Das Kriegstagebuch von Albert Plassmann - wattenscheid.net
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SCHLAG<br />
AUF<br />
SCHLAG<br />
<strong>Das</strong> <strong>Kriegstagebuch</strong> <strong>von</strong> <strong>Albert</strong> <strong>Plassmann</strong><br />
15.7.1942 Doris fährt <strong>von</strong> Wanne-Eickel aus<br />
zum Ernteeinsatz nach Drohne zum Bauern<br />
Helling. Von der Versicherung bekommt Opa<br />
die Aufforderung, einen Sachverständigen zu<br />
benennen, um an einem Tage den angerichteten<br />
Schaden zu taxieren. Diese Mitteilung haben<br />
wir durch den Vertreter Bohmhold dem<br />
Bauamt übergeben.<br />
16.7.1942 Im Esszimmer werden Gardinen<br />
(provisorisch und geflickt) aufgehängt.<br />
79<br />
17.7.1942 Eine Esszimmerlampe geholt und<br />
aufgehängt. Die heil gebliebene Esszimmerlampe<br />
kommt ins Wohnzimmer. – Doris schreibt,<br />
sie wäre wohlbehalten angekommen. Der Bauer<br />
holte sie mit dem Rade vom Bahnhof ab. – <strong>Das</strong><br />
Fuhrgeschäft Eisler schickt einen Wagen mit<br />
zwei „talentvollen“ Arbeitern, um den Dauerbrandofen<br />
nach Preute zu bringen. Der junge<br />
Fahrer ist zu faul beim Tragen zu helfen. Ich<br />
pfeife ihn gehörig an.
18.7.1942 In der Mittagszeit Alarm. Die<br />
Wolken liegen tief. Der Flieger darüber ist gut<br />
zu hören. Die Flak schießt Schnellfeuer, der Flieger<br />
dreht ab. – Von Öchtringhausen bekommen<br />
wir Nachricht, dass es ihnen nicht möglich ist,<br />
uns aufzunehmen. – Duisburg und Oberhausen<br />
hatten bei Tagesangriffen stärkere Verluste, man<br />
spricht <strong>von</strong> 130 Toten.<br />
19.7.1942 Mittags kurzer Alarm, kein Flieger<br />
hier zu hören.<br />
20.7.1942 Herbert und ich nach Preute, um<br />
nach den Ofen zu fragen. Es stellt sich heraus,<br />
dass er noch gar nicht dort angekommen ist. Wo<br />
haben die Schlaumeier den Ofen gelassen? Doris<br />
schickt uns ein Paket mit Johannisbeeren.<br />
21.7.1942 Mittags Alarm! – Herbert bekommt<br />
<strong>von</strong> Ottmarsbocholt eine Einladung<br />
zum Ferienaufenthalt. Er wird seinen Husten<br />
noch nicht los. – Auf der Suche nach dem Dauerbrandofen<br />
gehe ich zunächst nach Eisler. Frau<br />
Eisler kann mir aber keine Auskunft geben. Auf<br />
dem Rückweg treffe ich den Fahrer selbst. Sie<br />
haben den Ofen dort hingestellt, wo sie die Möbel<br />
abgeladen haben. Ich mache Schmidt hier<strong>von</strong><br />
Mitteilung und fordere, dass baldmöglichst<br />
der Ofen nach Preute kommt. – Abends haben<br />
wir 2-mal Fliegeralarm.<br />
22.7.1942 Alarm <strong>von</strong> 1 - 3 Uhr. Die Scheinwerfer<br />
haben einen Flieger im Licht. Er fliegt<br />
schnell und versucht durch Kurven aus dem<br />
Scheinwerferlicht herauszukommen. Alle Flakgeschütze<br />
befunken ihn. Bei längerem Zusehen<br />
stelle ich fest, dass es ein Licht sein muss, das<br />
sich im Scheinwerferlicht bewegt. Es wird viel-<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
80<br />
leicht so sein: Ein Flieger zieht an einem langen<br />
Kabel eine Lampe hinter sich her. Der Flieger ist<br />
selbst so hoch, dass er <strong>von</strong> den Scheinwerfern<br />
und der Flak nicht erfasst werden kann, sondern<br />
nur die Lampe. Während nun alle Batterien<br />
feuern, stellt der feindliche Beobachter ihre<br />
Stellungen fest. Die Lampe ist also Mittel zum<br />
Zweck. – In Rotthausen ist ein großer Brand ausgebrochen.<br />
Über unserem Hause ist das Brummen<br />
eines Tieffliegers zu hören. Vor dem Walzwerk<br />
macht er kehrt, ich drücke mich in den<br />
Eingang des Lagers. Zwei Detonationen sind in<br />
südlicher Richtung zu hören.<br />
24.7.1942 Tagelang ist die Witterung<br />
schlecht. Die Gerste ist überreif. – Abends machen<br />
Mutter und ich eine Fahrradtour. Wir besuchen<br />
Schreiner Schröder im Haferfeld wegen<br />
Reparatur unserer Möbel. Er will in den nächsten<br />
Tagen Nachschau halten. Wir fahren weiter auf<br />
Horst zu und sehen dort die Bombeneinschläge<br />
der vergangenen Nacht. Eine unbewohnte<br />
Mühle zeigt einen großen Trichter. Kinder belustigen<br />
sich dort. Ein Haus ist so zugerichtet<br />
wie unseres.<br />
25.7.1942 Herbert wird <strong>von</strong> der Ärztin noch<br />
einmal untersucht. Bei der Blutentnahme baut<br />
er ab. Die bezahlten Rechnungen für die Verdunklungsrollos<br />
bringt Mutter zur Steinstraße.<br />
26.7.1942 Alarm <strong>von</strong> 1:30 - 4 ungefähr 13<br />
Flugzeuge. – 8:15 - 8:45 Uhr, einige Schüsse fielen.<br />
In der Nacht wurde Duisburg wieder bombardiert,<br />
während tagsüber das Rhein-Main-Gebiet<br />
das Ziel <strong>von</strong> Luftangriffen war.<br />
27.7.1942 Alarm <strong>von</strong> 23:50 - 1:30 Uhr. Wir<br />
haben kein Flugzeug gehört. Wir gehen ins Bett<br />
mit der Befürchtung, dass noch ein Angriff erfolgt.<br />
Der Heeresbericht gibt bekannt, dass in<br />
Hamburg schwere Verluste entstanden sind.<br />
28.7.1942 Tagsüber hatten wir 4-mal Alarm,<br />
haben aber keinen Flieger gesehen. Beim Herannahen<br />
der feindlichen Flugzeuge gehen gleich<br />
die Sperrballone hoch. Abends wird erzählt,<br />
in Essen wären Bomben in ein Kino und eine<br />
Waschkaue gefallen – 60 Tote. Es gehen Gerüchte<br />
<strong>von</strong> Mund zu Mund, deren Richtigkeit nicht<br />
nachgeprüft werden kann. – Josef lässt nach<br />
langer Zeit etwas <strong>von</strong> sich hören. Er ist <strong>von</strong><br />
Praschwitz aus (ausgerückt am 26.6.) in Russland<br />
gelandet. Wo er sich dort befindet, hat er<br />
nicht mitgeteilt.<br />
29.7.1942 Mit Herbert zur NSV-Dienststelle<br />
und holen vier Gasmasken. Wir hoffen, dass wir<br />
sie nicht gebrauchen müssen. Von einem Gasangriff<br />
sind wir bisher noch verschont geblieben.<br />
Aber bei dieser rücksichtslosen Kriegsführung<br />
ist auch damit zu rechnen. – Heute morgen erschien<br />
auch wieder Klempner Schoppmann,<br />
eine neue Dachrinne anzubringen. – Es war<br />
heute 4-mal Alarm, <strong>von</strong> fern hört man Kanonendonner,<br />
ein Fesselballon hat sich losgerissen<br />
und treibt mit dem Winde nach Osten, unter<br />
sich das Haltetau. – Elektriker Kotgöde und der<br />
Holländer (ein holländischer Nationalsozialist,<br />
der 1934 nach Deutschland floh) erledigen einige<br />
Arbeiten, sind aber noch nicht fertig. Kotgöde<br />
erzählt, gestern wäre eine Bombe auf Tor 3<br />
bei Krupp niedergegangen, als dort gerade Löhnung<br />
war – 70 Tote. Auch der Kaiserhof wäre<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
81<br />
getroffen worden.<br />
30.7.1942 Opa und Oma fahren nach Nordwalde.<br />
Der Klempner hat die Dachrinne fertig<br />
gemacht. Heute hatten wir keinen Alarm. – An<br />
der Südfront in Russland geht die Offensive gut<br />
voran, unsere Truppen sind über Rostow hinaus<br />
und nähern sich Stalingrad an der Wolga. In der<br />
Stadt stehen die Leute vor den Gemüse- und<br />
Fischläden Schlange aber auch Nachmittags vor<br />
den Kinos. – <strong>Das</strong> Wetter ist besser geworden,<br />
hoffentlich kommt die Ernte gut herein.<br />
31.7.1942 Herbert hat Nachricht bekommen,<br />
dass er am 2.8. nach Ottmarsbocholt kommen<br />
soll. – Wir hatten heute 5-mal Alarm. Ein<br />
Flugzeug, <strong>von</strong> der Flak heftig beschossen, flog<br />
über Gelsenkirchen – Wanne nach Osten. Der<br />
Heeresbericht spricht <strong>von</strong> Störflügen einzelner<br />
Flugzeuge.<br />
1.8.1942 In der Nacht Alarm <strong>von</strong><br />
24:30 - 04:00 Uhr. Ich sah den Abschuss zweier<br />
Flugzeuge – Herbert ist mit Mutter zum Krankenhause.<br />
Es wird eine Röntgenaufnahme gemacht.<br />
Niedergeschlagen kommt er zurück, seine Reise<br />
muss verschoben werden, da die Aufnahme<br />
erst Montag erfolgen kann. Wir hatten heute<br />
4-mal Alarm, ohne ein Flugzeug gesehen oder<br />
gehört zu haben. Es ist mir nicht möglich, den<br />
schon lange geplanten Fußmarsch nach Essen<br />
wegen häufigen Alarms am Tage zu machen. In<br />
der Stadt müssen bei Alarm sofort alle Straßen<br />
geräumt werden, auch die Schlangesteher vor<br />
den Geschäften müssen verschwinden. Interessant<br />
ist das Spektakel dann bei der Entwarnung.<br />
Jeder will dann seinen Platz wieder einnehmen.
Wehe, wenn sich einer dort aufstellt, der vorher<br />
dort nicht gestanden hat. Es kam schon häufig<br />
zu Weiberschlachten, wobei der Schirm eine<br />
wichtige Rolle spielte. Bei großem Gekreisch<br />
und Gezeter wurden Hüte und Mäntel zerrissen.<br />
Die verwegensten Streithähne wurden zur<br />
Polizeiwache geschleppt. – Heute wieder 5-mal<br />
Alarm.<br />
2.8.1942 Einmal Alarm am Tage.<br />
3.8.1942 Herbert wurde morgens geröntgt.<br />
Der Tb.-Verdacht scheint sich nicht zu bestätigen.<br />
Er ist froh wie ein König, morgen fahren<br />
zu können.<br />
4.8.1942 Herberts Abfahrt mit Mutter nach<br />
O.<br />
5.8.1942 In der Nacht 2-mal Alarm. In Richtung<br />
Essen ein großer Brand. Es ist nun so, dass<br />
wie heute Nacht, ein einzelnes Flugzeug Millionen<br />
Menschen im Industriegebiet und auch<br />
anderswo 2-mal in der Nacht in Aufregung<br />
bringt, sie aus den Betten wirft, zur Eile antreibt<br />
und in die Keller verscheucht. Die Menschen<br />
sind verängstigt durch die Nachrichten <strong>von</strong><br />
den schweren Beschädigungen in letzter Zeit<br />
in Duisburg und Düsseldorf, <strong>von</strong> der furchtbaren<br />
Wirkung der neuen Brandbomben, die<br />
kaum noch unschädlich gemacht werden können.<br />
– Josef schreibt aus Russland, dass es ihm<br />
gut geht, das Essen ist auch gut. – Doris kehrt<br />
nach dreiwöchiger Abwesenheit in der Erntehilfe<br />
aus Drohne wieder nach Hause zurück. Ich<br />
habe wenigstens wieder einen Hausgenossen.<br />
Sie brachte Eier mit, 5 m Leinen und vor allem<br />
leckere Butterbrote; Weißbrot mit echter Mett-<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
82<br />
wurst. <strong>Das</strong> waren Leckerbissen, wie man sie lange<br />
nicht mehr gehabt hat. Man denkt an das<br />
Essen vergangener Zeiten, an die Restaurationsschnittchen<br />
und Ogo-Paketchen aus Bremen<br />
mit Kaffee, Tee, Süßigkeiten und vor allem den<br />
Wilhelmi-Sandblattzigarren. Wann kommen<br />
diese Zeiten wieder?<br />
6.8.1942 Doris ist stellvertretender Hausdrache.<br />
– In der vergangenen Nach Alarm <strong>von</strong><br />
24:10 - 03:00 Uhr. Zwei Flugzeuge machten die<br />
Gegend unsicher – keine Abwürfe. Im Laufe des<br />
Tages zwei 2-mal Alarm.<br />
7.8.1942 Alarm 02:30 - 03:30 Uhr – ungefähr<br />
6 Flugzeuge in großer Höhe. – Heute morgen erschien<br />
ein Beauftragter der Feuerversicherung<br />
mit Horstmann, um die Brandschäden zu begutachten.<br />
Weil das Haus unterversichert ist,<br />
vergütet die Versicherung den Brandschaden<br />
nur zur Hälfte. Den übrigen Schaden sollen wir<br />
tragen. Ich habe zu verstehen gegeben, dass<br />
unsererseits nichts gezahlt würde, der Brand<br />
ist eine ursächliche Folge der Bombardierung.<br />
Dieserhalb müssen wir uns dann mit der Stadt<br />
auseinandersetzen. – Auch Wienke mit Schmidt<br />
nehmen eine Besichtigung vor. Schmidt teilt<br />
mir mit, dass die Kostüme endlich aufgehängt<br />
wären. Die Schadensregelung wird in nächster<br />
Zeit erfolgen. Ich frage nach dem Wiederaufbau<br />
des Lagers. Es soll ein Satteldach aufgesetzt werden.<br />
Der hintere Teil soll verschwinden. – Doris<br />
teilt mit, dass während ihres Aufenthaltes in<br />
Drohne in unmittelbarer Nähe des Hauses bei<br />
Tage eine Bombe krepierte und ein Blindgänger<br />
in ihren Garten fiel. Es ist so, als wenn uns der<br />
Engländer überallhin verfolgte. – (Da ertönt das<br />
Entwarnungszeichen – nach dem 2. Alarm am<br />
heutigen Tage.)<br />
8.8.1942 Alarm <strong>von</strong> 02:45 - 03:15 Uhr.<br />
9.8.1942 2-mal Alarm tagsüber.<br />
10.8.1942 In der Nacht Alarm – kurz, kein<br />
Flugzeug gesehen – Morgens mit Opa und Treschen<br />
zum Bauamt wegen Brandschaden. Ich<br />
lege Horstmann noch einmal unsere Ansicht<br />
über den Brandschaden und die Kostenzahlung<br />
auseinander. Am Schluss der Unterredung geht<br />
er zu Wienke herüber und bringt uns nun den<br />
beruhigenden Bescheid, dass wir mit der Kostenaufbringung<br />
nichts mehr zu tun hätten. Die<br />
Kosten betrugen 880 RM. Da<strong>von</strong> sollten wir<br />
wegen der Unterversicherung die Hälfte tragen.<br />
– So war dann diese Angelegenheit zu unserer<br />
Zufriedenheit gelöst. Es erhebt sich die Frage:<br />
Konnte uns das nicht <strong>von</strong> vornherein so gesagt<br />
werden? Warum bringt man uns Bombengeschädigte<br />
erst in Unruhe? – Opa und ich besuchen<br />
noch Schmidt wegen der Kostümfrage. <strong>Das</strong><br />
Entschädigungsamt wünscht ein schriftliches<br />
Gutachten über den Zustand der Kostüme <strong>von</strong><br />
Herrn Sommer. In der Steinstraße müssen wir<br />
uns unfreiwillig länger aufhalten. Wir erleben<br />
den zweiten Alarm heute morgen, in Richtung<br />
Gelsenkirchen wird geschossen.<br />
11.8.1942 Morgens gehe ich mit den Schulkindern<br />
auf die Kartoffelkäfersuche. – Brief an<br />
Herrn Sommer in Dortmund zwecks Besichtigung<br />
der Kostüme und Anfertigung eines<br />
schriftlichen Gutachtens. – Auf den Nachbarfeldern<br />
suchen wir fleißig Ähren. <strong>Das</strong> war früher<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
83<br />
das Vorrecht der Armen – heute der Hungrigen.<br />
12.8.1942 Mutter schreibt aus Ottmarsbocholt.<br />
Sie wiegt nur noch 131 Pfund, bemerkt<br />
aber eine Gewichtzunahme, denn ihr Korsett<br />
wird enge. Ein Herr Schmedtmann sagt ihr dort,<br />
dass sie Gardinen <strong>von</strong> ihm hätte bekommen können.<br />
– In der Nacht 2-mal Alarm. Über Gelsenkirchen<br />
und Essen werden Tiefflüge ausgeführt,<br />
die leichte Flak feuert lebhaft nach allen Richtungen,<br />
die Scheinwerferstrahlen sind niedrig.<br />
Wenn ich mich nicht irre, schlug in Essen ein<br />
Flugzeug auf den Boden auf. Morgens um 8 Uhr<br />
ist der dritte Alarm, aber kurz, - an Ausschlafen<br />
ist nicht zu denken. – An der Außenseite trägt<br />
das Haus noch die Spuren des Kampfes. Die Risse<br />
und Löcher warten noch auf Ausbesserung,<br />
und die Straßenseite zeigt Mörtelspritzer. Alle<br />
Vorübergehende sehen dorthin, dann wandern<br />
ihre Blicke an der Hauswand aufwärts, um noch<br />
andere Bombenschäden zu entdecken.<br />
13.8.1942 2-mal Alarm <strong>von</strong> 24:30 - 01:15<br />
und 02:00 - 02:45 Uhr. Wir haben kein Flugzeug<br />
gesehen, aber Mainz und Wiesbaden hatten<br />
schwer zu leiden. In den Morgenstunden warf<br />
ein Flugzeug Flugblätter. Die Briten drohen mit<br />
der Vernichtung der deutschen Städte und machen<br />
aufmerksam auf die Ankunft der Amerikaner.<br />
Sie prahlen mit der ungeheuren Flugzeugproduktion<br />
und fordern die Bevölkerung auf,<br />
das Nazijoch abzuschütteln. Die Leute sind sich<br />
der Gefahr bewusst, sind sich aber unserer militärischen<br />
Stärke bewusst und wissen, dass auch<br />
bei uns und unsere Verbündeten Flugzeuge,<br />
Tanks usw. in Mengen hergestellt werden. – Ich
habe die Zeche aufgefordert, die Bergschäden<br />
am Hause in Augenschein zu nehmen. – Besuch<br />
beim Luftschutzbauamt wegen Lichtleitung im<br />
Keller. Ich dränge auf den baldigen Ausbau des<br />
Kellers.<br />
15.8.1942 Tagsüber einmal Alarm.<br />
Alarm <strong>von</strong> 02:45 - 03:45 Uhr Nach langer Zeit<br />
benutzen die Flieger wieder Leuchtbomben. Es<br />
wirken mehrere Flugzeuge über Essen und dem<br />
südwestlichen Gebiet. Tagsüber einmal Alarm.<br />
17.8.1942 Nachts Ruhe. – Tagsüber einmal<br />
Alarm.<br />
18.8.1942 Wir mussten in der Nacht wieder<br />
2-mal aus den Betten. Kanonendonner war<br />
nicht zu hören. Beim zweiten Alarm legen wir<br />
uns angezogen aufs Bett. Wir gehen erst nach<br />
unten, wenn wir Flakbeschuss hören. – Tagsüber<br />
3-mal Alarm <strong>von</strong> kurzer Dauer. Beim gestrigen<br />
Tagesalarm kam der Flieger näher und warf hinter<br />
Kray einige Bomben. – Mutter und Herbert<br />
sind immer noch in Ottmarsbocholt. Sie können<br />
gewiss in der Ernte dort gut gebraucht werden.<br />
Mittlerweile haben wir hier zu Hause aber<br />
auch gute Tage, können wir doch die Portionen<br />
der beiden Abwesenden mit verzehren. „Und<br />
das freut einen denn auch!“<br />
19.8.1942 Tagsüber 2-mal Alarm. Flieger<br />
hoch, wird <strong>von</strong> Flak beschossen. – Von Josef<br />
kommen zwei Briefe. Er hat jetzt die Feldpost<br />
Nr. 05584 E.<br />
20.8.1942 Gebe am Bauamt Abtretungserklärungen<br />
ab in Sache Feuerversicherung. Mutter<br />
schreibt aus O., ich solle sie <strong>von</strong> dort abholen.<br />
– An der nordfranzösischen Küste wurde<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
84<br />
bei Dieppe ein groß angelegter britisch–amerikanischer<br />
Landungsversuch abgeschlagen.<br />
26.8.1942 Am 22.8. fuhr ich nach Ottmarsbocholt,<br />
