt. Es ist indes nicht ersichtlich, weshalb letztere<br />
einen weiteren strafrechtlichen Schutz genießen sollten. Mit<br />
dem bloßen Verweis auf das erklärte gesetzgeberische Ziel,<br />
die Korruptionskriminalität wirksam und konsequent zu bekämpfen,<br />
34 lässt sich eine solche Differenzierung jedenfalls<br />
nicht begründen.<br />
Der Auffassung Greeves ist damit zwar nicht in ihrer Begründung,<br />
gleichwohl aber im Ergebnis zuzustimmen. Private<br />
Ausschreibungen werden von § 298 Abs. 1 StGB nur erfasst,<br />
wenn sich der Ausschreibende verpflichtet, ausschließlich<br />
nach öffentlichen Vergaberegelungen zu verfahren.<br />
2. Vertikale Absprachen als „Absprache“ i.S.d. § 298 Abs. 1<br />
StGB?<br />
Im Streit steht ferner die Anwendbarkeit des § 298 StGB auf<br />
sog. vertikale Absprachen. Vertikale Absprachen sind solche,<br />
die nicht zwischen anbietenden Unternehmen, sondern zwischen<br />
Personen auf Seiten des Ausschreibenden und wenigs-<br />
28<br />
Vgl. Greeve (Fn. 6), Rn. 352 f.; dies., NStZ 2002, 505 (506 f.);<br />
dies., NStZ 2003, 549 f.<br />
29<br />
Schutzwürdig sind die Bieter etwa hinsichtlich des mit der<br />
Angebotserstellung verbundenen Kostenaufwands, vgl. Greeve,<br />
NStZ 2002, 505 (506); dies., NStZ 2003, 549.<br />
30<br />
Vgl. oben II. 1.<br />
31<br />
Vgl. § 97 Abs. 2 GWB.<br />
32<br />
Vgl. § 97 Abs. 4 GWB.<br />
33<br />
Vgl. BGH wistra 2003, 146 = NStZ 2003, 548 m. Anm.<br />
Greeve; Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 29; Wiesmann, Die<br />
Strafbarkeit gemäß § 298 StGB bei der Vergabe von Bauleistungen<br />
und die Implementierung eines Straftatbestands verbotener<br />
Submissionsabsprachen in ein Strafgesetz der Europäischen<br />
Union, 2006, S. 112 f. m.w.N.<br />
34<br />
Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 8.
Zehn Jahre Strafbarkeit wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
tens einem der Anbieter getroffen werden. 35 Zur Verdeutlichung<br />
soll folgendes Beispiel dienen: M ist Mitarbeiter der<br />
Stadt S mit maßgeblichem Einfluss auf die städtische Auftragsvergabe<br />
im Rahmen von Ausschreibungen. Vereinbarungsgemäß<br />
übt er diesen Einfluss auch dann zugunsten des<br />
Bauunternehmers B aus, wenn andere Anbieter günstigere<br />
Angebote eingereicht haben. Im Gegenzug erbringt B Zahlungen<br />
an M. Absprachen mit anderen Anbietern hat B nicht<br />
getroffen.<br />
Während Teile der Literatur auch Übereinkünfte zwischen<br />
nur einem (potentiellen) Bieter und Personen auf der Seite<br />
des Veranstalters 36 oder dem Veranstalter selbst 37 als von der<br />
Norm erfasst ansehen, verneinen andere 38 die Anwendung<br />
des § 298 StGB auf solche Absprachen generell. Auch der<br />
BGH hat sich im Jahr 2004 für die zuletzt genannte Ansicht<br />
ausgesprochen. 39<br />
Für die Einbeziehung vertikaler Absprachen in den Anwendungsbereich<br />
des § 298 StGB spricht der Wortlaut der<br />
Norm, der insoweit keine Einschränkung vornimmt. Ferner<br />
lässt sich der Hinweis der Gesetzesbegründung anführen,<br />
dass „gerade die Fälle besonders strafwürdig [sind], bei denen<br />
der Bieter kollusiv mit einem Mitarbeiter des Veranstalters<br />
[…] zusammenarbeitet“ 40 . Entscheidend für die restriktive<br />
Auslegung i.S. des BGH spricht indes das Tatbestandsmerkmal<br />
41 der Rechtswidrigkeit der Absprache, das nach<br />
allgemeiner Ansicht vorliegt, wenn die Absprache gegen die<br />
kartellrechtlichen Vorschriften des GWB (bzw. das europäische<br />
Wettbewerbsrecht, vgl. Art. 81, 82 EGV) verstößt. 42 Das<br />
Kartellverbot des § 1 GWB gilt nur für „miteinander im<br />
Wettbewerb stehende“ Unternehmen. Da der strafrechtlich<br />
gewährleistete Wettbewerbsschutz wegen der GWBakzessorischen<br />
Tatbestandsausgestaltung aber nicht weiter<br />
gehen kann, als der kartellrechtliche, ist auch für § 298 StGB<br />
das Vorliegen eines Horizontalverhältnisses zwischen den<br />
Absprechenden zu fordern. Der Veranstalter einer Ausschreibung<br />
steht im Regelfall jedoch nicht in Konkurrenz mit den<br />
bietenden Unternehmen, so dass kollusives Zusammenwirken<br />
35<br />
Eingehend zur Funktions- und Vorgehensweise horizontaler<br />
und vertikaler Submissionskartelle Satzger, Der Submissionsbetrug,<br />
1994, S. 38 ff., 217 ff.<br />
36<br />
Vgl. Heine (Fn. 26), § 298 Rn. 11; Tröndle/Fischer (Fn. 10),<br />
§ 298 Rn. 9.<br />
37<br />
Vgl. Rudolphi (Fn. 8), § 298 Rn. 8.<br />
38<br />
Vgl. Greeve (Fn. 6), Rn. 373 f.; Heine (Fn. 26), § 298 Rn. 11;<br />
Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 16, 34.<br />
39<br />
Vgl. BGHSt 49, 201 (206 f.) = wistra 2005, 29 = JZ 2005, 49<br />
m. zust. Anm. Dannecker; fortgef. von BGH wistra 2005, 29;<br />
BGH NStZ 2006, 687 = wistra 2006, 385 (386).<br />
40<br />
Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 14.<br />
41<br />
Vgl. Lackner/Kühl, Kommentar zum Strafgesetzbuch,<br />
26. Aufl. 2007, § 298 Rn. 3; Kosche (Fn. 15), S. 153 f.<br />
42<br />
Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 14; Grützner (Fn. 16), S. 524 f.<br />
m.w.N. Diese Einschränkung folgt zwar nicht unmittelbar aus<br />
dem Wortlaut des § 298 Abs. 1 StGB, jedoch aus der Überschrift<br />
der Vorschrift („wettbewerbsbeschränkende Absprachen<br />
bei Ausschreibungen“), vgl. BGHSt 49, 201 (205);<br />
Kosche (Fn. 15), S. 153.<br />
zwischen dem Ausschreibenden und einem bietenden Unternehmen<br />
das Merkmal der rechtswidrigen Absprache nicht<br />
erfüllt und von § 298 StGB nicht erfasst wird.<br />
Aus kriminalpolitischer Sicht ist dieses Resultat nicht zu<br />
beanstanden. Insbesondere sind keine Strafbarkeitslücken zu<br />
befürchten, da vertikale Absprachen – auch bei Ausschreibungen<br />
der öffentlichen Hand 43 – in der Regel (auch 44 ) vom<br />
Tatbestand der Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen<br />
Verkehr gemäß § 299 StGB, der wie § 298 StGB dem<br />
Schutzgut Wettbewerb dient, 45 erfasst werden. 46<br />
3. Abgabe des Angebots<br />
Ein weiteres, häufig diskutiertes Problem des § 298 StGB ist<br />
die Bestimmung des genauen Zeitpunkts der Angebotsabgabe.<br />
47 Diesem Moment, der zugleich die Vollendung der Tat<br />
markiert, kommt – wegen der fehlenden Versuchsstrafbarkeit<br />
– in Grenzfällen entscheidende Bedeutung zu. In Rechtsprechung<br />
und Lehre werden hierzu unterschiedliche Ansätze<br />
vertreten, die sich wie folgt skizzieren lassen:<br />
Nach der weitesten, von König vertretenen Auffassung,<br />
sind für § 298 StGB die im Zivilrecht zur Abgabe von Willenserklärung<br />
geltenden Kriterien entsprechend anzuwenden.<br />
48 Abgabe liegt demnach bereits vor, wenn der Täter das<br />
Angebot willentlich in Richtung des Ausschreibenden in den<br />
Verkehr bringt. 49<br />
Die h.M. sieht hingegen das Angebot erst als abgegeben<br />
an, wenn es dem Veranstalter so zugeht, dass es bei ordnungsgemäßem<br />
Ablauf im Ausschreibungsverfahren berücksichtigt<br />
werden kann. 50 Annahme oder Kenntnisnahme des<br />
Veranstalters vom Angebotsinhalt seien dabei nicht erforderlich.<br />
51<br />
Wolters erwägt schließlich, für die Interpretation des Begriffs<br />
der Abgabe auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Angebotsfrist<br />
52 oder sogar des Eröffnungstermins 53 abzustellen, 54<br />
43<br />
Vgl. BGHSt 2, 396 (403 f.); BGH NStZ 1994, 277; Dannecker<br />
(Fn. 6), § 299 Rn. 26.<br />
44<br />
Ebenfalls einschlägig sind hier regelmäßig die §§ 331 ff.<br />
StGB.<br />
45<br />
Vgl. Tiedemann (Fn. 8), § 299 Rn. 5; Tröndle/Fischer<br />
(Fn. 10), § 298 Rn. 2 m.w.N.<br />
46<br />
Ähnlich BGHSt 49, 201 (205).<br />
47<br />
Unter einem Angebot versteht man die Erklärung gegenüber<br />
dem Veranstalter, wonach der Täter die Lieferung der<br />
Waren oder die Erbringung der Leistung, welche die Ausschreibung<br />
zum Gegenstand hat, zu einem bestimmten Preis<br />
anbietet, sodass grundsätzlich ohne weiteres ein Zuschlag<br />
erfolgen, das Angebot also angenommen werden kann, vgl.<br />
Wedlich (Fn. 5), S. 107 f.; Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 39.<br />
48<br />
Vgl. König, JR 1997, 397 (402).<br />
49<br />
Vgl. Heinrichs, in: Palandt, Kommentar zum Bürgerlichen<br />
Gesetzbuch, 66. Aufl. 2007, § 130 Rn. 4.<br />
50<br />
Vgl. BGH NStZ 2003, 548; Otto, wistra 1999, 41 (42);<br />
Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 41 m.w.N.<br />
51<br />
Vgl. Grützner (Fn. 16), S. 517; Tiedemann (Fn. 8), § 298<br />
Rn. 31.<br />
52 Vgl. § 18 VOB/A.<br />
53 Vgl. § 22 VOB/A.<br />
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87
David Pasewaldt<br />
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da dem Veranstalter zugegangene Angebote bis zum Ablauf<br />
der Angebotsfrist noch zurückgezogen werden können.<br />
Gegen den restriktiven Ansatz Wolters’ spricht, dass die<br />
zur Vollendung eines konkreten Gefährdungsdelikts maßgebliche<br />
Intensität der Gefahr für das Rechtsgut 55 bei § 298<br />
StGB nicht erst mit Fristablauf oder Öffnung der Angebote,<br />
sondern bereits mit Zugang des Angebots beim Ausschreibenden<br />
eintritt. Schon ab diesem Zeitpunkt ist eine Wettbewerbsschädigung<br />
hinreichend wahrscheinlich und ihr Ausbleiben<br />
nur noch „vom Zufall abhängig“ 56 . Die Angebotsrücknahme<br />
vor Fristablauf stellt deshalb keinen für die Tatvollendung<br />
entscheidenden Umstand, sondern einen unter<br />
§ 298 Abs. 3 StGB 57 zu subsumierenden Fall tätiger Reue<br />
dar. 58<br />
Es bleibt damit nur zu klären, ob mit der Ansicht Königs<br />
über die h.M. hinaus bereits auf die zivilrechtliche Abgabe<br />
des Angebots abzustellen ist. Diese Auffassung lässt dem<br />
Schutzgut Wettbewerb einen weit reichenden Schutz angedeihen<br />
und steht somit im Einklang mit dem gesetzgeberischen<br />
Ziel einer effektiven Bekämpfung der Korruptionskriminalität<br />
59 . Hingegen kann der für die Vollendung eines<br />
konkreten Gefährdungsdelikts erforderliche Gefährlichkeitsgrad<br />
frühestens dort angenommen werden, wo die Möglichkeit<br />
einer Rechtsgutsbeeinträchtigung tatsächlich besteht.<br />
Dies aber ist, wenn das Angebot zwar im zivilrechtlichen<br />
Sinn abgegeben wurde, der Ausschreibende jedoch nicht<br />
einmal theoretisch die Möglichkeit zur Kenntnisnahme hat, 60<br />
nicht der Fall. 61 Die Auffassung Königs entspricht damit der<br />
Schaffung einer vom Gesetzgeber nicht vorgesehenen Versuchsstrafbarkeit.<br />
Mit der h.M. gilt ein Angebot deshalb als abgegeben,<br />
wenn es auf Veranlassung des Täters derart in den Machtbereich<br />
des Ausschreibenden gelangt, dass nach normalen Umständen<br />
mit seiner Kenntnisnahme zu rechnen ist.<br />
54 Vgl. Wolters, JuS 1998, 1100 (1102).<br />
55 Eingehend dazu Roxin (Fn. 12), § 11 Rn. 148.<br />
56 Vgl. BGH NStZ 1996, 83; NStZ-RR 1997, 18; Roxin (Fn. 12),<br />
§ 11 Rn. 151 m.w.N.<br />
57 Gemäß § 298 Abs. 3 StGB bleibt straffrei, wer freiwillig<br />
die Angebotsannahme oder die spätere Leistungserbringung<br />
durch den Auftraggeber verhindert bzw. sich bei Ausbleiben<br />
der Angebotsannahme oder der Erbringung der Leistung aus<br />
anderen Gründen freiwillig und ernsthaft bemüht, die Annahme<br />
des Angebots oder das Erbringen der Leistung des<br />
Ausschreibenden zu verhindern. Kritisch zur Ausgestaltung<br />
dieser Regelung Tröndle/Fischer (Fn. 10), § 298 Rn. 11.<br />
58 Für Otto folgt dies bereits aus der Natur des § 298 StGB als<br />
Äußerungsdelikt, vgl. Otto, wistra 1999, 41 (42); zust. Wedlich<br />
(Fn. 5), S. 113.<br />
59 Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 8.<br />
60 Etwa, weil sich das Angebot noch auf dem Postweg befin-<br />
det.<br />
61 In Betracht kommt hier indes eine Strafbarkeit wegen versuchten<br />
Betruges. Zum Verhältnis der §§ 263, 298 StGB<br />
zueinander unten III. 6.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
88<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
4. Täterkreis<br />
Umstritten ist auch die Frage, welche Personen Täter des<br />
§ 298 StGB sein können. Da der Gesetzeswortlaut insoweit<br />
keine Einschränkung vornimmt, kann Täter nach zutreffender<br />
h.M. grundsätzlich jeder sein, der ein nach § 298 StGB qualifiziertes<br />
Angebot abgibt. Die Vorschrift ist also ein Allgemeindelikt<br />
und kein Sonderdelikt. 62 Möglicherweise gebieten<br />
jedoch systematische oder teleologische Erwägungen eine<br />
Einschränkung des Täterkreises auf bestimmte Personen oder<br />
Personengruppen.<br />
Tiedemann u.a. fordern die Verengung des Täterkreises:<br />
Außenseiter, die selbst nicht an der Kartellabsprache beteiligt<br />
sind 63 und Hilfspersonen des Anbietenden 64 sollen nicht erfasst<br />
werden.<br />
Hinsichtlich der Abgabe eines Angebots durch Hilfspersonen<br />
verdient diese Ansicht Zustimmung. Sekretärinnen,<br />
Praktikanten, Büroboten u.ä. geben das Angebot regelmäßig<br />
in Erfüllung der gegenüber ihren Dienstherren bestehenden<br />
Pflichten ab. Sollten die genannten Personen überhaupt in<br />
Kenntnis von der kartellrechtswidrigen Übereinkunft handeln,<br />
fehlt ihnen jedenfalls die für eine (Mit-)Täterschaft<br />
erforderliche Tatherrschaft. 65<br />
Anders liegt es hingegen in Fällen, in denen das Angebot<br />
durch Außenseiter abgegeben wird.<br />
Beispiel: Bauunternehmer B erfährt von einer Kartellabsprache<br />
der Konkurrenten K 1 und K 2 im Rahmen einer<br />
städtischen Ausschreibung um den Ausbau eines Fußballstadions.<br />
Da er weiß, dass seine Mitstreiter Angebote i.H.v. € 52<br />
Mio. (K 1) und € 54 Mio. (K 2) abgeben werden, reicht B ein<br />
Angebot zu € 48 Mio. ein. Ursprünglich hatte B mit Kosten<br />
i.H.v. € 42 Mio. kalkuliert und geplant, ein Angebot in dieser<br />
Höhe abzugeben.<br />
Tiedemann hält die Beschränkung des Tatbestands auch<br />
hier für notwendig. Die Gefährlichkeit von Submissionsabsprachen<br />
liege nicht in der Möglichkeit der geheimen Kenntniserlangung<br />
Dritter und deren einseitiger Angebotsanpassung,<br />
sondern in der Verwirklichung der Absprachen durch<br />
die Vertragspartner bzw. dem damit einhergehenden Erfolg<br />
der Wettbewerbsbeschränkung. 66 Dem ist entgegenzuhalten,<br />
dass es für die Beeinträchtigung des Schutzguts „Wettbewerb“<br />
nicht darauf ankommt, ob dieses durch die Angebotsabgabe<br />
eines Kartellmitglieds oder eines an der Absprache<br />
Unbeteiligten herabgesetzt wird. Auch ist nicht einzusehen,<br />
weshalb ein Dritter, der möglicherweise sogar gezielt von der<br />
Absprache Kenntnis erlangt, und sich diese in derselben<br />
62<br />
Vgl. Greeve (Fn. 6), Rn. 386; Heine (Fn. 26), § 298 Rn. 17.<br />
63<br />
Vgl. Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 17; zust. wohl Dannecker<br />
(Fn. 6), § 298 Rn. 51, 62; offen gelassen in BGHSt 49, 201<br />
(208).<br />
64<br />
Vgl. Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 18; zust. Dannecker<br />
(Fn. 6), § 298 Rn. 23.<br />
65<br />
Vgl. hierzu BGHSt 47, 383 (385); Lackner/Kühl (Fn. 41),<br />
Vor § 25 Rn. 6 m.w.N. Gleiches gilt für das von der älteren<br />
Rechtsprechung verlangte „eigene Interesse am Taterfolg“,<br />
vgl. nur BGHSt 28, 236 (240).<br />
66<br />
Vgl. Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 17; zust. Dannecker<br />
(Fn. 6), § 298 Rn. 62.
