Neue Szene 2020-10
Stadtmagazin für Augsburg
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Gästeblog
Mal ehrlich: Ein Acker? Ich? Ich bin doch eigentlich
ein Vorort-Kind, das sich geschworen hat,
nie einen eigenen Garten zu besitzen, nie mehr
Rasenmähen, Laubrechen oder ähnliche Sachen
zu machen. Reingeboren in eine Doppelhaushälfte
samt Garten und Hund eines Neubaugebietes
in einem Vorort von München (mit See), zogen
meine Eltern in eine Doppelhaushälfte eines Neubaugebietes
eines Dorfes bei Wasserburg am Inn
(mit See) und schließlich weiter nach Bergheim
bei Augsburg. In eine Neubaugebietdoppelhaushälfte.
Und natürlich war der Hund auch dabei im
eigenen Garten. Und das Dorf natürlich mit See.
Nach der Schule und während des Studiums an
der Augsburger Universität (mehrere Neubauten,
ein See) beschloss ich, Innenstädter zu werden.
Und so zu wohnen, dass ich nie mehr Gartenarbeit
haben würde. Und nie mehr einen Kräutergarten
oder Komposthaufen pflegen sollte.
Und nun stehe ich hier auf einer Ackerparzelle.
Vor mir Gemüse, das ganz anders aussieht
als die Hollandidealformgurken, Prachtzucchinis
und Edeltomaten im Discounter. Darunter
Gemüse, von dem ich gar nicht wusste, das man
es essen könne, geschweige denn in welcher Form.
Seit vielen Jahren zupfe ich nun hier Unkraut und
manchmal auch versehentlich die eigentlichen
Pflanzen raus. Häufle Erde um Kartoffeln auf.
Schneide Tomaten zurück und weiß nun, dass
man das ausgeizen nennt. Und en passant versuche
ich, meine Lebensmittellegasthenie zu heilen.
Dank meiner Frau schaff ich das auch!
Natürlich besitze ich keinen eigenen Acker,
sondern habe mich der Urban Gardening-
Bewegung angeschlossen. In Augsburg gibt es
verschiedene Konzepte, ich habe mich konkret
bei GemüseSelbstErnte angeschlossen. Ich bin
also Teil einer urbanen Ackergemeinschaft geworden!
Das Konzept ist einfach: Ein Acker wird von
einem Biobauer in Längsreihen mit verschiedenen
Gemüsearten bestellt und anschließend quer
in Parzellen unterteilt. So hat jeder Hobbygärtner
seinen eigenen Bereich. Jeder übernimmt die
Pflege und Ernte des Gemüses eigenverantwortlich
und kann neben den vorausgesäten Pflanzen
auch eigene Gewächse heranzüchten. Ist die Saison
vorbei, gibt man seinen Acker wieder zurück
und die Verpächter bereiten ihn für das nächste
Jahr vor. Weil es ein Bio-Anbau ist, stehen drei
Acker zur Verfügung, die im Wechsel jeweils einer
für Stark-, einer für Schwachzehrer ausgelegt wird
und ein dritter ruht. Ausgesät werden dürfen
natürlich nur Pflanzen mit Bio-Zertifikat.
Das macht auch richtig Spaß. Man ist an der
frischen Luft. Lernt neue Dinge über Pflanzenanbau.
Triff Freunde. Und man bringt Unmengen
an Essen nach Hause. Und lernt, was man denn
alles daraus kochen kann. Soviel schmeißt der
Acker ab, dass man noch mehr lernen darf: Wie
lagert man richtig ein? Was kann man einkochen,
was einfrieren? Gerade in dieser Jahreszeit füllen
sich bei uns die Regale mit Gläsern mit Tomaten-
Sugo, eingelegter Roter Beete und scharf-sauren
Zucchini. An den Fensterscheiben hängen
Kräuterbündel zum Trocknen und lassen die
Wohnung herrlich duften. Der Tiefkühlschrank
platzt aus allen Nähten und auf dem Balkon
lagern Kartoffeln, Karotten und Zwiebeln …
„In der Ferne
weht in einer
Kleingartenanlage
eine Trump 2020-
Flagge”
Ich schaue wieder auf mein Grabwerkzeug.
Ich lausche dem Meeresrauschen der nahen B17.