um Mutter und Herbert abzuholen.<br />
Dort verlebte ich einige ruhige Tage, besonders<br />
wohltuende ruhige Nächte, mit gutem Essen.<br />
Gestern landeten wir wieder in der Heimat. In<br />
der Nacht vorher wieder Alarm <strong>von</strong> 12 - 2 Uhr.<br />
Herbert konnte sich <strong>von</strong> dem schönen Landleben<br />
nur schwer trennen. Auch Frau Dreyer,<br />
Schwägerin Treschen und Trudi halten sich 14<br />
Tage auf dem Lande auf. – Gestern Abend war<br />
Herr Brockmeyer bei mir und bat um Abnahme<br />
des Postens als Untergruppenführer des Reichsluftschutzbundes.<br />
Ich habe zugesagt und nehme<br />
an einem zweitägigen Lehrgang in Soest teil.<br />
28.8.1942 Gestern tagsüber 2-mal Alarm.<br />
Beim zweiten Alarm lagen Herbert und ich im<br />
Schwimmbad Stadion. Hunderte <strong>von</strong> Menschen<br />
bevölkerten bei heißem Wetter das Stadion. Keiner<br />
kümmerte sich um den Alarm, es wurde ruhig<br />
weiter gebadet. In der vergangenen Nacht<br />
Alarm <strong>von</strong> 23:15 - 02:15 Uhr. Ungefähr sechs<br />
Maschinen kreisten über unserer Gegend. Es<br />
mussten wohl häufiger Tiefflüge gemacht worden<br />
sein, die kleine Flak trat in Tätigkeit. Von<br />
Westenfeld herüber hören wir Kindergeschrei,<br />
Männerstimmen und Klopfen. Was mag dort<br />
los sein? – Einschläge haben wir nicht gehört.<br />
Da sehen wir plötzlich einen Tiefflieger über<br />
Siepmanns Haus hinweg huschen, verfolgt <strong>von</strong><br />
Scheinwerfern und Flakfeuer. Schnell geht’s in<br />
die Keller hinunter. – Die Nacht ist mondhell.<br />
Herr Sommer aus Dortmund teilt mit, dass er<br />
Montag hier eintreffen will.<br />
2.9.1942 Vor einer halben Stunde war um<br />
20:00 Uhr plötzlich Fliegeralarm. Aber schon<br />
war der feindliche Flieger über uns und wurde<br />
<strong>von</strong> der Flak beschossen. Auch die Sperrballone<br />
gingen erst jetzt hoch. Dieses Flugzeug war also<br />
der Beobachtung entgangen. – Heute morgen<br />
Alarm <strong>von</strong> 12:00 - 12:30 Uhr. Übrigens haben<br />
wir ein neues Warnsignal. Fliegen drei oder weniger<br />
Flugzeuge ein, so wird das Vorwarnsignal<br />
gegeben, nämlich ein dreimaliger in gleicher<br />
Höhe gegebener Heulton. <strong>Das</strong> öffentliche Leben<br />
geht weiter, nur bei Gefahr soll sich jeder luftschutzmäßig<br />
verhalten. – Leutnant Karl Domberg<br />
ist im Ostern gefallen. – Im Nachbarhause<br />
wurden auf der Straße die kleine Ulla Spieß <strong>von</strong><br />
einem Auto überfahren. Sie erlitt schwere Hautabschürfungen<br />
und wurde dem Krankenhause<br />
zugeführt. – Vom 31.8. - 1.9. nahm ich in Soest<br />
an einem Sonderkursus für Führer <strong>von</strong> Einsatztrupps<br />
teil. Mit mir fuhr Herr Mühlhausen <strong>von</strong><br />
der Morgensonne. <strong>Das</strong> Unterkommen war dort<br />
gut, Verpflegung kriegsgemäß. Ganz Soest wimmelte<br />
<strong>von</strong> Soldaten. Von Soest brachte ich Schalen<br />
für den Kronenleuchter mit.<br />
3.9.1942 In der vergangenen Nacht Alarm<br />
<strong>von</strong> 22:30 - 1:00 Uhr, Saarlautern wurde bombardiert.<br />
Tagsüber Alarm in der Mittagszeit (Fotoflieger)<br />
4.9.1942 Schmidt zur Besichtigung der Kostüme<br />
für Montag eingeladen. Heute Nachmittag<br />
mit Opa zum Lagerraum. Es war uns aber<br />
unmöglich, festzustellen wie viele Kostüme<br />
noch vorhanden sind. H. Sommer in Dortmund<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
85<br />
benachrichtigt. Um 18 Uhr Voralarm-Signal. –<br />
Entwarnung um 18:30 Uhr.<br />
7.9.1942 Sonntagnachmittag machten Mutter<br />
und ich einen Spaziergang. Wir versuchten<br />
Horst zu erreichen und über Steele wieder zurückzukommen.<br />
Auf dem Wege nach Horst<br />
gab es Alarm. Auf dem kürzesten Wege ging es<br />
nun nach Hause. Es ist wirklich so, dass man<br />
das Haus nicht mehr verlassen kann. Auf dem<br />
Rückweg sprachen wir beim Schreiner Schröder<br />
vor wegen unserer Möbel. Seine Frau sagte uns,<br />
er wäre mit Fliegerschädenarbeit überlastet. Wir<br />
kommen zu der Gewissheit, dass unsere Möbel<br />
erst nach dem Kriege fertig gestellt werden können.<br />
Es sind zuwenig Arbeitskräfte vorhanden.<br />
– Wir kehren auch noch bei Oberbarnscheid<br />
ein. Es gibt dort zum Trinken nur ein Zitronengesöff.<br />
Wir erinnern uns, dass wir zuletzt am<br />
8. März bei Oberbarnscheid einkehrten. In der<br />
Nacht darauf war unsere Bombennacht. Soll<br />
sich das heute wiederholen? – Beinahe! – In der<br />
vergangenen Nacht war wieder allerhand los.<br />
03:15 Uhr Alarm! Über Essen wieder „Christbäume“.<br />
Später kommen einige Flugzeuge über<br />
unsere Gegend. Heftige Knallerei zeitweise über<br />
unserem Hause. Ich drücke mich in die Türnische<br />
des Lagers und warte jeden Augenblick auf<br />
Einschläge. Es geht alles gut.<br />
8.9.1942 Josef schreibt einen langen Brief<br />
aus Russland. Er zählt viele Sachen auf, die wir<br />
ihm schicken sollen. <strong>Das</strong> Fettpaket aus Ottmarsbocholt<br />
scheint er nicht bekommen zu haben.<br />
– Frau Dreyer, Schwägerin Treschen, Änne und<br />
Trudi sind <strong>von</strong> ihrer Erholungsgreise auch wie-
der heimgekehrt. Alle Hausgenossen sind nun<br />
wieder beisammen.<br />
10.9.1942 Tagsüber 2-mal Alarm. – Nachmittags<br />
bringe ich nach Aufforderung meine Militärpapiere<br />
zum Schulamt. Die Betriebe werden<br />
zwecks Erfassung noch Wehrfähiger „durchgekämmt“.<br />
– Dann mit Herrn Sommer zum Lagerraum.<br />
Auch Herr Schmidt vom Entschädigungsamt<br />
ist anwesend. Die Brauchbarkeit der<br />
Kostüme wird geprüft. Herr Sommer wird beauftragt,<br />
ein Gutachten abzugeben.<br />
11.9.1942 Angriff <strong>von</strong> 23:00 - 01:30 Uhr.<br />
Schwerer Angriff besonders in westlicher und<br />
südwestlicher Richtung. Dort auch ein großer<br />
Brand (Düsseldorf). Über Bochum sehe ich einen<br />
Engländer brennend abstürzen. Zwei Piloten<br />
lassen sich an Fallschirmen herunter. Einige<br />
Scheinwerfer stehen still und ermöglichen so<br />
die Beobachtung, wo sie niederkommen.<br />
14.9.1942 Heute Nacht 3-mal Alarm in der<br />
Zeit <strong>von</strong> 02:00 - 06:00 Uhr. Bremen wurde stark<br />
bombardiert. Abends fährt hier ein Sonderzug<br />
mit Frauen und Kindern vorbei. Es sind gewiss<br />
Obdachlose <strong>von</strong> Düsseldorf. Tagsüber 2-mal<br />
Alarm.<br />
15.9.1942 In der Zeitung lesen wir eine erfreuliche<br />
Nachricht. Ab 19.10. sollen die Rationen<br />
für Brot und Fleisch erhöht werden. Die<br />
eroberten Ostgebiete können schon liefern.<br />
17.9.1942 Heute Nacht erlebten wir den bisher<br />
stärksten Luftangriff. Ein Flugzeug wurde<br />
schon gegen 22:45 Uhr <strong>von</strong> der Flak heftig beschossen,<br />
als die Sirene ertönte und wir eiligst in<br />
unsere Kleider schlüpften und uns sofort nach<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
86<br />
unten begaben. Bei dem einen Flieger blieb es<br />
aber nicht, eine gefährliche Kanonade war aus<br />
nördlicher Richtung zu hören. Und es dauerte<br />
nicht lange, da ließ sich aus den Scheinwerferstrahlen<br />
und den explodierenden Flakgranaten<br />
erkennen, dass <strong>von</strong> dort her starke Luftkräfte<br />
heranzogen und immer näher kamen. Wir<br />
flüchteten in den Keller. Und nun begann ein<br />
Höllenkonzert. Über uns kreiste wohl über eine<br />
Stunde lang ein Flieger, dessen Brummen bald<br />
stärker, bald schwächer werdend zu hören war.<br />
Suchte er uns als sein Opfer ? – Manchmal erzittert<br />
die Erde. Durchs Kellerloch sehe ich<br />
draußen weiße und rote Feuerscheine. Es werden<br />
Brandbomben geworfen, ebenfalls Brandkanister<br />
(hinter Kohleppels Hof). Als es etwas<br />
ruhiger wird, wage ich mich nach draußen, um<br />
unser Haus nachzusehen. Ich bin überrascht.<br />
Ringsherum am Horizont ein Brandherd<br />
neben dem anderen. Ich<br />
erkenne einen Großangriff.<br />
Die Gefahr treibt mich wieder<br />
in den Keller. Nach 1 ½<br />
Stunden sind die Flugzeuge<br />
wieder verschwunden. Wir stehen<br />
alle draußen und erkennen<br />
erschaudernd das furchtbare Werk<br />
der Angreifer. Mächtige Brände wüten<br />
an mehreren Stellen in Bochum,<br />
Gelsenkirchen, Essen und Hattingen.<br />
Wattenscheid war ungeschoren geblieben.<br />
Eine schwarze Rauchwolke wälzt<br />
sich <strong>von</strong> Essen her über Gelsenkirchen.<br />
18.9.1942 Heute morgen fahre ich<br />
nach Bochum zu einer Besprechung wegen Doris<br />
in der H. Handelsschule. Die Straßen Bochums<br />
sind besät mit Glasstücken <strong>von</strong> den durch Luftdruck<br />
zerstörten Schaufensterscheiben. Manche<br />
Schulen Bochums auch die Handelsschule haben<br />
unterrichtsfrei heute, weil die Fensterscheiben<br />
zertrümmert sind. Anschließend fahre ich<br />
mit der Straßenbahn <strong>von</strong> hier aus nach Wanne.<br />
Am Bahnhof Präsident Menschenauflauf und<br />
Feuerwehrwagen. Wasserschläuche in<br />
den Wasserrinnen. Hier ist das<br />
Schadensgebiet des<br />
Angriffs.<br />
Die<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
87<br />
Häuser mehrerer Straßen zeigen ausgebrannte<br />
Dachstühle, leere Fensterhöhlen. Die Obdachlosen<br />
sind schon beim Umzug. Wie ich höre,<br />
soll auch das Augusta-Krankenhaus hinter dem<br />
Stadtgarten getroffen sein. – In Wanne<br />
haben wir eine Dienstversammlung
und hören den Vortrag eines Ritterkreuzträgers.<br />
Auf der Rückfahrt durch Gelsenkirchen sehe ich<br />
noch die Brandstätte bei Hundertmark (Kartoffelhandlung)<br />
an der Rhein-Elbe-Bahn. Getroffen<br />
wurde auch die Vikarie in Gels.-Ückendorf. Ein<br />
Zimmer brannte dort aus. – In Essen wurde das<br />
Transportlager van Eupen getroffen und brannte<br />
vollständig aus. – Ein halbes Flugzeug sollte<br />
dort auf der Straße liegen.<br />
19.9.1942 Alarm um 3 ½ Uhr – nach einer<br />
Stunde Entwarnung. Mutter und ich fahren<br />
nach Eickel. Es wurde uns mitgeteilt, dort gebe<br />
es Gardinen. Schöne Küchengardinen erhalten<br />
wir dort, aber keine Stores. Von hier aus fahren<br />
wir bis Präsident und betrachten uns die Zerstörungen<br />
dort. Ein Volltreffer ist auf den Bahnkörper<br />
gegangen, die Häuser der Umgebung sind<br />
zerstört. Wir kennen diese Häuserbilder. Frl.<br />
Große-Thie teilt mir mit, dass auch ihre Angehörigen<br />
in der Donnerstagnacht in Bottrop betroffen<br />
wurden.<br />
23.9.1942 Heute morgen wurde meine Tante<br />
Mimi Pl. In Bredeney beerdigt. Sie starb an<br />
einer Darmverschlingung. Bei dieser Gelegenheit<br />
erfuhr ich auch <strong>von</strong> den Schicksalen anderer<br />
Familienmitglieder. Wir waren nicht die<br />
einzigen, die bisher vom Kriege gezeich<strong>net</strong><br />
waren und Schaden gelitten hatten. Bei dem<br />
Bombenangriff in der vorigen Woche wurde<br />
auch meine Kusine Minchen in Essen-West obdachlos.<br />
Der Luftdruck einer Luftmiene zerstörte<br />
ihre Wohnung. Jetzt bewohnt sie zwei Zimmer<br />
in der Villa eines Zechendirektors. Meine<br />
Cousine Gertrud Pl. In Oberhausen wurde <strong>von</strong><br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
88<br />
Brandbomben heimgesucht und besitzt nichts<br />
mehr. Zur Beerdigung hatte sie sich den Mantel<br />
leihen müssen. So waren die Bombenangriffe<br />
Hauptthema der Gespräche; es herrschte große<br />
Niedergeschlagenheit, und Besorgnisse für die<br />
Zukunft wurden laut. Es war kein frohes Zusammentreffen.<br />
3.10.1942 Nach einer verhältnismäßigen ruhigen<br />
Zeit bekamen wir heute Nacht wieder Fliegerbesuch,<br />
und zwar schon früh gestern Abend<br />
22:00 Uhr. Es wurde aber nicht allzu schlimm.<br />
Die Anzahl der Scheinwerfer und Flakgeschütze<br />
ist vermehrt worden. Während des nächtlichen<br />
Angriffs, in der Hauptsache über Essen,<br />
fliegt ein Flugzeug in niedriger Höhe mit lautem<br />
Gebrumm über unser Haus, heftig beschossen<br />
<strong>von</strong> der Flak. Ich duckte mich im Schuppen vor<br />
dem Bersten und Zerkrachen der Flakgranaten<br />
über mir. In den zerstörten Lagerraum über mir<br />
ergießt sich hörbar der Splitterregen. <strong>Das</strong> Flugzeug<br />
dreht nach Dahlhausen ab und fällt dort<br />
zu Boden. Ein roter Feuerschein ließ dort den<br />
Absturz erkennen.<br />
Heute morgen erschien in meiner Klasse mein<br />
Schulleiter Matzke und überreichte mir im Auftrage<br />
der Behörde das Verdienstkreuz für 25 jähriger<br />
Berufsarbeit. Wieder ein Orden mehr!<br />
4.10.1942 Aufmunternde Rede Görings am<br />
Erntedanktage: Hinweis auf eine Verbesserung<br />
der Ernährungslage – die Altersversorgung der<br />
Bergleute soll verbessert werden.<br />
7.10.1942 Nachdem am Tage 3-mal Voralarm<br />
war, erfolgte ein Nachtangriff mit einigen Flugzeugen<br />
<strong>von</strong> 22:00 bis 23:45 Uhr. In Osnabrück<br />
wurden schwere Schäden angerichtet. Heute<br />
hatten wir keinen Tagesalarm. – Immer noch<br />
haben wir sonnige Herbsttage . Man könnte fast<br />
den Krieg vergessen. Die Kartoffelernte ist reichlich,<br />
jedenfalls besser als in den letzten Jahren,<br />
und das anhaltende günstige trockene Wetter<br />
begünstigte Ernte, Lagerung und Verteilung.<br />
16.10.1942 Gestern Abend kam Willi Schw.<br />
unerwartet für drei Wochen in Urlaub. An der<br />
Grenze bekam er auch das <strong>von</strong> Göring in seiner<br />
großen Rede erwähnte Soldatenpaket. Es<br />
enthielt eine lange Dauerwurst, 2 Pfund gute<br />
Butter, 5 Pfund Graupen... – Bereits um 22 Uhr<br />
ertönte Flugalarm. Hinter Essen ließ aufblitzendes<br />
Flakfeuer auf breiter Front auf einen Großangriff<br />
schließen. Über unser Gebiet flog nur ein<br />
Flugzeug, Schaden wurde in einigen rheinischen<br />
Städten angerichtet, 22 Bomber abgeschossen. –<br />
Von der Geschäftsstelle des RLB habe ich einen<br />
elektrischen Heizofen für den Luftschutzkeller<br />
abholen lassen. – Am Bauamt beantragte ich<br />
Reparaturarbeiten an der Waschküche. Darauf<br />
erschien zur Besichtigung Wirt Nolde. Heute<br />
Nachmittag gratulierten Mutter, Herbert und<br />
ich Hetti Hötte zum Namenstage. Sie erzählte<br />
folgenden bezeichnenden Vorfall vom kleinen<br />
Reimund (3 Jahre): Beim Abendessen aß R. seine<br />
Bratkartoffeln vom Tellerchen. Mit seinem Löffelchen<br />
rührte er auf dem Tellerboden umher<br />
und sang dabei: „Spe-e-eck, wo bist du?“ dass<br />
Fett heute bei uns knapp ist und sehr begehrt<br />
wird, kommt auch schon den Kleinsten zum Bewusstsein.<br />
– Josef liegt noch immer hinter der<br />
Moskaufront. Er schreibt fleißig, schreibt aber<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
89<br />
nichts <strong>von</strong> seinem Aufenthaltsort oder seinem<br />
Leben und Treiben, hat nur immer besondere<br />
Wünsche. – Von Ottmarsbocholt haben wir einen<br />
Korb voll Birnen bekommen.<br />
19.10.1942 Einmal Tagesalarm ohne Bedeutung.<br />
– Heute morgen Mutter, Herbert und ich<br />
beim Facharzt Dr. Tölle in Gelsenkirchen. Herbert<br />
wurde eine dritte Mandel (Polypen) weggenommen.<br />
Diese war bereits entzündet und in<br />
einem weichen Zustand. Es war ihm nach der<br />
Operation elend zumute. Bei mir machte Dr.<br />
Tölle an meinen Ohren den letzten Versuch<br />
mit negativem Erfolg. Meine Schwerhörigkeit<br />
ist wohl nicht mehr zu beseitigen. Nachmittags<br />
liegen wir beide mit brummenden Schädeln auf<br />
dem Rücken. – Noch eine Neuigkeit erfährt das<br />
geplagte Haus. Frau Dreyer hat <strong>von</strong> August die<br />
Nachricht erhalten, dass er sich auf der Reise<br />
nach Deutschland befinde. Vor Stalingrad hat<br />
er sich einen eingeklemmten Bruch geholt und<br />
ist nach beschwerlicher Fahrt per Auto, Flugzeug<br />
und Zug in Krakau gelandet. Dort warte er<br />
auf Weiterbeförderung. Grund zu Besorgnissen<br />
wäre nicht gegeben.<br />
20.10.1942 Josef schrieb heute, er wäre in<br />
russisches Maschinengewehrfeuer hineingeraten<br />
und hätte sich durch einen Sprung in den<br />
Graben geschützt.<br />
2.11.1942 Heute wurde die Schadensangelegenheit<br />
betr. Kostüme verhandelt. Opa und<br />
ich waren bei Herrn Schmidt in der Steinstraße.<br />
Gleich zu Beginn teilte Herr Schmidt mit, dass<br />
man beschlossen habe, die schon früher <strong>von</strong><br />
mir vorgeschlagene Entschädigungssumme zu
zahlen. <strong>Das</strong> Schadensamt hatte auch durch den<br />
Gutachter Herrn Metzner vom Stadttheater Bochum<br />
die Kostüme besichtigen und beurteilen<br />
lassen, der auch diese Summe vorschlug. <strong>Das</strong><br />
Gutachten des Herrn Sommer wurde nicht anerkannt.<br />
– Daraufhin erklärte ich die angebotene<br />
Entschädigungssumme als zu gering. Ich legte<br />
eine neue Schadensliste vor mit Minderwertsangaben<br />
und gab eine genauere Erläuterung der<br />
Schäden. Ein Vermittlungsvorschlag meinerseits<br />
wurde nun zu Protokoll genommen.<br />
3.11.1942 Herbert ist wieder hergestellt, er<br />
macht seinen letzten Arztbesuch. Beim Glasgeschäft<br />
