42zOOmAckern auf dem AckerDas andere Leben von Poetry Slam-Papst Horst ThiemeIch steh auf einem Acker im Matsch. Vor mir Reihen an Kartoffeln,Karotten, Lauch, Zwiebeln, Rote Beete und viele andere Dinge mehr, dieman hier anbaut. Zwischen meinen Zehen, die in Flipflops stecken, quilltder Matsch. Meine Fingernägel sind tiefschwarzbraun. Und an meinemNacken spüre ich den kratzigen Beginn eines Sonnenbrandes. Ich stützemich mit beiden Armen auf meine Spatengabel, lege meinen Kopf aufmeine Fäuste und blinzel in die Sonne: „What the fuck”, denke ich mir,„bringt mich auf einen Acker? Und das nicht einmal im Jahr, sondern inallergrößter Regelmäßigkeit?“
zOOm43MGästeblogMal ehrlich: Ein Acker? Ich? Ich bin doch eigentlichein Vorort-Kind, das sich geschworen hat,nie einen eigenen Garten zu besitzen, nie mehrRasenmähen, Laubrechen oder ähnliche Sachenzu machen. Reingeboren in eine Doppelhaushälftesamt Garten und Hund eines Neubaugebietesin einem Vorort von München (mit See), zogenmeine Eltern in eine Doppelhaushälfte eines Neubaugebieteseines Dorfes bei Wasserburg am Inn(mit See) und schließlich weiter nach Bergheimbei Augsburg. In eine Neubaugebietdoppelhaushälfte.Und natürlich war der Hund auch dabei imeigenen Garten. Und das Dorf natürlich mit See.Nach der Schule und während des Studiums ander Augsburger Universität (mehrere Neubauten,ein See) beschloss ich, Innenstädter zu werden.Und so zu wohnen, dass ich nie mehr Gartenarbeithaben würde. Und nie mehr einen Kräutergartenoder Komposthaufen pflegen sollte.Und nun stehe ich hier auf einer Ackerparzelle.Vor mir Gemüse, das ganz anders aussiehtals die Hollandidealformgurken, Prachtzucchinisund Edeltomaten im Discounter. DarunterGemüse, von dem ich gar nicht wusste, das manes essen könne, geschweige denn in welcher Form.Seit vielen Jahren zupfe ich nun hier Unkraut undmanchmal auch versehentlich die eigentlichenPflanzen raus. Häufle Erde um Kartoffeln auf.Schneide Tomaten zurück und weiß nun, dassman das ausgeizen nennt. Und en passant versucheich, meine Lebensmittellegasthenie zu heilen.Dank meiner Frau schaff ich das auch!Natürlich besitze ich keinen eigenen Acker,sondern habe mich der Urban Gardening-Bewegung angeschlossen. In Augsburg gibt esverschiedene Konzepte, ich habe mich konkretbei GemüseSelbstErnte angeschlossen. Ich binalso Teil einer urbanen Ackergemeinschaft geworden!Das Konzept ist einfach: Ein Acker wird voneinem Biobauer in Längsreihen mit verschiedenenGemüsearten bestellt und anschließend querin Parzellen unterteilt. So hat jeder Hobbygärtnerseinen eigenen Bereich. Jeder übernimmt diePflege und Ernte des Gemüses eigenverantwortlichund kann neben den vorausgesäten Pflanzenauch eigene Gewächse heranzüchten. Ist die Saisonvorbei, gibt man seinen Acker wieder zurückund die Verpächter bereiten ihn für das nächsteJahr vor. Weil es ein Bio-Anbau ist, stehen dreiAcker zur Verfügung, die im Wechsel jeweils einerfür Stark-, einer für Schwachzehrer ausgelegt wirdund ein dritter ruht. Ausgesät werden dürfennatürlich nur Pflanzen mit Bio-Zertifikat.Das macht auch richtig Spaß. Man ist an derfrischen Luft. Lernt neue Dinge über Pflanzenanbau.Triff Freunde. Und man bringt Unmengenan Essen nach Hause. Und lernt, was man dennalles daraus kochen kann. Soviel schmeißt derAcker ab, dass man noch mehr lernen darf: Wielagert man richtig ein? Was kann man einkochen,was einfrieren? Gerade in dieser Jahreszeit füllensich bei uns die Regale mit Gläsern mit Tomaten-Sugo, eingelegter Roter Beete und scharf-saurenZucchini. An den Fensterscheiben hängenKräuterbündel zum Trocknen und lassen