Zehn Jahre Strafbarkeit wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
korrupten Art zu Nutze macht, wie die an ihr Beteiligten,<br />
diesen gegenüber privilegiert werden sollte. 67<br />
Letztlich überzeugt auch das systematische Argument<br />
Tiedemanns nicht, Täter des § 298 StGB könnten schon deshalb<br />
nur an der Absprache Beteiligte sein, weil einseitige<br />
Anpassungen an wettbewerbsbeschränkendes Verhalten anderer<br />
vom Kartellverbot des § 1 GWB nicht erfasst würden. 68<br />
Zwar besteht an der inhaltlichen Richtigkeit dieser Aussage<br />
bezüglich § 1 GWB kein Zweifel. Jedoch pönalisiert § 298<br />
StGB nicht die Beteiligung an der Absprache, sondern die<br />
Abgabe eines hierauf beruhenden Angebots. 69 Die Frage nach<br />
dem Täterkreis ist deshalb von der vorab behandelten 70 Frage<br />
danach, wer Mitglied einer tatbestandsmäßigen Absprache<br />
sein kann, getrennt zu betrachten. 71<br />
Für die von Tiedemann vorgeschlagene Einschränkung<br />
des Tatbestands um Außenseiter besteht somit weder aus<br />
teleologischer noch aus systematischer Sicht Raum. Täter des<br />
§ 298 StGB können auch an der Absprache Unbeteiligte sein.<br />
5. Teleologische Reduktion um Quoten- und Erhaltungskartelle?<br />
Diskutiert wird ferner eine teleologische Reduktion des § 298<br />
StGB in Fällen, in denen die Submissionsabsprache nicht auf<br />
die Erzielung eines über dem (hypothetischen) Marktwert<br />
liegenden Preises abzielt. 72 Diese Konstellation betrifft zumeist<br />
Fälle sog. Quoten- und Erhaltungskartelle, deren Motivation<br />
nicht in der gesteigerten Gewinnerzielung, sondern in<br />
der Sicherung der Auftragslage einzelner Unternehmen, der<br />
Abwehr eines ruinösen Branchenwettbewerbs oder der<br />
gleichmäßigen Auslastung vorhandener Kapazitäten liegt.<br />
Beispiel: Die Bauunternehmer B 1, B 2 und B 3 nehmen<br />
regelmäßig an städtischen Ausschreibungen teil. Damit sie<br />
den Einsatz ihrer Arbeitsmittel besser planen können, einigen<br />
sie sich im Vorfeld einzelner Ausschreibungen, wer von<br />
ihnen den Zuschlag erhalten soll. Der jeweils Auserwählte<br />
reicht dabei ein Angebot in Höhe der tatsächlich kalkulierten<br />
(günstigsten) Baukosten ein, während die verbleibenden<br />
beiden Unternehmer deutlich überhöhte Angebote abgeben,<br />
um dem Begünstigten den Zuschlag zu sichern.<br />
67<br />
Ähnlich nur Tröndle/Fischer (Fn. 10), § 298 Rn. 14, jedoch<br />
betreffend den aus dem Kartell aussteigenden Täter, der seine<br />
Kenntnisse weiterhin zu seinem Vorteil nutzt. Ein durch die<br />
fehlende Beteiligung an der Absprache geringerer Handlungsunwert<br />
wird hier jedenfalls dadurch relativiert, dass der<br />
Dritte neben dem Ausschreibenden auch die Kartellmitglieder<br />
hintergeht – wobei über deren Schutzbedürftigkeit freilich<br />
gestritten werden darf.<br />
68<br />
Vgl. Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 17; ebenso Wedlich<br />
(Fn. 5), S. 160.<br />
69<br />
Die Absprache als solche hingegen ist gemäß § 81 Abs. 1<br />
Nr. 1 GWB lediglich bußgeldbewehrt.<br />
70<br />
Vgl. oben III. 2.<br />
71<br />
Dies stellt Tiedemann selbst zuvor ausdrücklich fest, vgl.<br />
Tiedemann (Fn. 8), § 298 Rn. 16.<br />
72<br />
Vgl. Otto, ZRP 1996, 300 (302); ähnlich ders., wistra<br />
1999, 41 (46); s. auch Diehl, BauR 1993, 1 (2).<br />
Für eine Beschränkung des § 298 StGB in diesen Fällen<br />
spricht, dass der Staat in Branchen mit hoher Ausschreibungshäufigkeit<br />
auf der Nachfrageseite regelmäßig monopolartig<br />
auftritt. Die Erstellung individueller Angebote verursacht<br />
hingegen für die bietenden Unternehmen nicht unerhebliche<br />
Kosten, die bei Nichterhalt des Auftrages vergeblich<br />
aufgewendet werden. Vor diesem Hintergrund mag reinen<br />
Quoten- oder Erhaltungskartellen tatsächlich ein geringerer<br />
Handlungsunwert zugrunde liegen, als Preiserhöhungskartellen.<br />
Nicht zu Unrecht weist Otto zudem darauf hin, dass die<br />
mit ihnen einhergehende gesteigerte Koordination der Kapazitäten<br />
zu Kosteneinsparungen führen kann. Diese resultierten<br />
letztlich in günstigeren Angeboten für den Nachfrager,<br />
was gerade im Interesse eines leistungsgerechten Wettbewerbs<br />
liege. 73<br />
Ob dadurch eine tatbestandsmäßige Einschränkung des<br />
§ 298 StGB gerechtfertigt ist, erscheint dennoch zweifelhaft.<br />
Zunächst lässt die Argumentation Ottos außer Acht, dass<br />
primäres Schutzgut der Vorschrift nicht das Vermögen des<br />
Ausschreibenden, sondern die Freiheit des Wettbewerbs –<br />
vor unlauteren, nicht offenbarten Einflüssen 74 – ist. Dass<br />
dieses Rechtsgut in den fraglichen Fällen nicht ebenso beeinträchtigt<br />
wird, wie durch Preiserhöhungskartelle, ließe sich<br />
aus wettbewerbstheoretischer Sicht allenfalls damit begründen,<br />
dass Quoten- und Erhaltungskartelle beinahe ausschließlich<br />
in durch oligopolistische Strukturen geprägten Marktsegmenten<br />
auftreten. Gerade die für die Bauwirtschaft typischen<br />
sog. engen Oligopole sind durch eine kleine Anzahl<br />
relativ großer Anbieter, ein hohes Maß an Gruppensolidarität<br />
und nichtrivalisierendes – aber legales – Parallelverhalten<br />
gekennzeichnet. 75 Man könnte daher argumentieren, Wettbewerb<br />
entfalte hier von vornherein keine besondere Intensität<br />
und könne folglich auch nicht in nennenswertem Ausmaß<br />
beeinträchtigt werden. Zum einen aber vernachlässigt diese<br />
Sichtweise, dass sich das nicht kompetitive Parallelverhalten<br />
meist nur auf den Preis bezieht, während hinsichtlich der<br />
übrigen Aktionsparameter (Qualität etc.) regelmäßig lebhafter<br />
Wettbewerb herrscht. Zum anderen lässt sie außer Acht,<br />
dass das Ausschreibungsverfahren in seiner gesetzlichen<br />
Ausgestaltung das allgemeine Prinzip wirtschaftlichen Leistungswettbewerbs<br />
konkretisiert und dieses zum alleinigen<br />
Maßstab für die Findung des „richtigen“ Preises für das Ausschreibungsobjekt<br />
erhebt. 76 Das besondere volkswirtschaftliche<br />
Schädigungspotential von Quoten- und Erhaltungskartellen<br />
besteht ferner darin, dass gerade die Erhaltung unrentabler<br />
Kapazitäten zu ineffizienten Branchenstrukturen führt.<br />
Diese können mittel- bis langfristig die volkswirtschaftliche<br />
Produktivität ganzer Wirtschaftszweige und die Leistungsfähigkeit<br />
der gesamten deutschen Volkswirtschaft im internationalen<br />
Leistungswettbewerb (Stichwort: Globalisierung)<br />
schädigen.<br />
73 Vgl. Otto, ZRP 1996, 300 (302).<br />
74 Vgl. oben II. 1.<br />
75 Sog. nichtkompetitives Oligopol, vgl. Bartling/Luzius,<br />
Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 15. Aufl. 2004, S. 104 f.<br />
76 Vgl. Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 4.<br />
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89
David Pasewaldt<br />
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Letztlich überzeugt auch ein die Rechtsanwendung betreffendes,<br />
von den Vertretern der Gegenansicht – soweit ersichtlich<br />
– bislang vernachlässigtes Argument gegen die Vornahme<br />
einer teleologischen Reduktion des § 298 StGB im Sinne<br />
Ottos. In der Praxis nämlich dürfte ein Bereicherungsvorsatz<br />
der Absprechenden ähnlich schwer zu beweisen sein, wie ein<br />
tatsächlich entstandener Vermögensschaden des Ausschreibenden.<br />
Die Existenz eines Quoten- oder Erhaltungskartells<br />
würde regelmäßig zur Schutzbehauptung der Absprechenden,<br />
die in Verbindung mit dem strafprozessualen Zweifelssatz (in<br />
dubio pro reo) Strafbarkeitslücken provozierte. § 298 StGB<br />
würde praktisch ausgehöhlt und die erklärte Absicht des<br />
Gesetzgebers, mit der Vorschrift einen vom Schadensnachweis<br />
– bzw. einem entsprechenden Vorsatz – unabhängigen<br />
Tatbestand zu schaffen, 77 konterkariert.<br />
6. Das Verhältnis von § 298 zu § 263 StGB<br />
Ausgangspunkt der jüngeren Diskussion über die strafrechtliche<br />
Behandlung von Submissionskartellen, die zur Schaffung<br />
des § 298 StGB führte, war die Tatsache, dass Submissionsabsprachen<br />
lange Zeit straflos blieben, da den Tatgerichten<br />
der für die Verurteilung wegen Betruges gemäß § 263 StGB<br />
erforderliche Schadensnachweis nicht gelang. Zwar hatte der<br />
BGH den Anwendungsbereich des Betrugstatbestandes in<br />
den beiden sog. Rheinausbau-Entscheidungen 78 ausgedehnt,<br />
indem er die Feststellung eines Vermögensschadens des<br />
Ausschreibenden – anstelle des traditionellen Äquivalenzverhältnisses<br />
von Leistung und Gegenleistung – unter Zuhilfenahme<br />
eines hypothetischen Markt- bzw. Wettbewerbspreises<br />
für zulässig erklärte. Auch wenn sich ein solcher im Einzelfall<br />
nicht exakt bestimmen ließe, könne anhand bestimmter<br />
Indizien 79 mit ausreichender Sicherheit darauf geschlossen<br />
werden, dass der tatsächlich verlangte Preis über dem hypothetischen<br />
Marktpreis liege, ein Vermögensschaden des Ausschreibenden<br />
also entstanden sei. 80 Entgegen der im Schrifttum<br />
gegen diese sog. Indizienlösung 81 erhobenen Kritik 82 hält<br />
der BGH an seinem Weg der Schadensermittlung auch nach<br />
Einführung des § 298 StGB fest. In neueren Entscheidungen<br />
lässt er sogar allein die Existenz sog. Ausgleichs- oder<br />
Schmiergeldzahlungen an andere Kartellmitglieder als<br />
Nachweis für das Vorliegen eines entsprechenden Mindestschadens<br />
des Ausschreibenden genügen. 83 Kommt eine Betrugsstrafbarkeit<br />
bei Submissionsabsprachen auf Grundlage<br />
der höchstrichterlichen Rechtsprechung somit weiterhin in<br />
77 Vgl. BT-Drs. 13/5584, S. 13.<br />
78 Vgl. das Urteil vom 8.1.1992 (BGHSt 38, 186) und den<br />
Beschluss vom 31.8.1994 (BGH wistra 1994, 346).<br />
79 Vgl. BGHSt 38, 186 (193 f.).<br />
80 Vgl. Eingehend zu den Möglichkeiten der Schadensfeststellung<br />
in Fällen von Submissionsbetrug Satzger (Fn. 35),<br />
S. 66 ff.; zusammenfassend Rönnau, JuS 2002, 545 (547 ff.).<br />
81 Vgl. Satzger (Fn. 35), S. 125.<br />
82 Vgl. etwa Bartmann, Der Submissionsbetrug, 1997, S. 49 ff.;<br />
Lüddersen, wistra 1995, 243.<br />
83 Vgl. BGHSt 47, 83 (88) = NStZ 2001, 540 = JR 2002, 389<br />
m. Anm. Satzger.<br />
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90<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
Betracht, stellt sich die Frage des Verhältnisses beider Tatbestände<br />
zueinander.<br />
Festzuhalten sind zunächst die zwischen beiden Tatbeständen<br />
bestehenden Überschneidungen. Im Regelfall dürfte<br />
§ 298 StGB neben § 263 StGB verwirklicht sein. 84 Außerhalb<br />
dieser Schnittmenge sind vor allem Fälle denkbar, in denen<br />
§ 298 StGB ohne § 263 StGB erfüllt ist, was auf das Fehlen<br />
eines (nachweisbaren) Vermögensschadens oder den früheren<br />
Vollendungszeitpunkt der Angebotsabgabe bei § 298 StGB<br />
zurückzuführen sein kann. 85 Umgekehrt dürften Fälle von<br />
Submissionsabsprachen, in denen § 263 StGB ohne § 298<br />
StGB verwirklicht wird, eher die Ausnahme darstellen. 86<br />
Auf Konkurrenzebene verstehen Teile der Literatur § 298<br />
StGB als lex specialis zu § 263 StGB. 87 Die h.M. hingegen<br />
hält beide Tatbestände für nebeneinander anwendbar 88 und<br />
nimmt Tateinheit an 89 . Wiederum andere betrachten § 298<br />
StGB als subsidiär gegenüber § 263 StGB. 90<br />
Für den zuerst genannten Ansatz lässt sich anführen, dass<br />
§ 298 StGB das Vermögen des Ausschreibenden mitschützt, 91<br />
die Vorschrift also wenigstens auch dem Schutzgut des § 263<br />
StGB 92 dient. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der<br />
Tatbestand des § 298 StGB keine Regelbeispiele besonders<br />
schwerer Fälle und keine Qualifikationen vorsieht. Da bei<br />
Submissionsabsprachen jedoch regelmäßig Gewerbsmäßigkeit<br />
(§ 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 StGB) und/oder eine Bandentat<br />
(§ 263 Abs. 5 StGB) vorliegen dürfte, sollte § 263 StGB<br />
neben § 298 StGB anwendbar bleiben, um das in diesen Regelungen<br />
enthaltene Unrecht abzugelten. 93<br />
84 Götting/Götting bezeichnen § 263 StGB sogar als „notwendige<br />
Begleittat“ zu § 298 StGB, vgl. Götting/Götting,<br />
ZfBR 2003, 341 (349).<br />
85 Unzutreffend ist deshalb der Einwand Götting/Göttings,<br />
§ 298 StGB verfüge gegenüber § 263 StGB über „keinen<br />
nennenswerten eigenen Anwendungsbereich“, vgl. Götting/Götting,<br />
ZfBR 2003, 341 (345). In den zuletzt genannten<br />
Fällen dürfte § 263 StGB – beim Vorliegen eines Schädigungsvorsatzes<br />
und einer Bereicherungsabsicht – indes das<br />
strafbare Versuchsstadium erreicht haben.<br />
86 Hierfür bleiben etwa die Fälle kollusiven Zusammenwirkens<br />
von Mitarbeitern des Veranstalters und lediglich einem<br />
Anbieter. Hier mag ein Betrug zu Lasten des Ausschreibenden<br />
zwar gegeben sein. Wie gezeigt ist § 298 StGB in diesen<br />
Fällen – mangels Rechtswidrigkeit der Absprache – jedoch<br />
nicht erfüllt, vgl. oben III. 2.<br />
87 Vgl. Krey/Hellmann, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2,<br />
14. Aufl. 2005, Rn. 534b; Walter, JZ 2002, 254 (256); ders.,<br />
GA 2001, 131 (137).<br />
88 Vgl. Grützner (Fn. 16), S. 536 f.; Tiedemann (Fn. 8), § 298<br />
Rn. 51 – jeweils m.w.N.; s. auch BT-Drs. 13/5584, S. 14.<br />
89 Vgl. Dannecker (Fn. 6), § 298 Rn. 70; Tröndle/Fischer<br />
(Fn. 10), § 298 Rn. 22 m.w.N.<br />
90 Vgl. Maurach/Schröder/Maiwald, Strafrecht, Besonderer<br />
Teil, Bd. 2, 9. Aufl. 2005, § 68 Rn. 9.<br />
91 Vgl. oben II. 1.<br />
92 Hierzu Tröndle/Fischer (Fn. 10), § 263 Rn. 3 m.w.N.<br />
93 Ähnlich Walter, JZ 2002, 254 (256).
Zehn Jahre Strafbarkeit wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Umgekehrt schützt § 298 StGB nicht nur das Vermögen<br />
des Veranstalters, sondern primär den freien Wettbewerb, 94<br />
was gegen eine Subsidiarität des § 298 StGB i.S. der zuletzt<br />
genannten Ansicht spricht. Überdies vernachlässigen deren<br />
Vertreter, dass der Gesetzgeber mit § 298 StGB – im Gegensatz<br />
zum im Gesetzesentwurf des Bundesrates vorgeschlagenen<br />
Tatbestand des „Ausschreibungsbetruges“ gemäß § 264b<br />
StGB 95 – auf eine formelle Subsidiaritätsklausel gerade verzichtet<br />
hat.<br />
Im Ergebnis ist deshalb Tateinheit und echte (ungleichartige)<br />
Idealkonkurrenz zwischen § 298 und § 263 StGB anzunehmen.<br />
IV. Zusammenfassung und Ausblick<br />
Die Ausführungen verdeutlichen, dass die praktische Anwendung<br />
des § 298 StGB auch ein Jahrzehnt nach dessen Einführung<br />
noch zahlreiche Fragen aufwirft. Die daraus resultierenden<br />
Problemstellungen sind jedoch lösbar, wenn man die mit<br />
dem Rechtsgut Wettbewerb naturgemäß eng verbundenen<br />
wirtschaftlichen Aspekte in die Bewertung einbezieht. Im<br />
Übrigen gilt es hier, die seitens der Rechtsprechung vielfach<br />
noch ausstehenden Stellungnahmen abzuwarten.<br />
Über die zukünftige Entwicklung des Kartell(straf)rechts<br />
und insbesondere darüber, ob sich vor dem Hintergrund der<br />
starken wirtschaftlichen Gefährdung wettbewerbswidriger<br />
Verhaltensweisen ein allgemeiner Trend zur Kriminalisierung<br />
des Kartellrechts ausmachen lässt, kann an dieser Stelle allenfalls<br />
spekuliert werden. Eine einheitliche internationale Entwicklung,<br />
gerade innerhalb Europas, lässt sich derzeit jedenfalls<br />
nicht feststellen. Frankreich etwa stellt Kartellabsprachen<br />
ebenso wie den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen<br />
generell unter Strafe, soweit mit ihnen eine Absicht<br />
der Preisbeeinflussung verbunden ist. 96 Die Wettbewerbsgesetze<br />
von Spanien und Italien hingegen beschränken sich<br />
grundsätzlich auf die Verhängung von Geldbußen; beide<br />
Länder haben jedoch einen dem deutschen § 298 StGB vergleichbaren<br />
Straftatbestand. 97 Und während zahlreiche Kartellrechtsverstöße<br />
in Österreich unlängst entkriminalisiert,<br />
also auf Ordnungswidrigkeiten herabgestuft wurden, hat man<br />
mit § 168b öStGB 98 im Gegenzug auch hier einen auf Submissionsabsprachen<br />
zugeschnittenen Tatbestand geschaffen.<br />
99<br />
94<br />
Vgl. oben II. 1.<br />
95<br />
Vgl. BT-Drs. 13/3353, S. 5, 10.<br />
96<br />
Vgl. Art. L. 420-6 des französischen Code de Commerce.<br />
Daneben existiert seit 1994 ein Sondertatbestand der Manipulation<br />
öffentlicher Ausschreibungen, vgl. Art. 313-6 des Code<br />
Pénal.<br />
97<br />
Vgl. Art. 353 des italienischen Codice Penale und Art. 262<br />
des spanischen Código Penal.<br />
98<br />
Eingeführt durch Bundesgesetz mit Wirkung zum<br />
1.7.2002, vgl. BGBl. I für die Republik Österreich,<br />
Nr. 62/2002.<br />
99<br />
Eingehend zum europäischen Kartellstrafrecht und internationalen<br />
Tendenzen Dannecker, in: Schick/Hilf (Hrsg.), Kartellstrafrecht,<br />
2007, S. 31 ff.<br />
Im Hinblick auf den wachsenden internationalen Standortwettbewerb<br />
stellt sich die Frage, inwieweit eine zunehmende<br />
Kriminalisierung des Kartellrechts aus volkswirtschaftlicher<br />
Sicht tatsächlich sinnvoll ist. Es bedarf keiner<br />
besonderen Hervorhebung, dass zu erwartende strafrechtliche<br />
Sanktionen kartellrechtlich relevanter Verhaltensweisen die<br />
Wettbewerbsfähigkeit – und damit die Standortwahl – international<br />
tätiger Unternehmen ebenso beeinflussen wie beispielsweise<br />
Steuerbelastungen, Umweltauflagen oder das<br />
jeweilige nationale Arbeitsrecht. Insoweit können die mit der<br />
Pönalisierung wettbewerbswidrigen Verhaltens beabsichtigten<br />
positiven Auswirkungen leicht ins Gegenteil umschlagen,<br />
wenn Unternehmen nationale Standorte aufgrund der dort<br />
geltenden strafrechtlichen Bestimmungen meiden. Andererseits<br />
gilt es auch hier, der Gefahr eines „raise-to-the-bottom“-<br />
Wettbewerbs, also eines gegenseitigen Unterbietens der Länder<br />
bei der strafrechtlichen Behandlung kartellrechtswidriger<br />
Verhaltensweisen, das die Korrumpierung des gesamten<br />
Wirtschaftsverkehrs zur Folge hätte, entgegenzuwirken. Auf<br />
lange Sicht wäre eine einheitliche, zumindest alle EU-<br />
Mitgliedstaaten bindende internationale Vorgabe zu begrüßen.<br />
100<br />
100<br />
Zum Vorschlag der EG-Kommission zur Einführung eines<br />
Straftatbestandes gegen „betrügerisches und unfaires wettbewerbsbeschränkendes<br />
Verhalten bei öffentlichen Ausschreibungen<br />
auf dem gemeinsamen Markt“ (ABl. EG Nr. C 253/3<br />
v. 4.9.2000), Tiedemann (Fn. 8), Vor § 298 Rn. 1, 12.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
91
Bewegliche Zuständigkeit versus gesetzlicher Richter*<br />
Von Rechtsanwältin Dr. Wiebke Arnold, Kiel<br />
I. Einleitung<br />
Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz<br />
räumen der Staatsanwaltschaft in zahlreichen Bestimmungen 1<br />
die Befugnis ein, unter mehreren sachlich oder örtlich zuständigen<br />
Gerichten zu wählen oder auf die personelle Besetzung<br />
des Gerichts Einfluss zu nehmen. Die in diesen Gesetzen<br />
normierten richterlichen Zuständigkeiten stehen mithin<br />
nicht unverrückbar fest, sondern sind vielmehr beweglich im<br />
Sinne einer Abhängigkeit von der Entscheidung der zuständigen<br />
Anklagebehörde zwischen verschiedenen Zuständigkeitsalternativen.<br />
2 Dieser kritische Punkt verleiht den jeweiligen<br />
Bestimmungen auch ihre Bezeichnung als „bewegliche<br />
Zuständigkeiten“. Sie überlassen es der Staatsanwaltschaft,<br />
einer staatlichen Institution und weisungsgebundenen Behörde,<br />
den gesetzlichen Richter im Einzelfall zu bestimmen.<br />
Richter ist indes nicht gleich Richter. Richter sind individuelle<br />
Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Anschauungen,<br />
Fähigkeiten, Neigungen und Temperamenten. 3 Daher bergen<br />
die beweglichen Zuständigkeiten die Gefahr in sich, dass sich<br />
der Staatsanwalt den Richter aussucht, bei dem er das ihm<br />
vorschwebende Ziel – Schuldspruch, revisionssicheres Urteil,<br />
rasche Erledigung, niedriges oder hohes Strafmaß – am ehesten<br />
zu erreichen glaubt, ohne dass ihm dabei überhaupt bewusst<br />
wird, dass er unter Umständen justizwidrige Überlegungen<br />
anstellt. 4 Daneben drängt sich die Frage auf, ob der<br />
von der Staatsanwaltschaft gewählte Richter noch als ein<br />
„gesetzlicher Richter“ i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verstanden<br />
werden kann.<br />
Diese Fragestellung hat bereits eine Vielzahl von Gerichten<br />
5 beschäftigt. Auch in der Literatur 6 wird die Thematik seit<br />
* Die nachfolgende Abhandlung basiert auf der im Jahre<br />
2007 publizierten Dissertation der Verfasserin mit dem Titel<br />
„Die Wahlbefugnis der Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung<br />
– insbesondere in Jugendschutzsachen, § 26 GVG“.<br />
1<br />
Bspw. §§ 7 ff. StPO; §§ 2, 3 StPO; § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG;<br />
§ 26 Abs. 1 S. 1 GVG; § 74a Abs. 2 GVG. Die Aufzählung<br />
erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ein erweiterter<br />
Überblick findet sich bei Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren,<br />
1980, S. 127 f. und Henkel, Der gesetzliche Richter, 1968,<br />
S. 23.<br />
2<br />
So Roth, Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter,<br />
2000, S. 108.<br />
3<br />
Vgl. Bockelmann, DRiZ 1965, 151.<br />
4<br />
Moller, MDR 1966, 100.<br />
5<br />
U.a. BGHSt 9, 367 = MDR 1957, 112; BGH NJW 1958, 918;<br />
BGHSt 13, 297 = NJW 1960, 56; BVerfGE 9, 223; 22, 254;<br />
aus neuerer Zeit OLG Karlsruhe StV 1998, 252; OLG Hamm<br />
StV 1999, 240.<br />
6<br />
V. Scanzoni, JW 1924, 1642; Kern, Der gesetzliche Richter,<br />
1927; Schmidt, in: Bockelmann u.a. (Hrsg.), Probleme der<br />
Strafrechtserneuerung, Eduard Kohlrausch zum 70. Geburtstag,<br />
1944, S. 263 f.; Niese, JuV 1950, 73; Oehler,<br />
ZStW 64 (1952), 292; Bockelmann, NJW 1958, 889; Gottschalk,<br />
Das Recht auf den gesetzlichen Richter, 1968; Grün-<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
92<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
fast einem Jahrhundert kontrovers diskutiert. Obwohl zwei<br />
Entscheidungen des BVerfG die beweglichen Zuständigkeitsbestimmungen<br />
in §§ 24 Abs. 1 Nr. 2, 74 Abs. 1 S. 2<br />
GVG a.F. 7 und § 25 Nr. 2c GVG a.F. 8 – wenn auch im Wege<br />
der verfassungskonformen Auslegung – für verfassungskonform<br />
erklärten, ist die Diskussion bis heute nicht verstummt<br />
und findet unverändert Eingang in juristische Abhandlungen 9 .<br />
Interessanterweise finden sich dabei in der jüngsten Literatur<br />
überwiegend kritische Anmerkungen, die die Verfassungsmäßigkeit<br />
der beweglichen Zuständigkeiten verneinen, zumindest<br />
jedoch in Frage stellen. Während die Rechtsprechung<br />
dazu übergeht, sich nahezu jeden Einwand gegen die<br />
bewegliche Zuständigkeitsordnung zu verbieten 10 , fallen die<br />
Argumente der frühen Kritiker 11 noch heute auf fruchtbaren<br />
Boden und regen gerade die jüngere Generation von Juristen<br />
zu Reformbestrebungen bzw. Gesetzesnovellierungen an. Auf<br />
die jahrzehntelange Relativierung des gesetzlichen Richters<br />
folgt nunmehr eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen<br />
<strong>Inhalt</strong>e des Postulats.<br />
Auffallend ist im Rahmen der Diskussion allerdings, dass<br />
durchgängig Belege für die Handhabung der geltenden Regelungen<br />
durch die Praxis fehlen und kaum in die Überlegungen<br />
mit einbezogen werden. Dabei würde es, wie Dästner 12<br />
bereits im Jahre 1981 zutreffend bemerkt hat, „eine sachgerechte<br />
Beurteilung erleichtern, wenn Daten über die tatsächliche<br />
Ausfüllung der den Rechtspflegeorganen eingeräumten<br />
Ermessens- und Beurteilungsspielräume verfügbar wären,<br />
weil erst dann das Gewicht der Kritik an der von der herrschenden<br />
Meinung für unbedenklich gehaltenen gegenwärtigen<br />
Rechtslage einzuschätzen wäre“. Vor diesem Hintergrund<br />
hat die Verfasserin im Rahmen einer empirischen Studie<br />
das faktische Anklageverhalten der Staatsanwaltschaft<br />
untersucht. 13 Den Ausgangspunkt der Studie bildete dabei die<br />
wald, JuS 1968, 452; Dästner, RuP 1981, 18; Achenbach, in:<br />
Broda u.a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wassermann zum sechzigsten<br />
Geburtstag, 1984, S. 849 f.; Heghmanns, StV 1999, 240;<br />
ders., StV 2000, 277.<br />
7<br />
BVerfGE 9, 223.<br />
8<br />
BVerfGE 22, 254.<br />
9<br />
Herzog, StV 1993, 609; Hohendorf, NJW 1995, 1545; Weiler,<br />
NJW 1996, 1042; Fischer, NJW 1996, 1044; Roth (Fn. 2);<br />
Glaser, Aktuelle Probleme im Rahmen der sachlichen Zuständigkeit<br />
der Strafgerichte, 2001; Sowada, Der gesetzliche<br />
Richter im Strafverfahren, 2002; Schmitz, Bewegliche Zuständigkeiten<br />
der StPO und das Prinzip des gesetzlichen<br />
Richters, 2003; Rotsch, <strong>ZIS</strong> 2006, 17.<br />
10<br />
So bereits Bockelmann, NJW 1958, 889.<br />
11<br />
Hervorzuheben sind u.a. Kern und Schmidt (Fn. 6).<br />
12<br />
Dästner, RuP 1981, 18 (19).<br />
13<br />
Arnold, Die Wahlbefugnis der Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung<br />
– insbesondere in Jugendschutzsachen, § 26<br />
GVG, S. 177 f. Die empirische Studie bezog sich auf das<br />
Anklageverhalten der Staatsanwaltschaft im Rahmen des § 26<br />
GVG. Gleichwohl lässt die Untersuchung auch Rückschlüsse
Bewegliche Zuständigkeit versus gesetzlicher Richter<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Frage, wie die beweglichen Zuständigkeitsregelungen von<br />
der Staatsanwaltschaft selbst bewertet und gehandhabt werden.<br />
Sie ist insofern von besonderer Bedeutung, als dass die<br />
Staatsanwaltschaft als „politische, weisungsabhängige Behörde“<br />
14 im Rahmen der verfassungsrechtlichen Diskussion<br />
einen maßgeblichen Angriffs- und Kritikpunkt für die Gegner<br />
der beweglichen Zuständigkeiten darstellt. Als staatliche<br />
Institution, die die beweglichen Zuständigkeiten konkret<br />
anwendet, wird ihr von Teilen der Literatur erhebliches Misstrauen<br />
entgegengebracht. Es ist folglich von großem Interesse,<br />
wie sich die Staatsanwaltschaft selbst als „menschliche<br />