Heidtmann holen wir sechs Drahtfensterscheiben<br />
für die Kellerfenster und bringen sie<br />
nach Preute. Dort besehen wir uns den reparierten<br />
Dauerbrandofen, den wir in nächster Zeit<br />
abholen wollen.<br />
4.11.1942 Willis Urlaub ist abgelaufen, er<br />
fährt heute Mittag wieder zur Front.<br />
5.11.1942 Herr Schmidt teilt mir mit, dass<br />
wir in der Steinstraße noch mal vorsprechen<br />
möchten, da er das Verhandlungsprotokoll anders<br />
gefasst habe. – Unser Klempner Schoppmann<br />
wird benachrichtigt, er solle die Gasöfen<br />
anschließen.<br />
10.11.1942 Mit Wittlichs Fuhrwerk hole ich<br />
den reparierten Dauerbrandofen (72,- RM) ab,<br />
dazu Ofenrohre, Drahtglas für Kellerfenster und<br />
einige Scheiben für Schwägerin Treschen. Unterwegs<br />
hat Josef Wittlich noch das Unglück,<br />
mit einem Auto in der Dunkelheit zusammenzustoßen.<br />
Die geladenen Sachen blieben allerdings<br />
unbeschädigt.<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
90<br />
12.11.1942 Opa und ich machten unseren<br />
Besuch bei Schmidt. <strong>Das</strong> Protokoll unserer letzten<br />
Verhandlung war anders gefasst worden<br />
und musste unterschrieben werden. Bei dieser<br />
Gelegenheit brachte ich auch die Angelegenheit<br />
der Radiolieferung zur Sprache. Herr Schmidt<br />
rief das Geschäft Hardtke dieserhalb an und erhielt<br />
den Bescheid, dass für mich ein Gerät angekommen<br />
wäre, das aber nicht intakt sei. Ich<br />
begab mich gleich dorthin und musste auch<br />
feststellen, das der Klang unsauber war. Deshalb<br />
verzichtete ich auf den Apparat. Dabei hatte ich<br />
aber den leisen Verdacht, dass Hardtke das Radiogerät<br />
einem guten Bekannten in die Hände<br />
spielen wollte. Ich gab der Geschäftsfrau zu verstehen,<br />
das ich nun lange genug gewartet hätte<br />
und dass ich mich direkt an die Rundfunkabteilung<br />
des Propagandaministeriums wenden würde,<br />
berufend auf eine Rundfunkerklärung des<br />
Ministerialdirektors Fritsche, wonach für Bombengeschädigte<br />
Rundfunkgeräte bereitgestellt<br />
wären. Bis Weihnachten hoffe ich im Besitze<br />
eines Gerätes zu sein.<br />
13.11.1942 Hetti Hötte hat sich in Krankenhausbehandlung<br />
begeben. Eine Untersuchung<br />
hat Gallensteine und Gallenleiden festgestellt.<br />
In der nächsten Woche soll sie operiert werden.<br />
Wir haben sie Mittwoch Nachmittag besucht;<br />
im übrigen muss sie Ruhe haben.<br />
14.11.1942 Für den Kollegen Willi Röth soll<br />
eine andere Lehrkraft zum Osten versetzt werden.<br />
Unser Schulrat ist auf der Suche nach einer<br />
Ersatzkraft. Auch ich stehe auf der Ostliste,<br />
und zwar an 16. Stelle. Augenblicklich wehrt<br />
sich Kollege Rumpf. W. Röth ist in Bromberg<br />
beschäftigt. Seine Frau kann dort angeblich das<br />
Klima nicht vertragen<br />
15.11.1942 Meine Namenstagsfeier findet<br />
im kleinen gemütlichen Rahmen statt. Es gibt<br />
auch noch leckeren Kuchen.<br />
16.11.1942 Vikar Wilmsen gratuliert und<br />
erzählt mir vom Heldentod des Karlh. Stötzel<br />
aus Sevinghausen. Ich habe ihn früher in der<br />
Schule gehabt. Er machte auf der Oberschule<br />
gute Fortschritte und hatte das Abitur gemacht.<br />
Leid tun mir die Eltern, die sich einschränken<br />
mussten, um das Studium zu ermöglichen. Der<br />
Junge war gewiss die Hoffnung des Vaters. Die<br />
Mutter starb im vorigen Jahr. Der Krieg fordert<br />
seine Opfer, bei manchen ist es riesengroß. Bei<br />
all diesen Nachrichten wandern unsere Gedanken<br />
zu den Soldaten des Hauses.<br />
19.11.1942 Oma Plaßmann hat Namenstag<br />
im üblichen Rahmen. Mein Bruder Ferdinand<br />
ist an einigen Tagen wehrmäßig ausgebildet<br />
worden und wartet auf seine Einberufung zur<br />
Verwendung als Lokführer in Frankreich.<br />
20.11.1942 Zusammenkunft der Untergruppenführer<br />
des RLB. Im Geschäftszimmer in<br />
Höntrop. Bei dieser Gelegenheit werde ich zum<br />
Stellvertreter Uf. vereidigt.<br />
21.11.1942 <strong>Das</strong> Gerücht ist im Umlauf, dass<br />
die Jahrgänge <strong>von</strong> 1893 - 1903 zum Dienst bei<br />
der Flak ausgebildet und verpflichtet würden.<br />
26.11.1942 Frau Dreyer und Tochter Gertrud<br />
begeben sich auf die Reise nach Radeberg<br />
bei Dresden, um dort im Lazarett August Dreyer<br />
zu besuchen. Für ihn wird voraussichtlich der<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
91<br />
Krieg wohl zu Ende sein.<br />
27.11.1942 Opa hat heute seinen 80. Geburtstag.<br />
Wir gratulierten recht herzlich. Die<br />
Geburtstagsfeier findet am kommenden Sonntag<br />
statt.<br />
28.11.1942 Hetti Hötte wurde operiert. Die<br />
Operation ist gut verlaufen. Nach anfänglichen<br />
Schmerzen besserte sich ihr Zustand <strong>von</strong> Tag zu<br />
Tag.<br />
9.12.1942 Ich habe nun die Ehre, auch wieder<br />
aktiv an Deutschlands Kampf teilzunehmen.<br />
Zu Anfang des Krieges wurde ich in der militärischen<br />
Untersuchung als dienstuntauglich bezeich<strong>net</strong><br />
und bekam den Ausmusterungsschein.<br />
Zu meinem Erstaunen bekam ich nun in der<br />
vorigen Woche den Bescheid, dass ich für die<br />
Heimatflak vorgesehen sei und am Sonntag,<br />
dem 6.12., zu einem Appell im ev. Vereinshaus<br />
zu erscheinen habe. Von der örtlichen Parteileitung<br />
war dem Wehramt eine Namensliste derjenigen<br />
Personen eingereicht worden, die nachts<br />
arbeitsfrei sind und für diesen Zweck wohl in<br />
Frage kamen. Mit mir bekamen auch eine Einberufung:<br />
Düsenberg, Lange, Hammer, Lüking,<br />
Stüven, Menne, Westermann. In Bochum waren<br />
ungefähr 60 Wattenscheider beim Appell<br />
vertreten (nur aus den Bezirken Westenfeld und<br />
Höntrop). Der Saal war angefüllt mit einigen<br />
Hundert meist bejahrter Zivilisten (Bochum).<br />
Ich möchte, ich könnte ihre Gedanken ergründen!<br />
– Nach Aufnahme der Personalien und der<br />
Einteilung folgt die Ansprache eines Flak-Hauptmannes,<br />
der auf die Bedeutung des Einsatzes<br />
und unsere Pflichten hinweist. Wir sollen in der
Heimat die leichte Flak bedienen. Die aktive Bedienungsmannschaft<br />
wird dadurch freigemacht<br />
für eine Verwendung an der Front. Am Schluss<br />
der Ansprache werden diejenigen zurückgehalten,<br />
die glauben, dem Dienste nicht gewachsen<br />
zu sein. Auch ich stelle mich dem Unterarzt<br />
vor. Ich zeige meinen Ausmusterungsschein (es<br />
sollten nur Wehrfähige und Freiwillige genommen<br />
werden. – Demnach hatte man mich wohl<br />
gleich als Freiwilligen einberufen) und meinen<br />
Rentenbescheid vor. Gleichzeitig weise ich darauf<br />
hin, dass mein linker Arm durch Kriegsbeschädigung<br />
bewegungsbehindert und schwach<br />
sei. Der Unterarzt nahm eine Druckprobe, überzeugte<br />
sich <strong>von</strong> der Schwäche, meinte dann<br />
aber, ich sei Rechtshänder, die könne man auch<br />
gebrauchen. Damit war ich als diensttauglich<br />
entlassen. – Schon zwei Tage später begann unsere<br />
Ausbildung. Mit 18 „Auserwählten“ hatten<br />
wir zwei Stunden Unterricht <strong>von</strong> 15 bis 17 Uhr<br />
in einer Mannschaftsbaracke bei Vietings Hof.<br />
Da saß ich wieder auf dem bekannten Schemel<br />
vor dem gestrengen Herrn Unteroffizier. Meine<br />
Gedanken gingen 26 Jahre zurück in meine<br />
Lemgoer Rekrutenzeit; ich zog Parallelen. Es<br />
war wieder genauso wie damals. Der Unteroffizier<br />
bemühte sich wieder, alle seine pädagogischen<br />
Raffinessen und seinen „Wortreichtum“<br />
anwendend, uns die Pflichten eines guten Soldaten<br />
einzuhämmern. – „Ich glaube, jeder hat´s<br />
jetzt verstanden, dann brauchen wir nicht mehr<br />
darüber zu reden. Oder hat jemand noch eine<br />
Frage?“ – Unser Unteroffizier [(er stellte vorher<br />
fest, dass ich sein Kollege bin, erwähnt es auch,<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
92<br />
verlangt aber, dass wir uns unterordnen müssen<br />
– (ich gönne ihm seinen Posten)] quält sich<br />
durch die beiden Stunden, im übrigen scheint<br />
er ein anständiger Kerl zu sein.<br />
13.12.1942 Am vergangenen Freitag hatte<br />
ich meine zweite Instruktionsstunde als Flakmann.<br />
Während des Vortrags über die augenblickliche<br />
politische Lage erschien auch der<br />
Oberleutnant und sprach zu uns über Kameradschaft.<br />
Der Unteroffizier verlas dann einige<br />
ablehnende Bescheide <strong>von</strong> Gesuchen einiger<br />
Flakmänner um Freistellung und stellte dann<br />
die Frage, wer diensttauglich sei. Diese Frage<br />
hatte ich überhört und wünschte Wiederholung<br />
der Frage. Daraufhin erhob ich den Finger und<br />
zeigte ihm meinen Ausmusterungsschein und<br />
Rentenbescheid. Der Unteroffizier war erstaunt,<br />
dass ich als Unberufener dazwischen saß und<br />
gab mir zu verstehen, dass ich wohl in Zukunft<br />
für den Flakdienst nicht in Frage käme; ich solle<br />
zur Vereidigung am Sonntag aber erscheinen. –<br />
Heute war nun die feierliche Vereidigung. Mit<br />
Düsenberg besuchte ich die 7-Uhr- Messe in<br />
Höntrop, wir verweilen noch eine ½ Stunde in<br />
Konrad Westermanns Wohnung , fahren mit der<br />
Straßenbahn nach Bochum und stehen auf dem<br />
Barreplatz zur Vereidigung angetreten, ungefähr<br />
400 Flakmänner – in Zivil. Da sieht mich der<br />
Unteroffizier, öff<strong>net</strong> seine Aktenmappe, reicht<br />
mir meine Papiere und teilt mir meine sofortige<br />
Entlassung mit. Damit war mein Soldatentraum<br />
ausgeträumt! Was hätte ich noch alles werden<br />
können?! – Nun scheint mir aber meine Tätigkeit<br />
im Luftschutz auch ehrenvoll zu sein.<br />
15.12.1942 Wir bekamen heute zwei erfreuliche<br />
Mitteilungen. Die eine Nachricht kam<br />
<strong>von</strong> der Feststellungsbehörde und teilte uns die<br />
Höhe der Entschädigungssumme mit, die wir<br />
gewünscht hatten. <strong>Das</strong> andere Schreiben kam<br />
vom Finanzamt und benachrichtigte, dass der<br />
Abgeltungsbetrag für die Hauszinssteuer 700<br />
RM betrage (50% Ermäßigung). Die Entschädigungssumme<br />
würde aber erst später ausgezahlt.<br />
17.12.1942 Doris wird auf dem Arbeitsamt<br />
vorstellig und erkundigt sich nach Ableistung<br />
des Pflichtjahres und des Arbeitsdienstes ab Ostern<br />
1943.<br />
18.12.1942 Beginn der Weihnachtsferien.<br />
Sie sind wegen Kohlenersparnis bis zum 22. Januar<br />
verlängert worden. Vom 3. Januar ab müssen<br />
sich die Lehrpersonen der Stadtverwaltung<br />
zur Verfügung stellen. Ich habe bereits den Auftrag,<br />
am 4., 5. und 6. Januar in der Kartenausgabe<br />
zu helfen. – Der Feststellungsbehörde habe<br />
ich ein Gesuch Opas eingereicht, schon jetzt<br />
3000,- RM auszuzahlen.<br />
20.12.1942 Tagsüber 2-mal Alarm Schon am<br />
Nachmittag drückte ich die Befürchtung eines<br />
Luftangriffs aus. Die Nacht war mondhell. Gegen<br />
19:45 Uhr ertönte die Sirene. Ich eile nach<br />
draußen und sehe über Essen wohl 100 Leuchtkugeln<br />
stehen. Es scheint ein Großangriff bevorzustehen<br />
und nach langer Zeit müssen wir mal<br />
wieder den Keller aufsuchen. Der Angriff bleibt<br />
auf Essen beschränkt, nur ein Flugzeug überfliegt<br />
in großer Höhe unser Gebiet, kräftig beschossen.<br />
Über Kray wird ein Brite getroffen und zerbirst<br />
mit gewaltigem rotem Schein. Etwas neues stel-<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
93<br />
le ich fest. Wir scheinen neue Flakgranaten zu<br />
benutzen. Die Streuwirkung schein gefährlicher<br />
geworden zu sein. Die Sprengstücke fliegen bei<br />
der Explosion leuchtend auseinander wie die<br />
Teile eines explodierenden Feuerwerkskörpers.<br />
Schon nach kurzer Zeit verschwinden die Flugzeuge<br />
wieder. – Nach dem Heeresbericht am folgenden<br />
Tage wurde besonders wieder Duisburg<br />
stark bombardiert.<br />
21.12.1942 Vier Tage vor Weihnachten. Der<br />
Krieg hat allem seinen Stempel aufgedrückt.<br />
Wo sind die herrlichen Weihnachtsauslagen?<br />
Was soll man schenken? Es ist aber auch nichts<br />
vorhanden an Geschenkartikeln. Durch Anzeigen<br />
in den Zeitungen versuchen einige durch<br />
Tausch in den Besitz <strong>von</strong> Geschenkartikeln,<br />
wenn auch gebraucht, zu kommen. Besonders<br />
begehrt werden Puppen und Puppenwagen.<br />
Manche wünschen gegen Tausch ein schlachtreifes<br />
Kaninchen. Diese denken vor allem an<br />
ihren Magen und wünschen diesem eine besondere<br />
Festesfreude. – Es mag möglich sein,<br />
dass durch die zeitbedingte Einschränkung des<br />
äußeren Weihnachtsglanzes bei manchen eine<br />
innere Feier stattfindet und manchem der tiefere<br />
Sinn des Weihnachtsfestes aufgeht. – Man<br />
kommt doch jetzt öfter als früher in melancholische<br />
Stimmungen. Inmitten des Sterbens jüngerer<br />
Bekannter, in täglicher Not und Sorge, vor<br />
sich eine ungewisse Zukunft, fragt man mehr<br />
als sonst nach dem Sinn des Lebens. Warum<br />
und Wofür? – Wie ist das möglich? –<br />
Es hat sogar Schnaps gegeben, 0,7 l pro Person.<br />
Und weil Schnaps ausgegeben wurde, sah man
nach langer Zeit auch mal wieder torkelnde Alkoholleichen.<br />
<strong>Das</strong> brachte etwas Abwechslung.<br />
22.12.1942 W. Düsenberg, J. Betken und<br />
ich waren heute in Köln. Zweck unserer Reise<br />
war die Besichtigung der Fliegerschäden. Mit einem<br />
schlechten Gewissen begannen wir unsere<br />
Fahrt. Zu durchgehenden Zügen war eine Zulassungskarte<br />
erforderlich und im übrigen sollte<br />
auch jedes Reisen unterlassen werden nach dem<br />
Grundsatze: „Erst siegen – dann reisen“. An jeder<br />
Lokomotive war dieser Satz zu lesen. Zu unserer<br />
Entschuldigung konnten wir aber angeben, dass<br />
wir im Interesse des Luftschutzes Erfahrungen<br />
sammeln wollten. In Etappen gelangten wir in<br />
Personenzügen zum Ziel, in übervollen Abteilen.<br />
Köln bot ein Bild der Verwüstung und Zerstörung,<br />
besonders in der Gegend des Neumarktes<br />
und der St. Gereonskirche. Unversehrt zwischen<br />
Häuserruinen blieben das Rathaus und auch<br />
der Hauptbahnhof und der Dom. Schon gegen<br />
17 Uhr traten wir die Rückfahrt an mit der Befürchtung,<br />
abends nicht wieder zurückzukommen<br />
oder <strong>von</strong> einem Fliegerangriff überrascht<br />
zu werden. Wir kamen aber leidlich gut wieder<br />
in der Heimat an. Ich hatte eben das Haus betreten,<br />
als die Sirene ertönte. Große Befriedigung<br />
meinerseits, ein Flugzeug überflog unser Gebiet<br />
und wurde heftig beschossen.<br />
23.12.1942 Nachmittags auf dem Wirtschaftsamt<br />
– Kleiderkarten geschrieben!<br />
24.12.1942 Heiliger Abend! – Der Christbaum<br />
ist geschmückt, die Krippe ist aufgebaut<br />
– meine Zeilen werden begleitet <strong>von</strong> den ewigen<br />
schönen Melodien des „Stille Nacht, heilige<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
94<br />
Nacht“, die aus dem Radio ertönen. Unfassbar<br />
erscheint es mir, dass es das vierte Kriegsweihnachtsfest<br />
ist. Es ist das zweite Weihnachtsfest,<br />
das wir ohne unseren Josef feiern müssen. Heute<br />
morgen kamen seine Weihnachtsgrüße <strong>von</strong> der<br />
Ostfront ins Haus. Wie gerne möchte er wieder<br />
den Heiligen Abend zu Hause zubringen und<br />
den Klängen der Kölner Domorgel lauschen, gespielt<br />
vom Domorganisten Hans Bachem! <strong>Das</strong><br />
Haus auf dem Spitzberg wird eine stille Weihnacht<br />
feiern. – Abends ist Bescherung bei Onkel<br />
Tom. Für jeden war etwa da. Dem Christkindchen<br />
war es gewiss schwer gefallen, in dieser armen<br />
Zeit alle diese jetzt raren Artikel, wie Kämme,<br />
Nadeln, Briefpapier usw. zu ergattern. Für<br />
einen kleinen Kamm musste man stundenlang<br />
vor dem Kauf „Reihe stehen“. – Der Feind und<br />
der Krieg stören sich nicht an einem „Heiligen<br />
Abend“. Während wir in unserer Häuslichkeit<br />
an das Wort „Friede den Menschen auf Erden...“<br />
– erinnert werden, ertönt nun draußen<br />
die Alarmsirene wie zum Hohn und ruft uns<br />
die raue Wirklichkeit zurück. An diesem Abend<br />
wurden einige Bomben in Westdeutschland abgeworfen.<br />
Von Christi und der Engel Mahnruf<br />
ist die Welt meilenweit entfernt - trotz Kultur<br />
und Fortschritt des Geistes und Wissens.<br />
25.12.1942 Wir besuchen die Uchte um<br />
6:00 Uhr in Sevinghausen, - danach ist kleine<br />
Bescherung. Auch für uns hatte das Christkind<br />
noch einige kleine Gaben. Herbert erhielt<br />
ein Domino-Spiel, zwei Oberhemden, ein Paar<br />
Handschuhe und eine Skimütze – Doris ein Paar<br />
Handschuhe, eine Halskette. Vater erhielt wie<br />
immer Rauchmaterial, ein Paar Pantoffeln, <strong>von</strong><br />
Herbert ein Feuerzeug, Hosenspanner, einen<br />
Kamm, und <strong>von</strong> Doris einen Taschenkalender<br />
- Mutter erhielt ein Paar Handschuhe, <strong>von</strong> Herbert<br />
einen Holzrührer, einen Fingerhut, Knöpfe<br />
und drei kleine Kakteen (Übrigens hatte das<br />
Christkindchen diese Sachen schon einige Tage<br />
vorher der Mutter übergeben aus lauter Zorn<br />