Der Dreijährige zeigt dem Zweijährigen gerade,
wie man nach Dinosaurierknochen graben muss.
In der Ferne weht in einer Kleingartenanlage
eine Trump 2020-Flagge. Am Bauwagen mit den
Werkzeugen lehnen unsere Fahrräder, ich habe
uns auch noch eisgekühltes Bier mitgebracht. Alles
so ruhig. Alles so friedlich. Alles so – darf man es
sagen? Ideal? Ja, so fühlt sich das an. Dabei stimmt
im Moment so einiges nicht. Mein Job in der IT,
der mich noch vor wenigen Monaten durch ganz
Europa reisen ließ, besteht jetzt dank Corona aus
endlosen Videokonferenzen im Home Offce.
Meine Veranstaltungen und Moderationen: im
Koma. Unser gesellschaftliches Leben liegt im
Dornröschenschlaf und wartet auf den Prinzenkuss,
um wieder aufzuwachen. Es gibt Tage,
wenn nicht sogar Wochen, an denen ich das Haus
ausschließlich zum Entleeren der Windeleimer
verlasse. Und ja – ich verstehe es. Ich unterstütze es.
Keiner hat Bock, seine Gesundheit zu ruinieren.
Aber etwas fehlt. Die Kunst. Die Musik. Die
ganze Kleinkunstszene. Der Slam. Die vielen
Künstlerinnen und Künstler … Die eigenen Auftritte.
Irgendwann neben dem Studium startete
ich neben der Mitarbeit an der noch immer
legendären Literaturzeitschrift „Zeitriss – Blätter
zur Sprachbewegung” mit dem Lauschangriff eine
eigene Literaturreihe: Der Poetry Slam Augsburgs
war aus der Taufe gehoben. Seit 1998 läuft er
ununterbrochen und mindestens monatlich als
GRAND SLAM. Wir brachten 2013 die Bayerischen
Slam Meisterschaften nach Augsburg,
dann 2015 die Deutschsprachigen Wettbewerbe,
die sogar live im Fernsehen ausgestrahlt wurden.
Das ist Teil meines Lebens und ja, es fehlt mir
deutlich.
Dank Corona pausieren jetzt meine Veranstaltungen
- und werden hoffentlich im Dezember
auf der brechtbühne des Augsburger Staatstheater
wieder starten. Ich könnte jetzt lang darüber
lamentieren, wie wichtig für uns Kunst und
Kultur ist. Wie sehr sie uns fehlt als verbindendes
Element. Ein Urbedürfnis, bei dem wir uns
begegnen und kennenlernen können. Kunst, die
uns nachdenklich macht. Bei der wir auch einfach
nur Spaß haben können.
Aber hey – wessen Leben hat sich nicht verändert?
Vielleicht ist das ja eine gute Zeit, wieder
mal einen Gang nach unten zu schalten und sich
zu überlegen, was das Wesentliche ist. Was einem
gut tut. Woher man kommt und wohin man geht.
Und zu hoffen, dass wir das alles schon hinbekommen
werden. Und wir irgendwann auch
wieder gemeinsam feiern werden.
Seufzend packe ich meinen Grabespaten
fester und trete ihn tief in die Erde, kippe ihn
nach hinten um und drehe vorsichtig an seinem
Griff. Mir kullern die ersten Kartoffeln entgegen.
Sie sind nicht groß genug, um einer Bauernregel
gerecht zu werden. Aber sie sind fest und rund.
Ich dreh mich zu meiner Familie um und strahle.
Urban Gardening in
Augsburg
In Augsburg gibt es verschiedene Urban
Gardening-Konzepte, die unterschiedlich funktionieren.
Auf www.urbane-gaerten.org findet
man eine Übersicht über einige der Gärten und
Acker. Horst Thieme erwähnt in seinem Artikel
den Anbieter www.biogemuese-augsburg.de die
im Bärenkeller ihren Acker verpachten. Prinzip:
halbe Arbeit – ganze Ernte, da viele Vorarbeiten
bereits übernommen werden. Auch Augsburger
Blogger*innen beschäftigen sich mit dem Thema.
Lesetipp: www.chestnutandsage.de auf deren
Food-Blog man vieles zu Urban Gardening,
Imkern und selbstverständlich tolle und leckere
Rezepte finden kann!