Gefahrenquelle“ im Rahmen der beweglichen Zuständigkeiten<br />
sieht, inwiefern ein Problembewusstsein im Hinblick auf<br />
Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vorhanden ist und von welchen in-<br />
ternen Richtlinien sie sich bei der Anklageerhebung leiten<br />
lässt.<br />
In den nachfolgenden Ausführungen soll das Ergebnis der<br />
empirischen Untersuchung verkürzt wiedergegeben werden.<br />
Zuvor werden allerdings die verschiedenen Argumentationsansätze<br />
in Rechtsprechung und Literatur aufgezeigt, wobei<br />
nicht zwischen den verschiedenen beweglichen Zuständigkeitsbestimmungen<br />
differenziert wird. Denn auch die Kritik<br />
an den bestehenden Bestimmungen differenziert in der Regel<br />
nicht zwischen den einzelnen Zuständigkeitsalternativen,<br />
sondern weist – oftmals geprägt durch Wiederholungen –<br />
eine gemeinsame Struktur auf. Es ist deshalb erforderlich, die<br />
Literaturauffassungen und die maßgeblichen Entscheidungen<br />
in der Rechtsprechung in ihrer Gesamtheit zu betrachten, um<br />
dann aus ihrer Analyse die allgemein gültigen Kernaussagen<br />
zu ermitteln. Daran anschließend werden die Erkenntnisse<br />
der empirischen Studie wiedergegeben, um abschließend<br />
feststellen zu können, ob das faktische Anklageverhalten der<br />
Staatsanwaltschaft die in der Literatur bestehenden Bedenken<br />
tatsächlich verifiziert.<br />
II. Die für eine bewegliche Zuständigkeit angeführten<br />
Argumente<br />
Die Befürworter 15 der beweglichen Zuständigkeitsbestimmungen<br />
sind der Ansicht, dass der durch Art. 101 Abs. 1 S. 2<br />
GG verfassungsrechtlich garantierte Schutz nicht so weit<br />
gespannt werden dürfe, dass dem einfachen Gesetzgeber kein<br />
angemessener Spielraum mehr für eine zweckmäßige Zuständigkeitsordnung<br />
verbliebe und den praktischen Bedürfnissen<br />
nicht mehr Rechnung getragen werden könne 16 . Die<br />
auf das Anklageverhalten der Staatsanwaltschaft im Rahmen<br />
der übrigen beweglichen Zuständigkeitsregelungen zu.<br />
14 Oehler, ZStW 64 (1952), 292 (304).<br />
15 U.a. Peters, Strafprozeßrecht, 1952, S. 106; Henkel, Strafverfahrensrecht,<br />
1953, S. 170; Dallinger, MDR 1957, 113;<br />
Dünnebier, JR 1975, 4; Rogall, StV 1985, 354; Rebmann,<br />
NStZ 1986, 292 (293); Schnarr, MDR 1993, 595; Lange,<br />
NStZ 1995, 11; Schoreit, NStZ 1997, 70, jeweils m.w.N.;<br />
OLG Hamm StV 1990, 240; BGHSt 9, 367 = MDR 1957, 112;<br />
BGHSt 13, 297 = NJW 1960, 56; BGH NJW 1960, 542 (544);<br />
BGH, Urt. v. 18.3.1975 – 1 StR 559/74; BVerfGE 9, 223;<br />
22, 254.<br />
16 Dallinger, MDR 1957, 113.<br />
Abwägung zwischen Praktikabilität und Rechtssicherheit fällt<br />
hier also eindeutig zugunsten ersterer aus. Im Rahmen dieser<br />
praxisorientierten Argumentation wird ferner auf die differenzierten<br />
Lebensverhältnisse und die weiten Strafrahmen<br />
des materiellen Rechts verwiesen 17 . Ein starres Regulativ<br />
könne nicht in allen Fällen eine der Tat und ihrer Eigenart<br />
angemessene verfahrensmäßige Behandlung gewähren. 18<br />
Zudem ließen die weiten Strafrahmen des modernen Strafrechts<br />
eine starre Zuständigkeitsordnung nicht mehr zu. Diese<br />
würde vielmehr den Zweck einer sinnvollen Zuständigkeitsordnung<br />
vereiteln, der darin bestehe, die schweren Verfehlungen<br />
den höheren und die leichteren den niederen Gerichten<br />
zuzuweisen. 19 Auch die Entlastung der Spruchkörper<br />
dahingehend, dass unterschiedlich besetzte und damit unterschiedlich<br />
leistungsfähige Spruchkörper sachgerecht eingesetzt<br />
werden können, wird als Argument für eine bewegliche<br />
Zuständigkeitsordnung angeführt. Insbesondere wirke sie<br />
einer Überforderung der Einzelrichter und Schöffengerichte<br />
entgegen. 20 Allgemein ermögliche eine bewegliche Zuständigkeitsordnung<br />
eine ökonomische und funktionstüchtige<br />
Verfahrensgestaltung im Bereich der Strafrechtspflege, während<br />
ein starres System ein unpraktisches Verfahren begünstigen<br />
würde. Soweit von den Gegnern auf die Möglichkeit<br />
des Missbrauchs hingewiesen werde, gehe dieses Argument<br />
fehl, da auch bei einer völlig starren Zuständigkeitsregelung<br />
die Gefahr des Missbrauchs nicht ausgeschlossen werden<br />
könne. 21 Zudem wird in diesem Zusammenhang auf die gerichtliche<br />
Kontrollmöglichkeit der staatsanwaltschaftlichen<br />
Anklageentscheidung hingewiesen, die das der beweglichen<br />
Zuständigkeitsordnung entgegengebrachte Misstrauen gegenstandslos<br />
mache. 22 Abgesehen davon führe die abstrakte<br />
Möglichkeit eines Missbrauchs noch nicht zur Verfassungswidrigkeit<br />
der Norm. 23 Zur Rechtfertigung wird ferner auf die<br />
Entstehungsgeschichte der beweglichen Zuständigkeiten verwiesen,<br />
wobei die Historie dergestalt zur Begründung herangezogen<br />
wird, dass aus ihr hervorgehe, dass sich die flexiblen<br />
Zuständigkeiten bewährt hätten und auch der (verfassungsrechtliche)<br />
Gesetzgeber die seit Jahrzehnten bestehende<br />
Rechtslage nicht habe beseitigen wollen. 24 Bereits das Gerichtsverfassungsgesetz<br />
von 1877 sei in seiner ursprünglichen<br />
Fassung davon ausgegangen, dass eine starre Zuständigkeitsordnung<br />
nicht möglich wäre. 25 Vor diesem Hintergrund sei<br />
17<br />
Henkel, Das deutsche Strafverfahren, 1943, S. 170.<br />
18<br />
Dallinger, MDR 1957, 113.<br />
19<br />
BGHSt 9, 369; BVerfGE 9, 227.<br />
20<br />
BVerfGE 9, 227.<br />
21<br />
BGH NJW 1958, 919.<br />
22<br />
Schäfer, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung<br />
und das Gerichtsverfassungsgesetz, 21. Aufl.<br />
1956, § 16 Rn. 3b.<br />
23<br />
BVerfGE 9, 229 (230); BGH NJW 1958, 919.<br />
24<br />
Dallinger, MDR 1957, 113.<br />
25<br />
Gem. § 75 des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 27. Januar<br />
1877 (RGBl. 1877, S. 41 f.) konnte die Strafkammer hinsichtlich<br />
bestimmter Delikte auf Antrag der Staatsanwaltschaft<br />
die Sache an die Schöffengerichte überweisen und<br />
hierdurch deren Zuständigkeit begründen, wenn im Einzelfall<br />
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93
Wiebke Arnold<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
auch der Gesetzgeber des Grundgesetzes nicht von einer fest<br />
bestimmten, unabänderlichen Zuweisung ausgegangen. Er<br />
habe vielmehr die in ihren Grundzügen bereits seit 1924<br />
bestehende Regelung 26 der beweglichen Zuständigkeiten<br />
vorgefunden und durch die Übernahme der im Wesentlichen<br />
gleichlautenden Vorschrift des Art. 105 WRV in Art. 101<br />
Abs. 1 S. 2 GG bestätigt 27 . Abgesehen davon werde der gesetzliche<br />
Richter in einem Strafverfahren nicht durch die<br />
Verfassung selbst bestimmt, sondern durch die Vorschriften<br />
des GVG und der StPO. 28 Schließlich führe auch die Möglichkeit<br />
zur Einflussnahme auf den Instanzenzug durch die<br />
Anklageentscheidung der Staatsanwaltschaft nicht zur Verfassungswidrigkeit<br />
der beweglichen Zuständigkeitsordnung,<br />
da das Grundgesetz keine mehrstufige Gerichtsbarkeit gebiete<br />
29 .<br />
Die angeführten Argumente finden sich überwiegend in<br />
der Rechtsprechung. Diejenigen in der Literatur, die ebenfalls<br />
die Verfassungsmäßigkeit der beweglichen Zuständigkeit<br />
annehmen, verweisen überwiegend nur auf die entsprechenden<br />
Entscheidungen oder machen sich das Argumentationsmuster<br />
zu Eigen, ohne weitere Begründungsansätze zu liefern.<br />
Zu Recht wird diese „Begründungsarmut“ 30 von den<br />
Kritikern in der Literatur moniert.<br />
Durchdringt man die Struktur des Argumentationsmusters,<br />
welches – unabhängig von der jeweiligen Zuständigkeitsbestimmung<br />
– die Diskussion auf Seiten der Befürworter<br />
beherrscht, lässt es sich auf folgende Kernaussagen reduzieren,<br />
die zugunsten der beweglichen Zuständigkeiten angeführt<br />
werden: 1.) Praktikabilität, 2.) Anpassungsfähigkeit an<br />
die weiten Strafrahmen des materiellen Strafrechts, 3.) keine<br />
erhöhte Missbrauchsgefahr, 4.) gerichtliche Kontrollmöglichkeit,<br />
5.) kein Gebot der mehrstufigen Gerichtsbarkeit,<br />
6.) gesetzliche Verankerung und 7.) gesetzgeberische Bestätigung.<br />
III. Die Argumente der Kritiker<br />
Bereits im Jahre 1927 warnte Kern in seinem grundlegenden<br />
Werk „Der gesetzliche Richter“ dringend davor, die feste<br />
Zuständigkeitsordnung aufzugeben zugunsten eines Systems,<br />
das der Staatsanwaltschaft die Wahl des Gerichts freistelle.<br />
nicht mehr als 3 Monate Gefängnis oder 600 Mark Geldstrafe<br />
oder Buße zu erwarten waren. Die Staatsanwaltschaft konnte<br />
insofern lediglich einen Antrag auf Überweisung stellen,<br />
wobei die angegangene Strafkammer über diesen durch Beschluss<br />
ohne Anfechtungsmöglichkeit selbst entschied, § 75<br />
Abs. 2 GVG v. 1877.<br />
26 Die Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege<br />
vom 4. Januar 1924 (RGBl. 1924, S. 15) nahm eine<br />
völlige Neuorganisation der Strafgerichte unter dem dominierenden<br />
Gesichtspunkt der Kostenersparnis vor und bewirkte<br />
eine außerordentliche Machtsteigerung der Staatsanwaltschaft<br />
gegenüber den Gerichten und dem Beschuldigten;<br />
siehe hierzu Arnold (Fn. 13), S. 61 f.<br />
27 BGHSt 9, 369.<br />
28 BGHSt 9, 369; ebenso Schäfer (Fn. 22).<br />
29 BVerfGE 9, 230.<br />
30 Sowada (Fn. 9), S. 723.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
94<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
Obwohl die Ausbildung eines solchen Systems noch in ihren<br />
Anfängen steckte 31 , fand sich Kern zu der Forderung genötigt,<br />
„die Entwicklung zurückzubilden, die Zuständigkeitsregelung<br />
wieder in eine feste gesetzliche Ordnung zu bringen<br />
und der Staatsanwaltschaft die ihr gegebenen Machtbefugnisse<br />
wieder zu entreißen“ 32 .<br />
Die Gegner 33 der beweglichen Zuständigkeiten geraten<br />
deshalb in Konflikt mit den entsprechenden Regelungen, weil<br />
sie den <strong>Inhalt</strong> des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter<br />
streng auslegen. So verlangt der Verfassungssatz nach Ansicht<br />
von Schmidt 34 vom Gesetzgeber, dass sich die Zuständigkeit<br />
des Gerichts „im Augenblick der Tat aus abstrakten<br />
gesetzlichen Normen“ ergäbe. Jedes andere Gericht sei ein<br />
Ausnahmegericht. Im Übrigen sei „der Grundsatz, dass jedermann<br />
Anspruch auf seinen gesetzlichen Richter hat, zu<br />
bedeutungsvoll, als dass er lediglich aus Rücksicht auf bestimmte<br />
Bedürfnisse der Praxis modifiziert werden darf“ 35 .<br />
Abgesehen davon kann nach der Auffassung der Kritiker eine<br />
konkrete Zuständigkeitsbestimmung nicht schon deshalb als<br />
verfassungsgemäß gelten, weil sie irgendeine gesetzliche<br />
Grundlage habe, den praktischen Bedürfnissen genüge oder<br />
der Tradition entspräche. Es komme vielmehr darauf an, ob<br />
sie sich für die Wahrung des Gleichheitssatzes verbürgt, ob<br />
sie verhindern könne, dass bei der Bestimmung des zuständigen<br />
Richters willkürlich verfahren wird 36 . Im Rahmen der<br />
beweglichen Zuständigkeiten könne indes der Staat über die<br />
Staatsanwaltschaft als weisungsgebundene Behörde „wie als<br />
Rechtssetzer“ die gerichtliche Zuständigkeit bestimmen. 37<br />
Dadurch habe die Regierung die Möglichkeit, die Zuständigkeit<br />
im Einzelfall politisch zu manipulieren, könne „also<br />
genau das tun, was der Satz vom gesetzlichen Richter verhü-<br />
31<br />
Die Bundesratsverordnung vom 7.10.1915 (RGBl. 1915,<br />
S. 631 f.) führte erstmals das Prinzip der beweglichen Zuständigkeit<br />
ein. In § 3 Abs. 1 wurde der Staatsanwaltschaft<br />
die Befugnis eingeräumt, bei Vergehen, die zur Zuständigkeit<br />
des Landgerichts gehörten, die Zuständigkeit des Schöffengerichts<br />
dadurch zu begründen, dass sie in der beim Amtsgericht<br />
einzureichenden Anklage einen entsprechenden Antrag<br />
stellte; siehe zur weiteren Entwicklung nach 1915 oben<br />
Fn. 25 u. 26.<br />
32<br />
Kern (Fn. 6), S. 177.<br />
33<br />
U.a. Kern (Fn. 6); Schmidt (Fn. 6); ders., MDR 1958, 721;<br />
Niese, JuV 1950, 73; Oehler, ZStW 64 (1952), 292; Bockelmann,<br />
NJW 1958, 889; ders., GA 1957, 357; Grünwald,<br />
JuS 1968, 452; Achenbach (Fn. 6); Schumacher, Staatsanwaltschaft<br />
und Gericht im Dritten Reich, 1985; Herzog,<br />
StV 1993, 609; Roth (Fn. 2); Moller, MDR 1966, 100; Henkel<br />
(Fn. 1); Heghmanns, StV 1999, 240; Engelhardt,<br />
DRiZ 1982, 418; Rotsch, <strong>ZIS</strong> 2006, 17; Schmitz (Fn. 9), jeweils<br />
m.w.N.<br />
34<br />
Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und<br />
zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil I, 1952, S. 239 Nr. 438,<br />
439.<br />
35<br />
Bockelmann, GA 1957, 357.<br />
36<br />
Bockelmann, NJW 1958, 889.<br />
37<br />
Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.),<br />
Die Grundrechte, Bd. 2, 2. Halbband, 1972, S. 563.
Bewegliche Zuständigkeit versus gesetzlicher Richter<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
ten will“ 38 . Auch wenn das Ermessen der Staatsanwaltschaft<br />
bei der Zuständigkeitsbestimmung durch die Möglichkeit<br />
einer gerichtlichen Entscheidung „abgebremst“ sei, so ändere<br />
dies nichts, da es gleichgültig sei, ob „die Bestimmung des<br />
sachlich zuständigen Gerichts nach der Tatbegehung in concreto<br />
auf einer Entschließung der Staatsanwaltschaft oder auf<br />
einer solchen des Gerichts“ 39 beruhe. Gegen den Satz des<br />
gesetzlichen Richters werde in gleicher Weise verstoßen. Es<br />
sei rechtsstaatlich nicht hinnehmbar, dass durch die Staatsanwaltschaft<br />
Zuständigkeiten manipuliert werden könnten.<br />
Auch heute noch bestimme die Staatsanwaltschaft nach individualisierenden<br />
Gesichtspunkten ad hoc, ob eine Strafsache<br />
besondere oder mindere Bedeutung habe. Dementsprechend<br />
könne sie in weiten Bereichen die Anklage vor dem ihr geeignet<br />
erscheinenden Spruchkörper erheben 40 . Eine Waffengleichheit<br />
sei dadurch nicht mehr gewährleistet. Auf die<br />
Rechte des Angeklagten könne unzulässig Einfluss genommen<br />
werden, da die staatsanwaltliche Anklageentscheidung<br />
auch den Instanzenzug und damit die Verteidigungsmittel<br />
beeinflusse 41 . Allgemein werde die Gefahr des Missbrauchs<br />
durch die beweglichen Zuständigkeiten geradezu gefördert<br />
und „eine Tür zur Willkür“ geöffnet 42 . Soweit die Befürworter<br />
einwenden, die Ausweitung der Strafrahmen gebiete eine<br />
sachliche Flexibilisierung der Zuständigkeiten, dürfe hieraus<br />
doch gerade „nicht die Folgerung gezogen werden, dass der<br />
Grundsatz des gesetzlichen Richters sich dieser Ausuferung<br />
der Strafrahmen anzubequemen habe, sondern umgekehrt die,<br />
dass jene Ausweitung der Strafrahmen ihrerseits dem GG<br />
widerspreche!“ 43 . Die Argumentation der Befürworter befände<br />
sich insoweit in „einer grundrechtsdogmatischen Schieflage“<br />
44 .<br />
Aus dem Argumentationsmuster der Kritiker geht hervor,<br />
dass eine enge Verknüpfung zwischen der Auslegung des<br />
Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und der Einstufung der beweglichen<br />
Zuständigkeiten als verfassungsgemäß oder verfassungswidrig<br />
besteht. Bei einer engen Auffassung vom <strong>Inhalt</strong> und Wesensgehalt<br />
des gesetzlichen Richters kommt es unweigerlich<br />
zu einer Kollision mit den beweglichen Zuständigkeiten.<br />
Demgegenüber stellen sich bei einer extensiven Auslegung<br />
des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nahezu keinerlei Probleme ein.<br />
Deshalb kam es auch in Zeiten der „Relativierung“ 45 nur zu<br />
38<br />
Bettermann (Fn. 37), S. 564.<br />
39<br />
Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und<br />
zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil II, 1957, § 209 Rn. 7.<br />
40<br />
Schumacher (Fn. 33), S. 225, 226.<br />
41<br />
Schmidt (Fn. 34), S. 239 Nr. 438, 439; ders., MDR 1958,<br />
724.<br />
42<br />
Oehler, ZStW 64 (1952), 292 (305).<br />
43<br />
Herzog, StV 1993, 609 (611).<br />
44<br />
Roth (Fn. 2), S. 116.<br />
45<br />
Die Relativierung des <strong>Inhalt</strong>s vom Postulat des gesetzlichen<br />
Richters erreichte ihren Höhepunkt im Nationalsozialismus.<br />
Während der Grundsatz bereits am Ende der Weimarer<br />
Republik aus Kostengründen entwertet worden war, wurde<br />
dieser Prozess im Nationalsozialismus aus ideeller Überzeugung<br />
radikal zu Ende geführt. Es kam zu einer vollständigen<br />
Entwertung und Aushöhlung des Grundsatzes. Vor allem<br />
einer äußerst geringfügigen Konfrontation, obwohl bereits zu<br />
dieser Zeit die Stimmen von Kern und Schmidt Gehör fanden.<br />
Es kam aber erst nach der Gründung der BRD, durch die<br />
intensive Auseinandersetzung mit Art. 101 Abs. 2 GG und<br />
den daraus resultierenden Anforderungen, zu einer offenen<br />
Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit der beweglichen<br />
Zuständigkeiten.<br />
Die Entscheidungen des BVerfG aus den Jahren 1959 46<br />
und 1967 47 ließen die Stimmen der Kritiker erkennbar nicht<br />
verstummen. Dies zeigt allein die Fülle kritischer Abhandlungen,<br />
die noch heute verfasst werden. Vielmehr wurden die<br />
Entscheidungen, die im Wege der verfassungskonformen<br />
Auslegung die beweglichen Zuständigkeiten als verfassungsgemäß<br />
deklarierten, selbst Gegenstand einer hitzigen Debatte.<br />
Sie wurden von den Gegnern als unzureichender Kompromiss<br />
aufgefasst 48 , der die Grenzen der verfassungskonformen<br />
Auslegung überschritten habe. Das BVerfG habe insoweit<br />
keine Auslegung, sondern eine unzulässige Ersetzung vorgenommen<br />
49 .<br />
Insgesamt lassen sich die Argumente der Kritiker ebenfalls<br />
auf wenige Kernaussagen reduzieren, nämlich: 1.) Herausragende<br />
Stellung und Bedeutung des Art. 101 Abs. 1 S. 2<br />
GG, 2.) erhöhte Möglichkeit des Missbrauchs bzw. der Willkür,<br />
3.) verfahrensmäßige Schlechterstellung des Angeklagten<br />
und 4.) unzureichende Möglichkeit der gerichtlichen<br />
Kontrolle.<br />
IV Empirische Untersuchung des faktischen Anklageverhaltens<br />
der StA<br />
Im Zuge einer empirischen Studie wurde im Jahre 2005/2006<br />
das Anklageverhalten der Staatsanwaltschaft untersucht,<br />
unter dem leitenden Gesichtspunkt, ob das faktische Verhalten<br />
die theoretischen Bedenken in der Literatur tatsächlich<br />
verifiziert. Die empirische Erhebung erstreckte sich dabei auf<br />
die durch § 26 GVG eingeräumte Wahlbefugnis. Als Methode<br />
für die Datengewinnung wurde eine schriftliche Befragung<br />
der Staatsanwälte in Form eines standardisierten Fragebogens<br />
50 gewählt 51 . Gegenstand der Erhebung waren im We-<br />
war mit der Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte<br />
vom 21. Februar 1940 (RGBl. 1940, S. 405 f.) der<br />
Höhepunkt der beweglichen Zuständigkeitsregelung und die<br />
völlige Abkehr vom Prinzip des gesetzlichen Richters erreicht<br />
worden; vgl. Arnold (Fn. 13), S. 55 f., Schumacher<br />
(Fn. 33), S. 140 und Schmidt, MDR 1958, 721, der der Ansicht<br />
ist, die Verordnung habe die „Zerstörung des Grundsatzes<br />
vom gesetzlichen Richter“ bewirkt.<br />
46<br />
BVerfGE 9, 223.<br />
47<br />
BVerfGE 22, 254.<br />
48<br />
U.a. Schmidt, JZ 1959, 535; Grünwald, JuS 1968, 452;<br />
Bettermann, AöR 1969, 294; Herzog, StV 1993, 609.<br />
49<br />
Grünwald, JuS 1968, 452 (458).<br />
50<br />
Ein entsprechender Fragebogen findet sich bei Arnold<br />
(Fn. 13), im Anhang der Arbeit, S. 225 f.<br />
51<br />
Die schriftliche Befragung beschränkte sich auf eine Stichprobenuntersuchung.<br />
Es wurde also nicht die gesamte Staatsanwaltschaft<br />
der BRD befragt, sondern nur die entsprechenden<br />
Abteilungen für Jugendschutzsachen der vier Staatsan-<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
95
Wiebke Arnold<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
sentlichen alle Tatsachen, die Aufschluss darüber geben können,<br />
welche Kriterien die Staatsanwaltschaft bei ihrer Anklageentscheidung<br />
beeinflussen. Der Zeitraum der Datenerfassung<br />
erstreckte sich von Oktober bis Dezember 2005.<br />
1. Datenauswertung<br />
Im Rahmen der Analyse der schriftlichen Befragung fanden<br />
indes nicht alle Fragen des Fragebogens Berücksichtigung, da<br />
einzelne Fragestellungen nach ihrer Auswertung im Ergebnis<br />
weder positiv noch negativ ergiebig waren. Im Übrigen konnten<br />
aus der Datenauswertung folgende Ergebnisse gewonnen<br />
werden:<br />
a) Schwerpunkt der Anklageerhebung<br />
Die Auswertung des Fragebogens ergab, dass 93,1% der<br />
befragten Staatsanwälte in Jugendschutzsachen überwiegend<br />
Anklage vor dem Jugendgericht erheben, während 6,9%<br />
angaben, dass sich die entsprechenden Anklagen in etwa<br />
gleicher Anzahl auf die verschiedenen Gerichte verteilen. 52<br />
Bezogen auf die 93,1% der Staatsanwälte, die überwiegend<br />
Anklage vor dem Jugendgericht erheben, gaben in einer<br />
darauf folgenden Schätzung 17,24% an, dass sie in Jugendschutzsachen<br />
stets, mithin in jedem Fall, die Anklage beim Ju-<br />
gendgericht einreichen. Die übrigen Staatsanwälte (75,86%)<br />
erklärten, dass sie zwischen 75 bis 95% der Fälle vor dem<br />
Jugendgericht anklagen.<br />
b) Leitende Kriterien im Rahmen der Anklageentscheidung<br />
Im Weiteren konnten die befragten Vertreter der Anklagebehörde<br />
insgesamt zwischen 13 verschiedenen Kriterien wählen,<br />
von denen sie ihr jeweiliges Anklageverhalten abhängig<br />
machen. Da die Auswahl nicht auf ein einziges Kriterium<br />
beschränkt war, gab eine Vielzahl der Staatsanwälte mehrere<br />
für sie maßgebliche Faktoren an. 53 Die Auswertung ergab<br />
folgendes Bild:<br />
Insgesamt ist für 96,6% der Staatsanwälte der Gesichtspunkt,<br />
dass Kinder und Jugendliche in dem Verfahren als<br />
Zeugen benötigt werden, ausschlaggebend. Weitere 44,83%<br />
halten zusätzlich den Deliktstyp für ein entscheidendes Kriterium.<br />
Ferner geben 41,28% der befragten Staatsanwälte an,<br />
dass im Rahmen ihrer Anklageentscheidung auch die Auswirkungen<br />
der Tat Berücksichtigung finden. Weitere 17,24%<br />
berücksichtigen desgleichen das Täterverhalten, 13,79% den<br />
Unrechts- und Schuldgehalt und ebenfalls 13,79% die<br />
Schwierigkeit der Rechtsfragen. Das Strafmaß ist von<br />
10,34% als Ermessenskriterium angeführt worden, 6,9%<br />
berücksichtigen eine rasche Erledigung der Sache und ebenfalls<br />
6,9% das öffentliche Interesse. 27,58% der befragten<br />
waltschaften in Schleswig-Holstein (Kiel, Lübeck, Itzehoe<br />
und Flensburg). Im Rahmen der empirischen Studie trugen<br />
effektiv 29 Vertreter der Anklagebehörde zur Datengewinnung<br />
bei.<br />
52<br />
Vgl. dazu die graphischen Darstellungen (1) u. (2) bei<br />
Arnold (Fn. 13), S. 180, 181.<br />
53<br />
Durch die Mehrfachnennungen wurde naturgemäß die<br />
100%-Schwelle überschritten.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
96<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
Staatsanwälte bewerten schließlich das jeweils zuständige<br />
Gericht als leitendes Kriterium im Rahmen der Anklageentscheidung.<br />
54<br />
Ausgehend von der Gesamtzahl der befragten Staatsanwälte<br />
hielten lediglich 27,58% der Befragten allein das ausdrücklich<br />
in § 26 Abs. 2 GVG genannte Kriterium der Zeugeneigenschaft<br />
für maßgeblich.<br />
c) Bedeutsamster Gesichtspunkt<br />
Eine weitere Frage zielte darauf ab, welches der zuvor genannten<br />
Kriterien für die Anklageentscheidung die größte<br />
Bedeutung hat. Die Staatsanwälte beschränkten sich allerdings<br />
auch hier nicht auf die Angabe eines Kriteriums. 55 So<br />
gaben 86,2% die Zeugeneigenschaft i.S.d. § 26 Abs. 2 GVG<br />
als maßgeblichen Gesichtspunkt im Rahmen der Anklageentscheidung<br />
an. Weitere 10,34% halten das zuständige Gericht,<br />
3,44% die Auswirkungen der Tat und ebenfalls 3,44% den<br />
jeweiligen Deliktstyp für ausschlaggebend. 10,34% der Vertreter<br />
der Anklagebehörde hielten andere Faktoren für maßgeblich,<br />
wobei 6,9% das Alter der/des Geschädigten als<br />
wichtigstes Kriterium nannten. Die übrigen 3,44% maßen<br />
einem möglichen Geständnis das größte Gewicht bei 56 .<br />
d) Problembewusstsein<br />
Schließlich wurden die Staatsanwälte danach gefragt, ob die<br />
bewegliche Zuständigkeitsbestimmung des § 26 GVG mit<br />
Art. 101 Abs. 1 S. 2 GVG vereinbar sei. 72,42% hielten die<br />
bewegliche Zuständigkeitsbestimmung im Bezug auf den<br />
Grundsatz vom gesetzlichen Richter für völlig unproblematisch.<br />
57 Lediglich einer der Staatsanwälte begründete seine<br />
Auffassung dahingehend, dass die §§ 7 ff. StPO ebenfalls<br />
verfassungsgemäß seien. Während keiner von ihnen in der<br />
Zuständigkeitsregelung einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1<br />
S. 2 GG erblickte, waren 17,24% der Auffassung, dass das<br />
Spannungsverhältnis zwischen den beweglichen Zuständigkeiten<br />
und Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG durch die gerichtliche<br />
Kontrollmöglichkeit nach § 209a Nr. 2b StPO entschärft<br />
worden sei. Lediglich 6,9% der Befragten hielt die Zuständigkeitsnormierung<br />
aus sonstigen Gründen für fragwürdig,<br />
wobei sich die entsprechende Begründung auf zwei Argumente<br />
stützt: Ein angeführter Gesichtspunkt ist das aus dem<br />
Meinungsstreit hinreichend bekannte Argument der Manipulation<br />
und zwar dahingehend, dass durch die Anklagewahl<br />
ggf. das Strafmaß mitbestimmt werden könne, weil u.U.<br />
Unterschiede im Strafmaß bekannt seien. Das andere Argument<br />
ist etwas überraschend und führt einen neuen Aspekt<br />
an, der im allgemeinen Streitstand noch nicht als Argument<br />
verwendet worden ist. So wurde die Regelung in § 26 GVG<br />
deshalb als fragwürdig erachtet, da die Verteidiger teilweise<br />
54 Vgl. die graphische Darstellung (3) bei Arnold (Fn. 13),<br />
S. 182.<br />
55 Auch hierdurch kam es zu einer Überschreitung der 100%-<br />
Schwelle.<br />
56 Siehe die graphische Darstellung (5) bei Arnold (Fn. 13),<br />
S. 183.<br />
57 3,44% der befragten Staatsanwälte enthielten sich.