über eine Bestrafung mit dem Besenstiel). – <strong>Das</strong><br />
Wetter am Weihnachtstage war milde und sonnig.<br />
– Am 2. Weihnachtstage machten wir unseren<br />
Besuch bei der Oma. Am folgenden Morgen<br />
fuhr Doris nach Drohne, wo sie in den Sommerferien<br />
ihren Ernteeinsatz leistete.<br />
27.12.1942 Für Opa zahlte ich den Abgeltungsbetrag<br />
für die Hauszinssteuer ein.<br />
28.12.1942 Dem Herrn Zumbro vom Wirtschaftsamt<br />
übergab ich meinen Antrag auf Ausstellung<br />
eines Bezugscheines für ein Radiogerät.<br />
29.12.1942 Morgens nahm ich mit Herbert<br />
an der Beerdigung <strong>von</strong> Studienrat Schauerte<br />
teil. Der Winter hat sich über Nacht eingestellt<br />
mit Frost und Schneetreiben. Auf dem Friedhof<br />
war es in der Kälte sehr ungemütlich. – Eine<br />
neue Gefahr hat sich für mich aufgetan, nämlich<br />
die Versetzung nach dem Osten. Ich stehe<br />
auf der Ostliste an 16. Stelle. Heute musste ich<br />
eine Erklärung unterschreiben, dass ich mit keinem<br />
Bewohner der unter deutschem Schutz stehenden<br />
Ostgebiete versippt bin. Was wird nun<br />
daraus werden?<br />
31.12.1942 Silvesterabend! – Zum guten<br />
Schluss kommt noch mal der Tommy und treibt<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
95<br />
uns für eine kurze Zeit noch in den Keller. Dann<br />
geht ein schweres Jahr für uns zu Ende. Unsere<br />
Gedanken gehen noch einmal zurück zum 9.<br />
März, wir erinnern uns dieser Schreckenstage,<br />
die uns unvergesslich bleiben werden. Noch immer<br />
zeigt das Haus die Spuren der Heimsuchung,<br />
aber es steht immer noch fest und aufrecht,<br />
gibt uns eine Heimstatt und ist bereit, weiteren<br />
Stürmen zu trotzen. Wir bleiben auf bis nach<br />
Mitternacht und beim Beginn des neuen Jahres<br />
erklingt wieder vertrauensvoll das Loblied „Großer<br />
Gott wir loben Dich“.<br />
1.1.1943 So beginnen wir 1943 mit der großen<br />
Hoffnung im Herzen, dass uns das neue<br />
Jahr den heißersehnten Frieden und den Sieg<br />
bringen möge. Draußen an der Ostfront steht<br />
unser Heer in harten Abwehrkämpfen, ebenso<br />
in Nordafrika.<br />
4.1.1943 Gestern Abend <strong>von</strong> 19:45 – 20:15<br />
Uhr Fliegerangriff. Wir hören Bomben in Freisenbruch,<br />
Kray einschlagen . Althoff in Essen<br />
ausgebrannt. Eine mächtige Rauchwolke zieht<br />
über uns nach Osten.<br />
5.1.1943 Gestern Abend wie am Vortag Fliegerbesuch,<br />
schätzungsweise sechs Flugzeuge<br />
über uns. Mittelpunkt des Hauptangriffs weiter<br />
im Westen. Die angerichteten Schäden wird<br />
man erst später gewahr. Mutter und Doris besuchen<br />
Maria Hagedorn in Werden. Sie wollen<br />
wieder früh zu Hause sein. Meine Ferienzeit benutze<br />
ich zum Schreiben <strong>von</strong> Karteikarten für<br />
den Luftschutz.<br />
Auch ein Zeichen der Zeit: Man machte früher<br />
gelegentlich die witzige und als übertrieben an-
gesehene Bemerkung, das Kind kenne seinen<br />
Vater nicht mehr. Jetzt ist diese Möglichkeit<br />
nach dreijähriger Kriegsdauer wohl gegeben.<br />
Die drei- und vierjährigen Kinder haben ein ungenaues<br />
Bild ihres Soldatenvaters. Sie kennen<br />
ihn nur <strong>von</strong> Bildern oder haben ihn in seinem<br />
kurzen Urlaub gesehen. Dr. Martin soll in Urlaub<br />
kommen. Man spricht in der Familie <strong>von</strong><br />
seinem Kommen. An der Wand des Wohnzimmers<br />
hängen zwei Bilder <strong>von</strong> ihm, eines aus<br />
seiner Jugendzeit, ein anderes aus den letzten<br />
Jahren vor dem Krieg. <strong>Das</strong> vierjährige Söhnchen<br />
zeigt auf diese Bilder und fragt die Mutter:<br />
„Welcher Vater kommt denn in Urlaub, dieser<br />
da oder der andere mit der Glatze?“ Als der Vater<br />
nun in Uniform ankommt, begrüßt ihn der<br />
Sohn befremdend mit: „Tag, Onkel Soldat!“ Erst<br />
in Zivil erkennt er allmählich seinen Vater wieder.<br />
So oder ähnlich geht es auch in anderen<br />
Familien zu.<br />
6.1.1943 Der Dreikönigstag ist kein Feiertag<br />
mehr. Überall wird gearbeitet und geschafft.<br />
8.1.1943 Morgens 5 ½ Uhr werden wir schon<br />
munter gemacht und müssen in den Keller. In<br />
Essen waren Häuserschäden und Tote. Abends<br />
bereits um 19 Uhr wieder Alarm und Fliegerbesuch.<br />
9.1.1943 Gegen 12 Uhr Voralarm.<br />
14.1.1943 Jeden Tag hatten wie Fliegerbesuch.<br />
Pünktlich gegen 19 Uhr stellen sie sich<br />
ein und verschwinden wieder nach einer halbstündigen<br />
Bombardierung. Gestern hatten wir<br />
wieder einen schlimmen Tag. Schon morgens<br />
um 6 Uhr mussten wir in den Keller. Bochum<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
96<br />
bekam Brandbomben. Auch die Klassenlehrerin<br />
<strong>von</strong> Doris bekam den Brand in die Wohnung.<br />
Die Schülerinnen leisteten ihr Hilfe. Die meisten<br />
Angriffe richten sich gegen Essen, Borbeck...<br />
Gestern Abend erschienen zahlreiche Flieger<br />
gegen 19 Uhr (noch etwas früher). Wir saßen<br />
ängstlich im Keller und hörten andauernd das<br />
Motorengebrumm der feindlichen Flieger über<br />
uns. Auf der Verbandsstraße funkte mit lautem<br />
Geknall die fahrbare Flak. Die Erde zittert<br />
vom Einschlag schwerer Fliegerbomben und<br />
lässt uns niederducken. Die Einschläge können<br />
nicht weit liegen. Durchs Kellerfenster bemerke<br />
ich das weiße Aufleuchten explodierender<br />
Brandbomben. Ich werfe hin und wieder einen<br />
Blick den Flurraum hinauf und achte auf<br />
Lichtschein. Nach einer halben Stunde verebbt<br />
das Flakfeuer. Die Flieger sind verschwunden.<br />
In Richtung Gelsenkirchen – Essen erkennen<br />
wir zahlreiche Brände, besonders in Gelsenkirchen<br />
ist ein Großbrand ausgebrochen, der am<br />
heutigen Morgen noch nicht gelöscht ist. Auf<br />
Wattenscheider Gebiet sind allein 17 Bomben<br />
geworfen worden, da<strong>von</strong> allein drei Luftminen.<br />
Zwei da<strong>von</strong> fielen in der Nähe <strong>von</strong> Kolleppel,<br />
größeren Schaden haben sie nicht angerichtet,<br />
weil sie zumeist aufs freie Feld fielen. – Ich höre<br />
nachträglich, dass auf Wattenscheider Gebiet<br />
nur eine Bombe fiel, alle anderen jenseits der<br />
Stadtgrenze. Beschädigt wurde das Umformergebäude<br />
in Leithe. Tragisch war das Schicksal<br />
einer Familie in Eiberg. Der Vater ist an der Ostfront,<br />
die Frau mit ihrer Tante und fünf Kindern<br />
im Luftschutzkeller. Beide Frauen wollten aus<br />
der Wohnung noch etwas holen und wurden<br />
dabei durch eine einschlagende Bombe getötet.<br />
Die fünf Kinder mussten dem Waisenhaus zugeführt<br />
werden. Der Krieg schlägt täglich hart zu.<br />
15.1.1943 Herr Horstmann vom Bauamt<br />
und ein Vertreter der Feuerversicherung sind<br />
erschienen und regeln den Brandschaden. Herr<br />
Horstmann sieht zu, dass die Stadt nicht zu kurz<br />
kommt. Hinterher trinken wir einige Schnäpse,<br />
die mir wegen allzu guter Qualität nicht besonders<br />
gut bekommen. – Zum Schluss zeige ich<br />
Herrn Horstmann die neu entstandenen Risse<br />
im Hause. – Nachmittags nahm ich an einem<br />
Appell des RLB. Teil und bekomme die Aufgabe,<br />
die stattfindenden Ausbildungskurse <strong>von</strong> der U.<br />
Gruppe zu beschicken. Nachts zu ungewohnter<br />
Zeit um 23:30 Uhr Luftalarm ohne Flieger.<br />
16.1.1943 Wieder fährt ein Zug mit Obdachlosen<br />
aus dem Westen in östlicher Richtung in<br />
ungefährdete Gebiete. Es ist möglich, dass bei<br />
verstärkter Fortführung der Luftangriffe eine<br />
allgemeine Evakuierung erfolgen wird, wenigstens<br />
der Frauen und Kinder.<br />
19.1.1943 In der Nacht <strong>von</strong> Samstag auf<br />
Sonntag, ebenso <strong>von</strong> Sonntag auf Montag griff<br />
der Engländer nach langer Zeit mal wieder Berlin<br />
an. Es wurden Spreng- und Brandbomben<br />
geworfen. 26 Bomber wurden abgeschossen,<br />
zumeist viermotorige. – Mit Opa war ich heute<br />
auf dem Feststellungsbüro beim Herrn Schmidt;<br />
wir regelten die Anzahlung der beantragten Entschädigungsteilsumme<br />
und erörterten auch die<br />
Lieferung meines Radiogerätes. In dieser Sache<br />
haben wir ausgesprochenes Pech. Vom Wirt-<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
97<br />
schaftsamt kann mir ein Bezugsschein für einen<br />
Kleinempfänger ausgehändigt werden. Andere<br />
Geräte stehen nicht mehr zur Verfügung. Lehnte<br />
ich dieses Gerät ab, war ich für die Dauer<br />
des Krieges ohne Radio. Wohl oder übel muss<br />
ich mich für die Annahme dieses Kleingerätes<br />
entschließen. Wir machen einen schlechten<br />
Tausch.<br />
20.1.1943 Von unserer Feuerversicherung erhält<br />
die Stadt für den Brandschaden in unserem<br />
Hause 360,- RM, in Treschens Haus 315,- RM.<br />
22.1.1943 Gestern waren Höttes zu Besuch<br />
bei uns. Schon frühzeitig machten sie sich auf<br />
den Heimweg. Franz Hötte teilte mir mit, dass an<br />
der diesjährigen KLV.- Aktion 45 Lehrkräfte unseres<br />
Stadtbezirkes beteiligt werden sollen. Also<br />
werde auch ich wieder für ein halbes Jahr mein<br />
Bündel schnüren müssen. Es ist mir auch klar,<br />
dass bei diesen fortwährenden Luftangriffen<br />
eine starke Evakuierung unserer Kinder erfolgen<br />
wird. Die NSV verschickt vor allem Kriegerfrauen<br />
mit Kindern nach Niederschlesien. – Hötte<br />
musste wohl eben im Hause sein, als auch<br />
schon gegen 19 Uhr die Sirene heulte. Von Norden<br />
her kamen schwere Bomber, einer kreuzte<br />
andauernd über unserem Hause. Brandschäden<br />
entstanden besonders an der Mathildenstraße<br />
in Gelsenkirchen, auch das Werk Munscheid<br />
wurde getroffen. – Heute Abend wieder um 19<br />
Uhr Alarm, es erscheinen aber keine Flieger.<br />
23.1.1943 Mutter fährt nach Nordwalde,<br />
um etwas zu hamstern. – Abends gegen 19 Uhr<br />
wieder Alarm. Zwei Flugzeuge machen die Gegend<br />
unsicher und werfen Brandbomben in
Gelsenkirchen und Horst/Ruhr. In Gelsenkirchen<br />
beobachte ich einen Brand, der aber bald<br />
verlöscht.<br />
31.1.1943 Kleine Ursache große Wirkung.<br />
Die kleine Ursache ist nur ein Flugzeug. Und<br />
wenn dieses Flugzeug wie in der vergangenen<br />
Nacht 3-mal Westdeutschland kreuz und quer<br />
überfliegt, dann ist die Wirkung die, dass Millionen<br />
<strong>von</strong> Menschen 3-mal in der Nacht sich<br />
aus- und anziehen und schimpfend und verängstigt<br />
den Luftschutzkeller aufsuchen. <strong>Das</strong> ist<br />
Zermürbungspolitik des Feindes gegenüber der<br />
Zivilbevölkerung. Übrigens ging das Gerücht,<br />
der Feind hätte in der vergangenen Nacht etwas<br />
besonderes vorgehabt. Deutschland feierte<br />
nämlich die 10-jährige Wiederkehr des Tages der<br />
Machtübernahme durch den Führer. <strong>Das</strong> Volk<br />
wurde an diesem Tage aufgerufen zur totalen<br />
Kriegsteilnahme, besonders die Frauen. Auch<br />
wir könnten da<strong>von</strong> betroffen werden. Wir rechnen<br />
damit, dass Änne für einen Kriegseinsatz<br />
in Frage kommt. Was dann? – Grund zu diesem<br />
Aufruf ist die ernste Lage an der Ostfront. Die<br />
6. Armee ist in Stalingrad eingeschlossen und<br />
kämpft dort verzweifelt und tapfer gegen eine<br />
gewaltige Übermacht. Die Stimmung in der Bevölkerung<br />
ist niedergeschlagen, alles wartet mit<br />
Spannung auf die weitere Entwicklung der militärischen<br />
Lage. Werden wir es schaffen? – Es ist<br />
ein Kampf um Sein oder Nichtsein. - Am 29. 1.<br />
kam Mutter <strong>von</strong> Nordwalde zurück. Was sie an<br />
Essbarem mitbrachte, war nicht viel, aber auch<br />
das Wenige wurde mit Freude entgegengenommen.<br />
Am 22.1. holten wir den Kleinempfänger<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
98<br />
ab. Nach anfänglichen Schwierigkeiten tat er<br />
uns auch den Gefallen, zu arbeiten.<br />
3.2.1943 Montag war der Pantoffelmacher<br />
aus Hannover da und kaufte Opas Kostüme für<br />
3000 RM. Damit hat Opas Theaterkostümverleihgeschäft<br />
sein Ende gefunden. Wir sind froh,<br />
dass wir die alten und verdreckten Sachen quitt<br />
sind. – Gestern Abend, 20:00 Uhr, Alarm und<br />
schwerer Luftangriff auf Wuppertal und Duisburg.<br />
Über unser Gebiet kam nur ein Flugzeug.<br />
Neu war bei diesem Angriff der Gebrauch blutroter<br />
Leuchtbomben. Auch die weißen Leuchtbomben<br />
sind <strong>von</strong> anderer Art. Sie verbreiten ein<br />
taghelles Licht. – Heute ist August Dreyer aus<br />
dem Lazarett nach Hause gekommen und verbringt<br />
hier seinen Genesungsurlaub.- Mir geht<br />
es augenblicklich wieder sehr schlecht, fehlt mir<br />
doch der Rauchtabak bereits seit Samstag.<br />
13.2.1943 Auch an den vergangenen Tagen<br />
war an jedem Tage mittags und abends Alarm<br />
ohne Bedeutung. Vorgestern bekam die Zeche<br />
Präsident in Bochum Treffer in die Waschkaue,<br />
es gab Tote und Verletzte. – Am 11.2. musste<br />
ich zu einer Besprechung zwecks Teilnahme<br />
an der diesjährigen KLV.-Aktion. Wegen unseres<br />
Bombenschadens habe ich aber Freistellung<br />
beantragt. – Die Vernichtung unserer 6. Armee<br />
in Stalingrad hat in der gesamten Bevölkerung<br />
große Niedergeschlagenheit hervorgerufen.<br />
Dieses Ereignis und die andauernden harten<br />
Kämpfe an der Abwehrfront im Osten haben<br />
uns die Augen auf die Gefahr des Bolschewismus<br />
gelenkt. Es erfolgte der Aufruf zur totalen<br />
Kriegsführung. In den nächsten Tagen folgen<br />
die Erlasse zum verstärkten Einsatz der Frauen<br />
usw. Wir haben die Befürchtung, dass wir unsere<br />
Änne verlieren werden. – Von Hetti Hötte<br />
wird uns mitgeteilt, dass auch Herr Borgolte bei<br />
den Stalingradkämpfern gewesen sei.<br />
22.2.1943 Immer noch versucht der Brite<br />
durch tägliche Störflüge besonders in den<br />
Abendstunden die Bevölkerung in Unruhe zu<br />
versetzen. In Unruhe gerieten wir vor einigen<br />
Tagen durch einen Brief Josefs. Darin teilte er<br />
uns mit, dass es ihm augenblicklich nicht gut<br />
gehe; er habe Verletzungen an der Hand, schon<br />
seit 3 – 4 Wochen. <strong>Das</strong> Ist alles, was er uns mitteilt<br />
und überlässt es nun uns, zu raten, was es<br />
mit diesen Verletzungen auf sich hat. Er lässt<br />
uns in seinen Briefen vollständig im Unklaren<br />
über seine persönlichen Verhältnisse. Wir wissen<br />
auch nicht, an welcher Stelle der Ostfront er<br />
sich aufhält. Seine Zurückhaltung im Mitteilen<br />
in allen Ehren, etwas mitteilsamer könnte unser<br />
Soldat doch sein. – Doris bekam eine Mitteilung<br />
der BdM Bannführung, dass sie für einen Einsatz<br />
im Osten vorgesehen sei. Daraufhin fuhren<br />
gestern Mutter und Doris nach Nordwalde, um<br />
bei einem dortigen Bauern als Landjahrmädel<br />
bis zum 1. Oktober untergebracht zu werden.<br />
Sie sind aber erfolglos heimgekommen; eine<br />
Unterbringung für nur ½ Jahr stößt überall auf<br />
Ablehnung. – Opas Kostüme sind vor acht Tagen<br />
nach Hannover verladen worden. – Endlich<br />
sind wir auch in den Besitz <strong>von</strong> Glasscheiben<br />
gekommen und haben sie gleich am Bücherschrank,<br />
Wäscheschrank, an der Vitrine und der<br />
Wanduhr eingesetzt. Die erste Glasscheibe der<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
99<br />
Mitteltür des Bücherschrankes war falsch zugeschnitten,<br />
die zweite zersprang mir beim Einsetzen,<br />
nun wird die dritte geliefert.<br />
6.3.1943 Tag für Tag erscheinen immer noch<br />
abends feindliche Flieger, meist in geringerer<br />
Zahl, werfen hier und da einige Bomben und<br />
verschwinden dann wieder. Sind diese täglichen<br />
Störangriffe als Vorbereitungsarbeit für<br />
die kommende Offensive der Feindmächte zu<br />
bewerten? – Am 26.2. erlebte Köln wieder einen<br />
schweren Bombenangriff. – Gestern Abend<br />
erlebten wir wieder einen schweren Bombenangriff.<br />
Ziel des Angriffs war Essen <strong>von</strong> 19:30 –<br />
01:30 Uhr nachts. Es entstanden umfangreiche<br />
Zerstörungen. 15 feindliche Bomber wurden abgeschossen.<br />
Auch die Bahnanlagen müssen getroffen<br />
worden sein. Alle Personenzüge, die <strong>von</strong><br />
Osten kommen, haben hier heute Nachmittag<br />
stundenlange Aufenthalte. <strong>Das</strong> Reisen ist in der<br />
Jetztzeit eine unangenehme Sache. Am wohlsten<br />
fühlt man sich zu Hause. Am 2.2. erlebten<br />
wir den ersten größeren Tagesangriff. Amerikanische<br />
Bomber griffen kurz vor Mittag die Bahnhofsanlagen<br />
<strong>von</strong> Hamm an, zerstörten sie und<br />
flogen in südlicher Richtung weiter. Es werden<br />
80 Tote gemeldet. – Heute Nachmittag habe ich<br />
wieder eine neue Dachpfanne einsetzen müssen.<br />
Die Sprengstücke der Flakgranaten zerschlagen<br />
manche Dachpfannen. – Opa sollte auch eine<br />
neue Nähmaschine geliefert bekommen. Wir<br />
erhalten aber <strong>von</strong> Schlenkhoff heute die Nachricht,<br />
dass nur diejenigen Bombengeschädigten<br />
eine Nähmaschine erhalten, welche mindesten<br />
zwei minderjährige Kinder im Haushalt haben.