dieWohnung herrlich duften. Der Tiefkühlschrankplatzt aus allen Nähten und auf dem Balkonlagern Kartoffeln, Karotten und Zwiebeln …„In der Ferneweht in einerKleingartenanlageeine Trump 2020-Flagge”Ich schaue wieder auf mein Grabwerkzeug.Ich lausche dem Meeresrauschen der nahen B17.Der Dreijährige zeigt dem Zweijährigen gerade,wie man nach Dinosaurierknochen graben muss.In der Ferne weht in einer Kleingartenanlageeine Trump 2020-Flagge. Am Bauwagen mit denWerkzeugen lehnen unsere Fahrräder, ich habeuns auch noch eisgekühltes Bier mitgebracht. Allesso ruhig. Alles so friedlich. Alles so – darf man essagen? Ideal? Ja, so fühlt sich das an. Dabei stimmtim Moment so einiges nicht. Mein Job in der IT,der mich noch vor wenigen Monaten durch ganzEuropa reisen ließ, besteht jetzt dank Corona ausendlosen Videokonferenzen im Home Offce.Meine Veranstaltungen und Moderationen: imKoma. Unser gesellschaftliches Leben liegt imDornröschenschlaf und wartet auf den Prinzenkuss,um wieder aufzuwachen. Es gibt Tage,wenn nicht sogar Wochen, an denen ich das Hausausschließlich zum Entleeren der Windeleimerverlasse. Und ja – ich verstehe es. Ich unterstütze es.Keiner hat Bock, seine Gesundheit zu ruinieren.Aber etwas fehlt. Die Kunst. Die Musik. Dieganze Kleinkunstszene. Der Slam. Die vielenKünstlerinnen und Künstler … Die eigenen Auftritte.Irgendwann neben dem Studium starteteich neben der Mitarbeit an der noch immerlegendären Literaturzeitschrift „Zeitriss – Blätterzur Sprachbewegung” mit dem Lauschangriff eineeigene Literaturreihe: Der Poetry Slam Augsburgswar aus der Taufe gehoben. Seit 1998 läuft erununterbrochen und mindestens monatlich alsGRAND SLAM. Wir brachten 2013 die BayerischenSlam Meisterschaften nach Augsburg,dann 2015 die Deutschsprachigen Wettbewerbe,die sogar live im Fernsehen ausgestrahlt wurden.Das ist Teil meines Lebens und ja, es fehlt mirdeutlich.Dank Corona pausieren jetzt meine Veranstaltungen- und werden hoffentlich im Dezemberauf der brechtbühne des Augsburger Staatstheaterwieder starten. Ich könnte jetzt lang darüberlamentieren, wie wichtig für uns Kunst undKultur ist. Wie sehr sie uns fehlt als verbindendesElement. Ein Urbedürfnis, bei dem wir unsbegegnen und kennenlernen können. Kunst, dieuns nachdenklich macht. Bei der wir auch einfachnur Spaß haben können.Aber hey – wessen Leben hat sich nicht verändert?Vielleicht ist das ja eine gute Zeit, wiedermal einen Gang nach unten zu schalten und sichzu überlegen, was das Wesentliche ist. Was einemgut tut. Woher man kommt und wohin man geht.Und zu hoffen, dass wir das alles schon hinbekommenwerden. Und wir irgendwann auchwieder gemeinsam feiern werden.Seufzend packe ich meinen Grabespatenfester und trete ihn tief in die Erde, kippe ihnnach hinten um und drehe vorsichtig an seinemGriff. Mir kullern die ersten Kartoffeln entgegen.Sie sind nicht groß genug, um einer Bauernregelgerecht zu werden. Aber sie sind fest und rund.Ich dreh mich zu meiner Familie um und strahle.Urban Gardening inAugsburgIn Augsburg gibt es verschiedene UrbanGardening-Konzepte, die unterschiedlich funktionieren.Auf www.urbane-gaerten.org findetman eine Übersicht über einige der Gärten undAcker. Horst Thieme erwähnt in seinem Artikelden Anbieter www.biogemuese-augsburg.de dieim Bärenkeller ihren Acker verpachten. Prinzip:halbe Arbeit – ganze Ernte, da viele Vorarbeitenbereits übernommen werden. Auch AugsburgerBlogger*innen beschäftigen sich mit dem Thema.Lesetipp: www.chestnutandsage.de auf derenFood-Blog man vieles zu Urban Gardening,Imkern und selbstverständlich tolle und leckereRezepte finden kann!