Bewegliche Zuständigkeit versus gesetzlicher Richter<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
gezielt versuchen würden, Anklage bei dem Richter zu erwirken,<br />
den sie für milder hielten. 58<br />
2. Bewertung<br />
Bereits die erste Datenauswertung, bezogen auf den Schwerpunkt<br />
der Anklageerhebung, hat gezeigt, dass die Staatsanwaltschaft<br />
intern ihre eigenen Richtlinien verfolgt, die nicht<br />
unbedingt mit dem Gesetzeswortlaut kompatibel sind, sondern<br />
vielmehr eine Ausprägung der ständigen Praxis darstellen,<br />
die sich im Sinne der Staatsanwaltschaft kraft „Gewohnheitsrecht“<br />
etabliert haben. Besonders deutlich wird dies<br />
durch die von den Befragten selbst vorgenommene Schätzung<br />
ihres Anklageschwerpunktes, in deren Rahmen 75,86% der<br />
Staatsanwälte angaben, zwischen 75 und 95% der Jugendschutzsachen<br />
vor dem Jugendgericht anzuklagen. Dieses<br />
Anklageverhalten steht im tendenziellen Gegensatz zum<br />
grundlegenden Charakter des § 26 GVG. Wie sich aus der<br />
gesetzlich normierten Zuständigkeitsrichtlinie in Absatz 2<br />
ergibt, ist die Anklage vor dem Jugendgericht als Ausnahme<br />
gedacht, die durch triftige Gründe gerechtfertigt sein muss. 59<br />
Insofern ist der Gesetzeswortlaut „soll […] nur erheben,<br />
wenn […]“ eindeutig. § 26 Abs. 2 GVG will verhindern, dass<br />
durch die großzügige Anklagepraxis die Jugendgerichte in<br />
ihrer eigentlichen Aufgabe, über Verfehlungen von jugendlichen<br />
und Heranwachsenden zu entscheiden, gehemmt werden.<br />
Nur wo die besondere Sachkunde und Erfahrung des<br />
Jugendgerichts für die angemessene und richtige Behandlung<br />
des Falles ersichtlich bedeutsam ist, soll der Staatsanwalt in<br />
der Lage sein, vor dem Jugendgericht anzuklagen. 60 Indem<br />
die Staatsanwaltschaft in der Regel so verfährt, dass sie einen<br />
Fall durch die bloße Deklaration als Jugendschutzsache nahezu<br />
beständig vor die Jugendgerichte bringt, unterläuft sie<br />
diesen Sinngehalt des § 26 Abs. 2 GVG und verkennt den<br />
Ausnahmecharakter der Vorschrift. Soweit in diesem Zusammenhang<br />
von 96,6% der befragten Staatsanwälte angegeben<br />
wurde, dass sie ihr Anklageverhalten u.a. davon abhängig<br />
machen, ob Kinder und Jugendliche in dem Verfahren als<br />
Zeugen benötigt werden, wird insofern zwar auf den zweiten<br />
Absatz des § 26 GVG Bezug genommen, mit der Folge, dass<br />
das großzügige Anklageverhalten der Staatsanwälte vor den<br />
Jugendgerichten auf eine gesetzliche Grundlage zurückgeführt<br />
werden kann. Es macht aber stutzig, dass demzufolge<br />
scheinbar in nahezu allen Jugendschutzsachen Kinder und<br />
Jugendliche als Zeugen benötigt werden. Wäre dies tatsächlich<br />
der Fall, so hätte der Gesetzgeber die Zuständigkeit des<br />
Jugendgerichts nach § 26 GVG sicherlich nicht als Ausnahme<br />
vor Augen gehabt. Es kann insoweit zumindest nicht<br />
ausgeschlossen werden, dass die Staatsanwälte in der Regel<br />
jede Jugendschutzsache vor dem Jugendgericht anklagen und<br />
nur zur gesetzlichen Legitimation auf § 26 Abs. 2 GVG verweisen,<br />
ohne dessen Voraussetzungen konkret zu prüfen.<br />
58<br />
Vgl. die graphische Darstellung (7) bei Arnold (Fn. 13),<br />
S. 185.<br />
59<br />
Kissel/Mayer, GVG, Kommentar, 2005, § 26 Rn. 6; Siolek,<br />
in: Rieß (Fn. 22), 26. Aufl. 2003, § 26 GVG Rn. 10.<br />
60<br />
Siolek (Fn. 59), § 26 GVG Rn. 8.<br />
Im Rahmen der empirischen Studie war die Frage, von<br />
welchen Kriterien die Staatsanwälte ihre Anklageentscheidung<br />
abhängig machen, von großer Bedeutung. Zum einen<br />
wird in der Literatur kritisiert, dass den Staatsanwälten bei<br />
ihrer Auswahlentscheidung keine Richtlinien vorgegeben<br />
werden, die eine willkürliche Ausübung verhindern. 61 Insofern<br />
ist es überaus interessant, ob – und wenn ja welche –<br />
internen Richtlinien die Staatsanwaltschaft bei ihrer Anklageentscheidung<br />
leiten. Zum anderen kann anhand der entsprechenden<br />
Datenauswertung ermittelt werden, ob eine<br />
Systematik im Anklageverhalten erkennbar ist und ob diese<br />
ggf. mit der geltenden Gesetzesfassung im Einklang steht.<br />
Die derzeitige Vorschrift des § 26 GVG enthält lediglich in<br />
Absatz 2 eine Zuständigkeitsrichtlinie. Das Merkmal der<br />
„Zweckmäßigkeit“ wird dabei durch den der Vorschrift<br />
zugrunde liegenden Zweck ausgefüllt. Dieser besteht allein<br />
darin, die Sachkunde und Erfahrung des Jugendgerichts in<br />
bestimmten Fällen zu nutzen. Demzufolge ist nach der Rechtsprechung<br />
und Literatur eine Anklage vor dem Jugendgericht<br />
nur dann zweckmäßig, wenn es auf die Glaubwürdigkeit<br />
kindlicher oder jugendlicher Zeugen 62 oder auf die richtige<br />
Würdigung der Aussagen von Belastungszeugen über Erlebnisse<br />
aus ihrer Jugend ankommt 63 . Ergänzend ist eine Anklage<br />
vor dem Jugendgericht auch geboten, wenn das Gericht<br />
die Gefährdung des Jugendlichen besser abschätzen kann. 64<br />
44,83% der Staatsanwälte gaben demgegenüber an, dass der<br />
Deliktstyp ein ausschlaggebendes Kriterium im Rahmen ihrer<br />
Anklageentscheidung sei. 41,28% nannten ferner die Auswirkungen<br />
der Tat, 17,24% das Täterverhalten, 13,79% die<br />
Schwere des Unrechts- und Schuldgehalts und 27,58% das<br />
zuständige Gericht als maßgebliche Kriterien. Auch eine<br />
rasche Erledigung und der Umfang der Sache wurden jeweils<br />
von 6,9% der Befragten als leitende Gesichtspunkte angegeben.<br />
Diese Kriterien finden sich indes weder im Wortlaut des<br />
§ 26 Abs. 2 GVG noch gehen sie aus dem Zweck der Vorschrift<br />
hervor. Die Mehrzahl von ihnen ist zudem stark individualisierend.<br />
Dabei gestalten sich die Kriterien der Staatsanwaltschaft<br />
auch nicht als interner Richtlinienkatalog, sondern<br />
erweisen sich vielmehr als eine rein zufällige Kombination<br />
verschiedener Gesichtspunkte. Es entsteht der Eindruck<br />
der bloßen Willkür. Zwar wird versucht, die Anklage vor<br />
dem Jugendgericht auf die gesetzliche Grundlage des § 26<br />
Abs. 2 GVG zu stützen, tatsächlich spielen aber individualisierende<br />
Aspekte oder persönliche Interessen des Staatsanwalts<br />
(„rasche Erledigung“) die entscheidende Rolle.<br />
Darüber hinaus suchen sich faktisch einige der befragten<br />
Staatsanwälte den Richter gezielt nach ihrem jeweiligen<br />
Anliegen aus. So gaben bspw. 10,34% der Befragten an, dass<br />
sie ihr Anklageverhalten vom Strafmaß abhängig machen.<br />
61<br />
So u.a. Bockelmann, NJW 1958, 889 (890); Engelhardt,<br />
DRiZ 1982, 418 (419).<br />
62<br />
Kleinknecht/Müller, Kommentar zur StPO und zum GVG,<br />
4. Aufl. 1958, § 26 GVG Ziff. 2a; Rieß, in: ders. (Fn. 59),<br />
§ 209a Rn. 31; OLG Düsseldorf JMBlNW 1963, 166.<br />
63<br />
BGHSt 13, 53 (59); Siolek (Fn. 59), § 26 GVG Rn. 10.<br />
64<br />
Müller/Sax/Paulus, Kommentar zur Strafprozessordnung,<br />
§ 26 GVG Rn. 5.<br />
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97
Wiebke Arnold<br />
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27,58% der Staatsanwälte nannten das jeweils zuständige<br />
Gericht als Abgrenzungsmerkmal im Rahmen ihrer Wahlbefugnis.<br />
Hinzu kommt das Streben nach rascher Erledigung<br />
(6,9%). Daraus ergibt sich, dass eine nicht geringe Anzahl<br />
der befragten Vertreter der Anklagebehörde subjektive Elemente<br />
in ihre Anklageentscheidung einfließen lässt. Dadurch<br />
wird deutlich, dass die beweglichen Zuständigkeitsregelungen<br />
der Staatsanwaltschaft durchaus die Möglichkeit einräumen,<br />
ihre Vorstellung von einer adäquaten Behandlung des<br />
Beschuldigten im Wege der Anklageerhebung zu verwirklichen.<br />
Dass die Staatsanwaltschaft von dieser Möglichkeit der<br />
Einflussnahme in der Praxis auch Gebrauch macht, hat die<br />
Auswertung bestätigt.<br />
In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass bei Berücksichtigung<br />
derartiger Überlegungen im Rahmen der Anklageentscheidung<br />
eine Waffengleichheit nicht mehr gewährleistet<br />
ist. Letztendlich hat es die Staatsanwaltschaft in der<br />
Hand, ob der Beschuldigte vor einen härteren oder milderen<br />
Richter gestellt wird. Sie orientiert sich nicht primär am gesetzlichen<br />
Leitfaden des § 26 Abs. 2 GVG. Vielmehr hängt<br />
die Entscheidung, vor welchen Richter der Beschuldigte<br />
kommt, überwiegend von dem gesetzlich losgelösten, individualisierten<br />
Ermessen des jeweiligen Staatsanwalts ab. Dieser<br />
trifft die Entscheidung aus seiner Position heraus. Genau<br />
diese Möglichkeit, dass eine staatliche Institution eine Entscheidung<br />
aus eigener Machtvollkommenheit treffen kann,<br />
sollte durch Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG aber gerade verhindert<br />
werden, der seinen Ursprung in einer Zeit findet, in der das<br />
„ius evocandi“ 65 weit verbreitet war.<br />
Der Hinweis, auch der Verteidiger habe die Möglichkeit,<br />
über die beweglichen Zuständigkeiten auf die Richterbank<br />
und damit auf das Urteil Einfluss zu nehmen, geht fehl. Es ist<br />
zu bedenken, dass der Verteidiger – und damit auch der Beschuldigte<br />
– nur mittelbar auf die Zuständigkeit einwirken<br />
kann, während die Staatsanwaltschaft unmittelbar den zuständigen<br />
Richter bestimmt. Der Verteidiger muss zwei staatliche<br />
Institutionen beeinflussen, Staatsanwaltschaft und Gericht,<br />
und kann zudem auf die endgültige Zuständigkeitsbestimmung<br />
keinen effektiven Einfluss nehmen. Die Effektivität<br />
ist hingegen auf Seiten der Staatsanwaltschaft gegeben, da<br />
anzunehmen ist, dass sich der Richter eher an die Anklageentscheidung<br />
der Staatsanwaltschaft gebunden sieht als an ein<br />
entsprechendes Gesuch des Verteidigers. Abschließend ist in<br />
diesem Kontext zu berücksichtigen, dass die Staatsanwaltschaft<br />
in der Regel ein Gericht angehen wird, dass ihren<br />
Standpunkt teilt. Allgemein setzt sie ein Faktum, das die<br />
Gerichte grundsätzlich zunächst akzeptieren und nur in seltenen<br />
Fällen revidieren werden. 66 Unter diesem Aspekt zeigt<br />
sich auch, dass der durch die gerichtliche Kontrollmöglich-<br />
65 Lat. = Evokationsrecht. Hierunter versteht man das Recht,<br />
jede Rechtssache an sich zu ziehen und Entscheidungen aus<br />
eigener Machtvollkommenheit zu fällen; vgl. BGH NJW<br />
1956, 1239.<br />
66 Henkel (Fn. 1), S. 35, spricht insoweit von einem „Gesetz<br />
der Trägheit“.<br />
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98<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
keit angestrebte Effekt überhaupt nicht wirksam werden<br />
kann. 67<br />
V. Kritische Würdigung des Streitstandes<br />
Die Auswertung der empirischen Studie hat gezeigt, dass die<br />
beweglichen Zuständigkeiten der Staatsanwaltschaft tatsächlich<br />
die Möglichkeit einräumen, ihre Vorstellung von einer<br />
adäquaten Behandlung des Beschuldigten im Wege der Anklageerhebung<br />
zu verwirklichen, und dass diese Möglichkeit<br />
in der Praxis auch genutzt wird. Die Staatsanwaltschaft kann<br />
sich über die beweglichen Zuständigkeiten gezielt den Richter<br />
aussuchen, bei dem sie das ihr vorschwebende Ziel (bspw.<br />
hohes Strafmaß) aller Wahrscheinlichkeit nach erreichen<br />
wird. Dieser Aspekt wird selbst von einigen der befragten<br />
Staatsanwälte kritisch angemerkt. Die dahingehenden Bedenken<br />
in der Literatur haben sich also bewahrheitet und können<br />
anhand der empirischen Studie belegt werden.<br />
Die Praktikabilität der beweglichen Zuständigkeiten kann<br />
dieses Übel nicht aufwiegen. Zum einen kann es nicht dem<br />
Willen des Gesetzgebers entsprechen, dass gerichtliche Zuständigkeiten<br />
durch persönliche Interessen der Staatsanwaltschaft<br />
beeinflusst werden. Wurde dieser Zustand in Zeiten<br />
des Nationalsozialismus noch begrüßt, hat er in der heutigen<br />
Zeit definitiv keine Berechtigung mehr. Selbst wenn die<br />
gegenwärtige politische Lage keinen Anlass gibt, den staatlichen<br />
Institutionen zu misstrauen, und folglich nicht mit Versuchen<br />
einer politisch gesteuerten Manipulation der Zuständigkeit<br />
zu rechnen ist, bleibt zu bedenken, dass rechtsstaatliche<br />
Sicherungen nur in einer „Schönwetterperiode des Verfassungslebens“<br />
68 scheinbar überflüssig sind. Deshalb sind<br />
sie bereits in politisch ruhigen Phasen erforderlich, für „den<br />
Fall, dass Krisenzeiten kommen und die politischen Mächte<br />
geneigt sein könnten, formalen Befugnissen einen politischen<br />
<strong>Inhalt</strong> zu geben“ 69 . Abgesehen davon ist die Vertrauenswürdigkeit<br />