<strong>Das</strong> trifft bei uns nicht zu. Also legen wir auch<br />
diesen Schein zu den anderen und warten auf<br />
eine Belieferung nach dem Kriege!? -<br />
9.3.1943 Gestern nahm ich wieder an einem<br />
LS-Lehrgang teil. In nächster Zeit sollen Hausunterweisungen<br />
erfolgen. – Mit der Morgenpost<br />
erhielten wir <strong>von</strong> der Familie Henrich in Eiserfeld<br />
die Mitteteilung, dass ihr Sohn Alfred als<br />
Oberleutnant an der Ostfront gefallen sei. Alfred<br />
Henrich war mir in früheren Jahren, als ich<br />
noch an der Hellweg-Schule in Sevinghausen<br />
beschäftigt war, ein guter Freund. Nach längerem<br />
Studium erhielt er vor kurzem eine Stelle als<br />
Pastor in Herten. – Über den Luftangriff auf Essen<br />
hörte man in diesen Tagen allerhand Nachrichten.<br />
Die Glaubwürdigkeit lässt sich nicht<br />
feststellen. Auf jeden Fall sind aber die Schäden<br />
größer, als man allgemein angenommen hatte.<br />
<strong>Das</strong> ganze Stadtgebiet ist abgesperrt. Allein 150<br />
Luftminen sind auf die Stadtviertel abgeworfen<br />
worden. Ganze Stadtviertel liegen in Schutt<br />
und Asche. Die Kreuzkirche ist vernichtet, ebenso<br />
das Rathaus, das Haus der Technik. Ich höre<br />
heute, es wären 270 000 Einwohner obdachlos<br />
geworden. Die Stadt wäre zu ¾ zerstört. Man<br />
kann das Ungeheuerliche noch nicht verstehen,<br />
auch nicht das Sinnlose dieser Zerstörungen<br />
und sieht schwarz in die Zukunft. Soll doch<br />
die Drohung der Engländer wahr werden, dass<br />
im Industriebezirk kein Stein auf dem anderen<br />
bleiben werde? – Auch ein Urlauberzug wurde<br />
getroffen und bis auf zwei Wagen vollständig<br />
vernichtet. Zur Anwendung kamen bei diesem<br />
Angriff in größerem Maße auch Bomben mit<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
100<br />
Zeitzünder, wodurch die Aufräumungsarbeiten<br />
sehr erschwert wurden. Ein Wehrmachtsauto<br />
ging in die Luft, nachdem das Wattenscheider<br />
Feuerwehrauto eben die Stelle überfahren hatte.<br />
10.3.1943 Wir bekommen nach und nach<br />
durch Augenzeugen ein klares Bild <strong>von</strong> den<br />
Zerstörungen, die in Essen angerichtet worden<br />
sind. Essen erlebte bis jetzt wohl <strong>von</strong> allen Städten<br />
den schwersten Luftangriff. Der größte Teil<br />
der Stadt liegt in Trümmern. Am folgenschwersten<br />
wirkte der Brand, der sich infolge des Windes<br />
schnell ausbreiten konnte. Die Bekämpfung<br />
wurde erschwert durch das Fehlen des Wassers.<br />
<strong>Das</strong> Hauptleitungsrohr war aufgerissen worden,<br />
der Leitungsplan der Stadt lag im zerstörten Rathaus.<br />
An den <strong>von</strong> Bomben getroffenen Häusern<br />
haben die Bewohner Tafeln zurückgelassen mit<br />
den Angaben, wo sie sich befinden, hier und<br />
da auch der Zusatz: Wir leben! – Die Kruppsche<br />
Fabrik soll zu einem Drittel zerstört sein.<br />
Gestern und heute fuhren Eisenbahnzüge mit<br />
Obdachlosen in östliche Richtung. Lastwagen<br />
mit Lebensmitteln und Brot fahren auf der Verbandsstraße<br />
nach Essen. – Die Bevölkerung ist<br />
sehr unruhig. Alle Ereignisse werden aufgeregt<br />
besprochen und Mutmaßungen angestellt.<br />
13.3.1943 Fast in jeder Nacht erfolgt ein<br />
englischer Großangriff auf unsere Städte. Unersetzliche<br />
Werte frisst der Moloch Krieg.<br />
Wertvolle Kunstdenkmäler werden vernichtet.<br />
Kulturvölker zerstören ihre Kultur. Ist das der<br />
Beginn der Zerstörung des Abendlandes? – In<br />
den vorigen Nächten wurden Nürnberg, Mün-<br />
chen und Stuttgart schwer angegriffen. Heute<br />
Nacht war der zweite Großangriff auf die Städte<br />
Essen, Bottrop und Duisburg. Über uns kreisten<br />
andauernd ungefähr sechs Flugzeuge. Man sah<br />
deutlich das Herunterregnen brennenden Phosphors.<br />
Fast eine Stunde war über uns die Hölle<br />
los. Aufmerksam beobachte ich die Umgebung<br />
auf Brandbomben. Im Westen rötet sich wieder<br />
der Himmel. Essen brennt. <strong>Das</strong> Flakfeuer lässt<br />
nach, die Kellerinsassen atmen befreit auf. Da<br />
bemerke ich in Richtung Sevinghausen einen<br />
Feuerschein. Es ist kein brennendes Haus, sondern<br />
ein abgestürztes Flugzeug. Unsere Mädchen<br />
wollen sich das Flugzeug ansehen; die Stelle<br />
ist aber schon abgesperrt. Herbert ist schon<br />
in aller Frühe an der Absturzstelle gewesen. Es<br />
gelang ihm auch, bis an die Trümmer zu gelangen.<br />
Gern hätte er das Armaturenbrett gehabt,<br />
aber es saß zu fest und ließ sich nicht abmontieren.<br />
Als Siegestrophäe brachte er einige Stücke<br />
Leichtmetall mit. Im Flugzeug gewahrte er<br />
auch die Überreste eines Besatzungsmitgliedes,<br />
das Brustskelett und Teile der Eingeweide. Auf<br />
dem Felde lagen zerrissene und blutige Stiefel.<br />
Die Absturzstelle befindet sich ungefähr 150 m<br />
westlich vom Kommunalfriedhof auf Fellermanns<br />
Feld. <strong>Das</strong> Flugzeug hat sich tief in den<br />
Erdboden gewühlt, es ist ein viermotoriges.<br />
14.3.1943 Wir haben heute Nacht durchschlafen<br />
können. In der Angriffsnacht verlor der<br />
Tommy 23 Bomber, ein großer Verlust, wenn<br />
man auch an den Verlust <strong>von</strong> mindestens 150<br />
ausgebildetem Fliegerpersonal denkt. – Beim<br />
Kirchgang sehen wir, dass an der Absturzstelle<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
101<br />
eifrig geschaufelt wird. Es wird gesagt, es befänden<br />
sich noch sieben tote Engländer darin.<br />
Der Schaden in Essen soll wieder sehr groß sein.<br />
Krupp soll ganz zerstört sein; die Arbeit ist eingestellt<br />
worden. Auch sollen 8 Zechen zerstört<br />
worden sein.<br />
19.3.1943 Wir haben heute den St. Josefstag.<br />
<strong>Das</strong> Namenstagskind befindet sich aber in Russland,<br />
und zwar augenblicklich im Lazarett. Was<br />
ihm fehlt, hat Josef uns nicht mitgeteilt. – Gestern<br />
war Mutter mit Hetti Hötte in Steele, um an<br />
der Beerdigung der Schwester vom hiesigen Gesundheitsamt<br />
teilzunehmen. Sie war auch ein<br />
Opfer des letzten Angriffs auf Essen. Mit ihrer<br />
Schwester muss sie einen fürchterlichen Tod gehabt<br />
haben. Der Luftschutzkeller, worin sich die<br />
Schwerstern aufhielten, wurde verschüttet und<br />
füllte sich mit Wasser. Sie gingen einen langsamen<br />
Tode entgegen. In ihrer Verzweiflung mussten<br />
sie sich die Haare ausgerauft haben; in ihren<br />
erstarrten Händen hielten sie die Haarbüschel.<br />
Man erzählt sich unter den Leuten ähnliche<br />
erschütternde Berichte <strong>von</strong> zu Tode gekommenen<br />
Einwohnern Essens. – In den letzten Nächten<br />
hatten wir wieder einigermaßen Ruhe. Die<br />
letzten Angriffe auf Essen haben das Volk sehr<br />
beunruhigt. Man hat besonders Angst vor den<br />
2000 kg Sprengminen, die große Verheerungen<br />
anrichten.<br />
23.3.1943 RLB-Sitzung in Höntrop. An Stelle<br />
<strong>von</strong> Brockmeyer, der infolge Alters seinen Posten<br />
niederlegt, werde ich zum Untergruppenführer<br />
der U 2 ernannt. In den nächsten Tagen<br />
beginnen die Hausunterweisungen. In dieser
Sitzung gab der Geschäftsführer der Ortsgruppe<br />
Paßmann einige Einzelheiten vom Luftangriff<br />
auf Essen bekannt. Danach sind 70 000 Familien<br />
obdachlos geworden, wo<strong>von</strong> 10 000 evakuiert<br />
wurden. 82 Flugzeuge waren beteiligt und<br />
warfen 400 Sprengbomben, da<strong>von</strong> 200 Luftminen<br />
(1800 kg) und 140 000 Stabbrandbomben,<br />
außerdem eine große Menge Phosphor – Brandbomben<br />
(14 kg und 113 kg). Von den zerstörten<br />
Häusern waren 20% durch Sprengbomben und<br />
80% durch Brand vernichtet worden. Allgemein<br />
ist man der Ansicht, dass die Essener sich zu<br />
passiv verhalten hätten. Es hätte manches Haus<br />
durch aktives Eingreifen gerettet werden können.<br />
Man wusste auch aus zuverlässigen Quellen,<br />
dass die feindliche Luftwaffe die Absicht<br />
habe, auch andere Großstädte in gleicher Weise<br />
wie Essen zu zerstören. – Wir Zuhörer waren<br />
der Ansicht, dass die angegebenen Zahlen nicht<br />
den wirklichen Tatsachen entsprächen. Todesopfer<br />
in Essen angeblich 402 – in Hamm 92 (Die<br />
„Rote Erde“ gab 147 an).<br />
25.3.1943 Doris hat einen wichtigen Lebensabschnitt<br />
hinter sich. Sie beendete heute<br />
ihre Studien an der höheren Handelsschule in<br />
Bochum mit einem guten Zeugnis. Sie tritt nun<br />
aktiv ins Leben. Wohin werden ihre Wege sie<br />
führen? – <strong>Das</strong> gute Haus bangt wieder um einen<br />
Hausgenossen, der sich auch bald anschickt, das<br />
schützende Dach zu verlassen.<br />
27.3.1943 Gestern Abend stellte sich nach<br />
einigen Ruhetagen der Tommy wieder ein, aber<br />
mit schwächeren Kräften. – Doris und Herbert<br />
fuhren heute Nachmittag nach Bochum-Que-<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
102<br />
renburg. Sie suchten dort den Bauernhof auf,<br />
wo Doris ihr Pflichthalbjahr ableisten muss.<br />
Beide wurden dort freundlich empfangen. Großen<br />
Eindruck machte auf beide die großen Brotschnitten<br />
mit leckerer Butter und rarem Schinken.<br />
Herbert verzichtete nach Rückkehr auf sein<br />
Abendessen.<br />
7.4.1943 Gestern Abend wieder ein Großangriff<br />
auf Essen. Mitgenommen wurden das<br />
Kruppsche Werk, Frillendorf, Essen-West. Ein<br />
Großteil der Bomben fiel in die Häuserruinen<br />
Essens. Der Himmel ist wieder gerötet. Feuerwehrautos<br />
fahren in Richtung Essen über die<br />
Verbandsstraße. Die Flieger flogen in nicht allzu<br />
großer Höhe, alle Augenblicke sah man einige<br />
im Scheinwerferlicht.<br />
8.4.1943 Endlich werden wir etwas <strong>von</strong> Josef<br />
gewahr. Wir wissen nun aus Mitteilungen , dass<br />
er Erfrierungen 2. Grades an Händen und Füßen<br />
hat. Wir stellen Mutmaßungen an über die<br />
Schwere seiner Krankheit und wünschen mehr<br />
zu erfahren. - Gestern machte ich eine Tour<br />
durch die Burgstraße und gab Hausunterweisungen.<br />
Die Häuser wurden auf ihre Luftschutzbereitschaft<br />
geprüft und die Hausbewohner<br />
über Luftschutzmaßnahmen und Verhalten bei<br />
Fliegerangriffen aufgeklärt. Diese Hausbesuche<br />
geben mir nicht nur einen Einblick in die Luftschutzeinrichtungen<br />
der Häuser, sondern man<br />
lernt auch die Menschen kennen, wie sie sich<br />
„lieben“ und wie sie denken.<br />
9.4.1943 Mutter bringt Doris zum Bauern<br />
Wilhelm Haarmann in Bochum Querenburg,<br />
nahe Witten ins Pflichtjahr. Sie scheint dort<br />
eine gute Stelle getroffen zu haben. <strong>Das</strong> Haus<br />
wird leer. <strong>Das</strong> gute Dach hat wieder einen Hausbewohner<br />
in die Welt geschickt. - Eine Nacht<br />
mit Stunden des Schreckens ist wieder vorüber.<br />
Der Tod mit Brand und Vernichtung schritt<br />
sichtbar nahe am Hause vorbei. Ich denke an<br />
die apokalyptischen Reiter und bekannte Gemälde.<br />
Sie bewegen sich heute durch die Lüfte<br />
mit unheimlichem Brausen. Sie säen den Tod<br />
über Städte und Dörfer. Ihrer Rosse Hufe hinterlassen<br />
Brände und Ruinen, dazwischen Menschenkörper,<br />
verbrannt und zerfetzt. - Gegen<br />
23 Uhr melden die Sirenen das Herannahen<br />
der Mordbrenner. Eine geschlossene Wolkendecke<br />
hängt tief, es reg<strong>net</strong> leicht. <strong>Das</strong> Flakfeuer<br />
kommt näher; über den Wolken hört man das<br />
Explodieren der Flakgranaten. Die Scheinwerfer<br />
arbeiten nicht. Ich stehe auf meinem Beobachtungsposten<br />
im Schoppen; im Hause ist alles<br />
luftschutzbereit. Es sind genügend Sandtüten<br />
bereitgestellt, und hinter der Haustür stehen<br />
gefüllte Wassereimer. Da nähert sich <strong>von</strong> Gelsenkirchen<br />
ein schwerer Bomber, ich höre deutlich<br />
sein Motorengebrumm. Da erschüttert die<br />
Luft ein scharfer Knall. <strong>Das</strong> Lagergebäude bebt<br />
in allen Fugen, es knistert <strong>von</strong> herabfallendem<br />
Mörtel. Ich denke an die geplagte Lagerruine,<br />
der man noch keine Ruhe gönnt. Neue Wunden<br />
werden aufgerissen. Der Knall hat mich auf die<br />
Knie gebracht. Da höre ich gleichzeitig ein Zischen<br />
und Fauchen. Diesen Ton kenne ich, das<br />
sind Brandbomben in unmittelbarer Nähe. Alles<br />
ist taghell erleuchtet. Da sehe ich auch schon<br />
die sprühenden Stabbrandbomben neben dem<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
103<br />
Kohlenwagen auf dem Bahnkörper, gleich hinter<br />
dem Zaun. Ich kann sie nicht zählen. Auch<br />
in der Nähe der Häuser an der Burgstraße leuchtet<br />
es hell auf. Hinter der Schutthalde <strong>von</strong> Holland<br />
entwickelt sich ein Großbrand. – Hat unser<br />
Haus Brandbomben bekommen? – Ich eile ins<br />
Haus, sehe auch auf dem gegenüberliegenden<br />
Felde Feuer, kontrolliere alle Zimmer, auch den<br />
Dachboden. Es hat gut gegangen. Dann lösche<br />
ich die nächsten Brandbomben am Bahndamm.<br />
– Da schlagen Flammen aus einem Gebäude am<br />
Bahnstrang. Ist es Schusters Haus oder die Baracke<br />
Feldstraße 5a oder liegt der Brandherd noch<br />
weiter nach Westen? Die Entfernung eines Feuers<br />
lässt sich in der Dunkelheit schwer schätzen.<br />
Auf dem Wege zum Einsatztruppführer fragt der<br />
Fahrer des Polizeiautos nach dem Brandort. Ich<br />
weise ihnen den Weg zur Feldstraße und begebe<br />
mich auch selbst dort hin. Da kommen auch<br />
schon zwei Feuerspritzen. Die Baracke hat eine<br />
Stabbrandbombe erhalten und brennt nun im<br />
vorderen Teil lichterloh. Betroffen wurde eine<br />
alleinstehende Frau. Die Bewohner hatten sich<br />
flüchtend unter der Unterführung in Sicherheit<br />
gebracht. Der Brand war bald gelöscht. – Heute<br />
morgen war mein erster Weg zur Schadensstelle.<br />
Der Frau Droge gab ich Hinweise über Anmeldung<br />
des Schadens und Versorgung. Sie hat<br />
buchstäblich alles verloren. Was sie auf dem Leibe<br />
trug, war nun ihr ganzer Besitz. Auf Pantoffeln<br />
machte sie den Weg zum Rathaus, um dort<br />
die notwendigen Kleidungsstücke zu erhalten,<br />
auch Nahrungsmittel. Ich stellte nun auch fest,<br />
wo überall Brandbomben niedergegangen wa-
en: auf dem Bahnkörper neben unserem Hause,<br />
auf die Feldstraße bis Nr. 5a und eine Strecke<br />
weiter nach Westen, auf die Burgstraße bis Haus<br />
Nr. 60. Hier lag ein Einschlag auf dem Hof, 3 m<br />
vor dem Haus, - sie wurde <strong>von</strong> einer Frau gelöscht.<br />
Im allgemeinen war festzustellen und jeder<br />
betrachtete es als ein Wunder, dass bei dieser<br />
Unzahl <strong>von</strong> Brandbomben, die vor den Häusern<br />
niederprasselten, kein Haus mit Ausnahme der<br />
Baracke getroffen wurde. Vor den Häusern standen<br />
debattierende Frauen, freudigen Gesichts<br />
nach überstandener, für sie glücklich verlaufender<br />
Gefahr. Am Tage vorher war ich noch<br />
in diesen Häusern gewesen zu Luftschutzunterrichtungen.<br />
Mir gegenüber brachten sie zum<br />
Ausdruck, dass sie sich doch noch Löschsand<br />
holen wollten, weil ich es ihnen geraten hatte.<br />
– Die Sprengbomben schweren Kalibers hatten<br />
an der Hermanstraße, hinter der Verbandsstraße<br />
ein breites Loch gerissen. Die Dächer der Umgebung,<br />
besonders an der Hohensteinstraße, waren<br />
beschädigt, überall bis Westenfeld und Höntrop<br />
Fenster und Schaufensterscheiben zerstört.<br />
Am Ende unseres Gartens lag ein Blingänger<br />
der Flak, ebenfalls in Bomers Wiese. – Auf der<br />
Straße <strong>von</strong> der Unterführung bis Krauzmanns<br />
Haus lag ein Kanister als Blindgänger (enthalten<br />
20 l Phosphor, Benzin und Rohkautschuk).<br />
Die Straße war für den Verkehr gesperrt. Der Kanister<br />
wurde vom SHD in den Morgenstunden<br />
in Brand gesetzt und beseitigt. Mit Gottes Hilfe<br />
ist auch die Gefahr glimpflich verlaufen, die<br />
Spuren werden beseitigt, das Leben geht weiter .<br />
Was bringt uns noch die Zukunft?<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
104<br />
10.4.1943 Herbert wird heute 12 Jahre alt. Im<br />
Jungvolk ist er zum Jungenschaftsführer befördert<br />
worden. Damit ist ihm der Feldmarschallstab<br />
in den Tornister gelegt worden.. - Gestern<br />
Abend 2-mal Alarm. Die Flieger kamen bis Essen<br />
und Gelsenkirchen und warfen dort einige<br />
Brandbomben. Hauptangriffsziel war aber Duisburg.<br />
Wie ich höre, wurde dort ein Geschäft<br />
zum sechsten Mal zerstört. Heute Nachmittag<br />
bereits 2-mal Voralarm. Der Ausdruck Voralarm<br />
ist irreführend. Es heiß richtig: Öffentliche Luftschutzwarnung.<br />
Die Sirenen 3-mal einen gleichbleibenden<br />
Ton. Diese Warnung wird gegeben,<br />
wenn nur einzelne (bis 3) Flugzeuge einfliegen.<br />
<strong>Das</strong> Geschäftsleben, die Arbeit und der Verkehr<br />
gehen weiter, jeder soll sich luftschutzmäßig<br />
verhalten.<br />
11.4.1943 Heute morgen 3 Uhr Alarm. Es<br />
erscheinen aber keine Flieger. – Vom Friedhofsgärtner<br />
Reinbach erfahren wir noch, dass sich<br />
in dem abgeschossenen Britenbomber damals<br />
10 - 11 Flieger befanden. Sie fanden alle den<br />
Tod. Von einigen befanden sich Körperteile,<br />
die anderen waren zu Asche verbrannt. In zwei<br />
Särgen wurden die Reste beigesetzt. – Auf dem<br />
Felde vor unserem Hause (siehe Karte) fand man<br />
heute zwei Einschläge <strong>von</strong> Phosphorbrandbomben<br />
(14 kg). Sie haben sich tief in den Boden<br />
gewühlt und an der Oberfläche kleine Trichter<br />
gebildet. Die LS-Polizei hat die Stellen durch<br />
Stäbe kenntlich gemacht. Die Kinder sollen <strong>von</strong><br />
diesen Stellen möglichst ferngehalten werden,<br />
da das Berühren des Phosphors Verbrennungen<br />
zur Folge hat. - Die Einwohner befürchten bei<br />
den Bombenüberfällen nicht nur den Verlust<br />
ihres Lebens. Sie legen auch besonders in der<br />
jetzigen Zeit großen Wert auf Rettung <strong>von</strong> Wäsche,<br />
Kleidung und Schuhwerk, (nicht Geld!)<br />
weil es nicht leicht zu ersetzen ist. Deshalb<br />
wandern bei jedem Alarm diese Sachen in den<br />
Koffern oder auf dem Arm in den Keller. Unseren<br />
Wäscheschrank haben wir schon unten im<br />
Wohnzimmer stehen. Heute haben wir einen<br />
Kleiderschrank mit Inhalt in Omas Schlafzimmer<br />
aufgestellt, nächstens wird noch das Bett<br />
folgen. Es beginnt die Flucht aus den oberen<br />
Stockwerken.<br />
17.4.1943 Gestern teilte uns Josef endlich<br />
seine neue Feldpostnummer mit. Seine Briefsendungen<br />
aus dem Feldlazarett trugen immer<br />
noch die alte Feldpost-Nr. Alle Briefe der letzten<br />
Zeit erreichten ihn deshalb nicht und wurden<br />
uns wieder zugesandt. Josefs Krankheit bessert<br />
sich, er hofft bald in Urlaub zu kommen. - Vorgestern<br />
entdeckten wir noch ein Einschlagloch<br />
einer Phosphorbrandbombe, und zwar in<br />
unmittelbarer Nähe. Die Einschlagstelle liegt<br />
auf der Ecke des gegenüberliegenden Feldes (s.<br />
Plan). - Der Frühling hat seine ganze Pracht entfaltet.<br />
Man könnte in diesen schönen Tagen inmitten<br />
des frischen Grüns den Krieg vergessen.<br />
Die Natur ist barmherzig. Wo sind die Wunden<br />
des Hauses? Alles wird verdeckt und unsichtbar<br />
gemacht durch die Blütenpracht der Bäume,<br />
Sträucher und Blumenpflanzen. Auch unsere<br />
Drosseln wenden sich nicht ab <strong>von</strong> den Zerstörungsstätten<br />
britischer Bomber. Die Menschen<br />
können aber heuer nicht froh werden. - In der<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
105<br />
vergangenen Nacht muss wohl Süddeutschland<br />
schwer angegriffen worden sein. Der Heeresbericht<br />
meldet den Abschuss <strong>von</strong> 53 meist viermotorigen<br />
Bombern. Wir wurden heute morgen<br />
gegen 3 ½ Uhr aus dem Bett alarmiert. Ein<br />
zurückkehrendes Flugzeug flog über unser Gebiet<br />
und wurde heftig beschossen. So bilden wir<br />
uns zu Halbschläfern aus, wir sind es vielmehr<br />
schon. - Gestern Abend machte Franz Hötte seinen<br />
Abschiedsbesuch. Er fährt Sonntag in die<br />
KLV. und kommt nach Reit am Stein ins Voralpengebiet.<br />
Mit ihm fahren auch <strong>von</strong> unserem<br />
Schulsystem Rumpf und Bald.<br />
24.4.1943 Ostern 1943! Es ist das 4. Osterfest<br />
der Kriegszeit. In Sevinghausen findet umständehalber<br />
heute schon die Erstkommunionfeier<br />
statt. Wir feiern Ostern der Zeit entsprechend<br />
ernst und besinnlich. Während man früher auf<br />
das Äußerliche der Feste und Feiern großen Wert<br />
legte, findet man heute in der Notzeit immer<br />
mehr den Sinn dieser Feiern. Man macht diese<br />
Beobachtung bei allen Zeitgenossen. Man denkt<br />
mehr nach. Alle furchtbaren Zeitereignisse bringen<br />
die Menschen zum Nachdenken über Sinn<br />
und Zweck aller Dinge. <strong>Das</strong> Osterfest gibt uns<br />
den Osterglauben. So wie Christus durch seine<br />
Auferstehung das Leben als Sieger über den Tod<br />
stellte, so glauben auch wir an zukünftige bessere<br />
Zeiten nach diesem Karfreitagsgang unseres<br />
Volkes. Ostern ist das Fest des Lebens. Dieser<br />
Satz scheint unwahrscheinlich und falsch zu<br />
sein in der jetzigen Zeit. Der Tod herrscht, zahlreiche<br />
Opfer fordert der Kampf, auch am Tag des<br />
Lebens. Diese Blutopfer sind der Samen eines
schöneren Vaterlandes. Musste Christus nicht<br />
sterben, um desto herrlicher zu neuem Leben<br />
aufzuerstehen? Wo Saat ist, da ist auch Ernte.<br />
<strong>Das</strong> Volk erwartet baldigst diese Erntezeit, denn<br />
es ist genug der Saat.<br />
26.4.1943 <strong>Das</strong> Osterwetter ist schlecht. Es<br />
stürmt und reg<strong>net</strong>. In Tunis hält eine tapfere<br />
deutsch-ital. Armee einen Brückenkopf gegen<br />
eine feindliche Übermacht. – Doris ist zu Hause<br />
auf Osterurlaub. Sie hat sich langsam an die<br />
neuen Verhältnisse gewöhnt.<br />
27.4.1943 In der Karwoche und an den Ostertagen<br />
haben uns die Briten in Ruhe gelassen.<br />
Aber in der Nacht nach Ostermontag ging der<br />
Tanz gleich wieder los. Gegen 2 Uhr wirkten im<br />
Westen wieder Bomber in großer Zahl. Einzelne<br />
näherten sich auch unserem Gebiet. In Mitleidenschaft<br />
gezogen wurden die Städte Duisburg,<br />
Mülheim und Oberhausen.<br />
30.4.1943 Großangriff 2 Uhr gegen Essen<br />
und Umgebung. Über uns kreist lange Zeit ein<br />
hartnäckiger Bomber. Ringsherum sehe ich das<br />
weißhelle Aufleuchten der Brandbomben, in<br />
Eppendorf, Freisenbruch, Essen, Katernberg,<br />
Stoppenberg, Gelsenkirchen. Über Gelsenkirchen<br />
ein Tiefflieger, <strong>von</strong> der leichten Flak heftig<br />
beschossen. Wir werden verschont. Nach dem<br />
Angriff lodern an mehreren Stellen (besonders<br />
in Essen) große Brände zum nachtdunklen<br />
Himmel.<br />
1.5.1943 Tag der Arbeit! Jede Arbeit ruht. Der<br />
Arbeiter soll nach seinem Gutdünken feiern. Es<br />
finden keine Versammlungen und Feiern statt.<br />
2.5.1943 Ich habe wieder eine neue Aufga-<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
106<br />
be bekommen. Von heute an gehöre ich der<br />
Stadtwacht an. Heute morgen waren alle neugebackenen<br />
Stadtwachtleute bei Wegmann (Hellweg)<br />
versammelt und wurden durch den Revier-Polizeiführer<br />
auf ihre Aufgaben vereidigt.<br />
Als Stadtwacht sollen wir besonders eingesetzt<br />
werden zur Überwachung der ausländischen Arbeitskräfte.<br />
Die Zahl der Ausländer in unserem Bezirk wird<br />
immer größer. Neben russischen Kriegs- und<br />
Zivilgefangenen beiderlei Geschlechts arbeiten<br />
bei Schwarz und auf der Morgensonne noch<br />
Franzosen und Holländer, die in den Sälen bei<br />
Mehring und Güttmann untergebracht sind.<br />
Die Bevölkerung ist schon beunruhigt wegen<br />
der großen Zahl <strong>von</strong> Ausländern und ergeht<br />
sich in allerlei Vermutungen. Was könnte nicht<br />
alles geschehen?<br />
5.5.1943 Heute Nacht Fliegeralarm gegen<br />
24 ½ Uhr. Diesmal findet der Angriff im Osten<br />
statt. Es war ein Großangriff auf Dortmund, Bochum,<br />
Gelsenkirchen. Größere Schäden sollen<br />
vor allem in Dortmund entstanden sein. Ununterbrochen<br />
reg<strong>net</strong> der rötliche und grün-gelbliche<br />
Phosphor <strong>von</strong> oben. Über 30 Bomber wurden<br />
abgeschossen. Hinter Bochum entsteht ein<br />
Großfeuer mit mächtiger Rauchentwicklung.<br />
Der Tod holte sich seine Opfer auch aus unserer<br />
Nachbarschaft. Gegen 2 Uhr sehe ich ein Opfer<br />
zur Morgensonne fahren. Dort ist auf dem<br />
Bordstein zwischen den Häusern Sevinghauser<br />
Weg 55 - 57 eine Flakgranate explodiert. In unmittelbarer<br />
Nähe stehen Friedel Hein und Günter<br />
Scholz (15 und 16 Jahre alt). Etwas weiter an<br />
der Straßenecke Herr Sowada (45 J) und Steiger<br />
Übbing. Den beiden Jungens werden die Beine<br />
zerrissen. Sie liegen in ihrem Blute, ihr Schreien<br />
ist bis zum Hohenstein zu hören. Herr Sowada<br />
bekam einen Splitterdurchuss durch den<br />
Unterleib, während Steiger Übbing mit einer<br />
ungefährlichen Granatsplitterverletzung am<br />
Oberschenkel da<strong>von</strong>kam. Ein anderer Splitter<br />
durchschlug seinen Stahlhelm und seinen Hut.<br />
Nach Anlegung <strong>von</strong> Notverbänden wurden die<br />
Getroffenen zum Krankenhaus transportiert.<br />
Kurz nach der Einlieferung starben Hein, Scholz<br />
und Sowada infolge Verblutung.<br />
So. 9.5.1943 Heute Nachmittag fand unter<br />
großer Anteilnahme der Bevölkerung die Beerdigung<br />
auf den ev. Friedhof in Westenfeld statt.<br />
Die drei Leichen waren in der Totenhalle des ev.<br />
Krankenhauses aufgebahrt. Die Beerdigung verzögerte<br />
sich infolge des Zusammenbruchs eines<br />
Pferdes vor einem Leichenwagen. Auch der Hafer<br />
ist rar. Zeichen der Zeit! Sarkastisch meinte<br />
einer, dieses Pferd gehöre gewiss auch zu den<br />
Normalverbrauchern (Volksgenossen, die die geringsten<br />
Nahrungsmittelmengen erhalten - zum<br />
Unterschied <strong>von</strong> den Schwer- und Schwerstarbeitern).<br />
– Zu gleicher Zeit wurde auch unsere<br />
Nachbarin, Frau Kniebes (84 J), beerdigt, welche<br />
schon längere Zeit auf den Tod wartete. Ich denke<br />
noch an unsere Bombennacht am 9. März,<br />
als wir sie schwerkrank in unseren Luftschutzkeller<br />
trugen.<br />
13.5.1943 Alarm gegen 13 Uhr. Duisburg erlebt<br />
wieder einen schweren Angriff. Ich bemerke<br />
in westlicher Richtung den Abschuss <strong>von</strong> 3<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
107<br />
Flugzeugen. Besonders schaurig-schön war der<br />
Absturz des ersten Flugzeugs. Es hinterließ eine<br />
breite feurige Bahn. Gleichzeitig hatte sich der<br />
Phosphor im Flugzeug entzündet und floss nun<br />
helleuchtend in die Tiefe. 34 Flugzeuge wurden<br />
abgeschossen. Eine rote Feuerwand steht im<br />
Westen.<br />
14.5.1943 Die vergangene Nacht war wieder<br />
eine der unruhigsten. Der erste Alarm war gegen<br />
23:15 Uhr. Es blieb alles ruhig. Weit hinter<br />
Wanne sehe ich einige Flakschüsse. Gegen 00:15<br />
Uhr war wieder Entwarnung. Zweiter Alarm um<br />
01:30 Uhr. Wieder raus aus den Betten, alles<br />
macht sich kellerbereit. Ich beobachte im Garten.<br />
In Richtung Überruhr am Himmel Sprühfeuer.<br />
Dort tanzen explodierende Flakgranaten.<br />
Deutlich höre ich fast über mir Propellergeräusche<br />
und wundere mich, dass kein Scheinwerfer<br />
arbeitet und kein Geschütz feuert. Sollte wohl<br />
über uns ein deutscher Nachtjäger sein? – Da<br />
plötzlich steht über Bochum die bekannte rote<br />
Phosphortraube. Da wurde aber der Spitzberg<br />
munter! Im Nu war alles im Keller verschwunden.<br />
Wohl 1 ½ Stunden folgte nun lebhaftes Flakfeuer.<br />
Von Zeit zu Zeit werfe ich einen Blick nach<br />
draußen. Bochum ist Zielpunkt. Brandbomben<br />
leuchten auf <strong>von</strong> Bochum Mitte in einem langen<br />
Streifen nach Süden. Flugzeuge torkeln im<br />
Scheinwerferlicht hin und her, ziemlich niedrig,<br />
umgeben <strong>von</strong> Flakfeuer. Da auf einmal steigert<br />
sich das Flakfeuer zum Trommelfeuer. Auch die<br />
kleine Flak schießt lebhaft. Was war das? - Ein<br />
Tiefflieger flog über unser Haus auf Bochum zu<br />
und beschoss mit Maschinengewehren die Wes-
tenfelder Flak. Es gab dort Tote und Verwundete.<br />
Da auch das Stromkabel getroffen wurde,<br />
konnte nur ein Geschütz weiterschießen. Langsam<br />
wird’s draußen ruhiger. Über Bochum liegt<br />
eine dicke Qualmschicht. Ein Großbrand ist im<br />
Zentrum der Stadt ausgebrochen. Nach Süden<br />
hin reihen sich Brände an Brände. Ich denke<br />
an Doris in Bochum-Querenburg. Dort vermute<br />
ich auch Brandherde. Die Leute stehen auf der<br />
Straße, sind froh, wieder einer Gefahr entronnen<br />
zu sein und mutmaßen, welche Teile Bochums<br />
brennen. – Es fängt schon an zu tagen. <strong>Das</strong><br />
Entwarnungszeichen wird gegeben; auf der Verbandsstraße<br />
fahren bereits Feuerwehrwagen in<br />
Richtung Bochum. Im Laufe des Tages gewinnt<br />
man ein Bild <strong>von</strong> den Schadensstellen. Schwer<br />
getroffen wurden die Häuser an der Alleestraße,<br />
das Stadtviertel Stahlhausen , die Kortumstraße,<br />
Stiepel, Hattingen, das Augusta-Krankenhaus<br />
ist ausgebrannt, einige Kirchen zerstört usw.<br />
Der Bochumer Verein wurde weniger in Mitleidenschaft<br />
gezogen. Die Verwaltungsgebäude an<br />
der Straße brannten aus. Getroffen wurde auch<br />
ein Russenlager. Mehrere Hundert Tote gab es<br />
dort. Dem Angriff auf Bochum sollen 800 Tote<br />
zum Opfer gefallen sein. Die Rettungsarbeiten<br />
wurden behindert durch das Fehlen <strong>von</strong> Wasser<br />
infolge Zerstörung der Wasserleitung.<br />
15.5.1943 Als ich vom Dienst nach Hause<br />
komme, erlebe ich eine unangenehme Überraschung.<br />
<strong>Das</strong> hat uns noch gerade gefehlt. Auf<br />
der Bahn nebenan herrscht Hochbetrieb. Flaksoldaten<br />
laufen hin und her, bald heben vier<br />
Flakgeschütze (10,5) ihre offenen Mäuler gen<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
108<br />
Himmel, Eisenbahnflak – 100 m vom Hause.<br />
<strong>Das</strong> wird ein Ohrenschmaus für uns sein. Wie<br />
wir hören, sollen sie 4 - 5 Wochen hier bleiben.<br />
Da diese Batterie für unser Haus eine erhöhte<br />
Gefahr bringt, ist uns ihre Nachbarschaft nicht<br />
willkommen. Wir wünschen sie irgendwo anders<br />
hin. – Die erhöhte Gefahr hat uns auf den<br />
Gedanken gebracht, als Luftschutzkeller den<br />
Keller an der Hofseite auszubauen. Vielleicht<br />
sind hier die Abschüsse nicht so stark zu hören.<br />
Die Fenster an der Straßenseite müssen jetzt immer<br />
geöff<strong>net</strong> werden.<br />
16.5.1943 Muttertag! Auch dieser Tag wurde<br />
eingeleitet durch einen nächtlichen Alarm<br />
ohne besondere Vorkommnisse. Zum Kaffee<br />
gab es nachmittags einen Alarm mit Geschieße.<br />
Fünf Aufklärer überflogen in großer Höhe unser<br />
Gebiet. <strong>Das</strong> Wetter ist klar, es können wunderbare<br />
Luftaufnahmen gemacht werden.<br />
17.5.1943 Eine schlaflose Nacht! 1. Alarm<br />
<strong>von</strong> 23:30 - 01:30 Uhr. Zwei Flugzeuge erscheinen<br />
über Essen, Mülheim, kehren aber gleich<br />
wieder um. Nachdem wir uns eben ins Bett gelegt<br />
haben, erfolgt wieder Alarm gegen 02:00 bis<br />
03:30 Uhr. Ein Flieger lässt sich nicht blicken. Es<br />
war uns aber rätselhaft, dass der Alarm so lange<br />
dauerte. Im Laufe des Tages erfahren wir das<br />
Fürchterliche, das sich in der Nacht zutrug. Starke<br />
Fliegerverbände hatten zwei Talsperren im<br />
Sauerland angegriffen und dabei die Sperrmauern<br />
zerstört. Ungeheure Wassermassen ergossen<br />
sich in die Täler, alles mit sich wegreißend. Es<br />
entstanden nach dem Heeresbericht große Verluste<br />
an Menschenleben und Vieh. Wir hören<br />
auch heute Abend, dass die Ruhr in Steele über<br />
die Ufer getreten sei. Die Leute räumen bereits<br />
die Häuser. In den Wassermassen schwimmen<br />
Leichen und Tierkadaver. Es gibt bei uns kein<br />
Wasser mehr. Es sei bekannt gemacht worden,<br />
jeder solle sich für drei Tage mit Wasser eindecken.<br />
Na, das kann aber eine Katastrophe geben<br />
in den Städten, wenn in diesen Nächten Angriffe<br />
erfolgen werden! - Heute morgen 2-mal Luftwarnung!<br />
18.5.1943 Heute Nachmittag wurde Hauptlehrer<br />
a. D. Wilhelm Söding (79 ½ J.) auf dem<br />
Propstei-Friedhof beerdigt. Er war 45 Jahre an<br />
der Schule in Sevinghausen tätig gewesen. - In<br />
den letzten Tagen erwarteten wir wieder einen<br />
Großangriff. In einigen Nächten hatten<br />
wir wohl je 2-mal Alarm, es ließ sich aber kein<br />
Flieger blicken. Seit gestern haben wir schlechte<br />
Witterung. – Josef schreibt, dass er sich wieder<br />
bei der Truppe befinde und voraussichtlich<br />
Anfang Juni in Urlaub könne. – Tagesgespräch<br />
sind immer noch die Fliegerangriffe auf die Talsperren.<br />
Doris erzählt, an der Ruhr in Herdecke<br />
wären 27 Leichen angeschwemmt worden.<br />
Schreckliche Einzelheiten des Unglücks werden<br />
bekannt. Die Zahl der Toten weiß man nicht.<br />
Vom Gauleiter werden in Siegen an Toten angegeben:<br />
annähernd 600 Reichsdeutsche und über<br />
1000 ausländische Arbeiter. In der Zeitung stehen<br />
die ersten Todesanzeigen <strong>von</strong> Fröndenberg,<br />
Hüsten usw. An die Häuser hat man Plakate geklebt:<br />
Wasser ist nur gekocht zu gebrauchen! Bei<br />
den getroffenen Talsperren handelt es sich um<br />
die Möhne- und Edertalsperre. Mittels Torpedos<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
109<br />
sollen die Sperrmauern gesprengt worden sein.<br />
Ein Flugzeug soll sogar auf dem Möhnesee gelandet<br />
sein.<br />
23.5.1943 Ich besehe mir das bombardierte<br />
Bochum. Der Hauptbahnhof ist wieder intakt.<br />
Er hatte zwei Volltreffer bekommen. <strong>Das</strong><br />
Bahnhofsgebäude ist ausgebrannt. Der Verkehr<br />
erfolgt durch den Südeingang. Die Häuser um<br />
den Bahnhof sind teils zerstört, teils beschädigt.<br />
Es ist wieder das Bild, wie ich es in Essen gesehen<br />
habe. Die Straßen besät mit Glasscherben,<br />
an den Rändern Schutthaufen. Vor einigen<br />
Häusern Wagen. Die Leute verladen ihre geretteten<br />
Möbelstücke. Ich wandere zunächst durch<br />
Ehrenfeld. <strong>Das</strong> Theater ist an der Seitenfront<br />
etwas beschädigt. Ein älteres Ehepaar klettert<br />
in den Haustrümmern umher und sucht noch<br />
einige Gegenstände zu bergen. Aus den Kellern<br />
dringt noch Qualm. Auf einer niedrigen Mauer<br />
des Vorgärtchens hat einer Bücher aufgestapelt,<br />
verdreckt und zerrissen. Daneben eine Klavierlampe,<br />
Bilder, ein schmutziges Sofakissen. An<br />
einigen Häusern sieht man braune Spritzer, die<br />
<strong>von</strong> den Phosphorbrandbomben herrühren.<br />
Sie waren auf der Straße oder dem Bürgersteig<br />
explodiert. Groß waren die Verwüstungen in<br />
dem Häuserblock an der Marienkirche bis zum<br />
Bochumer Verein. Die Häuser sind zumeist ausgebrannt.<br />
Anklagend ragen nur noch die Hausmauern<br />
und die nackten Kamine zum Himmel<br />
und bilden wegen der Einsturzmöglichkeit eine<br />
stetige Gefahr. Hier und da sind Feuerwehrleitern<br />
ausgefahren, um Hauswände niederzulegen.<br />
Im Rinnstein liegt die leere Kartusche einer
113 kg Phosphorbombe, wie ein vernichtetes<br />
gefährliches Raubtier mit offenen Rachen. Ein<br />
Verwaltungsgebäude des BV, ist ausgebrannt.<br />
Der BV, soll nur zu 25% vernichtet sein. Desto<br />
schwerer wurden die Häuser an der Alleestraße<br />
getroffen. In der Nähe des Kinos sind mehrere<br />
Volltreffer niedergegangen. Bergleute graben<br />
dort nach Toten, die unter den Trümmern liegen.<br />
Ich bemerke dort auch Zivilisten. Es sind<br />
die Angehörigen, die mit Ungeduld warten. Es<br />
sind für sie gewiss bittere Stunden. Ich wende<br />
mich ab, man denkt wieder an den Sinn dieser<br />
Zerstörung und an unsere hoch gepriesene Kultur.<br />
In einer Seitenstraße kann ich einen Blick in<br />
eine Fabrikhalle werfen. Waggonräder... In der<br />
Mitte der Krater einer Bombe. Eine Eisenbahnbrücke<br />
hat einen Volltreffer bekommen und<br />
ist zusammengestürzt. Der Notweg führt über<br />
den Bahnkörper und das Stellwerk. Wohin man<br />
schaut, überall Zerstörung. Die Christuskirche<br />
ist auch ausgebrannt. Hier hören die größten<br />
Zerstörungen auf. In der Stadtmitte bemerke<br />
ich geringe Schäden; aber alle Häuser sind ohne<br />
Fensterscheiben. Am Wilhelmsplatz ist eine<br />
schwere Brandbombe durchs Dach geschlagen<br />
und an der Vorderseite wieder herausgekommen.<br />
Die anderen Schadensstellen konnte ich<br />
nicht mehr in Augenschein nehmen. Auf der<br />
Rückfahrt treffe ich einen alten Bekannten, meinen<br />
Sängerfreund Willi Timmermann. Da er auf<br />
dem BV. arbeitet, konnte er mir noch manches<br />
erzählen. Acht Tage später hatte auch ihn der<br />
Tod geholt. Auf dem Wege <strong>von</strong> seiner Wohnung<br />
zum Bahnhof bekam er einen Herzschlag.<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
110<br />
24.5.1943 Heute Nacht erlebt Dortmund<br />
einen zweiten Großangriff. Unser Oberbürgermeister<br />
gab bekannt, das 80 000 Obdachlose zu<br />
verzeichnen wären. Zerstört wurden auch die<br />
alte Reinoldikirche und das Rathaus. Der Zugverkehr<br />
im Industriegebiet ist ins Stocken geraten.<br />
28.5.1943 Angriff auf den nördlichen Teil<br />
<strong>von</strong> Essen. Es entstehen wieder ausgedehnte<br />
Brände. Auch der Hauptbahnhof Essen wird getroffen.<br />
31.5.1943 Diesmal ein Großangriff im Süden,<br />
auf Wuppertal. Leuchtbomben in großer<br />
Zahl werden abgeworfen. Es werden allein 57<br />
Bomber abgeschossen. In Mitleidenschaft gezogen<br />
wird vor allem der Stadtteil Barmen. Die<br />
Bevölkerung wurde in den Betten vom Angriff<br />
überrascht. Viele sollen brennend in die Wupper<br />
gesprungen sein. – Josef teilt aus dem Felde<br />
mit, dass er sich bei seiner Truppe befindet. Wir<br />
erfahren nun, dass er sich bei den Schweren Maschinengewehren<br />
befindet.<br />
1.6.1943 Trübe Aussichten! Die Fleischration<br />
wird um 100g wöchentlich erniedrigt. Dafür<br />
gibt es etwas Brot mehr und monatlich 50 g Fett<br />