einer Institution auch deshalb kein Ersatz für normative<br />
Bindungen, weil jedes politische System für sich in Anspruch<br />
nimmt oder zumindest propagiert, im Interesse der<br />
Rechtsunterworfenen zu handeln und deshalb ihr Vertrauen<br />
zu verdienen. 70 Überdies entspricht es der rechtsstaatlichen<br />
Grundregel, staatliche Macht in der Weise zu begrenzen und<br />
zu kontrollieren, dass die Freiheit der Bürger nicht von der<br />
Lauterkeit der handelnden Amtsträger abhängt.<br />
Zum anderen ist dem Regelungsgehalt des Art. 101<br />
Abs. 1 S. 2 GG kein Anhaltspunkt dahingehend zu entnehmen,<br />
dass dem Gesetzgeber im Zuge der Ausgestaltung des<br />
Gewährleistungsbereichs die Befugnis zur Abwägung zwischen<br />
Erfordernissen der Praxis und möglicherweise gegenläufiger<br />
rechtsstaatlicher Prinzipen übertragen wird. Zudem<br />
wird, indem man praktischen Erwägungen einen derartigen<br />
Einfluss auf die Ausgestaltung der Zuständigkeitsbestimmungen<br />
einräumt, der hohe Verfassungsrang des Art. 101<br />
67 Peters (Fn. 15), S. 115, führt insofern zutreffend aus: „Immerhin<br />
kann die Staatsanwaltschaft je nach Einstellung des<br />
Amts- oder Landgerichts die Sache steuern“.<br />
68 Sowada (Fn. 9), S. 511.<br />
69 Brüggemann, Die rechtsprechende Gewalt, 1962, S. 93.<br />
70 Steinbeck, DJZ 1924, Sp. 510.
Bewegliche Zuständigkeit versus gesetzlicher Richter<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Abs. 1 S. 2 GG unterlaufen. In Anbetracht der verfassungsrechtlichen<br />
Bedeutung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG muss<br />
vielmehr jedes Zurückdrängen der Genauigkeit zur Verwirklichung<br />
praktischer Bedürfnisse als Beeinträchtigung des<br />
grundrechtlichen Gewährleistungsbereiches eingestuft werden.<br />
71<br />
Soweit die weiten Strafrahmen des materiellen Strafrechts<br />
zur Rechtfertigung herangezogen werden, hat Roth 72 zutreffend<br />
auf die „grundrechtsdogmatische Schieflage“ dieser<br />
Argumentation hingewiesen. Nicht die Strafrahmen des materiellen<br />
Rechts beeinflussen das Grundgesetz. Vielmehr müssen<br />
die Strafrahmen mit dem Grundgesetz vereinbar sein.<br />
Dies ist allerdings nicht gewährleistet. Vielmehr sind die<br />
weiten Strafrahmen ihrerseits rechtspolitisch besorgniserregend.<br />
73 Sie sind daher kein taugliches Argument für die Verfassungsmäßigkeit<br />
der beweglichen Zuständigkeiten, da eine<br />
verfassungsrechtlich bedenkliche Regelung nicht eine verfassungsrechtlich<br />
fragwürdige Regelung stützen kann.<br />
Die Analyse der empirischen Studie hat ferner gezeigt,<br />
dass der Wert der gerichtlichen Kontrollmöglichkeit der<br />
staatsanwaltlichen Anklageentscheidung nicht zu überschätzen<br />
ist. Zwar bringt die Öffentlichkeit den Gerichten nicht<br />
das Misstrauen entgegen, welches sie gegenüber der regierungsabhängigen<br />
Staatsanwaltschaft hegt. 74 Gleichwohl kann<br />
die letzte Entscheidungsgewalt des Gerichts über die Zuständigkeit<br />
immer nur ein zusätzliches Mittel sein, um die berechtigten<br />
Bedenken gegen eine bewegliche Zuständigkeitsordnung<br />
abzuschwächen. 75 Denn die erste Wahl liegt initiativ<br />
bei der Staatsanwaltschaft, deren Entscheidung die Gerichte<br />
in der Regel akzeptieren und nur selten revidieren werden.<br />
Abgesehen davon setzt das Gericht sein eigenes Auswahlermessen<br />
lediglich an die Stelle dessen der Staatsanwaltschaft.<br />
Insofern kommt es zu keinem nennenswerten Unterschied, da<br />
nach wie vor die Gefahr besteht, dass zwar nicht mehr der<br />
weisungsgebundene Staatsanwalt, aber immer noch Gutdünken<br />
oder Gerichtsgebrauch und nicht bindende gesetzliche<br />
Leitlinien über die sachliche Eingangsinstanz entscheiden.<br />
Soweit eingewandt wird, der gesetzliche Richter werde<br />
nicht durch die Verfassung selbst, sondern durch die Vorschriften<br />
des GVG und der StPO bestimmt, trifft dies nicht<br />
zu. Der prinzipielle gedankliche Fehler besteht darin, dass der<br />
Schutzgehalt des Postulats vom gesetzlichen Richter in Abhängigkeit<br />
von der einfachgesetzlichen Zuständigkeitsordnung<br />
bestimmt wird, anstatt die verfassungsrechtliche Vorgabe<br />
des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG als vorrangigen Leitaspekt<br />
anzuerkennen. 76<br />
Schließlich hat der Gesetzgeber des Grundgesetzes auch<br />
nicht die beweglichen Zuständigkeiten durch die Übernahme<br />
des Art. 105 WRV bestätigt. Bereits die historische Inbeziehungsetzung<br />
der Zuständigkeitsregelung von 1924 zum <strong>Inhalt</strong><br />
71<br />
Vgl. Bockelmann, GA 1957, 357.<br />
72<br />
Roth (Fn. 2), S. 116.<br />
73<br />
Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2,<br />
1989, § 62 Rn. 12 f.<br />
74<br />
Henkel (Fn. 1), S. 34.<br />
75<br />
Henkel (Fn. 1), S. 35.<br />
76<br />
Sowada (Fn. 9), S. 503 f.<br />
des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist verfehlt. 77 Der Gesetzgeber<br />
des GG hat nicht die bewegliche Zuständigkeitsordnung aus<br />
dem Jahre 1924 vorgefunden, sondern das noch weitgehend<br />
antirechtsstaatliche Zuständigkeitssystem der NS-Zeit. Dass<br />
der Grundgesetzgesetzgeber diese tatsächlich vorgefundene<br />
machtstaatliche Zuständigkeitsordnung bestätigt haben soll,<br />
liegt gänzlich neben der Sache und kann nicht ernsthaft vertreten<br />
werden. Abgesehen davon unterlag der Grundsatz vom<br />
gesetzlichen Richter im letzten Jahrhundert einem <strong>Inhalt</strong>swandel.<br />
Während sein <strong>Inhalt</strong> in den Anfängen dieser Epoche<br />
streng ausgelegt worden war, erfolgte in der Weimarer Republik<br />
unter dem Aspekt der Kostenersparnis eine Relativierung,<br />
die im NS-Staat ihren Höhepunkt fand. In dieser Zeit<br />
wurde das Postulat aus ideeller Überzeugung gänzlich ausgehöhlt<br />
und entwertet. 78 Allerdings erfolgte unter der Schirmherrschaft<br />
von Schmidt 79 bereits gegen Ende des Dritten<br />
Reichs eine langsame Rückbesinnung auf die ursprünglichen<br />
Werte des Grundsatzes. Ihm folgten zahlreiche Abhandlungen<br />
80 , die sich mit dem Sinngehalt des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG<br />
auseinandersetzten und als Konsequenz zu einer engeren<br />
Auslegung des Grundsatzes gelangten. Soweit also angeführt<br />
wird, der Grundgesetzgeber habe Art. 105 WRV weitestgehend<br />
in das Grundgesetz übernommen und dadurch die beweglichen<br />
Zuständigkeiten bestätigt, wird verkannt, dass<br />
dessen relativierter <strong>Inhalt</strong> nicht mehr dem <strong>Inhalt</strong> des im Jahre<br />
1949 bestehenden Gebots vom gesetzlichen Richter entsprach.<br />
Demzufolge kann der Grundgesetzgeber auch nicht<br />
den Sinngehalt des Art. 105 WRV übernommen haben. Abgesehen<br />
davon hängt die Verfassungswidrigkeit vorkonstitutioneller<br />
Rechtsgrundsätze nicht von einer ausdrücklichen<br />
Aufhebung durch den Verfassungsgesetzgeber ab. 81 Der<br />
Gesetzgeber muss also nicht explizit mit einem vorherigen<br />
Rechtszustand brechen. Vielmehr hebt neues Verfassungsrecht<br />
älteres Verfassungsrecht nicht nur dort auf, wo es die<br />
Aufhebung unmissverständlich verfügt, sondern auch dort,<br />
wo es positive Normen aufstellt, denen das ältere Recht nicht<br />
genügt. 82<br />
VI. Fazit<br />
Die Entscheidungen des BVerfG haben die Diskussion um<br />
die Verfassungsmäßigkeit der beweglichen Zuständigkeiten<br />
nicht zum Ruhen gebracht. Auch wenn sich die Befürworter<br />
der Entscheidungen und der beweglichen Zuständigkeiten<br />
fortan zur „herrschenden Meinung“ deklarierten und die<br />
Kritiker als „Mindermeinung“ darstellten, sind deren Anmer-<br />
77 Ebenso Schmidt, MDR 1958, 724.<br />
78 Vgl. dazu oben Fn. 45.<br />
79 Schmidt (Fn. 6), S. 263 f.<br />
80 Bspw. bezieht sich Oehler, ZStW 64 (1952), 293, in seinen<br />
Ausführungen aus dem Jahre 1952 ausdrücklich auf die Ausführungen<br />
von Schmidt. Er bezeichnet dessen Aufsatz in der<br />
Kohlrausch-Festschrift aus dem Jahre 1944 als „besonders<br />
eindringlich und unerschrocken“. Auch in anderen Abhandlungen<br />
wird immer wieder auf die Ausführungen von<br />
Schmidt verwiesen, so u.a. Moller, MDR 1966, 100.<br />
81 Schmidt, MDR 1958, 724.<br />
82 Bockelmann, NJW 1958, 889.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
99
Wiebke Arnold<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
kungen bis zum heutigen Tage gegenwärtig und haben an<br />
ihrer Überzeugungskraft kaum verloren. Es ist auf dem uneingelösten<br />
Gehalt des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter<br />
zu beharren. In Anbetracht der jüngsten Entwicklungen im<br />
Schrifttum scheint sich im Übrigen das „Kräfteverhältnis“<br />
zugunsten der Kritiker zu verschieben. Zwar steht die vermeintlich<br />
herrschende Meinung gegenwärtig noch mit der<br />
Rechtsprechung im Einklang, jedoch mehreren sich die kritischen<br />
Stimmen. Angesichts der über Jahrzehnte anhaltenden<br />
Kritik an den beweglichen Zuständigkeiten, die in der geänderten<br />
Auffassung vom Sinngehalt des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG<br />
ihren Ursprung findet, hat sich bereits der Gesetzgeber im<br />
Rahmen des Rechtspflegeentlastungsgesetzes darum bemüht,<br />
bei der Festlegung der Zuständigkeit des Strafrichters den mit<br />
Blick auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG bestehenden Bedenken<br />
Rechnung zu tragen 83 . Auch das Plenum des BVerfG 84 hat<br />
unlängst ausgesprochen, dass sich die Vorstellungen von den<br />
Anforderungen an den gesetzlichen Richter im Laufe der Zeit<br />
allmählich verfeinert hätten. Diese Entwicklung gibt Anlass<br />
zu der Hoffnung, dass hinsichtlich der beweglichen Zuständigkeitsregelungen<br />
in naher Zukunft eine strengere Beurteilung<br />
des BVerfG Platz nehmen wird, als die, die in den mehr<br />
als 40 Jahren zurückliegenden Entscheidungen zutage getreten<br />
ist.<br />
83 Vgl. Sowada (Fn. 9), S. 592 f.<br />
84 BVerfGE 95, 333.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
100<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008
BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06 Dietmeier<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
U r t e i l s a n m e r k u n g<br />
Zur Revisibilität der Beweiswürdigung beim freisprechenden<br />
Urteil („Bäcker von Siegelsbach“)<br />
BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06 (LG Heilbronn) 1<br />
Anmerkung:<br />
I. Mit dem Revisionsurteil im Fall des „Bäckers von Siegelsbach“<br />
knüpft der Bundesgerichtshof an seine ständige Rechtsprechung<br />
an, mit der er die tatrichterliche Beweiswürdigung<br />
immer mehr zum Gegenstand revisionsrechtlicher Kontrolle<br />
erhoben hat. 2<br />
Das Landgericht Heilbronn hatte den Angeklagten vom<br />
Vorwurf des Mordes und des zweifachen Mordversuchs mit<br />
Urteil vom 21. April 2006 aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.<br />
Ihm wurde zur Last gelegt, am 7. Oktober 2004 die<br />
Sparkassenfiliale in Siegelsbach ausgeraubt und dabei eine<br />
Kundin erschossen sowie deren Ehemann und einen Bankangestellten<br />
lebensgefährlich verletzt zu haben. Das Landgericht<br />
hatte sich nicht davon überzeugen können, dass der<br />
Angeklagte die ihm vorgeworfene Tat begangen hat. Nach<br />
der Würdigung der belastenden Beweise (hierzu gehörten et-<br />
wa die Aussagen der überlebenden Zeugen, Spurenanhaftungen<br />
und bei dem Angeklagten gefundenes Bargeld) und auch<br />
entlastender Gesichtspunkte (wie ein Alibi durch einen am<br />
Überfall nicht beteiligten Zeugen) hatte es seine Zweifel an<br />
der Täterschaft des Angeklagten nicht überwinden können.<br />
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger<br />
richteten sich gegen diesen Freispruch. Mit der Rüge der<br />
Verletzung materiellen Rechts wurde die Beweiswürdigung<br />
des Landgerichts angegriffen und außerdem auch die Verletzung<br />
von Verfahrensrecht beanstandet. Der Bundesgerichtshof<br />
hat in seinem Urteil vom 22. Mai 2007 die Entscheidung<br />
des Landgerichts bereits aufgrund der Sachrüge aufgehoben<br />
und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an<br />
die Schwurkammer des Landgerichts Stuttgarts zurückverwiesen.<br />
Der Bundesgerichtshof hält dem Landgericht vor, die<br />
von ihm vorgenommene Beweiswürdigung sei rechtsfehlerhaft,<br />
weil sie den Umfang und die Bedeutung des Zweifelssatzes<br />
verkannt habe. Außerdem sei die Beweiswürdigung<br />
lückenhaft. Der Entscheidung des 1. Senats ist im Ergebnis<br />
zuzustimmen.<br />
II. 1. Die Überprüfung der Beweiswürdigung des Tatgerichts<br />
durch die Revision muss denjenigen, der sich unbefangen<br />
dem Revisionsrecht nähert, in doppelter Hinsicht irritieren.<br />
Zum einen ist die Revision nach ihrem klassischen Verständnis<br />
auf die Prüfung von Gesetzesverletzungen beschränkt.<br />
1<br />
Die Entscheidung kann auf www.bundesgerichtshof.de im<br />
Volltext abgerufen werden.<br />
2<br />
Zur Entwicklung der Rechtsprechung statt vieler Schmid,<br />
ZStW 85 (1973), 360; Cuypers, Die Revisibilität der strafrichterlichen<br />
Beweiswürdigung, 1975, S. 119 ff., 144 ff.;<br />
Rieß, GA 1978, 257; Jähnke, in: Ebert/Rieß/Roxin (Hrsg.),<br />
Festschrift für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag am<br />
30. August 1999, 1999, S. 355 ff.<br />
Angriffsziel einer eingelegten Revision ist damit nach gängiger<br />
Auffassung die fehlerhafte Anwendung einer Rechtsnorm,<br />
nicht aber die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen<br />
im Urteilstext, welche der Rechtsanwendung zugrunde<br />
gelegt werden. Dieses überkommene Bild der Revision entspricht<br />
aber bereits seit langem nicht mehr der Rechtswirklichkeit.<br />
Schon das Reichsgericht hat die Tatsachenfeststellung<br />
sowie die Beweiswürdigung zunehmend revisionsrichterlicher<br />
Kontrolle unterworfen und ohne weitere theoretische<br />
Begründung konstatiert, bestimmte Mängel des angegriffenen<br />
Urteils seien als Verletzung des sachlichen Rechts aufzufassen<br />
und das Urteil daher aufzuheben. 3 In welchem umfangreichen<br />
Maß der Bundesgerichtshof diese Tradition fortsetzte,<br />
konnte Rieß bereits in seiner Untersuchung aus dem Jahr<br />
1982 zeigen, mit der er belegte, dass in dem von ihm zugrunde<br />
gelegten Untersuchungszeitraum von zwei Jahren etwa ein<br />
Drittel aller Urteilsaufhebungen in der Revision aufgrund von<br />
Mängeln bei der Feststellung und Bewertung von Tatsachen<br />
erfolgte. 4 Das zweite irritierende Moment der eingebürgerten<br />
Rechtsprechungspraxis ist, dass die revisionsrechtliche Überprüfung<br />
der Tatsachenbasis des Urteils auf die Sachrüge hin<br />
erfolgt. Nach § 261 StPO entscheidet das Gericht über das<br />
Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem<br />
Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung. Darüber<br />
hinaus regelt § 267 StPO Art und Umfang der erforderlichen<br />
Begründung einer Entscheidung. Bei beiden Regeln<br />
handelt es sich unstreitig um Bestimmungen des Verfahrensrechts.<br />
Damit aber würde es naheliegen, Begründungsmängel<br />
als Verletzung des Prozessrechts aufzufassen und in der Konsequenz<br />
daraus eine revisionsgerichtliche Prüfungsbefugnis<br />
allein auf dem Wege der Verfahrensrüge zu eröffnen. 5<br />
Die Revisionsrechtsprechung hat eine ausdrückliche und<br />
tragfähige Begründung für die Erweiterung ihrer Kontrollbefugnis<br />
– insbesondere auch für den weiten Anwendungsbereich<br />
der Sachrüge – bislang nicht vorgetragen. Sucht man in<br />
den Entscheidungen des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs<br />
nach Argumenten dafür, warum das Gericht gerade<br />
auf die Sachrüge hin die Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung<br />
überprüfen darf, so findet man allenfalls den<br />
knappen Hinweis darauf, das Revisionsgericht könne die<br />
richtige Anwendung des sachlichen Rechts dann nicht prüfen,<br />
wenn die angefochtene Entscheidung selbst nicht hinreichend<br />
begründet worden sei. 6 Dieser Aspekt ist für die Begründung<br />
der revisionsrechtlichen Kontrolle der Beweiswürdigung<br />
3<br />
Im einzelnen hierzu Frisch, in: Arnold (Hrsg.), Menschengerechtes<br />
Strafrecht: Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag,<br />
2005, S. 257, 263 ff.<br />
4<br />
Rieß, NStZ 1982, 49 (51). Zur praktischen Bedeutung der<br />
Beweiswürdigung als Gegenstand der Revisionskontrolle<br />
auch bereits Fezer, Die erweiterte Revision – Legitimierung<br />
der Rechtswirklichkeit?, 1974, insb. S. 13 ff.<br />
5<br />
Diese Konsequenz wird dementsprechend gezogen bei<br />
Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl.,<br />
1998, Rn. 272 f.; anders für § 267 StPO Wagner, ZStW<br />
106 (1994), 259 (269).<br />
6<br />
So etwa RGSt 71, 25 (26); BGHSt 3, 213 (215); in gleicher<br />
Richtung auch BGH NStZ 1999, 473.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
101
BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06 Dietmeier<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
bereits deshalb wenig überzeugend, da es nicht ausgeschlossen<br />
ist, dass das materielle Recht zutreffend unter einen in<br />
sich schlüssigen Sachverhalt subsumiert werden kann, selbst<br />
wenn dieser unter Verstoß gegen bestimmte Beweiswürdigungsregeln<br />
ermittelt wurde. Darüber hinaus sind für die<br />
rechtstheoretische Bewertung der Qualität einer Pflicht nicht<br />
die Konsequenzen maßgeblich, die sich aus ihrer Einhaltung<br />
oder Nichtbefolgung ergeben, sondern der Rechtsgrund der<br />
Verpflichtung. So würde niemand etwa die sich aus den Prinzipien<br />
der Mündlichkeit oder Unmittelbarkeit ergebenden<br />
Pflichten deshalb als sachlich-rechtlich einstufen, weil sich<br />
aus ihnen letztlich auch Konsequenzen für die Anwendung<br />
des materiellen Rechts ergeben. Bei der Ausdehnung der<br />
revisionsrechtlichen Kontrolle auf die Tatsachengrundlage<br />
der Entscheidung handelt es sich also um ein von der Rechtsprechung<br />
nach wie vor unzureichend begründetes Richterrecht,<br />
und es passt in dieses Bild, dass auch bei den tragenden<br />
Gründen der vorliegenden Entscheidung kein einziges Mal<br />
auf den Gesetzestext, sondern allein auf vorangegangene<br />
Judikate Bezug genommen wird.<br />
2. Trotz dieses bis heute bestehenden Begründungsdefizits<br />
ist die Entwicklung der Rechtsprechung in der Literatur<br />
mehrheitlich zustimmend begleitet worden, gilt sie vielen<br />
doch gerade als bedeutender Beitrag zur Verwirklichung der<br />
Einzelfallgerechtigkeit. 7 Allerdings ist der Weg des BGH zur<br />
„erweiterten Revision“ von einigen Autoren auch heftig angegriffen<br />
worden. Zunächst wurde das Abweichen der neueren<br />
Rechtsprechung von der Intention des historischen Gesetzgebers<br />
bemängelt: Das ursprüngliche Konzept der StPO<br />
sei von einer strikten Trennung der tatrichterlichen Tatsachenfeststellung<br />
und Beweiswürdigung einerseits und der<br />
Beschränkung der Möglichkeit auf lediglich die rechtliche,<br />
nicht die tatsächliche Überprüfung des Urteils durch das<br />
Revisionsgericht andererseits ausgegangen. Mit der immer<br />
umfassenderen Nachprüfung der tatsächlichen Urteilsbasis<br />
durch die Revision würde das gesetzgeberische Programm<br />
damit missachtet. 8 In der Tat geht die heute von den Revisionsgerichten<br />
für sich in Anspruch genommene Prüfungskompetenz<br />
über diejenige hinaus, welche ihnen der historische<br />
Gesetzgeber einräumen wollte. Die Motive zur StPO<br />
lassen hieran keinen Zweifel: „Aus demjenigen, was oben<br />
über die Nothwendigkeit der Beseitigung der Appellation<br />
gesagt worden ist, ergiebt sich, daß die rein thatsächliche<br />
Würdigung des Straffalls, also namentlich die Würdigung der<br />
erbrachten Beweise, von der Tätigkeit des höheren Richters<br />
7<br />
Otto, NJW 1978, 1 (10); Maul, in: Gamm (Hrsg.), Strafrecht,<br />
Unternehmensrecht, Anwaltsrecht: Festschrift für Gerd Pfeiffer<br />
zum Abschied aus dem Amt als Präsident des Bundesgerichtshofes,<br />
1988, S. 409, 419 ff.; Schäfer, StV 1995, 147<br />
(153 f.); Schäfer, StV 1995, 147 (153 f.); Meyer-Goßner,<br />
DRiZ 1997, 471; Jähnke (Fn. 2), S. 355, 365.<br />
8<br />
Das historische Argument wird besonders nachdrücklich<br />
vertreten bei Foth, DRiZ 1997, 201; zurückhaltender, in der<br />
Sache aber ebenso, Hanack, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg,<br />
Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz,<br />
25. Aufl. 1998, vor § 333 Rn. 1, § 337 Rn. 127-129.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
102<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
ausgeschlossen bleiben muß. Diese Würdigung ist dem Richter<br />
erster Instanz ausschließlich überlassen, und das von diesem<br />
festgestellte thatsächliche Ergebniß ist für die höhere<br />
Instanz maßgebend, insoweit dasselbe nicht etwa im Wege<br />
eines gesetzwidrigen Verfahrens gewonnen worden ist. Die<br />
Aufgabe des höheren Richters besteht nur in der rechtlichen<br />
Beurtheilung der Sache.“ 9 Das historische Argument wiegt<br />
aber weniger schwer, als es zunächst erscheinen mag. Die<br />
Perspektive des Gesetzgebers ist jedenfalls dann nicht entscheidend,<br />
wenn sie sich lediglich in den Gesetzgebungsmaterialien,<br />
nicht aber im Gesetzestext selbst niedergeschlagen<br />
hat. Der Wortlaut der Strafprozessordnung differenziert nun<br />
aber gerade nicht zwischen nicht überprüfbarer Tatfrage und<br />
revisibler Rechtsfrage. § 337 Abs. 1 StPO knüpft die Revisibilität<br />
einer Entscheidung allein an eine „Verletzung des<br />
Gesetzes“ und daran, dass das Urteil auf dieser Verletzung<br />
beruht. Allein diese Kriterien bilden den Maßstab, an dem<br />
sich die Zulässigkeit der „erweiterten Revision“ messen lassen<br />
muss. 10<br />
Darüber hinaus ist an der Revisionspraxis kritisiert worden,<br />
sie führe zu einer unerträglichen, gesetzlich nicht intendierten<br />
Darstellungs- und Begründungslast des Tatrichters,<br />
sofern dieser sein Urteil „revisionssicher“ machen wolle. 11<br />
Ebenso häufig findet sich der Vorwurf, die Revisionsgerichte<br />
würden von ihren ausgedehnten Kontrollbefugnissen in nicht<br />
vorhersehbarer Weise Gebrauch machen und so die Tatgerichte<br />
im Hinblick auf den Umfang ihrer Urteilsbegründung<br />
verunsichern und die Revision so insgesamt zu einem „Lotteriespiel“<br />
machen. 12 Diese Einwände verbleiben jedoch an der<br />
Oberfläche, denn der Umfang der tatrichterlichen Darlegungs-<br />
und Schreiblast orientiert sich allein an verfassungs-<br />
oder anderen rechtlichen Maßgaben. Besteht insoweit eine<br />
Rechtspflicht, so kann nicht mit der Belastung der Tatrichter<br />