mehr. Der Leibriemen muss also noch etwas enger<br />
geschnallt werden. Nicht rosig sieht es auch<br />
mit der Kohlenversorgung aus. Für das ganze<br />
Jahr werden wir nur mit 30 Ztr. Kohlen beliefert<br />
werden.<br />
10.6.1943 Josef schreibt, dass es mit seinem<br />
Urlaub vorläufig nichts gibt. An der Ostfront ist<br />
Urlaubssperre (wichtige Ereignisse scheinen in<br />
Vorbereitung zu sein). Josef vertröstet sich auf<br />
den August oder September. Er ist aber guten<br />
Mutes und lässt den Kopf nicht sinken. Mir ging<br />
es im 1. Weltkrieg auch so. Ich hatte meinen Urlaubsschein<br />
schon in der Hand und meine Siebensachen<br />
für die Urlaubsreise gerade gepackt,<br />
als Urlaubssperre<br />
verhängt wurde.<br />
Anstatt nach<br />
Hause ging’s<br />
in die Somme-<br />
Schlacht, wo<br />
ich gleich verwundet<br />
wurde.<br />
– Eine unheimliche<br />
Ruhe ist augenblicklich<br />
im<br />
Kriegsgschehen<br />
eingetreten. Seit<br />
dem Angriff auf<br />
Wuppertal (über<br />
1000 Tote nach<br />
den Angaben des<br />
Gauleiters) hat<br />
sich der Engländer<br />
noch nicht<br />
wieder über dem Ruhrgebiet sehen lassen. Überall<br />
hat man das Gefühl, dass es bald im Osten<br />
als auch im Westen zu wichtigen Ereignissen<br />
kommen wird. Es ist eine Ruhe vor dem Sturm.<br />
– Heute gab’s zu Mittag eine leckere Bohnensuppe<br />
auf den Tisch. Es waren Bulgarische Bohnen<br />
(Gibbon), kosten allerdings auch 2,80 RM das<br />
Pfund.- Was sich das Volk erzählt: Beim Luftangriff<br />
stellt der Brite die Christbäume in die Luft<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
111<br />
(Leuchtbomben), unsere Flak schießt die Kugeln<br />
daran und im Keller gibt´s die Bescherung. Dieser<br />
Witz scheint mir mehr eine Tragikomödie zu<br />
sein. <strong>Das</strong> Volk ist hart geworden und grausam<br />
auch in seinem Humor.<br />
11.6.1943 Die Anzeige stand heute in der<br />
„Kölnischen Zeitung“ und zeigt, wie schwer<br />
manche Familien durch den Krieg heimgesucht<br />
werden. Opfer an der Front und in der Heimat.<br />
Dieser Fall ist nicht der einzige. – Nach langer<br />
Zeit war heute morgen wieder Voralarm. Aufklärungsflieger<br />
waren wieder in Tätigkeit.<br />
12.6.1943 Nach langer Zeit erfolgte heute<br />
Nacht wieder ein Großangriff auf Westdeutsche<br />
Städte. Angriffsziel war vor allem Düsseldorf,<br />
wo es wirklich schrecklich aussehen soll.<br />
Auch Münster wurde bombardiert. Einige Flieger<br />
ließen sich auch über unserer Gegend blicken.<br />
13.6.1943 Es ist heute Pfingsten. Man sprach<br />
früher <strong>von</strong> diesem „lieblichen“ Fest, der Pfingststimmung.<br />
Es war das Fest der Freude in der Natur.<br />
Wie haben sich doch die Zeiten gewandelt.<br />
Ich lehne im Schlafzimmerfenster. Die Natur betrachte<br />
ich nicht, aber meine Blicke schweifen<br />
über das in der vergangene Nacht heimgesuchte<br />
Bochum. Weißbläuliche Dampfschwaden ziehen<br />
immer noch über das ausgebrannte Häusermeer.<br />
In einstündigem Angriff ließen starke feindliche<br />
Bomberverbände ihre Ladung in die City der<br />
Stadt hinabregnen. Ein derartiges starkes Feuer<br />
wie in der vergangenen Nacht habe ich bisher<br />
noch nicht erlebt. <strong>Das</strong> war ein Untergangsbild.<br />
Unaufhörlich reg<strong>net</strong>en „Christbäume“ vom
Himmel.<br />
Als<br />
es etwas<br />
ruhiger wurde,<br />
kam sogar<br />
Herbert aus dem<br />
Keller nach oben, um<br />
einmal dieses Lichtwunder<br />
zu sehen. (Über Brandbomben,Signal-Leuchtbomben<br />
und andere Angriffsmittel der<br />
englischen Flieger in der „Sirene“ nachlesen!)<br />
Von unserem Schlafzimmerfenster<br />
war das brennende Bochum schaurig-schön<br />
anzusehen. Unter diesem Eindruck feiern wir<br />
1943 Pfingsten.<br />
15.6.1943 In der vergangenen Nacht war<br />
der Nachtzauber am westlichen Himmel. Die<br />
feindlichen Flieger finden auch trotz bedecktem<br />
Himmel ihr Ziel. Schwere Zerstörungen wurden<br />
vor allem in Oberhausen angerichtet. – Nach<br />
und nach hört man Einzelheiten <strong>von</strong> den Bombenschäden<br />
in der vergangenen Nacht in Bochum.<br />
Die Schäden sind noch größer als beim<br />
ersten Angriff. In der Altstadt ist fast jedes Haus<br />
ausgebrannt oder zerstört. Am Rathaus brannte<br />
der Dachstuhl, eine Sprengbombe zerstörte den<br />
hinteren Teil. Die bekanntesten Geschäftshäuser<br />
sind ebenfalls vernichtet. Kortum-Warenhaus,<br />
Röhl, Fischer, Balz usw. Zerstört auch die<br />
Propsteikirche und das Augusta- und Elisabeth-<br />
Krankenhaus. Augenzeugen berichten, dass<br />
Bochum bald vom Erdboden verschwunden<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
112<br />
sei. Merkwürdig ist, dass der Bochumer Verein<br />
weniger Schaden gelitten hat. Einen Volltreffer<br />
bekam das Eingangsgebäude. In der Schule<br />
fragte ich nach dem Schicksal der Verwandten<br />
meiner Schüler in Bochum. Dabei musste ich<br />
die Feststellung machen, dass mit Ausnahme<br />
<strong>von</strong> dreien alle Verwandten meiner Schüler in<br />
Bochum mehr oder weniger in Mitleidenschaft<br />
gezogen worden waren. - Von dem Angriff auf<br />
Wuppertal erzählte ein Nachbar, der als Soldat<br />
dort einen Umschulungskurs durchmacht: Er<br />
selbst sei in der fraglichen Nacht nach auswärts<br />
kommandiert gewesen. Die Kaserne bekam einen<br />
Volltreffer. Zehn Soldaten wurden getötet.<br />
200 Soldaten sind beschäftigt, um die Toten zu<br />
bergen. Es wären bis jetzt etwas über 300 Opfer<br />
herausgebuddelt worden. Tausende liegen noch<br />
unter den Trümmern. – Doris kam am ersten<br />
Feiertag in Urlaub. Sie kam per Rad; es fuhr in<br />
Bochum keine Straßenbahn und kein Zug. Anni<br />
Bohmhold (Stiepel) musste einen zweistündigen<br />
Fußmarsch machen, um bei Muttern zu<br />
sein. – Herbert hat sich heute zwei junge Enten<br />
<strong>von</strong> Berkmann gekauft.<br />
Heute morgen 10 Uhr Voralarm. Über uns höre<br />
ich die feindlichen Flieger. Starker Beschuss vertreibt<br />
sie. Amerikanische fliegende Festungen<br />
führen zumeist Tagesangriffe (200) aus auf Küstenstädte.<br />
20.6.1943 Stadtwacht-Übung um 10 Uhr! 79<br />
Mann werden gezählt. Es ist strahlendes Sommerwetter.<br />
Der Wachtmeister lässt uns auf dem Fußballplatz<br />
am Hellweg antreten und stottert sich<br />
etwas zurecht über Einteilung der Stadtwacht,<br />
Verhalten bei Festnahmen, Absperrungen usw.<br />
So stehen wir 1 ½ Stunden in der prallen Sonne,<br />
ohne Kopfbedeckung. Die Folgen stellen sich<br />
auch ein. Mein Kopf „brummt“ nachmittags. –<br />
Auch ein Kriegsopfer! In der Stadtwacht bin ich<br />
der Reserve überwiesen worden. - Im Laufe des<br />
Tages gab es 3-mal Alarm. Ein Flugzeug überflog<br />
in großer Höhe unser Gebiet und wurde heftig<br />
beschossen. In den vergangenen Nächten hatten<br />
wir trotz schlechter Wetterlage stets Alarm.<br />
Ein größerer Angriff richtete sich gegen Köln.<br />
In der vergangenen Nacht explodierten an drei<br />
Stellen der Stadt noch vor dem Alarm gefüllte<br />
Phosphorflaschen, ohne Schaden anzurichten.<br />
Diese Flaschen werden unter Ballonen über das<br />
Gebiet geführt und lösen sich nach einer gewissen<br />
Zeit (siehe „Sirene“).<br />
22.6.1943 In den Morgenstunden war regelrechter<br />
Fliegeralarm. Ein starker Verband<br />
feindlicher Flieger griff das Ruhrgebiet an. In<br />
westlicher Richtung schwoll das Flakfeuer zum<br />
Trommelfeuer an. Wie erzählt wird, sollen die<br />
Buna-Werke bei Hüls bombardiert worden sein.<br />
- In der vergangenen Nacht war Krefeld das Ziel<br />
eines Bombenangriffs. Wir hatten heute noch<br />
2-mal Alarm<br />
23.6.1943 Wieder ein britischer Großangriff<br />
auf das Gebiet <strong>von</strong> Mülheim und Oberhausen.<br />
Der Heeresbericht teilt mit, dass große Verluste<br />
unter der Bevölkerung und erhebliche Gebäudeschäden<br />
entstanden seien. Über Mülheim sehe<br />
ich einen gewaltigen Rauchpilz am sternenklaren<br />
Himmel stehen, der sich zu einer schwarzen<br />
Wolke ausdehnt und weiter nach Nordosten<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
113<br />
zieht wie mächtige Gewitterwolken. Manche<br />
Stellen unseres Gebietes waren heute morgen<br />
bedeckt mit angebrannten Papieren, die <strong>von</strong><br />
Mülheim bis hierher getragen worden sind. So<br />
fand Herbert eine angebrannte Quittung der<br />
Mülheimer Post. – Heute Morgen fanden im<br />
Stadion die Leistungsprüfungen der Schüler im<br />
Turnen statt. Wider Erwarten wurden wir nicht<br />
durch Alarme gestört.<br />
25.6.1943 Schwerer Angriff auf Elberfeld.<br />
Große Verluste. Von Süden nähert sich ein Bomber.<br />
Er fliegt sehr tief, <strong>von</strong> den Scheinwerfern<br />
festgehalten, <strong>von</strong> der Flak heftig beschossen.<br />
Er fliegt über unser Haus in Richtung Gelsenkirchen.<br />
Nun zieht er eine Rauchwolke hinter<br />
sich her und sinkt immer tiefer. Ein roter Feuerschein<br />
in Gelsenkirchen lässt vermuten, dass<br />
das Flugzeug dort aufgeschlagen ist. Soldaten<br />
unserer Flak fahren auf Fahrrädern dorthin und<br />
bringen folgende Nachricht: <strong>Das</strong> Flugzeug hat<br />
das Kolpinghaus (Theresienstraße) durchschlagen<br />
und ist noch etliche Meter tief in den Boden<br />
eingedrungen. Von der Besatzung konnte<br />
sich einer mittels Fallschirm retten. Im Kolpinghaus<br />
sind Landesschützen untergebracht, die<br />
am Tage vorher abgelöst hatten. Von diesen<br />
sind bei dem Absturz 42 im Luftschutzkeller<br />
umgekommen.<br />
26.6.1943 Wieder ein schwarzer Tag für<br />
Wattenscheid. 00: 30 Uhr Alarm. Es muss wohl<br />
wieder ein Großangriff erfolgen, wenn um diese<br />
Zeit Alarm gegeben wird. Über Gelsenkirchen<br />
erscheint der erste Bomber. <strong>Das</strong> Flakfeuer<br />
nimmt zu, auch unsere Flak mischt sich ein. Da
sehe ich hellweiße Lichter in Ückendorf, nun<br />
auch in unserem Stadtgebiet, auch in Höntrop<br />
und am Walzwerk. Der Angriff gilt unserer<br />
Stadt. August Dreyer und ich ziehen uns in den<br />
Keller zurück in Erwartung <strong>von</strong> Brandbombeneinschlägen.<br />
Draußen ist die Hölle los! Dumpfe<br />
Detonationen erschüttern den Erdboden. Es hat<br />
nicht weit eingeschlagen. Wir machen Kontrollgänge<br />
durchs Haus, werfen einen Blick nach<br />
draußen. Vor der Propsteikirche ein gewaltiger<br />
Brand. Von den Flammen magisch beleuchtet<br />
reckt sich der Turm der Kirche unheimlich in<br />
die Dunkelheit. Brände bemerke ich auch an<br />
anderen Stellen der Stadt. Wieder zurück in den<br />
Keller, in der Luft über uns ist ein immerwährendes<br />
Summen. Im Keller große Aufregung, es<br />
wird gebetet. Die Zeit wird zur Ewigkeit.<br />
03:15 Uhr. – Der Angriff ist vorüber – wir atmen<br />
befreit auf. Man begreift nun den Satz:...<br />
und fühlte sich wie dem Leben neu wiedergeschenkt.<br />
--- Draußen sehen wir die Brände und<br />
versuchen, die Schadensstellen zu bestimmen.<br />
Manche Leute eilen schon zur Stadt. Es sind gewiss<br />
solche, die sich nach dem Schicksal ihrer<br />
Angehörigen in der Stadt erkundigen wollen.<br />
Ich suche die Einschlagstelle der Bombe. Von<br />
den Flaksoldaten erfahren wir nun die genaue<br />
Lage. (50 m östlich <strong>von</strong> Gierses Haus – s. Karte)<br />
Daneben lag noch ein Blindgänger. August und<br />
ich machen uns auf den Weg zur Stadt. Lünemanns<br />
und Tinnefelds Haus brennen lichterloh.<br />
An der gegenüberliegenden Seite hat eine<br />
Sprengbombe drei Häuser niedergelegt. Man<br />
sieht überall nur Trümmer und Verwüstungen.<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
114<br />
Wir hören, dass Frl. Tinnefeld und der Schmiedemeister<br />
noch unter den Trümmer lägen. Ein<br />
gefangener Franzose will den Meister unbedingt<br />
ausgraben, weil er ein so guter Mann gewesen<br />
wäre; manche Zigarette hätte er <strong>von</strong> ihm bekommen.<br />
Nun schlagen auch die Flammen aus<br />
Trabens Haus, das auch vollständig ausbrennt.<br />
Auch das Kolpinghaus brennt; die Einwohner<br />
sind wohl eifrig bei den Löscharbeiten. Es ist ihnen<br />
auch gelungen, des Feuers Herr zu werden,<br />
nur der Dachstuhl brannte ab und die Gesellenzimmer.<br />
08:30 Uhr – Ich habe zwei Stunden geschlafen<br />
und begebe mich zur Schule. Es haben sich nur<br />
einige Kinder eingefunden, die Lehrpersonen<br />
fehlen alle. Vom Hausmeister höre ich, dass diese<br />
noch in der Nacht zum Einsatz aufgerufen<br />
worden sind. Ich habe bisher noch keine Aufforderung<br />
bekommen und begebe mich auch<br />
zum Rathaus. Ich bekomme dort eine Liste und<br />
soll nun in der Sommerdellenstraße feststellen,<br />
wie die Häuser dort beschädigt worden sind.<br />
Alle sind beschädigt, vom ersten bis zum letzten<br />
Haus, darunter zumindest 15 total. An einer<br />
Straßenstelle sind zwei bis drei Volltreffer<br />
eingeschlagen. Dort gab es 10 Tote. Es Ist ein<br />
Bild des Jammers. Da sitzt ein altes Mütterchen<br />
mit verweinten Augen mitten zwischen einigen<br />
Habseligkeiten. Sie hat den Schrecken überwunden<br />
und wartet nun übermüdet auf den<br />
weiteren Lauf der Dinge. Sie gibt mir für meine<br />
Notizen Aufklärung über die Familien, die in<br />
den getroffenen Häusern gewohnt haben. Gern<br />
hätte sie noch das Bettzeug, das man dort zwi-<br />
schen Steinen und Balken sehen kann. Aber die<br />
Bergung ist nicht möglich. Ich sehe dort auch<br />
einen verdreckten Puppenwagen mit einer Puppe.<br />
Danach jammert gewiss ein kleines Mädchen.<br />
An der gegenüberliegenden Seite hängt<br />
der Fußboden schräg <strong>von</strong> oben nach unten.<br />
Darauf rutschte ein Bett mit einem schlafenden<br />
jungen Mann nach unten auf den Trümmerhaufen.<br />
Dieser Mann blieb unverletzt, während<br />
die Hausbewohner im Keller getötet wurden.<br />
Ich mache einen Rundgang durch die Stadt. In<br />
der Vorstadtstraße ist die Feuerwehr noch bei<br />
den Löscharbeiten. Am Krankenhaus hat der<br />
Dachstuhl gebrannt. In der Kolonie am Watermannsweg<br />
hat eine Sprengbombe mehrere<br />
Häuser vernichtet. Dabei kamen auch Frau und<br />
Sohn <strong>von</strong> August Winter, einem alten Bekannten,<br />
zu Tode. Den Sohn fand man im Keller gegen<br />
die Wand gedrückt unter den Trümmern,<br />
mit dem Kopf nach unten. Der Frau war die<br />
schwere Kellertür gegen den Kopf geschlagen.<br />
Eine schwere Bombe hat auch Kuhlendahls<br />
Haus zertrümmert, eine andere explodierte vor<br />
Treus’ Schuhladen. Dort befinden sich noch ein<br />
Paar Schuhe <strong>von</strong> uns zur Reparatur. Ob wir diese<br />
wohl wiedersehen? – Es ist mir nicht möglich<br />
alle Schadensstellen anzugehen. Ich denke, dass<br />
man nach dem Kriege auf Karten diese Stellen<br />
übersehen kann.<br />
27.6.1943 Propst Hellmich gibt <strong>von</strong> der<br />
Kanzel bekannt, dass die Männer während des<br />
Gottesdienst ihre Hüte auflassen dürfen. Alle<br />
Fensterscheiben der Kirche sind entzwei. Gottesdienst<br />
im Kriegsgebiet! - Es wird bekannt,<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
115<br />
dass bei dem Angriff 27 Einwohner zu Tode<br />
gekommen sind. Überall wird eifrig gearbeitet.<br />
Lastwagen, bepackt mit Hausrat durchfahren<br />
die Straßen. Der Schutt wird weggeräumt. Nachmittags<br />
besuche ich meinen Bruder Ferdinand<br />
in Ückendorf. Er selbst verlebt seine Urlaubstage<br />
im Sauerland. Auch sein Haus wurde getroffen.<br />
Eine Brandbombe durchschlug das Dach<br />
und landete im Arbeitszimmer seines Mieters.<br />
Nachbarn bemerkten glücklicherweise das Feuer<br />
und löschten frühzeitig. Auch dort sieht es<br />
in der Umgegend gräulich aus. Die dortige Siedlung<br />
der Kriegsbeschädigten wurde zum vierten<br />
Mal getroffen. Der Kommunalfriedhof war<br />
wegen Gefahr geschlossen (Blindgänger). Nicht<br />
weit <strong>von</strong> uns ging während unseres Spazierganges<br />
ein Blindgänger hoch: Große Zerstörungen<br />
richteten Spreng und Brandbomben auch am<br />
Ückendorfer Platz an. Nach allem Schauen dieses<br />
sinnlosen Zerstörens zivilen Eigentums der<br />
meist kleinen Leute kommt man niedergedrückt<br />
zu Hause an. Man hört nur immer die eine Frage:<br />
Wofür das alles? – Wie lange soll diese Not<br />
andauern?<br />
28.6.1943 Schadensfeststellung in der Sommerdellenstraße.<br />
An jedem Haus sind kleinere<br />
oder größere Schäden festzustellen. Hinter Eickel<br />
explodiert noch ein Blindgänger. Eine hohe<br />
Staubwolke steigt auf.<br />
29.6.1943 Ein Schrei der Entrüstung geht<br />
durch Deutschland. In der vergangenen Nacht<br />
wurde Köln mit starken Kräften angegriffen.<br />
Dabei wurde auch der Dom durch Spreng- und<br />
Brandbomben stark beschädigt. <strong>Das</strong> Gewölbe ist
durchbrochen. Die Orgel wurde vernichtet und<br />
besonders im nördlichen Teil des Querschiffes<br />
größere Verwüstungen angerichtet. Auch das<br />
Rathaus, Stadthaus und der Gürzenich wurden<br />
zerstört. Kulturwerte werden vernichtet, wie es<br />
in der Geschichte noch nie vorgekommen ist.<br />
Mit der Verunstaltung des Kölner Domes wurde<br />
die deutsche Seele getroffen. - Auch wir hatten<br />
hier Alarm und wurden durch einige Störflieger<br />
beunruhigt. - Frau Dreyer ist heute in den Harz<br />
gefahren zu den Eltern eines Freundes <strong>von</strong> August.<br />
Herbert wäre gern mitgefahren.<br />
30.6.1943 Heute Nachmittag 17 Uhr wurden<br />
die Opfer des Bombenangriffs beerdigt (27).<br />
Im Ehrenmal war die Aufbahrung und Totenfeier.<br />
Manche bringen den Wunsch zum Ausdruck,<br />
die Stadt zu verlassen. Auch wir stellen Überlegungen<br />
an. Herbert bringt heute die Nachricht<br />
mit, dass die Oberschule am nächsten Montag<br />
geschlossen wegfährt.<br />
3.7.1943 Der Schulunterricht hat seit 26. 6<br />
ausgesetzt. Mutter fuhr heute nach Nordwalde.<br />
Ich begleitete sie zur Bahn und nahm auf<br />
dem Rückwege noch einmal die Schäden an<br />
der Propsteikirche in Augenschein. Steht man<br />
auf dem Kirchplatz, so glaubt man mitten in<br />
einer durch den Krieg mitgenommenen Stadt<br />
zu sein, im Felde. Ringsherum Häusertrümmer,<br />
leere Fensterhöhlen, das Kleinpflaster aufgerissen.<br />
Vor mir flackert ein Flämmchen. Ein kleiner<br />
Phosphorflecken hat sich wieder entzündet<br />
und brennt. Ich streue Sand darüber. Trotzig<br />
steht der Turm da, stark mit mächtigen Sandsteinquadern.<br />
Nur die Dachverkleidung hat<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
116<br />
gelitten. Vom unteren Teil des Turmes sind<br />
die grünen Kupferplatten abgerissen worden.<br />
Sie liegen zum Teil auf dem Kirchplatz, einige<br />
noch auf dem Dach. Die Dachbekleidung des<br />
Hauptschiffes ist auch zerstört. Restlos vernichtet<br />
sind auch die herrlichen Glasfenster, besonders<br />
die des Chores, das Kreuzigungsbild über<br />
dem Hochaltar und die neuen, gestifteten Mosaikfenster<br />
über den Seitenaltären. Im Inneren<br />
sind die Zerstörungen nicht zu groß. In der Decke<br />
klaffen zwei, drei Löcher – Bombensplitter?<br />
– Die Orgel hat einige Beschädigungen, Verlust<br />
einiger Orgelpfeifen. Der 1000-jährige Taufstein<br />
ist gegen Bombensplitter verkleidet mit Mauerwerk<br />
und Holzbalken. Vernichtet wurde das<br />
Wandgemälde der Taufkapelle, die Taufe Jesu im<br />
Jordan darstellend. Am Hochaltar hantiert der<br />
Küster, diesmal im blauen Monteuranzug, nicht<br />
im schwarzen Talar. Einige Männer säubern das<br />
Kircheninnere. Unsere alte Propsteikirche erlebt<br />
wieder eine Notzeit, wie damals 1435, 1635<br />
usw., Kirchenbrände und harte Kriegszeiten.<br />
Der ehemalige Pfarrer Menke auf dem Friedhof,<br />
unter dem Kreuz, denkt an seine damalige Kirchenbauarbeit,<br />
an die Taler, die er bettelnd bei<br />
Bauern, auf Taufen, Hochzeiten und anderen<br />
passenden Gelegenheiten einsammelte. Auf der<br />
Südseite der Kirche wird unter dem Kirchplatz<br />
ein Bunker gebaut.<br />
4.7.1943 Ich bin allein im Hause. Mutter ist<br />
in Nordwalde, Herbert in Ottmarsbocholt, Doris<br />
in Stiepel und Josef an der Ostfront, die ganze<br />
Familie zerstreut.<br />
5.7.1943 Der Kelch des Leids füllt sich. Es<br />
bewahrheitet sich nun, dass wir unser liebgewordenes<br />
Haus räumen müssen. Heute morgen<br />
war der Blockwart Becker hier und machte Aufzeichnungen<br />
über den Wegtransport der Möbel<br />
und die Zahl der zu evakuierenden Personen.<br />
Unser Aufnahmegebiet soll Pommern sein. Alle<br />
Hausbewohner werden weggeschafft. Wohin<br />
wir kommen, ist noch unbekannt. Wir versuchen<br />
wenigstens zusammenzubleiben. Ob das<br />
möglich ist, muss die Zukunft zeigen. Wir sind<br />
in niedergeschlagener Stimmung. Wieder fragen<br />
wir uns: Was wird werden? - In den letzten<br />
Nächten kurze Alarme. Köln wurde wieder heftig<br />
bombardiert. Es ist eine Zeit des Leidens und<br />
der Not.<br />
10.7.1943 Die Not wächst. Heute Nacht verlebten<br />
wir Stunden, die wir in unserem Leben<br />
nicht mehr vergessen werden. Es fehlt mir die<br />
Zeit, um alles getreu und genau berichten zu<br />
können. dass wir mit dem Leben da<strong>von</strong>gekommen<br />
sind, ist unsere einzige Genugtuung. Wattenscheid<br />
erlebte eine Nacht des Grauens. Über<br />
eine Stunde lang wurde das Stadtgebiet mit<br />
Spreng- und Brandbomben förmlich zugedeckt.<br />
Die angerichteten Schäden kann ich im einzelnen<br />
nicht angeben (s. Stadtchronik!). Ich will<br />
mich nur auf das Haus und der näheren Umgebung<br />
beschränken. Es war natürlich, dass unsere<br />
benachbarte Flak Ziel der Bombenabwürfe war.<br />
In nächster Nähe unseres Hauses also zahlreiche<br />
Spreng- und Brandbomben (s. Skizze!). <strong>Das</strong> Haus<br />
Papenburgstraße 87 erhielt einen Volltreffer,<br />
wie ein Wunder keine Verluste. Mehrere Blindgänger<br />
liegen auf der Bahn, ein dicker Brocken<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
117<br />
in Bohmholts Garten. Während der Angriffs ist<br />
das Haus <strong>von</strong> brennenden Brandgranaten umgeben.<br />
Eine Stabbrandbombe durchschlägt das<br />
Hausdach und bricht entzwei. Die Zündvorrichtung<br />
finde ich auf dem Dachboden, den Brandsatz<br />
in Herberts Schlafzimmer. Im Luftschutzkeller<br />
liegt alles geduckt auf dem Boden. Man hört<br />
das unheimliche Pfeifen und Bersten der Bomben,<br />
bald näher, bald weiter – über eine Stunde<br />
lang. Eine Termit-Brandbombe an der Gartenmauer<br />
schickt ihren Qualm in den Keller. Im<br />
Hause fallen Mauerwände u. Decken polternd<br />
zu Boden, dazwischen das Klirren zersprungener<br />
Fensterscheiben. Ich wage hin und wieder<br />
einen Sprung ins Haus nach oben. Meine ganze<br />
Aufmerksamkeit gilt einfallenden Brandbomben<br />
und deren Bekämpfung. Aber immer wieder<br />
treiben mich Sprengbomben in den Keller zurück.<br />
Mit dem Pfosten des Geländers mache ich<br />
dabei nähere Bekanntschaft und hole mir eine<br />
Beule an der Stirn. Auf der Bahn brennen lichterloh<br />
ein Kohlenwagen und ein Mannschaftswagen<br />
der Flak. Erleichtert atmen wir auf, als<br />
das Brummen der Flugzeuge nachlässt. Unsere<br />
Flak schießt schon lange nicht mehr. Sie musste<br />
in Deckung gehen; das Kabel war durchschossen.<br />
Im Hause sieht es wieder schlimm aus. <strong>Das</strong><br />
Dach ist wieder abgedeckt. Der dritte Stock ist<br />
unbewohnbar. Im Esszimmer und in Omas Küche<br />
sind die Wände wieder herausgebrochen.<br />
Alle Innenwände sind geborsten und verschoben.<br />
Die Möbel liegen durcheinander usw. <strong>Das</strong><br />
regt uns aber schon nicht mehr auf; wir freuen<br />
uns unseres Lebens. Ich helfe nun bei der Lö-
schung der Brände in Tegtmeiers Haus (Haus<br />
wird gerettet) und bei Mehring. <strong>Das</strong> Hinterhaus<br />
brennt vollständig aus. In Westenfeld brennt<br />
lichterloh Ostermanns Hof. Auf der Zeche auch<br />
das Holzmagazin. Und erst in Wattenscheid!!<br />
17.7.1943 Die Woche war angefüllt Arbeit<br />
und Sorge. Alle erwarten einen zweiten Angriff.<br />
An Schlaf vor 2 Uhr nachts ist nicht zu denken.<br />
Alle Hauseinwohner suchen nun den Luftschutzbunker<br />
an der Verbandsstraße auf. Schon<br />
gegen 22 Uhr abends ziehen Frauen und Kinder<br />
mit Koffern bepackt dorthin, um gegen 2 Uhr<br />
wieder zurückzukehren. Gleichzeitig hat eine<br />
Massenflucht nach auswärts eingesetzt. Jeden<br />
Tag werden Möbel verladen. Am Donnerstag<br />
war Hauptappell der Schule. Es haben sich wohl<br />
60 Kinder für den Transport nach Pommern gemeldet.<br />
Auch Herbert nimmt mit der Oberschule<br />
daran teil. Wie sieht es bei uns aus?<br />
Der dritte Stock kann nicht mehr benutzt werden.<br />
Wir schlafen im Esszimmer, wo ein Bett aufgeschlagen<br />
ist. - Opa, Oma und Onkel Tom sind<br />
für den Abtransport in ein Heim vorgemerkt<br />
worden. Heute wurde die ärztliche Bescheinigung<br />
ausgestellt. Der Abtransport kann jeden<br />
Tag erfolgen. Herbert kommt nach Pommern.<br />
Mit ihm soll Doris fahren. Ich habe sie beim<br />
Arbeitsamt aus dem Pflichtjahr freigemacht.<br />
Mutter und ich werden wohl voraussichtlich<br />
mit der Schule auch nach Pommern kommen.<br />
Unsere Möbel werden in Sammellagern untergebracht<br />
werden. Wir sind jeden Tag am Packen<br />
und bringen auch manche Sachen im Keller unter.<br />
Wir haben nur den einzigen Wunsch, bald<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
118<br />
diesen heißen Boden verlassen zu können. Auf<br />
dem Hof stehen schon Möbel der Familie Gützlag,<br />
auch teilweise zerstört (<strong>Das</strong> Kranzmannsche<br />
Haus bekam einen Volltreffer). Gützlags wollen<br />
in Omas Wohnung einziehen. - Die Flak, unser<br />
Sorgenkind, ist heute abgezogen. - Am Donnerstag<br />
wurden die Toten der Angriffsnacht, 48<br />
an der Zahl, zu Grabe getragen. - Was uns allen<br />
nahe ging und die Tränen in die Augen trieb,<br />
war die Vernichtung unserer schönen Herz-Jesu-<br />
Kirche in Sevinghausen. Sie brannte vollständig<br />
aus bis auf den Hochaltar. Nur die Außenmauern<br />
stehen noch. Vom Garten aus bemerkte ich<br />
den Brand. Mir blieb der Atem aus. Dicht daneben<br />
brannte Nüfers Hof.<br />
18.7.1943 Gottesdienst in der Kirchenruine<br />
zu Sevinghausen. <strong>Das</strong> Wetter ist klar. Die Kirche<br />
ist vom Schutt geräumt. Rings um uns die<br />
öden Außenmauern mit dem Turmstumpf. Die<br />
Blicke tasten die Wände entlang, ob auch kein<br />
Einsturz erfolgt. Über uns ist der blaue Himmel<br />
das Dach. Auf dem zerstörten Seitenaltar (<strong>von</strong><br />
Fellermann gestiftet aus Anlass des Heldentodes<br />
des Erbhofbauern 1914 mit einem herrlichen<br />
Gemälde: Maria die Friedenskönigin) hat man<br />
die alte Marienfigur aufgestellt. Der beschädigte<br />
Beichtstuhl in der Nische ist aus der Propstei geborgt.<br />
Ich suche draußen nach Teilen der Orgel,<br />
die mir durch das sonntägliche Spiel lieb und<br />
vertraut geworden war. Auch tote Gegenstände<br />
können zu guten Kameraden werden. Im Inneren<br />
der Kirche sind einige Stühle aufgestellt. So<br />
liest unser Pfarrvikar Wilmsen seine Kriegsmesse<br />
vor der ergriffenen Gemeinde. Dieser Aufent-<br />
halt in der Kirchenruine ist allen mehr als die<br />
eindrucksvollste Predigt. Hier erkennt man die<br />
Welt mit ihrer Niedertracht, der Vergänglichkeit<br />
allen Seins. Der blaue Himmel über uns weist<br />
uns den Weg der Lösung allen Übels. Ernst und<br />
überanstrengt sind die Gesichtszüge unseres<br />
Priesters, als er <strong>von</strong> dem Unglück spricht, das<br />
uns getroffen hat. Er dankt aber Gott, dass er<br />
uns <strong>von</strong> noch Schlimmeren bewahrt habe. Wir<br />
beugen uns dem Willen Gottes.<br />
27.7.1943 Eine Woche der Aufregung und<br />
des Leids ist wieder hinter uns. Wir verlassen<br />
alle unser liebes Haus. In dieser Woche wurde<br />
gepackt. Gebrauchgegenstände, Porzellan usw.<br />
wurde in Kisten in den Keller gepackt. Omas<br />
Möbel kamen ins vordere Zimmer. Meine Möbel<br />
werden am kommenden Donnerstag nach<br />
Plettenberg verschickt. Auf Wunsch der Familie<br />
Neuhaus besuchten Herbert und ich diese am<br />
vergangenen Mittwoch in Plettenberg. Es war für<br />
mich ein eigenartiges Gefühl, durch eine Stadt<br />
ohne Ruinen zu gehen. Der Empfang dort war<br />
so herzlich, dass uns Tränen in den Augen standen.<br />
Herbert wurde <strong>von</strong> der Familie Neuhaus sofort<br />
in Beschlag genommen. Anstatt nach Pommern<br />
zu fahren, wie ursprünglich vorgesehen,<br />
wird er für die Dauer des Krieges dort bleiben.<br />
Samstag ist er in Begleitung <strong>von</strong> Mutter dorthin<br />
übergesiedelt. Seine beiden Enten hat er auch<br />
mitgenommen. <strong>Das</strong> Getrenntsein <strong>von</strong> meinem<br />
liebsten Jüngsten wird mir schwer fallen. In<br />
Plettenberg gab man mir auch den Rat, meine<br />
Möbel dort unterzustellen. Fritz und Martha<br />
Neuhaus wissen mir nicht Gutes genug zu tun.<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
119<br />
Es geht bei ihnen eben alles. Freitag war für uns<br />
ein Tag der Wehmut. Opa, Oma und Onkel Tom<br />
nahmen Abschied <strong>von</strong> ihrer Heimat, wo alles an<br />
ihre Arbeit und ihr Leben erinnert. Opa ist beim<br />
Weggang sehr gefasst. Da es diesig ist, zitiert er:<br />
„Ziehen wir ab im Morgengrauen...“ Onkel Tom<br />
ist so schlecht zurecht, dass es die Reise beinahe<br />
nicht mitmachen kann. Sein Herz arbeitet<br />
stark. Aufregung! – Im Auto geht’s zur NSV–<br />
Stelle und bald im Reisebus nach Bochum, <strong>von</strong><br />
wo der Lazarettzug abfahren soll. Ob wir wohl<br />
unsere lieben Alten wiedersehen werden? – Ich<br />
glaube nicht. Unsere Stimmung und Gedanken<br />
kann ich nicht wiedergeben. Alle Familienmitglieder,<br />
die lange Jahre hindurch glücklich und<br />
einträchtig zusammenlebten, werden vielleicht<br />
für viele Jahre auseinandergerissen. - Am Freitag<br />
ist auch Frau Dreyer mit ihren Möbeln in die<br />
Gegend <strong>von</strong> Halberstadt gefahren und kommt<br />
dort auf einem Bauernhof unter. Der Bauer ist<br />
ein Kriegskamerad <strong>von</strong> August Dreyer.<br />
28.7.1943 Besuch bei der Mutter in Ückendorf.<br />
Auf dem Kirchgange hat sie sich den Arm<br />
gebrochen. Familie Gützlag hat sich schon<br />
in den unteren Räumen eingerichtet. Alles in<br />
Haus, Hof und Garten erinnert mich schon an<br />
die Weggegangenen. Da hat sich Herbert gestern<br />
noch eine Strickschaukel gemacht. Auf der<br />
Bleiche steht sein leerer Entenstall. Im Garten<br />
scheinen alle Früchte um den fleißigen Opa zu<br />
trauern. Man kann es nicht fassen, dass das Haus<br />
in Zukunft fremde Leute beherbergen soll.<br />
1.8.1943 Eine Woche Arbeit ist wieder hinter<br />
uns. Mancher Schweißtropfen wurde ver-
gossen. Am Donnerstag wurden unsere Möbel<br />
nach Plettenberg verladen. Auch ein harter Abschied<br />
<strong>von</strong> gut Vertrautem. Wir denken an die<br />
Zukunft, wann und wo wir sie wieder aufbauen<br />
können. Augenblicklich hausen wir in drei Zimmern,<br />
ausgestattet mit einigen alten Möbelstücken,<br />
die hierbleiben sollen. Unsere Wohnung<br />
hat viel Licht, Luft und Sonne. Wir sind zum<br />
Einfachen zurückgekehrt und werden auch so<br />
fertig. Vor einigen Tagen erhielten wir auch <strong>von</strong><br />
den drei Alten Nachricht. Zu unserer Freude haben<br />
sie es gut getroffen. Sie wohnen in einem<br />
Heim der Samariter. – Schwestern in Volkerthausen<br />
am Bodensee (Baden). Sie schreiben <strong>von</strong><br />
ihrer Fahrt dorthin und denken vorläufig noch<br />
nicht an eine Rückkehr in den Kohlenpott. – In<br />
der Nacht <strong>von</strong> Freitag auf Samstag hatten wir<br />
wieder Flieger über uns. Der Angriff konzentrierte<br />
sich auf Remscheid. – Gestern war ich mit<br />
Frau in Dortmund, sah auch dort nur Trümmer,<br />
fuhren weiter nach Mengede und verabschiedeten<br />
uns <strong>von</strong> Otti. Es gab wieder einige Tränen.<br />
Ansonsten bewegen sich unsere Gespräche um<br />
unsere kommenden Schicksale in Pommern.<br />
Wie werden wir es dort antreffen?<br />
2.8.1943 Hypothekenschuld beglichen. Liste<br />
der Gebäude- und Wohnungsschäden am Bauamt<br />
eingereicht. – Wasserleitungsreparatur beantragt.<br />
6.8.1943 Nach langem Warten erhielten wir<br />
heute einen Brief <strong>von</strong> Josef. Er war auf dem<br />
Marsch, hat wunde Füße. Augenblicklich wird<br />
er wohl an den harten Kämpfen teilnehmen.<br />
Offensive der Russen bei Orel usw. Er weiß noch<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
120<br />
nicht, dass wir evakuiert werden. Wo soll er seinen<br />
Urlaub verbringen? – Jeder Tag bringt Arbeit<br />
für den Abreisefall. Gestern stellte ich an<br />
der Fritz-Borawski-Schule Abreisebescheinigungen<br />
für meinen Transport aus. Der Abreisetag ist<br />
noch nicht festgelegt. In der Zeitung eine Bekanntmachung,<br />
dass nach den Ferien hier kein<br />
Unterricht mehr stattfindet. Wohin aber mit<br />
den Kindern, die nicht nach Pommern wollen<br />
oder zu Verwandten gehen? Am 4.8. ist Doris<br />
aus ihrer Pflichtjahrstelle entlassen worden und<br />
nach Hause gekommen. Mutter musste sie abholen,<br />
weil sie kränkelte.<br />
8.8.1943 Die Witterung ist schlecht, deshalb<br />
findet der Gottesdienst in der alten Pilgrimskapelle<br />
statt. Für den weiteren Gottesdienstgebrauch<br />
ist die Kapelle hergerichtet worden.<br />
Nach dem Hochamte verabschieden wir uns<br />
<strong>von</strong> unserem Seelsorger und lassen uns den Reisesegen<br />
geben.<br />
9.8.1943 Änne verabschiedet sich <strong>von</strong> uns<br />
und geht zu ihrer Mutter. Damit verlässt uns<br />
eine getreue Hausgenossin, die vor allen meinen<br />
Kindern und den betagten Schwiegereltern<br />
eine aufopfernde Helferin war. Wir sind traurig,<br />
dass alle Bande auseinandergerissen werden. Es<br />
ist mir nicht möglich, unsere Gedanken und<br />
Empfindungen alle ausführlich wiederzugeben.<br />
Es sind trostlose Tage!!<br />
10.8.1943 Von Plettenberg bekommen wir<br />
Nachricht, dass Möbel gut angekommen sind.<br />
Verladung noch am Abend – Tisch aus dem<br />
Leim, Scheibe entzwei. Wir sind froh, dass wir<br />
so noch glimpflich abgekommen sind. Viele<br />
Leute beklagen sich darüber, dass ihre Möbel<br />
beim Transport schwer beschädigt worden seien<br />
– Füße ab. Nun steht endlich auch in der Zeitung,<br />
dass unser Transport am Montag, d. 16.8.<br />
Wattenscheid verlassen wird. Wohin – ist noch<br />
nicht angegeben.<br />
11.8.1943 Doris zur Verabschiedung zwei<br />
Tage in Plettenberg gewesen. Herbert hat sich<br />
gut eingelebt.<br />
12.8.1943 <strong>Das</strong> Wetter hat sich gebessert,<br />
gleich wird’s auch wieder in der Luft lebendig.<br />
Gegen 9 ½ Uhr morgens gibt’s Alarm und mehrere<br />
Geschwader ziehen am blauen Himmel<br />
über uns hinweg nach Osten. Hinter sich her<br />
schleppen sie deutlich erkennbare Kondensstreifen.<br />
Sie sind ein gutes Ziel unserer Flak. Ein<br />
Flugzeug wird getroffen, zieht eine Rauchfahne<br />
hinter sich her. Ein Fallschirm schwebt zu Bo-<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
121<br />
den, kurz nachher steht ein mächtiger Dampfpilz<br />
über der Stelle, wo das Flugzeug abgestürzt<br />
ist. Bomben werden abgeworfen in Bochum<br />
und Dortmund.<br />
Wir hören heute, dass wir wahrscheinlich nach<br />
Baden verschickt würden.<br />
15.8.1943 Seit Donnerstag wissen wir nun<br />
ungefähr, wohin die Reise geht und wo wir die<br />
weitere Kriegszeit verleben werden. Unser Aufenthaltsort<br />
liegt einige Kilometer östlich <strong>von</strong><br />
Stettin. Es scheint Flachland zu sein. Abreisetag<br />
ist der morgige Tag. Mit unserer Abreise ist<br />
das Haus <strong>von</strong> allen alten Hausbewohnern verlassen.<br />
Der Abschied fällt schwer. Wir denken<br />
an das weitere Schicksal unseres Heimes. Wie<br />
werden wir es wiedersehen? – Und wann? – So<br />
will ich denn auch meine Chronik des Hauses<br />
kurz schließen und hoffe, dass Gott die Schicksale<br />
des Hauses und seiner Bewohner in Zukunft<br />
gnädig lenken möge. Amen!<br />
Aufenthaltsorte der Hauseinwohner:<br />
Opa, Oma, Onkel Tom in Volkertshausen am<br />
Bodensee, bei den Samariter Schwestern.<br />
Ich, Franz und Doris östlich <strong>von</strong> Stettin.<br />
Herbert, bei Fam. Fritz Neuhaus in Plettenberg<br />
Josef, Maschinengewehr Schütze an der<br />
Ostfront.<br />
Treschen, Trudi, Urlaub in Lehesten, Sachsen.<br />
Willi, an der Ostfront.<br />
Frau Dreyer, Änne, auf einem Bauernhof<br />
bei Halberstadt.<br />
August Dreyer, augenblicklich in einer<br />
Garnison in Mitteldeutschland.
Hier endet das Tagebuch <strong>von</strong> <strong>Albert</strong><br />
<strong>Plassmann</strong>. Er wollte es an dieser<br />
Stelle nur für kurze Zeit schließen.<br />
1945 wurde er <strong>von</strong> den Russen<br />
verschleppt und starb, schwer krank,<br />
noch im selben Jahr.<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
122<br />
Nacht über Wattenscheid · Schlag auf Schlag<br />
<strong>Albert</strong> <strong>Plassmann</strong><br />
<strong>Albert</strong> <strong>Plassmann</strong> wurde 1897 in Wattenscheid geboren.<br />
Er war Lehrer an den Volksschulen in Sevinghausen<br />
und Westenfeld.<br />
Nebenberuflich leitete er den Kirchenchor <strong>von</strong><br />
Herz Jesu und betätigte sich als Organist.<br />
Eine Verwundung im Ersten Weltkrieg ersparte ihm<br />
einen Fronteinsatz im Zweiten Weltkrieg.<br />
Über die Kriegstage in Wattenscheid führte er ein<br />
Tagebuch. Es endet im August 1943<br />
– als <strong>Albert</strong> <strong>Plassmann</strong> mit der Westenfelder Schule<br />
im Rahmen der Kinderlandverschickung<br />
nach Pommern musste.<br />
1945 wurde er <strong>von</strong> den Russen verschleppt.<br />
Schwer krank kehrte er aus der Gefangenschaft zurück.<br />
Er starb am 18. November 1945.<br />
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