argumentiert werden, besteht sie nicht, so ist bereits der Revisionspraxis,<br />
die eine solche einfordert, der Boden entzogen.<br />
Träfe darüber hinaus der zweite Vorwurf der uneinheitlichen<br />
und unvorhersehbaren Revisionspraxis zu, so würde sich bei<br />
einer bestehenden Rechtsgrundlage für die erweiterte Revision<br />
allenfalls die Forderung ergeben, diese in der Praxis einheitlich<br />
umzusetzen, nicht aber, von dieser rechtskonformen<br />
Praxis abzugehen. 13<br />
3. Letztlich hängt die grundsätzliche Legitimation der revisionsrechtlichen<br />
Kontrolle der tatrichterlichen Beweiswürdigung<br />
auf die Sachrüge hin davon ab, ob tatsächlich eine<br />
Verletzung des sachlichen Rechts gegeben ist. Überraschenderweise<br />
gibt es in der Literatur nur wenige Überlegungen,<br />
die auf eine dogmatische Fundierung der Revisionspraxis<br />
zielen. Naheliegend ist etwa der von Wagner unternommene<br />
9<br />
Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen,<br />
Bd. 3, Materialien zur Strafprozeßordnung, Abt. 1,<br />
1885 (Neudruck 1983), S. 249 f. (Hervorh. im Original).<br />
10<br />
Zutreffend Frisch (Fn. 3), S. 257, 272.<br />
11<br />
Foth, DRiZ, 1997, 201 (205 f.).<br />
12<br />
Hamm, StV 1987, 262 (266); hierzu auch Wagner, ZStW<br />
106 (1994), 259 (260 f.).<br />
13<br />
Frisch (Fn. 3), S. 257, 271 f.
BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06 Dietmeier<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Versuch, die Beweiswürdigungspflicht im tatrichterlichen<br />
Urteil auf ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen zurückzuführen.<br />
14 Ein Verstoß gegen § 267 Abs. 1 StPO liege dann<br />
vor, wenn der Tatrichter die bereits von der Verfassung geforderte<br />
Begründung nicht liefere. 15 Wagner ordnet § 267<br />
StPO dem materiellen Recht mit der Begründung zu, die<br />
Verletzung der Norm betreffe nicht das Verfahren bis zum<br />
Urteil. Genauso gut ließe sich jedoch behaupten, das Urteil<br />
sei als Abschluss des Strafverfahrens gleichwohl noch dessen<br />
Bestandteil. Für die Zuordnung der Rüge zum Verfahrens-<br />
bzw. zum materiellen Recht ist damit also wenig gewonnen.<br />
Darüber hinaus beschränkt Wagner seine verfassungsrechtlichen<br />
Ausführungen ausdrücklich auf die Beweiswürdigungspflicht<br />
im tatrichterlichen Urteil im Falle der Verurteilung.<br />
Die verfassungsrechtliche Bedeutung des schriftlichen Urteils<br />
und damit auch die Konturen der Anforderungen an ihren<br />
Umfang und <strong>Inhalt</strong> lassen sich hier aus dem Aspekt des<br />
Grundrechtseingriffs in die persönliche Freiheit des Verurteilten<br />
ableiten. Dieser Gesichtspunkt verliert allerdings für<br />
die Begründung eines freisprechenden Urteils an Bedeutung.<br />
16<br />
Noch aus einem anderen Grund scheint es wenig überzeugend,<br />
die Revisibilität der Beweiswürdigung und deren<br />
Zuordnung zum Spektrum der Sachrüge aus der materiellrechtlichen<br />
Begründungspflicht des § 267 StPO und dessen<br />
verfassungsrechtlichem Hintergrund abzuleiten. <strong>Inhalt</strong>lich<br />
geht es nämlich bei den hier in Frage stehenden Mängeln im<br />
Urteil nicht in erster Linie darum, dass das Tatgericht seiner<br />
Begründungspflicht nicht in zureichendem Maße entsprochen<br />
hat. Vielmehr handelt es sich bei den mit der Revision angegriffenen<br />
Mängeln der Urteilsbegründung um positiv greifbare<br />
Fehler, also etwa innere Widersprüche oder die Missachtung<br />
von Erfahrungssätzen. Letztlich gilt dies selbst auch für<br />
den hier vorliegenden Fall, bei dem der Bundesgerichtshof<br />
moniert, dass das Tatgericht einzelne belastende Beweisanzeichen<br />
überhaupt nicht bzw. entlastende Beweismittel nur<br />
mangelhaft gewürdigt hat: Auch hier geht es weniger um die<br />
Verletzung einer Begründungspflicht als um Fehler, die sich<br />
im vorliegenden Urteilstext positiv nachweisen lassen. 17<br />
Zielführender für die rechtsdogmatische Absicherung der<br />
Zuordnung von Beweiswürdigungsmängeln zur Sachrüge<br />
scheinen dagegen normtheoretische Überlegungen zu sein,<br />
wie sie jüngst etwa von Frisch angestellt worden sind und<br />
hier nur in aller Kürze aufgegriffen werden sollen. 18 Zutreffend<br />
verweist Frisch darauf, dass das materielle Recht nicht<br />
direkt auf einen „wirklichen“ Sachverhalt, sondern auf dessen<br />
historischer Rekonstruktion als Ergebnis der Beweisaufnah-<br />
14<br />
Wagner, ZStW 106 (1994), 259 (insb. 272 ff.).<br />
15<br />
Wagner, ZStW 106 (1994), 259 (285).<br />
16<br />
Auch Wagner, ZStW 106 (1994), 259 (278 u. 285 Fn. 167)<br />
lässt offen, ob die Begründungspflicht bei freisprechenden<br />
Urteilen aus der Sicht des Verfassungsrechts gleichen Anforderungen<br />
unterworfen ist.<br />
17<br />
Zutreffend in der generellen Perspektive wiederum Frisch<br />
(Fn. 3), S. 257, 279.<br />
18<br />
Ausführlich dazu Frisch (Fn. 3), S. 257, 282 ff.<br />
me angewendet wird. 19 Legitimer Anspruch an diese Rekonstruktion<br />
ist deren größtmögliche Deckung mit dem tatsächlichen<br />
Geschehensablauf. Voraussetzung hierfür sind unter<br />
anderem die Übereinstimmung des Rekonstruktionsergebnisses<br />
mit Denkgesetzen und Erfahrungssätzen, die Lückenlosigkeit<br />
der Beweiswürdigung, ebenso wie die hohe Überzeugung<br />
des Tatrichters von der Übereinstimmung der Rekonstruktion<br />
mit der Wirklichkeit. Neben den Normen des materiellen<br />
Rechts bedarf es also einer Reihe von „Operationsregeln“,<br />
die angeben, welche Bedingungen bestimmte Sachverhaltskonstrukte<br />
erfüllen müssen, damit das materielle Recht<br />
auf sie angewendet werden darf. Werden diese Anwendungsbedingungen<br />
nicht eingehalten, so werden zum einen die<br />
Operationsregeln verletzt. Gleichzeitig wird das materielle<br />
Recht im Urteil damit aber auf einen Sachverhalt angewendet,<br />
auf welchen es nicht bezogen werden darf, also zu Unrecht<br />
angewendet, so dass die Voraussetzungen des § 337<br />
Abs. 2 StPO erfüllt sind. Aus normtheoretischer Perspektive<br />
ist die Praxis der Revisionsgerichte, im Hinblick auf Mängel<br />
bei der Beweiswürdigung die Sachrüge zuzulassen, also im<br />
Grundsatz zutreffend. 20 Wünschenswert wäre allerdings,<br />
wenn die Revisionsgerichte diese Zuordnung in ihren Entscheidungen<br />
zukünftig argumentativ unterfüttern würden,<br />
ansonsten muss ihnen genau das vorgehalten werden, was sie<br />
selbst oft genug den Tatgerichten vorhalten: nämlich die<br />
Lückenhaftigkeit der Urteilsbegründung.<br />
III. Neben der Grundfrage, ob die Beweiswürdigung im<br />
Rahmen der Sachrüge überhaupt der revisionsrichterlichen<br />
Kontrolle unterzogen werden darf, ist das vorliegende Urteil<br />
noch im Hinblick auf mehrere der vom Senat herangezogenen<br />
Einzelanforderungen interessant, die von den Instanzgerichten<br />
häufig nicht eingehalten werden und daher oft zu<br />
einer Urteilsaufhebung führen.<br />
1. Hierzu gehören zunächst Unsicherheiten bei der Anwendung<br />
des Zweifelsgrundsatzes im Rahmen der Beweiswürdigung.<br />
Zu Recht bemängelt der 1. Senat, dass die Strafkammer<br />
die beiden Aussagen der Opferzeugen, welche den<br />
Angeklagten als Täter identifiziert hatten, jeweils einzeln<br />
unter Zugrundelegung des Zweifelsgrundsatzes als letztlich<br />
nicht überzeugend angesehen hat. Der Bundesgerichtshof<br />
betont, dass der Zweifelsgrundsatz eine Entscheidungs- und<br />
keine Beweisregel ist, der nicht auf einzelne Beweistatsachen<br />
angewendet, sondern erst bei der Gesamtbewertung aller<br />
Indizien berücksichtigt werden darf. Diese Einschätzung<br />
stimmt jedenfalls für den hier vorliegenden Beweisring 21 ,<br />
19<br />
Zur allgemeinen rechtstheoretischen Debatte um die Rekonstruktion<br />
des Sachverhalts in der forensischen Situation<br />
vgl. nur Grasnick, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer´s<br />
Archiv für Strafrecht: Eine Würdigung zum 70. Geburtstag<br />
von Paul-Günter Pötz, 1993, S. 55 ff., einerseits<br />
sowie Gössel, Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit im<br />
Strafprozeß?, 2000, insb. S. 14 ff. andererseits.<br />
20<br />
Frisch (Fn. 3), S. 257, 285 f.<br />
21<br />
Hierzu ausführlich Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung<br />
vor Gericht, 3. Aufl. 2007, Rn. 622 ff., sowie Loddenkämper,<br />
Revisibilität tatrichterlicher Zeugenbeurteilung,<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
103
BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06 Dietmeier<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
dessen Kennzeichen bekanntlich darin besteht, dass von einer<br />
Mehrzahl von Indizien jedes einzelne mit einer bestimmten<br />
Wahrscheinlichkeit, also einem eigenen Beweiswert, auf die<br />
gleiche Haupttatsache hindeutet. Sofern ein einzelnes Indiz<br />
allein noch nicht ausreicht, die Haupttatsache zu beweisen,<br />
dürfen die weiteren Indizien nicht jeweils getrennt voneinander<br />
bewertet werden, sondern müssen im Zusammenhang mit<br />
den anderen gewürdigt werden. Kurz gefasst lautet dieses<br />
beweisrechtliche Prinzip, dem das mathematische Theorem<br />
von Bayes 22 zugrunde liegt: Mehrere belastende Indizien auf<br />
derselben Ebene verstärken die Wahrscheinlichkeit der<br />
Haupttatsache. 23 Konsequenterweise darf der Zweifelsgrundsatz<br />
dann aber auch erst auf das Ergebnis der Wahrscheinlichkeitskalkulation<br />
Anwendung finden.<br />
2. Weiterhin kritisiert der Bundesgerichtshof, das Landgericht<br />
habe erhebliche konkrete Verdachtsmomente aufgrund<br />
„nicht tragfähiger Hypothesen“ und „bloß denktheoretischer<br />
Möglichkeiten“ als entwertet angesehen. Auch hierbei handelt<br />
es sich in ihrer Grundstruktur um typische Fehler, die<br />
Tatgerichten dann unterlaufen können, wenn sie ein falsches<br />
Verständnis von der zur Verurteilung erforderlichen richterlichen<br />
Überzeugung zu Grunde legen. Wie hier kann ein Freispruch<br />
dann fehlerhaft sein, wenn durch sachfremde Überlegungen<br />
belastende Indizien relativiert und so letztlich die<br />
Anforderungen an eine Verurteilung überspannt werden. 24<br />
Konkret bezieht sich der Senat zunächst auf die molekulargenetisch<br />
untersuchte Blutspur vom Fahrersitz des Fahrzeugs<br />
des Angeklagten, die nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme<br />
mit hoher Wahrscheinlichkeit mit den Merkmalen eines<br />
der Geschädigten übereinstimmte. Das Landgericht hatte den<br />
Beweiswert dieser Blutspur als gering eingestuft, da insbesondere<br />
an der Kleidung des Angeklagten keine entsprechenden<br />
Spuren aufgefunden werden konnten. Zu Recht weist der<br />
Senat unter anderem darauf hin, dass das Fehlen weiterer<br />
Beweisspuren nichts am Beweiswert der aufgefundenen Blutspur<br />
ändert. Während also in der forensischen Praxis der<br />
Aussagewert einer DNA-Analyse häufig überschätzt wird,<br />
indem der hohe statistische Aussagewert eines Analyseergebnisses<br />
im Urteil bereits ohne Würdigung der Gesamtumstände<br />
als Beweis einer Tatsache angenommen wird, 25 liegt<br />
hier der umgekehrte Fall vor, bei welchem ein Gericht den<br />
Aussagewert einer Analyse aus nicht sachgemäßen Erwägun-<br />
2003, S. 43 ff. Anderes mag allenfalls für die Indizienkette<br />
gelten, deren Beweiswert vom schwächsten Kettenglied abhängt:<br />
Hier darf der In-dubio-Satz bereits bei den einzelnen<br />
Beweisanzeichen angewendet werden, weil der Zweifel am<br />
Indiz in diesem Fall ausnahmsweise mit dem fehlgeschlagenen<br />
Beweis der Tatsache gleichgesetzt werden kann, vgl.<br />
Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 1998, S. 392.<br />
22 Eingehend zum <strong>Inhalt</strong> und zur forensischen Bedeutung des<br />
Theorems, Müller, in: Kühne (Hrsg.), Festschrift für Klaus<br />
Rolinski: Zum 70. Geburtstag am 11. Juli 2002, 2002, S. 219,<br />
222 ff.<br />
23 Bender/Nack/Treuer (Fn. 21), Rn. 629.<br />
24 BGH NStZ-RR 2003, 240.<br />
25 Dazu etwa BGH NStZ 1994, 554.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
104<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
gen heraus unterschätzt.<br />
Eine ähnliche Fehlgewichtung hält der Senat dem Landgericht<br />
zu Recht im Hinblick auf andere Indizien vor. Die<br />
Strafkammer hatte festgestellt, dass im Brandschutt einer am<br />
Tattag entzündeten Feuerstelle Gegenstände des Angeklagten<br />
und die Kautschukmischung einer bestimmten französischen<br />
Gummistiefelmarke gefunden wurden. Ausweislich des Urteils<br />
hatte der Angeklagte zweimal Gummistiefel dieser Marke<br />
gekauft und am Tattag Stiefel getragen. Anstatt die Kombination<br />
dieser Indizien im Urteil zu würdigen, habe das<br />
Landgericht den Beweiswert des nach der Tat abgebrannten<br />
Feuers relativiert, da es Zweifel daran hatte, ob es dem Angeklagten<br />
zeitlich möglich gewesen sei, das Feuer anzuzünden.<br />
Damit aber wird die Bedeutung der festgestellten Indizien<br />
für den Beweis der Täterschaft des Angeklagten von der<br />
Strafkammer nicht zutreffend gewichtet. Auch die Einschätzung<br />
des Landgerichts, dass die Stiefelreste erst 13 Monate<br />
nach der Tat an der Brandstelle gefunden worden seien und<br />
daher die Gefahr einer Beweismanipulation durch Dritte<br />
bestehe, vermag der Bundesgerichtshof nicht zu teilen. Zwar<br />
gehört zum gesicherten Bestand der revisionsrechtlichen<br />
Rechtsprechung, dass das Tatgericht sich bei der Beweisführung<br />
mit alternativen Verlaufsmöglichkeiten des Tatgeschehens<br />
beschäftigen muss. Dies ist jedoch nur dann geboten,<br />
wenn solche Möglichkeiten nicht bloß theoretisch denkbar,<br />
sondern naheliegend sind. 26 Es kommt also darauf an, dass es<br />
sich hierbei nicht um reine Spekulationen des Gerichts handelt,<br />
sondern es müssen konkrete und im Urteil mitgeteilte<br />
Anhaltspunkte vorliegen, die einen alternativen Geschehensablauf<br />
aufdrängen. Fehlt es jedoch an einem entsprechenden<br />
Anknüpfungspunkt, so darf das Tatgericht bereits festgestellte<br />
Beweisanzeichen nicht dadurch entwerten, indem es sie in<br />
einen anderen – rein hypothetischen – alternativen Geschehensablauf<br />
eingliedert. Für den Senat ergibt sich aus dem<br />
landgerichtlichen Urteil gerade kein relevanter Gesichtspunkt,<br />
der auf ein Eingreifen Dritter hinweisen könnte. Ganz<br />
im Gegenteil habe die Strafkammer sogar selbst ausgeführt,<br />
dass der Stiefel verbrannt worden war, bevor man die Öffentlichkeit<br />
über die Bedeutung der speziellen Stiefelmarke informiert<br />
hatte.<br />
3. Ein weiterer Gesichtspunkt, der nach Auffassung des<br />
Senats zur Aufhebung des Urteils in der Sache führen musste,<br />
ist die im Urteil unzureichende Auseinandersetzung des Tatgerichts<br />
mit dem Aussageverhalten eines Zeugen. Obwohl es<br />
kaum ein weniger sicheres Beweismittel als die Zeugenaussage<br />
gibt, kommt ihr oft für den Ausgang eines Verfahrens<br />
eine entscheidende Rolle zu. Dies hat zur Konsequenz, dass<br />
ein Tatgericht Zeugenaussagen, auf die es seine Entscheidung<br />
stützen will, besonders sorgfältig zu würdigen und dies lückenlos<br />
in der Urteilsbegründung festzuhalten hat. Hier hatte<br />
der Alibizeuge in der Hauptverhandlung angegeben, den<br />
Angeklagten exakt um 13.54 Uhr mit seinem Fahrzeug stadtauswärts<br />
fahren gesehen zu haben. Diese genaue Zeitangabe<br />
26<br />
Std. Rspr., vgl. nur BGH StV 1982, 210; BGH bei Miebach,<br />
NStZ 1990, 28; siehe hierzu auch Dahs/Dahs, Die<br />
Revision im Strafprozeß, 6. Aufl. 2001, S. 234 m.w.N.
BGH, Urt. v. 22.5.2007 – 1 StR 582/06 Dietmeier<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
sei möglich gewesen, weil er dabei auf die nahe gelegene<br />
Kirchturmuhr gesehen habe. Wäre diese Aussage zutreffend,<br />
dann hätte der Angeklagte die Bank in der Tat nicht vor dem<br />
Eintreffen der Eheleute um 13.55 Uhr betreten können. Der<br />
Bundesgerichtshof bemängelt, dass das landgerichtliche Urteil<br />
zur Entstehung dieser Aussage lediglich ausführt, dass<br />
„keine gravierenden Widersprüche“ zwischen den Angaben<br />
des Zeugen bei seinen polizeilichen Vernehmungen und im<br />
Rahmen der Hauptverhandlung bestanden hätten. Es sei ihm<br />
nicht möglich, die Beweiswürdigung anhand dieser Angaben<br />
zu überprüfen, zumal der Zeuge ausweislich der Akten erst in<br />
der Hauptverhandlung, nicht aber bei seinen früheren Vernehmungen<br />
die genaue Zeitangabe mit dem Blick auf die<br />
Kirchturmuhr begründet habe. Aufgrund dieses Erörterungsmangels<br />
befürchtet der Bundesgerichtshof, das Landgericht<br />
könnte die Zeitangaben des Zeugen vorschnell als feststehenden<br />
Zeitpunkt für das Beweisgebäude akzeptiert haben.<br />
Tatsächlich gilt die gleichbleibende Struktur einer Aussage,<br />
insbesondere auch im Hinblick auf ihren Detailreichtum,<br />
als bedeutender Indikator für ihre Glaubhaftigkeit. Demgegenüber<br />
kann eine Präzisierung der Einlassung eines Zeugen<br />
durch spätere Angaben, welche die Erstaussage stützen sollen,<br />
auf inhaltliche Mängel der Aussage hindeuten. 27 Daher<br />
ist die Konstanzanalyse, wie sie in der Aussagepsychologie<br />
genannt wird, eine der zentralen methodischen Elemente der<br />
Aussagebewertung. 28 Für die tatrichterliche Beweiswürdigung<br />
bedeutet dies, dass die Aussageentstehung im Urteil<br />
jedenfalls dann zu berücksichtigen ist, wenn bestimmte Details<br />
einer Aussage, die für ihre Glaubhaftigkeit maßgeblich<br />
sind, erst bei späteren Vernehmungen vom Zeugen vorgetragen<br />
werden. Gerade, wenn es für den Beweiswert einer Aussage<br />
– wie hier – auf eine minutengenaue Angabe des Zeugen<br />
ankommt, muss der Tatrichter präzise angeben, warum er es<br />
für die Bewertung der Aussage als glaubhaft nicht für maßgeblich<br />
hält, wenn wesentliche Bestandteile vom Zeugen erst<br />
in einer späteren Vernehmung nachgeschoben werden. Bloße<br />
allgemeine Hinweise auf das Fehlen durchgreifender Widersprüche<br />
zwischen den einzelnen Aussagen reichen nicht aus,<br />
da es dem Revisionsgericht in diesem Fall nicht möglich ist,<br />
die erforderliche tatrichterliche Beweiswürdigung der Aussage<br />
inhaltlich zu kontrollieren.<br />
IV. Die Überprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung<br />
durch die Revisionsgerichte war zwar durch den Gesetzgeber<br />
der RStPO von 1877 nicht vorgesehen. Sie stellt deshalb aber<br />
nicht ein „herausragendes Beispiel richterlichen Ungehorsams<br />
gegen das Gesetz“ 29 , sondern ganz im Gegenteil eine<br />
mit dem Gesetzestext vereinbare, rechtsstaatlich notwendige<br />
Weiterentwicklung des Strafprozessrechts dar, die konsequenterweise<br />
nicht nur für Verurteilungen, sondern auch für<br />
Freisprüche gelten muss. Wie wichtig die revisionsgerichtliche<br />
Kontrolle auch hier ist, zeigt der vorliegende Fall.<br />
Wiss. Mitarbeiter Dr. Frank Dietmeier, M.A., Düsseldorf<br />
27 Einzelheiten hierzu Bender/Nack/Treuer (Fn. 21), Rn. 388 ff.<br />
28 BGH NJW 1999, 2746 (2748 f.).<br />
29 Foth, DRiZ 1997, 202. Gegen ihn zu Recht Meyer-Goßner,<br />
DRiZ 1998, 471.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
105
Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland und Europa Hettinger<br />
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106<br />
R e z e n s i o n e n<br />
Uwe Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland<br />
und Europa, Juristische Zeitgeschichte. Kleine Reihe, Bd. 13,<br />
BWV Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2006. XII,<br />
156 S., geb. € 38,-<br />
Gewiss, Technè bedeutet neben Kunstfertigkeit, Handwerk<br />
und Kunstwerk u.a. auch Kunstgriff sowie List; aber das<br />
sollte nicht das Gemeinte sein, wenn die Rede von Gesetzgebungstechnik<br />
– oder spezieller von Strafgesetzgebungstechnik<br />
– ist. Jedenfalls wünschte man sich hierfür als zutreffende<br />
Bedeutung doch eher die Kunstfertigkeit, die zur richtigen<br />
Ausübung einer Sache, hier eben der Gesetzgebung, notwendig<br />
ist. Im Lehrkanon deutscher Hochschulen ist sie nicht<br />
verankert. Zur Sprache kommt so manches aber notwendig in<br />
Veranstaltungen zur Methodik der Rechtsanwendung. Im<br />
Übrigen gilt wohl: Das Erforderliche wird gelernt, wenn es<br />
getan werden muss. In solchem Fall sieht man sich nach<br />
gelungenen Gesetzen, besser noch nach denen um, die sich<br />
mit dieser Materie schon kundig befasst haben. Scheffler<br />
führt im Literaturverzeichnis eine ganze Reihe auf, Feuerbach<br />
selbstverständlich, ferner von Liszt, Noll, von Savigny<br />
und – sehr zu Recht – Adolf Wach (Ernst Belings vorzügliche<br />
Methodik der Gesetzgebung, 1922, wäre noch zu nennen,<br />
heute weithin der Vergessenheit anheim gefallen, Richard<br />
Eduard Johns Entwürfe zu einem Strafgesetzbuch, 1868 und<br />
1870, sowie Hans Schneiders Gesetzgebung, 3. Aufl. Weitere<br />
Literatur ist aufgelistet in der Dissertation von Sigrid Emmenegger,<br />
Gesetzgebungskunst, 2006). Gemessen an der Bedeutung<br />
der Thematik und der zunehmenden Zahl der über den<br />
Qualitätsverlust der Strafgesetzgebung Klagenden ist es erstaunlich,<br />
wie selten Fragen der Strafgesetzgebungstechnik<br />
über konkrete Einzelfälle hinaus einmal grundsätzlicher in<br />
den Blick genommen werden. Eben das hat nun Uwe Scheffler<br />
im Mai 2005 in seinem Vortrag auf der Tagung der<br />
deutschsprachigen Strafrechtslehrer für einen Ausschnitt aus<br />
der Gesamtproblematik getan. Die beträchtlich erweiterte,<br />
mit Fußnoten versehene Fassung ist in der von Thomas<br />
Vormbaum herausgegebenen, feinen und schön aufgemachten<br />
„Kleinen Reihe“ des Instituts für Juristische Zeitgeschichte<br />
als Bd. 13 erschienen.<br />
Der Einleitung folgen vier unterschiedlich dimensionierte<br />
Kapitel, nämlich A. Aufklärerisches Gedankengut (S. 6-18),<br />
B. Deutsche Strafgesetzgebung (S. 19-79), C. Internationale<br />
Abkommen (S. 80-90) und D. Europäische Zusammenhänge<br />
(S. 91-130). Das handliche Büchlein beschließen ein Vorschriften-<br />
und ein Literaturverzeichnis (S. 131-156).<br />
In der „Einleitung: Zwischen Kasuistik und Generalisierung“<br />
steckt Scheffler knapp den Rahmen der Möglichkeiten<br />
ab, die jeglicher Gesetzgebung zur Verfügung stehen. Klar,<br />
Generalisierung hält ein Gesetz(buch) schlank, Kasuistik<br />
macht es „dicke“. Innerhalb der Kasuistik unterscheidet der<br />
Autor nun zwei Idealtypen: Einmal Tatbestände mit vielfältigen<br />
Erschwerungsgründen und Strafdrohungen, wie etwa<br />
beim Kindesmissbrauch und beim Diebstahl zu sehen (vom<br />
Autor vertikale Kasuistik genannt); zum anderen Tatbestände,<br />
wie etwa das Verbreiten pornographischer Schriften, bei<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
denen „die Fülle dagegen auf der Nebeneinanderstellung<br />
verschiedenster Einzelfälle“ beruht (sog. horizontale Kasuistik).<br />
Bekannt ist, dass vertikale Kasuistik der Gleichheit dienen<br />
kann, horizontale der Bestimmtheit. Bekannt ist freilich<br />
auch, dass Abstraktion sich im Unbestimmten verlieren kann,<br />
(reine) Kasuistik hingegen notwendig lückenhaft bleibt. Welchen<br />
Weg der Gesetzgeber einschlagen sollte, ist bei jedem<br />
Projekt eine neu zu beantwortende Frage. Scheffler greift<br />
eben diese zwei Teilaspekte aus der Gesamtproblematik auf,<br />
um so dem Gesetzgeber, auch dem europäischen, vorzuarbeiten.<br />
Ist nämlich „die Struktur der Tatbestände für die Brauchbarkeit<br />
eines Strafgesetzbuches von entscheidender Bedeutung“<br />
1 , so ist von größtem Nutzen zu klären, welche „Gesetzestechniken“<br />
(S. 4) sich nicht eignen.<br />
In Kapitel A. beschreibt Verf., wie die Suche nach der<br />
„richtigen Gesetzgebungstechnik“ für vollständige, eindeutige<br />
und klare Gesetze über Montesquieus Richter als „Mund<br />
des Gesetzes“ von den aufgeklärten Fürsten in ihrem Nutzen<br />
zur Befestigung absoluter Macht erkannt wird, zur dem Richter<br />
wenig Spielraum belassenden Kasuistik führt und darüber<br />
hinaus von dem Gebot „authentischer“ Auslegung flankiert<br />
wird. Das zeittypische Streben nach Perfektionierung lässt<br />
die Gesetzbücher immer umfangreicher werden (dazu S. 8 f.,<br />
aber auch S. 73, Text nach Fn. 350). Feuerbach und von<br />
Savigny zeigen in aller Deutlichkeit, dass Kasuistik, so eingesetzt,<br />
die Probleme nicht lösen kann, nur Allgemeinheit und<br />
Vollständigkeit allgemeiner Regeln – bei detaillierter Durchführung<br />
– dies vermögen (S. 10 ff.). Wie eine solche Technik<br />
aussehen könnte, führt das bay. StGB von 1813 vor, das<br />
Radbruch zu Recht als „groß, bahnbrechend und vorbildlich“<br />
gerühmt hat (S. 17).<br />
Im umfangreichen Kapitel C. widmet Verf. sich der deutschen<br />
Strafgesetzgebung, beginnend mit dem RStGB von<br />
1871, das mit noch weniger Vorschriften auskam als das bay.<br />
StGB von 1813. Wie dort, so glückt aber auch den Redaktoren<br />
des RStGB die Regelung des – bis heute praktisch überragend<br />
wichtigen – Diebstahlkomplexes nicht. Es bleibt<br />
vielmehr bei der „Fülle von Widersinn“ (Wach) im Katalog<br />
des § 243 RStGB 1871 (S. 22 ff.; zu ketzerischen Fragen<br />
Schefflers s. S. 24 f.). Warum aber will es nicht recht gelingen,<br />
insoweit „akzeptierte Unterscheidungen“ zu treffen?<br />
Scheffler bemerkt, es gehe „hier noch um etwas anderes“<br />
(S. 28) und wendet sich der Figur der besonders schweren<br />
Fälle mit Regelbeispielen (und ihren Vorläufern) zu, die das<br />
1. StrRG 1969 in den § 243 StGB aufgenommen hatte. Er<br />
vermutet, dass Motiv für deren Einführung die sattsam bekannten<br />
„unerträglichen Strafbarkeitslücken“ gewesen seien<br />
(S. 32; da Diebstahl grundsätzlich strafbar ist, geht es in diesem<br />
Zusammenhang also nur um die Furcht, nicht „angemessen“<br />
bestrafen zu können, was freilich angesichts der Obergrenze<br />
schon des Grundtatbestandes und den tatsächlich<br />
verhängten Strafen – mit wenigen Ausnahmen weit unterhalb<br />
davon – reichlich merkwürdig anmutet). Im Folgenden gilt<br />
das Interesse des Verf. dieser Technik „moderner Strafgesetzgebung“.<br />
Er konstatiert, dass im Zug des 6. StrRG vielen<br />
bislang unbenannten besonders schweren Fällen Regelbei-<br />
1 So Wach, DJZ 1910, 109, zit. S. 5.
Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland und Europa Hettinger<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
spiele zugesellt wurden oder man, soweit solche schon vorhanden<br />
waren, deren Zahl vermehrte (vgl. etwa § 240<br />
Abs. 4). Da diese Beispiele weder abschließend noch zwingend<br />
sind, laden sie den Gesetzgeber geradezu ein, es bei<br />
ihrer Formulierung „nicht so genau“ zu nehmen. Die hier<br />
vermeintlich größere Freiheit führt in der Praxis jedoch<br />
durchaus auch zu Anwendungsproblemen, die Verf. am Beispiel<br />
des § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB n.F. sowie der §§ 263<br />
Abs. 3, 266 Abs. 2 aufzeigt (S. 40 ff.). Auch im weiteren<br />
Text klingt – mit anschaulichen Beispielen unterfüttert – an,<br />
dass Scheffler die Methode suspekt ist. Eher Sympathie zeigt<br />
er für die „’Nur-aber-nicht-immer’-Technik“ (S. 51), die<br />
unbenannte besonders schwere Fälle i.S.d. § 267 Abs. 3 Hs. 2<br />
StPO (vgl. etwa BGHSt 29, 319) ausschließen würde (S. 51<br />
f.), noch mehr für Wachs einem generalisierenden Kriterium<br />
untergeordnete Exemplifikationen (S. 53 f.).<br />
Sodann wendet Verf. sich den „Schrotschüssen“ zu, dem<br />
„unsystematischen Nebeneinanderstellen von einzelnen Begriffen“,<br />
kurz: der horizontalen Kasuistik. Näher erörtert er aus<br />
diesem Teilbereich die „Umgangs- und Verbreitungsverbote“,<br />
„einen Tatbestandstyp, der jeden erdenklichen Verkehr<br />
mit bestimmten Dingen […] sowie Schriften […] pönalisieren<br />
soll“ (S. 55). Im ersten deutschen Betäubungsmittelgesetz<br />
von 1920 findet er im damaligen § 8 Abs. 1 immerhin schon<br />
12 Tathandlungen, die 1972, 1982 und 1992 jeweils um zwei<br />
weitere vermehrt wurden. Zählt man die Tathandlungen im<br />
aktuellen § 29 Abs. 1 Nrn. 1-4 BtMG zusammen, so sind es –<br />
je nach Zählweise – ca. 30, ein, wie Scheffler schreibt, „Wust<br />
von Verben“ (S. 56). Nach Erwähnung des Sprengstoffgesetzes<br />
von 1884 (mit immerhin 11 Tathandlungen) findet er<br />
weitere Prachtexemplare in den Waffengesetzen seit 1928<br />
(mit zusätzlich exzessiver Verweisungstechnik, dazu S. 58),<br />
den Kriegswaffenkontrollgesetzen sowie in § 328 StGB –<br />
„Unerlaubter Umgang mit radioaktiven Stoffen und anderen<br />
gefährlichen Stoffen und Gütern“. Selbstverständlich lässt der<br />
Autor sich auch die Entwicklung des „Pornographietatbestandes“<br />
(§ 184 RStGB) nicht entgehen, dessen Würdigung<br />
als einer „monströsen Strafbestimmung“ durch H. J. Hirsch<br />
sowie „den Höhepunkt der Verbenkumulation“ in §§ 130<br />
Abs. 1 Nr. 1 und 131 Abs. 2 StGB (S. 61). Dass derlei nahezu<br />
notwendig zu Überschneidungen und zu konkurrenzrechtlichen<br />
Problemen führt, wird selbstverständlich ebenso vermerkt<br />
wie auszugsweise Stimmen aus dem Chor der Kritiker<br />
von P.J. A. Feuerbach über Wolfgang Mittermaier und Eckhard<br />
Horn bis zu F.-C. Schroeder (S. 64 ff.). Im Weiteren<br />
führt Verf. einen Gesetzgeber vor, der straffreie Räume fürchtet<br />
und deshalb z.B. bemüht ist, „möglicherweise noch verbleibende<br />
Strafbarkeitslücken zu schließen“ (S. 67). Wie<br />
dieser Gesetzgeber sich von der eigentlichen Tathandlung<br />
über die Technik der Vorverlagerung weit ins Vorfeld zurückhangeln<br />
kann, zeigt Verf. am Beispiel des § 29 BtMG,<br />
wonach schon der versuchte Anbau strafbewehrt ist, in besonders<br />
schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren<br />
(§ 29 Abs. 3 BtMG; zur Erinnerung: Schutzgut ist die sog.<br />
Volksgesundheit. Ein weiteres schönes Beispiel findet sich<br />
S. 70 zu § 275 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Auch „spielerische Freude“<br />
vermutet der Autor bei den Schöpfern des § 7 Abs. 1<br />
LMBG 1997 – und wenn man die Aufzählungen im Geset-<br />
zestext hinter sich gebracht hat, mag man in der Tat mit Feuerbach<br />
fragen „Wozu zwei Worte, wo eins schon genügt?“<br />
(S. 71). § 3 des Nachfolgegesetzes LFGB „Lebensmittel- und<br />
Futtermittelgesetzbuch“ von 2005 fügt sogar noch sechs<br />
weitere Handlungen hinzu. Am Ende des Kapitels fragt Verf.<br />
(unter III. 3.) danach, was einer modernen Strafgesetzgebung<br />
als Technik frommen könnte. „Ausgewählte Enumerationen“<br />
(z.B. §§ 274 Abs. 1 Nr. 1, 265 Abs. 1 StGB) helfen im Bereich<br />
der Umgangsverbote nicht weiter, weil es dem Gesetzgeber<br />
hier gerade um vollständige Erfassung des für strafwürdig<br />
Erachteten geht; „erschöpfende Enumerationen“ (wie<br />
in §§ 259 Abs. 1, 299, 331 ff. StGB) erscheinen „theoretisch“<br />
als Methode der Wahl, stoßen aber „in der Praxis […] auf<br />
sprachliche und psychologische Grenzen“ (näher dazu S. 75<br />
f.). So bleiben die eingangs erwähnten Exemplifikationen i.S.<br />
Wachs, eine Technik, die nun etwas vorgestellt wird und –<br />
wie Verf. zeigt – durchaus an Vorbilder im RStGB anknüpft<br />
(S. 76 ff.). Jedenfalls für den Bereich der „Umgangsverbote“<br />
hält Scheffler diese Technik für einen Fortschritt.<br />
Im Kapitel C. „Internationale Abkommen“ geht Verf. der<br />
Frage nach, inwieweit „die Renaissance zumindest der horizontalen<br />
Kasuistik im deutschen Strafrecht […] auf europarechtliche<br />
Vorgaben oder jedenfalls auf (gemeinsame) internationale<br />
Einflüsse zurückzuführen“ ist (was für die vertikale<br />
Kasuistik der Regelbeispieltechnik als „deutscher Rechtsfigur“<br />
fraglos zu verneinen sei, S. 81). Scheffler zeigt im Folgenden<br />
auf, dass sowohl das erste Betäubungsmittelgesetz<br />
von 1920 (nebst einigen Erweiterungen; dazu S. 85) als auch<br />
die waffenrechtlichen Bestimmungen und der Pornografietatbestand<br />
ihre Form unter dem Einfluss internationaler Abkommen/Übereinkünfte<br />
erhalten haben. „So manche solcher<br />
Schrotschüsse haben sich zudem im deutschen Strafrecht<br />
fortgepflanzt“, heißt es abschließend (S. 89 f. mit Beispielen).<br />
Im letzten Kapitel D. wirft Scheffler einen – längeren – Blick<br />
auf „Europäische Zusammenhänge“. Er diagnostiziert spätestens<br />
mit Einführung der Nr. 2 in § 264 Abs. 1 StGB 1995<br />
einen direkten Einfluss auf das nationale Strafrecht (S. 92).<br />
Die „Bestandsaufnahme“ zeigt auf, wie im Rahmen der<br />
„Dritten Säule der EU, der polizeilichen und justiziellen<br />
Zusammenarbeit in Strafsachen“, die Rechtsharmonisierung<br />
mit dem „Instrument des Rahmenbeschlusses“ vorangetrieben<br />
wird (S. 92). Dabei kommt häufig internationalen Abkommen<br />
eine Vorbildfunktion zu. So übernimmt der Rahmenbeschluss<br />
2004/757/JI „wortgleich und identisch“ die<br />
17 Tathandlungen des Art. 3 des Wiener Suchtstoffabkommens<br />
von 1988 (S. 93; weitere Beispiele S. 94 ff.). Andere<br />
Rahmenbeschlüsse bleiben hinter der deutschen Kasuistik<br />
zurück (dazu S. 96 f.). Häufiger sei jedoch zu beobachten,<br />
„dass die europäischen Rahmenbeschlüsse direkt das deutsche<br />
Recht mit Schrotschüssen versorgen“ (S. 98). Verf.<br />
nennt u.a. §§ 233a, 263a Abs. 3 sowie die – damals noch in<br />
Planung befindliche – Änderung der §§ 202a und 303b StGB<br />
(jetzt §§ 202a-c, 303b StGB n.F.).<br />
Im „Ausblick“ hält Scheffler fest, dass „anders als bei den<br />
Regelbeispielen die deutsche Vorliebe für Schrotschüsse<br />
(hier) weitgehend internationalen Vorbildern folgt“, die sich<br />
ihrerseits „an der plakativen Gesetzgebungstechnik der USA“<br />
orientiere (S. 102, 103; s. aber auch S. 118), letztlich dem<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
107
Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland und Europa Hettinger<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
„englischen common law“ entspringen dürfte (S. 104). Eine<br />
schlagende Antwort auf die Frage, warum gerade der deutsche<br />
Gesetzgeber diese Technik weit mehr als die Nachbarstaaten<br />
übernommen hat, findet Verf. nicht. Mit Blick auf<br />
Europas Kompetenzen erwartet er auch für die Zukunft „wenig<br />
Gutes an Gesetzgebungstechnik“. Dass in der „modernen“<br />
Formulierung des „Bekämpfens“ eine problematische<br />
kriminalpolitische Stoßrichtung zu erkennen ist, belegt Verf.<br />
mit einer Fülle von ob der Sorglosigkeit im Umgang mit der<br />
Sprache traurig bis besorgt stimmenden Beispielen (S. 109<br />
ff.). Es zeigt sich hierin – auch – eine Verrohung der Sprache,<br />
wie man sie seit Jahren lesen und hören kann, auch in den<br />
oberen Etagen der Gesellschaft. „Eine solche Kriminalpolitik<br />
des Bekämpfens und Ausmerzens harmoniert aber nun mal –<br />
und nur das interessiert in unserem Zusammenhang – bestens<br />
mit der Schrotschußtechnik, also einem Stil, der das Fragmentarische<br />
am Strafrecht nicht tolerieren will – nullum<br />
crimen sine poena – und deshalb – sicher ist sicher – zu einem<br />
auch verbalen overkill führt“ (S. 115). Weitere Vorverlagerungen<br />
der Strafbarkeit durch Rahmenbeschlüsse können<br />
in den letzten Jahren mehrfach besichtigt werden (dazu<br />
S. 116 ff.). Allerdings ist der deutsche Gesetzgeber keineswegs<br />
nur „Getriebener“, wie Verf. im Weiteren, wiederum<br />
unter Heranziehung der rechtsgeschichtlichen Entwicklungen,<br />
belegt (S. 118 ff.). Zum Schluss wendet Scheffler sich<br />
noch einmal der Regelbeispieltechnik zu, die wie gesehen<br />
eine „urdeutsche“ Kreation ist. Rundheraus mag er ihre „Exporttauglichkeit“<br />
nicht verneinen.<br />
Scheffler hat sein Vorhaben klug auf zwei wichtige Methoden<br />
aus der Gesamtthematik „Strafgesetzgebungstechnik“<br />
beschränkt. Für diesen von ihm intensiv bearbeiteten Teilbereich<br />
wird überaus deutlich, dass das Niveau der Gesetzgebung<br />
stark verbesserungsbedürftig ist. So lange freilich die<br />
Politik mit Strafgesetzen umgeht wie mit Verwaltungsvorschriften<br />
und bei jedem spektakulären Einzelfall „Handlungsbedarf“<br />
behauptet, den Redaktoren schon die Zeit zu<br />
solider (Übersetzungs-) Arbeit nicht lässt, wird nichts sich<br />
bessern.<br />
Scheffler hat aufgezeigt, dass die horizontale Kasuistik als<br />
gesetzgeberisches „Problem“ schon nicht mehr wahrgenommen<br />
wird. Er hat m.E. auch Recht, wenn er die derzeitige<br />
Handhabung der Regelbeispielstechnik (vertikale Kasuistik)<br />
geißelt; und die unbenannten besonders schweren Fälle mögen<br />
zwar, wie das BVerfG 2 entschieden hat, mit der Verfassung<br />
vereinbar sein, weil das Schuldprinzip nur Strafdrohungen<br />
verlange, die schuldangemessenes Strafen „ermöglichen“<br />
3 , so dass der Gesetzgeber offensichtlich glaubt, bei der<br />
Bildung der Strafrahmen letztlich freie Hand zu haben. Aber<br />
möglicherweise ist – von diesem verfassungsgerichtlich „vor-<br />
geschriebenen“ Standpunkt aus – neben dem Vorschlag<br />
Wachs auch über das Potenzial der Technik besonders schwerer<br />
Fälle doch noch einmal nachzudenken 4 . Illusionen sollte<br />
2<br />
JR 1979, 28.<br />
3<br />
BVerfGE 50, 125 (140).<br />
4<br />
Dazu Rezensent, in: ders. (Hrsg.), Festschrift für Wilfried<br />
Küper zum 70. Geburtstag, 2007, S. 95, 120.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
108<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
man sich freilich keinen hingeben. Die Qualität strafrechtlicher<br />
Gesetzgebung in diesem Land befindet sich, gemessen<br />
am Zustand vor 1933 auf deutlicher Talfahrt. Zu reden wäre<br />
freilich auch über manch Anderes, etwa die (nicht widerspruchsfreie)<br />
Strafrahmensystematik, das (epidemisch verbreitete)<br />
sog. Opportunitätsprinzip, die (gesetzesfernen) sog.<br />
Absprachen u.a.m.<br />
Prof. Dr. Michael Hettinger, Mainz
Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz; Jugendstrafrecht Neubacher<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
R e z e n s i o n e n<br />
Heribert Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, Kommentar,<br />
7. Aufl., Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2007,<br />
730 S., gebunden, € 98.- und Heribert Ostendorf, Jugendstrafrecht,<br />
4. Aufl., Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden<br />
2007, 239 S., broschiert, € 22.-<br />
Im Grunde ist es weder nötig noch möglich, Ostendorfs<br />
Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz im Detail vorzustellen.<br />
An der Notwendigkeit fehlt es, weil das gut eingeführte<br />
und inzwischen in der 7. Auflage bei Nomos erschienene<br />
Werk jedem mit dem Jugendstrafrecht Befassten vertraut sein<br />
dürfte. Kaum möglich ist es, weil der Kommentar, den man<br />
durchaus als Standardwerk bezeichnen darf, auch nach dem<br />
Verlagswechsel und einer „Abspeckungskur“ mit seiner umfassenden<br />
Darstellung seinesgleichen sucht. Nach wie vor<br />
überzeugt er durch die gelungene Synthese von jugendstrafrechtlicher<br />
Gesetzeskommentierung und unverzichtbarer Darstellung<br />
der jugendkriminologischen Hintergründe. Neueste<br />
Statistiken zur Entwicklung der Jugendkriminalität und der<br />
Sanktionierung durch die Jugendgerichte fehlen ebenso wenig<br />
wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts<br />
vom 31.5.2006 zur verfassungsrechtlich gebotenen gesetzlichen<br />
Regelung des Jugendstrafvollzugs.<br />
Noch nicht eingearbeitet ist das 2. Justizmodernisierungsgesetz<br />
vom 22.12.2006, durch welches § 51 Abs. 2 JGG neu<br />
gefasst und die Nebenklage gegen Jugendliche unter bestimmten<br />
Umständen zugelassen wurde (§ 80 Abs. 3 JGG).<br />
Keine Berücksichtigung finden konnten die erst im November<br />
2007 beschlossenen und am 1.1.2008 in Kraft getretenen<br />
Änderungen des JGG, die zum einen die Zielsetzung des<br />
Jugendstrafrechts (§ 2 Abs. 1 JGG), zum anderen die Rechtsbehelfe<br />
im Jugendstrafvollzug und Jugendarrest betreffen<br />
(§ 92 JGG). Mit § 2 Abs. 1 JGG ist nun erstmals das Ziel des<br />
Jugendstrafrechts festgelegt. Seine Anwendung soll, wie es<br />
im Gesetz heißt, „vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen<br />
oder Heranwachsenden entgegenwirken. Um dieses<br />
Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und, unter Beachtung<br />
des elterlichen Erziehungsrechts, auch das Verfahren vorrangig<br />
am Erziehungsgedanken auszurichten.“ Die Akzentuierung<br />
der Legalbewährung – und die damit einhergehende<br />
Relativierung des Erziehungsgedankens – ist ganz im Sinne<br />
Ostendorfs, der unermüdlich vor einer „Strafinflation durch<br />
Erziehung“ und der Benachteiligung junger Menschen im<br />
Vergleich zu Erwachsenen warnt.<br />
Damit ist eine weitere Stärke des Kommentars angesprochen,<br />
die auch in der Neuauflage zum Tragen kommt. Ostendorf<br />
bezieht klar und deutlich Position. Diese liegt nicht immer<br />
auf der Linie der herrschenden Meinung. Doch Ostendorf<br />
weist stets auf sie hin, und seine abweichenden Standpunkte<br />
sind immer begründet. Der Kommentar bietet überdies<br />
zahlreiche Tabellen und Schaubilder, Querverweise,<br />
Register sowie einen Anhang, was seine Einsetzbarkeit,<br />
Übersichtlichkeit und Benutzerfreundlichkeit erhöht. Es<br />
bleibt weiter gültig, was ich an anderer Stelle (GA 2005, 190)<br />
über die Vorauflage gesagt habe: Ostendorfs Kommentar „ist<br />
nicht bloß eine Gesetzeskommentierung, er ist – in einem<br />
Satz – ein unverzichtbarer Ratgeber, eine lehrreiche Argumentationshilfe,<br />
ein unentbehrliches Nachschlagewerk, kurz:<br />
ein Markenzeichen.“<br />
Vieles, was den Kommentar auszeichnet, findet sich auch<br />
in der 4. Auflage des Lehrbuchs wieder, welches gleichfalls<br />
den Verlag gewechselt hat. Die Vorauflagen, unter dem Titel<br />
„Das Jugendstrafverfahren“ beim Verlag Carl Heymanns<br />
geführt, hatten sich das Ziel einer Einführung in die Praxis<br />
gesetzt. Diese Zielsetzung wird mit der im Umfang angewachsenen<br />
Neuauflage zu einem Lehrbuch erweitert, das<br />
materielles und prozessuales Jugendstrafrecht umfasst und<br />
insbesondere Studierende des Rechts, der Sozialpädagogik<br />
und der Psychologie anspricht. Die Praxisorientierung wurde<br />
bewusst beibehalten, was dem Buch keineswegs abträglich<br />
ist. Nach einem Blick auf die geschichtliche Entwicklung des<br />
Jugendstrafrechts und seiner Grundlagen folgen zunächst<br />
detaillierte Ausführungen zu den Verfahrensbeteiligten (Polizei,<br />
Jugendstaatsanwaltschaft, Jugendgerichte, Strafverteidiger,<br />
Jugendgerichtshilfe, gesetzliche Vertreter, Beistände und<br />
Sachverständige). Ein erster Schwerpunkt wird sodann auf<br />
die Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens gelegt. Hierunter<br />
fallen u.a. Diversion, Untersuchungshaft, das vereinfachte<br />
Jugendverfahren, Sondervorschriften zum Strafbefehl, zur<br />
Privat- und Nebenklage (§§ 79, 80 JGG), die nichtöffentliche<br />
Hauptverhandlung, Rechtsmittel und registerrechtliche Folgen.<br />
Einen zweiten Schwerpunkt setzt Ostendorf bei den<br />
jugendstrafrechtlichen Sanktionen (Erziehungsmaßregeln,<br />
Zuchtmittel, Jugendstrafe, Maßregeln der Besserung und<br />
Sicherung). Die weiteren Kapitel widmen sich der strafrechtlichen<br />
Behandlung Heranwachsender, den Besonderheiten<br />
jugendstrafrechtlicher Sanktionierung (besonders der Verbindung<br />
von Sanktionen gemäß § 8 JGG und der „Einheitsstrafe“<br />
gemäß § 31 JGG) und schließlich der Vollstreckung jugendstrafrechtlicher<br />
Sanktionen.<br />
Naturgemäß ist in einem vergleichsweise knapp gehaltenen<br />
Lehrbuch vieles verdichtet – manches auch so sehr, dass<br />
die Studierenden (warum auch nicht?) zum Mitdenken gezwungen<br />
sein werden. Deren Verständnis wird jedoch im<br />
einleitenden Kapitel auf eine harte Probe gestellt. Anstelle<br />
einer behutsamen Einführung werden sie mit aktuellen Tabellen<br />
und Grafiken der Polizeilichen Kriminalstatistik 2006 zur<br />
Entwicklung der Jugendkriminalität konfrontiert, die kaum<br />
erläutert werden. Zahlen sprechen in der Regel nicht für sich;<br />
von der Zielgruppe des Buches wird man nicht erwarten<br />
können, dass sie die Zusammenhänge selbst herstellen werde.<br />
Dennoch ist das Buch als begleitende Lektüre für einschlägige<br />
Lehrveranstaltungen sehr zu empfehlen. Es ist übersichtlich<br />
gestaltet, bietet Schaubilder, Grafiken, Fallbeispiele und<br />
hat den richtigen Mix aus Rechtsdogmatik und Kriminologie,<br />
der gerade für das Verständnis des Jugendstrafrechts unerlässlich<br />
ist. Die Praxis wird auch durch die Untergliederung<br />
der einzelnen Abschnitte miteinbezogen, die meist mit Ausführungen<br />
zur Justizpraxis und zu kriminalpolitischen Forderungen<br />
schließen.<br />
Ostendorf ist ein politisch denkender Wissenschaftler. Er<br />
ordnet seine Arbeiten in den Zusammenhang der kriminalpolitischen<br />
Großwetterlage ein. Ein der Rationalität und Fortschrittlichkeit<br />
verpflichtetes Jugendstrafrecht muss stets aufs<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
109
Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz; Jugendstrafrecht Neubacher<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Neue verteidigt werden – ob gegen die Forderung eines ehemaligen<br />
Hamburger Justizsenators nach Abschaffung des Jugendstrafrechts<br />
oder gegen die politische Instrumentalisierung<br />
einer von Jugendlichen in der Münchener U-Bahn begangenen<br />
Gewalttat durch einen führenden hessischen Politiker.<br />
Ostendorf fordert die Jugendstrafrechtswissenschaft auf,<br />
sich stärker in die öffentliche Diskussion einzumischen und<br />
offensiver an der Aufgabe mitzuwirken, Bevölkerung, Medien<br />
und Politik aufzuklären. − Recht so.<br />
Prof. Dr. Frank Neubacher, M.A., Jena<br />
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110<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008
Pielsticker, § 46a StGB – Revisionsfalle oder sinnvolle Bereicherung des Sanktionenrechts? Mertens<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
R e z e n s i o n e n<br />
Susanne Pielsticker, § 46a StGB – Revisionsfalle oder sinnvolle<br />
Bereicherung des Sanktionenrechts? Verlag Duncker &<br />
Humblot (Schriften zum Strafrecht, Heft 144), Berlin 2004,<br />
196 S., € 64,-<br />
Die von Hoyer betreute Dissertation von Pielsticker befasst<br />
sich mit einem Thema, das trotz zahlreicher legislatorischer<br />
Eingriffe noch immer nicht die ihm zukommende Bedeutung<br />
erlangt hat – dem Täter-Opfer-Ausgleich (TOA). Während<br />
1994 mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz § 46a StGB<br />
als Strafzumessungsnorm in Kraft trat, folgten mit dem Ziel<br />
der praktischen Umsetzung 1999 und 2004 die verfahrensrechtlichen<br />
Normen der § 155a und § 136 Abs. 1 S. 4 StPO.<br />
Somit hat der Gesetzgeber nicht nur die Möglichkeit zur<br />
Strafmilderung (bis hin zum gänzlichen Strafverzicht) gegeben,<br />
sondern auch die Verfahrensbeteiligten ausdrücklich zur<br />
Förderung des Ausgleichs zwischen Beschuldigtem und Verletztem<br />
aufgerufen. Bis heute scheint dieses Rechtsinstitut<br />
jedoch noch immer eine Randfigur geblieben zu sein. Dies ist<br />
sehr bedauerlich, da der TOA sowohl aus Sicht des Verletzten,<br />
der sich eine Schadenswiedergutmachung erhofft, als<br />
auch für die Verteidigung des Beschuldigten 1 großes Potential<br />
besitzt. Zugleich sind aber auch noch zahlreiche Einzelfragen<br />
zu den Voraussetzungen des § 46a StGB offen geblieben.<br />
Pielsticker setzt sich dementsprechend auch das Ziel, durch<br />
eine dogmatisch fundierte Systematisierung den Täter-Opfer-<br />
Ausgleich (der Begriff hat sich trotz des offensichtlichen<br />
Widerspruchs zur Unschuldsvermutung durchgesetzt) zu<br />
stärken und ihm eine eigenständige Existenzberechtigung zu<br />
verschaffen (S. 19). Dieses Ziel kann sicher nicht von heute<br />
auf morgen erreicht werden. Die Lektüre der vorliegenden<br />
umfassenden und breit angelegten Untersuchung kann jedoch<br />
nur jedem Praktiker ans Herz gelegt werden, da die nähere<br />
Befassung mit dem TOA auch die Scheu vor seiner Anwendung<br />
beseitigen helfen kann.<br />
Dabei hat der pointierte Titel seine Bedeutung weitgehend<br />
verloren. Als Revisionsfalle wird man den TOA seit Einführung<br />
des § 354 Abs. 1a StPO (mit dem Opferrechtsreformgesetz<br />
von 2004), mit dem die Sachentscheidungsbefugnis des<br />
Revisionsgerichts erweitert wurde, nicht mehr bezeichnen<br />
können.<br />
Nach einem kurzen Problemaufriss (S. 15-19) und einem<br />
geschichtlichen Überblick über die Entwicklung des Wiedergutmachungsgedankens<br />
in den letzten 20 Jahren (S. 19-23)<br />
unterzieht die Verfasserin ihr Untersuchungsobjekt in einem<br />
ersten Schwerpunkt einer rechtstheoretischen Betrachtung<br />
(S. 24-112). Dabei wird das Wiedergutmachungsmodell an<br />
den Strafzwecken und dem Schuldprinzip gemessen. Der<br />
zweite Schwerpunkt ist dagegen dogmatischer Natur und<br />
befasst sich mit dem Anwendungsbereich und den Voraussetzungen<br />
des § 46a StGB (S. 113-185). Die Arbeit wird abgeschlossen<br />
mit einer kurzen Schlussbetrachtung, die auch<br />
einen Gesetzesvorschlag beinhaltet (186-187).<br />
1 Vgl. Püschel, StraFo 06, 261.<br />
Pielsticker versteht den TOA als Anreizmodell (S. 25)<br />
und unterscheidet ihn so von der im Gesetz enthaltenen auferlegten<br />
Wiedergutmachung, etwa als Bewährungsauflage. Ein<br />
wichtiger Bestandteil ist demnach in der Freiwilligkeit zu<br />
sehen. Bevor sich die Verfasserin den konkreten Ausgestaltungen<br />
und Voraussetzungen des TOA zuwendet, versucht<br />
sie, ihrem Ziel, die Legitimation dieses Rechtsinstituts zu<br />
stärken, dadurch näher zu kommen, dass sie es detailliert an<br />
den Strafzwecken misst. Dieser Ansatz ist nachvollziehbar<br />
und berechtigt, denn wenn Strafe ermäßigt oder ganz auf<br />
deren Verhängung verzichtet werden kann, bedarf dies einer<br />
Legitimation, die am besten dem Zweck der Verhängung der<br />
Strafe selbst entnommen werden kann.<br />
Als entscheidende Legitimation wird von der Autorin der<br />
Strafzweck der positiven Generalprävention herangezogen;<br />
nach Pielsticker kann die Wiedergutmachung des Täters<br />
gegenüber dem konkreten Opfer die befriedende Wirkung des<br />
Strafrechts in der Allgemeinheit erhöhen (S. 65). Dies ist die<br />
Erkenntnis, auf der die weitere Untersuchung aufbaut, eine<br />
Erkenntnis, die fundiert hergeleitet und gut begründet wird.<br />
So verweist die Verfasserin auf verschiedene Studien, die<br />
belegen, dass die Bevölkerung durchaus bereit ist, auf Strafe<br />
zugunsten von Wiedergutmachung zu verzichten (S. 49), und<br />
der Gedanke des TOA nicht daran scheitert, dass ein durch<br />
die Tat entstandener Konflikt zwischen Täter und Allgemeinheit<br />
nicht durch die Schadenswiedergutmachung gegenüber<br />
dem einzelnen Opfer beseitigt werden könne. Demgegenüber<br />
könne eine nur symbolische Wiedergutmachung, etwa bei<br />
fehlendem konkreten Opfer, den Zweck der positiven Generalprävention<br />
nicht in demselben Maße erfüllen – Wiedergutmachung<br />
werde immer schwieriger, je abstrakter das verletzte<br />
Rechtsgut ist (S. 63).<br />
Zu Recht weist die Verfasserin darauf hin, dass eine Störung<br />
des Strafzwecks der negativen Generalprävention, also<br />
der Abschreckung der Allgemeinheit, durch den TOA nicht<br />
zu befürchten sei. Man spricht ohnehin schon seit Langem<br />
von der „Austauschbarkeit der Sanktionen“. Dies gelte insbesondere,<br />
da die Wiedergutmachung nicht den Strafverfolgungsdruck<br />
für den Täter entfallen lasse (außer vielleicht bei<br />
einer sehr frühzeitigen Verfahrenseinstellung), sondern lediglich<br />
im Rahmen der Sanktionierung eingreife. Hierbei sei<br />
jedoch zu berücksichtigen, dass die Strafmilderung fakultativ<br />
sei und ferner durch die Unbestimmtheit der Voraussetzungen<br />
eine Anwendbarkeit des § 46a StGB im Einzelfall unklar<br />
bleibe. Problematisch wäre dann jedoch das Ziel der Untersuchung,<br />
diese Unbestimmtheiten zu beseitigen; aufgrund der<br />
grundsätzlich untergeordneten Bedeutung der Abschreckungswirkung<br />
sicherlich kein Argument gegen das Ziel der<br />
Arbeit.<br />
Auch der Strafzweck der Spezialprävention steht nach<br />
Auffassung von Pielsticker dem Wiedergutmachungsgedanken<br />
nicht entgegen. Gegenüber der oft gerade entsozialisierenden<br />
herkömmlichen Bestrafung habe eine Auseinandersetzung<br />
des Täters mit seinem Fehlverhalten im Rahmen des<br />
TOA eher positive Wirkung. Auch die negative Spezialprävention<br />
werde nicht erheblich eingeschränkt, wobei zu Recht<br />
noch einmal auf deren grundsätzlich geringe Wirkung hingewiesen<br />
wird (S. 75). Ob allerdings tatsächlich von einem<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
111
Pielsticker, § 46a StGB – Revisionsfalle oder sinnvolle Bereicherung des Sanktionenrechts? Mertens<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
nicht resozialisierungsfähigen Täter keine Wiedergutmachung<br />
zu erwarten ist (S. 75) oder ob nicht auch taktische<br />
Erwägungen dazu führen können und wie dies ermittelt werden<br />
kann, soll hier nicht weiter beurteilt werden.<br />
Schließlich weitet die Verfasserin ihre theoretischen<br />
Überlegungen noch auf die Frage nach der Vereinbarkeit des<br />
TOA mit dem strafrechtlichen Schuldprinzip aus. Ein unmittelbarer<br />
Zusammenhang wird dabei aber nicht erkannt, vielmehr<br />
stehe Wiedergutmachung der Schuld des Täters indifferent<br />
gegenüber – genau genommen handele „es sich bei der<br />
Vorschrift um eine gesetzliche Anerkennung der Schuldunterschreitung<br />
aus Gründen der positiven Generalprävention“<br />
(S. 111). So ist es nur konsequent, dass die im zweiten Teil<br />
erfolgende Auslegung der gesetzlichen Norm des § 46a StGB<br />
primär am Gedanken der positiven Generalprävention orientiert<br />
ist.<br />
Grundlegend für die Frage des Anwendungsbereichs des<br />
§ 46a StGB stellt Pielsticker fest, dass eine Wiedergutmachung<br />
bei opferlosen Delikten nicht in Betracht komme, da<br />
eine solche, sofern nicht auch Einzelpersonen mitbetroffen<br />
sind, den Wortlaut übersteigen würde. Demgegenüber sei ein<br />
TOA im Rahmen des Steuerstrafrechts möglich, da hier eine<br />
Wiedergutmachung gegenüber den Institutionen Staat und<br />
Finanzämter in Frage komme und § 46a StGB auch nicht<br />
durch § 371 AO verdrängt werde (S. 176). Ferner könne die<br />
Deliktsschwere den Anwendungsbereich nicht einschränken.<br />
Zu Recht sind auch Gewalt- und Sexualstraftaten in den Katalog<br />
der wiedergutmachungsfähigen Delikte mit einzubeziehen.<br />
Die Verfasserin setzt sich nun ausführlich mit den Voraussetzungen<br />
der beiden Tatbestandsalternativen des § 46a<br />
StGB auseinander. Die Rechtslage wird, natürlich abgesehen<br />
von der nach Drucklegung ergangenen Rechtsprechung, umfassend<br />
dargestellt. Sie beginnt mit § 46a Nr. 1 StGB (S. 130<br />
ff.) und stellt fest, dass dessen mangelnde Konkretisierung<br />
zeige, dass der Gesetzgeber die Hürde zur Anwendbarkeit<br />
möglichst niedrig setzen wollte (S. 132). Ihrer Auffassung zu<br />
einem solchen weiten Anwendungsbereich ist zuzustimmen.<br />
An dieser Stelle können vom Rezensenten nur einige Ergebnisse<br />
stichwortartig mitgeteilt werden: Ein Vermittler sei im<br />
Rahmen des TOA in keinem Fall zwingend notwendig, aber<br />
natürlich auch jederzeit zulässig. Bereits das Bemühen um<br />
einen kommunikativen Prozess, ohne dass dieser von Erfolg<br />
gekrönt sei, könne genügen, selbst wenn sich das Opfer nicht<br />
auf die Versöhnungsversuche eingelassen habe. § 46a Nr. 1<br />
StGB könne sich auf materielle wie immaterielle Tatfolgen<br />
beziehen. Das Maß der Wiedergutmachung richte sich nach<br />
dem zivilrechtlichen Schaden, wenngleich keine vollständige<br />
Wiedergutmachung erforderlich sei. Der Wortlaut spräche<br />
hier dafür, eine Wiedergutmachung von mehr als 50% vorauszusetzen,<br />
wobei zu Recht eine allzu formalistische Betrachtung<br />
abgelehnt wird. An die Freiwilligkeit der Leistung<br />
dürften zwar keine zu hohen Anforderungen gestellt werden,<br />
aber schon die von der Verfasserin gesehene Problematik des<br />
Täters, der die Leistung nur zur Erwirkung des Strafnachlasses<br />
erbringt, begegnet dem Einwand, dass eine solche Feststellung<br />
kaum möglich sein wird – oder anders gesagt: selbst<br />
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112<br />
<strong>ZIS</strong> 2/2008<br />
der einsichtigste Täter wird bei der Wiedergutmachung auch<br />
seine eigene Perspektive im Strafverfahren im Auge haben.<br />
Im Rahmen des § 46a Nr. 2 StGB (S. 153 ff.) könne demgegenüber<br />
das bloße Erstreben der Entschädigung nicht genügen,<br />
überwiegende Entschädigung könne wiederum nur<br />
heißen, dass mehr als die Hälfte des verursachten Schadens<br />
wieder gutgemacht sei. Da die Leistungen des Täters hier nur<br />
materieller Natur sein könnten, dies aber unabhängig von den<br />
verbliebenen Schäden sei, sei für die Nr. 2 darüber hinaus<br />
noch eine besondere persönliche Leistung oder ein erheblicher<br />
persönlicher Verzicht vorauszusetzen.<br />
Nachvollziehbar kritisiert Pielsticker, dass durch die Ermessensentscheidung<br />
über die Anwendung des § 46a StGB<br />
deren Ergebnis oft kaum vorauszusehen ist (S. 180). An dieser<br />
Stelle werden noch einmal diejenigen Kriterien zusammengestellt,<br />
die für die Bewertung des Nachtatverhaltens von<br />
Bedeutung sind. Dabei orientiert sich die Verfasserin wiederum<br />
am Strafzweck der positiven Generalprävention, der im<br />
ersten Teil als theoretische Legitimation des TOA erkannt<br />
wurde. Daneben wird der Ansatz entwickelt, dass bei vollständiger<br />
Wiedergutmachung grundsätzlich § 46a StGB zur<br />
Anwendung kommen solle, während bei nur teilweiser Wiedergutmachung<br />
grundsätzlich § 46a StGB ausscheide, und<br />
von diesem Grundsatz nur mit besonderer richterlicher Begründung<br />
abgewichen werden solle. Es steht jedoch zu befürchten,<br />
dass die Aufstellung eines solchen Prinzips in der<br />
Praxis gerade dem Formalismus Vorschub leisten würde, der<br />
von der Verfasserin an anderer Stelle kritisiert wurde.<br />
Die Dissertation von Pielsticker kann mit Interesse und<br />
Gewinn gelesen werden. Sie bietet sowohl dem Praktiker auf<br />
der Suche nach Argumenten für den zu bearbeitenden Einzelfall<br />
als auch dem theoretisch interessierten Leser Wissenswertes.<br />
Sie endet mit einem Vorschlag für eine Neufassung<br />
des § 46a StGB, der die zusammengetragenen Erkenntnisse<br />
zu bündeln versucht. Zugleich bleibt die Verfasserin aber<br />
auch skeptisch im Hinblick auf die Umsetzung des „nahezu<br />
revolutionären Potentials“ (S. 187) des TOA. Ihre „Hoffnung,<br />
mit der vorliegenden Arbeit zur Entwicklung eines allgemeinen<br />
Verständnisses von Wiedergutmachung im Strafrecht<br />
beigetragen zu haben und der Strafjustiz den Übergang von<br />
der Missbilligung des § 46a StGB als Revisionsfalle zur<br />
Akzeptanz einer grundsätzlich positiv zu bewertenden Bereicherung<br />
des Sanktionenrechts zu erleichtern“ (S. 187), ist<br />
indes berechtigt. Tatsächlich kann die Befassung mit dieser<br />
Arbeit Verständnis und Akzeptanz des Wiedergutmachungsgedankens<br />
im Strafrecht stärken und ist daher zur Lektüre zu<br />
empfehlen.<br />
Dr. Andreas Mertens, Rechtsanwalt und Fachanwalt für<br />
Strafrecht, Köln
Sahan, Keine Steuererklärungspflicht bei Gefahr strafrechtlicher Selbstbelastung Pelz<br />
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R e z e n s i o n e n<br />
Oliver Sahan, Keine Steuererklärungspflicht bei Gefahr<br />
strafrechtlicher Selbstbelastung. Renaissance des „nemo<br />
tenetur“ vor dem Hintergrund des Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetzes<br />
und der neuen BGH-Rechtsprechung, Carl<br />
Heymanns Verlag, 2006, 184 S., € 64.-<br />
Die Auflösung des Spannungsfeldes zwischen der Pflicht zur<br />
Abgabe wahrheitsgemäßer und vollständiger Steuererklärungen<br />
einerseits und dem Risiko andererseits, sich gerade dadurch<br />
der Strafverfolgung wegen vorangegangener Steuerstraftaten<br />
oder anderer Straftaten auszusetzen, ist eines der<br />
großen dogmatischen Problemfelder des Steuerstrafrechts,<br />
um dessen Lösung sich Rechtsprechung und Literatur schon<br />
seit Jahrzehnten bemühen. Durch mehrere Entscheidungen<br />
des BGH in den vergangenen Jahren wurde diese Diskussion<br />
neu belebt. In seiner von Samson betreuten Hamburger Dissertation<br />
aus dem Jahr 2005 unternimmt Sahan eine kritische<br />
Bewertung der Lösungsversuche der Rechtsprechung und<br />
entwickelt einen eigenen Lösungsvorschlag, der über die<br />
bislang anerkannten Grenzen des „nemo tenetur“ hinausgeht.<br />
Im ersten Teil seiner Arbeit untersucht Sahan, inwieweit<br />
bestehende Rechtsinstrumente Schutz vor Selbstbelastung<br />
bieten. Das Steuergeheimnis wird diesem Zweck nicht gerecht,<br />
da es die Ausnahmeregelungen in § 30 Abs. 4 AO in<br />
weitem Umfang erlauben, im Besteuerungsverfahren gemachte<br />
Angaben für die Strafverfolgung von Steuerstraftaten<br />
und Nichtsteuerstraftaten zu verwenden. Auch die Möglichkeit<br />
der Selbstanzeige ist zur Vermeidung einer Selbstbelastung<br />
nur bedingt geeignet, da sie nur für Steuerstraftaten zur<br />
Verfügung steht. Aufgrund der Ausschlussgründe in § 371<br />
Abs. 2 AO kann sie zudem oftmals nicht mehr zur Straflosigkeit<br />
führen und setzt zudem nach § 371 Abs. 3 AO die Nachzahlung<br />
der verkürzten Steuern voraus. Als Rechtsinstitut zur<br />
vollständigen Auflösung dieses Spannungsfeldes zwischen<br />
Steuererklärungspflicht und Selbstbelastungsverbot, das in<br />
allen vorkommenden Konstellationen eingreift, kommt nach<br />
Ansicht von Sahan daher ausschließlich der Grundsatz des<br />
„nemo tenetur“ in Frage.<br />
Zunächst bejaht Sahan die grundsätzliche Anwendbarkeit<br />
des „nemo tenetur“-Prinzips im Besteuerungsverfahren anhand<br />
derjenigen Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht<br />
im „Gemeinschuldnerbeschluss“ aufgestellt hat. In der Tat ist<br />
eine der Auskunftspflicht im Insolvenzverfahren vergleichbare<br />
Zwangslage auch im Besteuerungsverfahren zu bejahen.<br />
Einerseits besteht eine gesetzliche und zudem strafbewehrte<br />
Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen, andererseits läuft<br />
der Steuerpflichtige Gefahr, sich der Strafverfolgung auszusetzen,<br />
wenn er in der Steuererklärung Einkünfte angibt, die<br />
entweder aus Straftaten stammen oder die – insbesondere bei<br />
bereits eingeleiteten steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren<br />
– in vorangegangenen Besteuerungszeiträumen nicht er-<br />
klärt wurden. Nichts anderes dürfte gelten, wenn die Gefahr<br />
der Strafverfolgung bzw. ein Indiz für ein bereits anhängiges<br />
Steuerstrafverfahren daraus resultiert, dass der Steuerpflichtige<br />
auf die unberechtigte Geltendmachung steuerlicher Abzugsbeträge<br />
(z.B. als „Provisionszahlungen“ getarnte Schmier-<br />
gelder aus einem mehrjährigen Vermittlungsvertrag) oder die<br />
Inanspruchnahme anderer Steuervergünstigungen verzichtet,<br />
die er in vergangenen Veranlagungszeiträumen genutzt hat.<br />
Zwar besteht in diesen Fallkonstellationen keine gesetzliche<br />
Pflicht, unrichtige Steuervorteile in Anspruch zu nehmen, die<br />
Zwangslage in Bezug auf ein bereits eingeleitetes oder drohendes<br />
Strafverfahren ist aber vergleichbar.<br />
Auch die Vorschrift des § 393 AO bietet nach Auffassung<br />
von Sahan keinen gleichwertigen Schutz. Zum einen beziehe<br />
sich das Verbot der Anwendung von Zwangsmitteln ausschließlich<br />
auf solche i.S.v. § 328 AO, zum anderen enthalte<br />
§ 393 Abs. 2 AO ein Verbot der Verwertung von im Besteuerungsverfahren<br />
gemachten Angaben lediglich für die Verfolgung<br />
von Nichtsteuerstraftaten und sei auch noch durch eine<br />
Vielzahl von Ausnahmeregelungen durchbrochen. Eine über<br />
den Wortlaut der Norm hinausgehende Auslegung, dass für<br />
im Besteuerungsverfahren gemachte Angaben ein umfassendes<br />
Verwertungsverbot mit Fernwirkung besteht, wie es von<br />
Teilen der Literatur gefordert wird, lehnt Sahan mit der überzeugenden<br />
Begründung ab, dass keine unbeabsichtigte gesetzliche<br />
Regelungslücke vorliege, die eine derartige erweiternde<br />
Auslegung zulassen würde.<br />
In dem Hauptteil seiner Dissertation untersucht Sahan,<br />
inwieweit dem „nemo tenetur“-Satz durch eine einschränkende<br />
Auslegung des § 370 AO Rechnung getragen werden<br />
kann. Er befürwortet dabei eine Berücksichtigung des „nemo<br />
tenetur“ bereits auf der Tatbestandsebene des § 370 AO und<br />
folgt damit der Auffassung des BGH. Da § 370 AO eine<br />
Blankettnorm darstelle, ergeben sich <strong>Inhalt</strong> und Umfang<br />
steuerlicher Erklärungspflichten aus den jeweiligen Einzelgesetzen.<br />
Dort, wo der „nemo tenetur“-Grundsatz Anwendung<br />
finde, entfalle die Pflicht, Angaben über steuerlich erhebliche<br />
Tatsachen zu machen (S. 94 f.). Dies entspreche auch dem<br />
allgemeinen Grundsatz, dass die Rechtsordnung nicht die<br />
Vornahme einer Handlung fordern könne, die dem Steuerpflichtigen<br />
(wegen der Gefahr der Selbstbelastung) unzumutbar<br />
ist. Dass bei diesem Begründungsansatz Strafbarkeitslücken<br />
bei Anstiftern oder Gehilfen entstehen, verneint Sahan.<br />
Bei der zu einem Wegfall der Erklärungspflicht führenden<br />
Zwangslage handle es sich nämlich um einen sonstigen persönlichen<br />
Umstand i.S.v. § 28 Abs. 2 StGB, welcher die<br />
Strafbarkeit bei den Teilnehmern unberührt lässt. Eine Privilegierung<br />
des Steuerunehrlichen und eine Besserstellung<br />
gegenüber dem Steuerehrlichen vermag Sahan nicht zu erkennen.<br />
Eine Besserstellung träte zum einen nur dann ein,<br />
wenn die Steuererklärungspflicht dauerhaft suspendiert würde;<br />
zum anderen hätten die Finanzbehörden trotz fehlender<br />
Mitwirkungspflicht die Möglichkeit der Schätzung, im Einzelfall<br />
auch zu Ungunsten des Steuerpflichtigen (S. 104 f.).<br />
Beides ist an sich zutreffend. Gleichwohl kann eine (zumindest<br />
vorübergehende) Besserstellung im Einzelfall eintreten.<br />
Eine Schätzung setzt nämlich voraus, dass überhaupt Anhaltspunkte<br />
für verschwiegene Einkünfte bestehen und läuft<br />
da ins Leere, wo eine Einkunftsquelle den Finanzbehörden<br />
völlig unbekannt ist.<br />
Grundsätzlich geht Sahan davon aus, dass eine Suspendierung<br />
der steuerlichen Mitwirkungspflicht aufgrund des<br />
„nemo tenetur“-Grundsatzes nur bis zu dem Zeitpunkt erfor-<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
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Sahan, Keine Steuererklärungspflicht bei Gefahr strafrechtlicher Selbstbelastung Pelz<br />
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derlich ist, bis zu dem eine Strafverfolgung wegen des sonst<br />
zu offenbarenden Delikts noch erfolgen kann (S. 108); danach<br />
lebt die Mitwirkungspflicht wieder auf. Im Folgenden<br />
differenziert Sahan danach, wovon die Gefahr der Selbstbelastung<br />
ausgeht. Ist bereits ein Steuerstrafverfahren für einen<br />
Veranlagungszeitraum eingeleitet und müssten im Besteuerungsverfahren<br />
Angaben für diesen oder einen nachfolgenden<br />
Veranlagungszeitraum gemacht werden, soll nach Auffassung<br />
von Sahan die steuerliche Mitwirkungspflicht zu keinem<br />
Zeitpunkt mehr wiederaufleben, sondern endgültig entfallen,<br />
zumindest in den Fällen, in denen das Steuerstrafverfahren<br />
mit einer Verurteilung oder einem Freispruch geendet<br />
hat. Er begründet dies damit, dass nach § 362 StPO eine<br />
Wiederaufnahme zu Ungunsten des Verurteilten selbst dann<br />
möglich sei, wenn der Steuerpflichtige rechtskräftig verurteilt<br />
oder freigesprochen wurde. Aufgrund der unterschiedlichen<br />
Auffassungen in der Literatur darüber, ob eine derartige Wiederaufnahme<br />
zeitlich unbeschränkt oder nur bis zur Grenze<br />
der Strafverfolgungsverjährung möglich sei, dürfe man dem<br />
Steuerpflichtigen keinerlei Risiko aufbürden, die steuerliche<br />
Mitwirkungspflicht müsse dauerhaft entfallen (S. 113 f.).<br />
Diese Argumentation ist stringent und konsequent: Da „nemo<br />
tenetur“ schon eingreift, wenn nur die Gefahr einer Strafverfolgung<br />
besteht und die mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit<br />
einer strafrechtlichen Verurteilung nicht vorausgesetzt<br />
wird, muss der in einer solchen Konfliktsituation Stehende<br />
gerade bei rechtlich gänzlich ungeklärten Situationen<br />
dasjenige Verhalten wählen können, bei dem er die größte<br />
Sicherheit vor einer Strafverfolgung besitzt. Allerdings führt<br />
diese Auffassung auch dazu, dass dann eine dauerhafte Besserstellung<br />
des Steuerunehrlichen gegenüber dem Steuerehrlichen<br />
einträte. Ob eine derart weite Auslegung des „nemo<br />
tenetur“ noch mit dem Gleichheitsgebot des Art. 3 GG in<br />
Einklang gebracht werden kann, ist fraglich, zumal dann,<br />
wenn man mit Sahan die Anwendbarkeit des „nemo tenetur“<br />
auch bei nur mittelbarer Selbstbelastung bejaht.<br />
Beruht die Konfliktlage auf anderen Ursachen als der Einleitung<br />
eines Ermittlungsverfahrens, soll die Mitwirkungspflicht<br />
mit Eintritt der Strafverfolgungsverjährung wieder<br />
aufleben (S. 114). Nicht ganz klar ist, wann Sahan ein Wiederaufleben<br />
der Mitwirkungspflicht im Falle der Einstellung<br />
eines Ermittlungsverfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO oder aus<br />
Opportunitätsgründen annehmen würde; vermutlich würde er<br />
auf den Eintritt der Strafverfolgungsverjährung abstellen. In<br />
den Fällen, in denen zwar eine strafbefreiende Selbstanzeige<br />
grundsätzlich möglich wäre, jedoch der Steuerpflichtige nicht<br />
zur Nachzahlung der Steuern in der Lage ist, soll die Mitwirkungspflicht<br />
nach Sahan dann wieder aufleben, sobald ausreichende<br />
Geldmittel verfügbar sind (S. 115).<br />
Sahan untersucht abschließend, ob der „nemo tenetur“-<br />
Satz lediglich zu einer Suspendierung von Erklärungspflichten<br />
führt oder ob er auch die Abgabe unrichtiger Steuererklärungen<br />
erlaubt. Der BGH verneint dies in ständiger Rechtsprechung<br />
unter Hinweis darauf, dass die Verhinderung der<br />
eigenen Strafverfolgung nicht die Begehung neuen Unrechts<br />
rechtfertige. Sahan kritisiert die Rechtsprechung des BGH<br />
und die herrschende Auffassung in der Literatur, wonach der<br />
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„nemo tenetur“-Grundsatz nur die Pflicht zur aktiven Mitwirkung<br />
an der Strafverfolgung beseitige, der Betroffene aber<br />
Ermittlungsmaßnahmen weiterhin passiv dulden müsse.<br />
Vielmehr sei es unerheblich, ob eine Mitwirkung an der eigenen<br />
Überführung durch aktives oder passives Verhalten erfolge,<br />
zudem könne eine Duldungspflicht eine weit höhere<br />
Eingriffsintensität erreichen als eine Handlung (S. 132 f.).<br />
Der „nemo tenetur“-Grundsatz schütze vor Eingriffen in die<br />
Willensbildungsfreiheit und will verhindern, dass der Beschuldigte<br />
zur Vornahme eines von seinem Willen gesteuerten,<br />
aber unfreiwilligen Verhaltens veranlasst wird (S. 140).<br />
Sahan legt ferner dar, dass sich der BGH in seiner Begründung<br />
zu Unrecht auf eine Rechtsprechung des Reichsgerichts<br />
beruft (S. 143 f.) und der „nemo tenetur“-Grundsatz wegen<br />
seiner verfassungsrechtlichen Herleitung u.a. aus der Menschenwürdegarantie<br />
keine Einschränkung und auch keine<br />
Abwägung widerstreitender Interessen erlaube (S. 143, 149).<br />
Zudem stelle die Nichtabgabe einer Steuererklärung kein<br />
größeres Unrecht dar als die Abgabe einer unrichtigen Steuererklärung.<br />
Auch überzeuge die Beschränkung des „nemo<br />
tenetur“ auf ein Recht zum Unterlassen nicht, da das Unterlassen<br />
zutreffender Angaben gleichbedeutend mit einer unrichtigen<br />
Erklärung sei. Zudem soll nach Auffassung von<br />
Sahan bereits die Verweigerung der Mitwirkung zu einer<br />
Selbstbelastung führen (S. 149). Die Richtigkeit dieser letzten<br />
These kann bezweifelt werden; auch sonst führt die Berufung<br />
auf die Schweigerechte der §§ 136, 55 StPO per se nicht zu<br />
einer Selbstbelastung. Aus den Regelungen der §§ 257<br />
Abs. 3, 258 Abs. 5 StGB entnimmt Sahan, dass nicht jedes<br />
Verhalten, durch das neues Unrecht begangen wird, bestraft<br />
werden soll. Vielmehr werden von „nemo tenetur“ nur solche<br />
Verhaltensweisen nicht gedeckt, welche die Menschenwürde<br />
eines anderen verletzen (S. 146). Die dem entgegen stehende<br />
Rechtsprechung des BGH befinde sich in einem Zirkelschluss,<br />
da die Reichweite der Erklärungspflicht gerade von<br />
der Reichweite des „nemo tenetur“ abhänge. Dem Steuerpflichtigen<br />
müsse es daher aufgrund des „nemo tenetur“ auch<br />
möglich sein, unrichtige Angaben zu machen.<br />
Mit dieser Auffassung geht Sahan über die herkömmliche<br />
Interpretation des Selbstbelastungsverbots weit hinaus. Berechtigt<br />
ist der Hinweis Sahans, dass zwischen der Nichterklärung<br />
und der Falscherklärung nur ein geringer qualitativer<br />
Unterschied besteht und dieser sogar ganz aufgehoben wird,<br />
wenn man die Suspendierung der Erklärungspflicht dergestalt<br />
auffasst, dass hinsichtlich einer Einkunftsart einzelne Einkunftsquellen<br />
bei Gefahr der Selbstbelastung nicht angegeben<br />
werden brauchen. Allerdings lässt sich damit im Umkehrschluss<br />
nicht zwingend ein Recht auf Falscherklärung ableiten.<br />
Selbst wenn man mit Sahan entgegen der herrschenden<br />
Meinung in „nemo tenetur“ nicht nur ein Recht zur Verweigerung<br />
der aktiven Mitwirkung an, sondern auch der bloß<br />
passiven Duldung von Ermittlungsmaßnahmen erblickt, kann<br />
man die Berechtigung von Falscherklärungen zwar rechtfertigen,<br />
nicht aber herleiten. Ein Anspruch auf Falscherklärung<br />
dürfte sich kaum aus dem Grundrecht der Menschenwürde<br />
ableiten lassen.
Sahan, Keine Steuererklärungspflicht bei Gefahr strafrechtlicher Selbstbelastung Pelz<br />
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In vollem Umfang berechtigt ist die Kritik von Sahan an<br />
der von der Rechtsprechung vorgenommenen Differenzierung<br />
zwischen unmittelbarer und mittelbarer Selbstbelastung.<br />
Lassen sich bei einem eingeleiteten Ermittlungsverfahren aus<br />
Angaben für nachfolgende Veranlagungszeiträume mittelbar<br />
Rückschlüsse auf die Tatbegehung ziehen, muss die Erklärungspflicht<br />
nicht nur hinsichtlich des unmittelbar strafbefangenen,<br />
sondern auch hinsichtlich nachfolgender Veranlagungszeiträume<br />
gleichermaßen suspendiert werden, um die<br />
Gefahr der Selbstbelastung zu bannen. Dies jedenfalls dann,<br />
wenn man kein absolutes Verwertungsverbot für in den nachfolgenden<br />
Veranlagungszeiträumen gemachte Angaben anerkennen<br />
will.<br />
Sahan hat in seiner Dissertation einen wichtigen Beitrag<br />
zur Standortbestimmung des „nemo tenetur“ im Steuerstrafrecht<br />
geleistet. Er hat die Schwächen der jüngsten Rechtsprechung<br />
des BGH aufgezeigt und überzeugend dargelegt, dass<br />
die bislang anerkannte, nur sehr beschränkte Suspendierung<br />
von Erklärungspflichten nicht ausreicht, um dem Verbot der<br />
Selbstbelastung wirksam zur Geltung zu verhelfen. Aus der<br />
verfassungsrechtlichen Herleitung des „nemo tenetur“-Satzes<br />
lässt sich ein weit größerer Anwendungsbereich ableiten.<br />
Sahan weist zutreffend darauf hin, dass unterlassene bzw.<br />
unrichtige Angaben in Steuererklärungen in weit größerem<br />
Umfang als bislang anerkannt von der Strafbarkeit ausgenommen<br />
werden müssen, solange ein umfassendes Verwertungsverbot<br />
von in Besteuerungsverfahren gemachten Angaben<br />
nicht anerkannt wird. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung<br />
mit diesem Problem ist noch voll im Gange. Sahans<br />
Werk hat viele wertvolle Anstöße für die weitere Diskussion<br />
gegeben.<br />
Dr. Christian Pelz, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht,<br />
Fachanwalt für Steuerrecht, München<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
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