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MAGAZIN Suggestionen 2020

Das Magazin der Deutschen Gesellschaft für Hypnose und Hypnotherapie e.V. in der Ausgabe 2020.

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Pacing und Leading im Gebirge<br />

11<br />

P<br />

Pacing und Leading<br />

im Gebirge<br />

acing und Leading ist Kerninhalt des<br />

klinischen Alltags, sei es zum Wohl der<br />

Patientinnen und Patienten, für das Team<br />

oder für sich selbst. Auch in der Lehre können<br />

diese hypnotischen Grundelemente<br />

in der Kommunikation sinnvoll eingesetzt<br />

werden und den Studierenden erste Erfahrungen<br />

in medizinischer Hypnose bieten.<br />

Als Berggänger lernte ich von Kindesbeinen<br />

an, also lange vor meiner Ausbildung zum<br />

medizinischen Hypnotherapeuten, nicht nur<br />

auf den eigenen Körper, insbesondere den<br />

Atem zu achten, sondern auch das Befinden<br />

der anderen Menschen sowie die Interaktionen<br />

in der Gruppe wahrzunehmen. In<br />

der alpinen Ausbildung beeindruckte mich<br />

die Fähigkeit der Bergführer, nicht nur verbal,<br />

sondern auch nonverbal und paraverbal<br />

selbst in schwierigen Situationen positiven<br />

Einfluss auf Einzelne oder die gesamte Gruppe<br />

zu nehmen. Dabei hatten Körpersprache,<br />

Berührungen sowie die Prosodie, also Klang<br />

und Lautstärke der Stimme bzw. Geschwindigkeit<br />

der Sprache, eine große Bedeutung.<br />

Entsprechend gerne arbeite ich auch im klinischen<br />

Kontext mit dem Bild der Seilschaft als<br />

Metapher für gegenseitige Rücksichtnahme<br />

und Vertrauen, aber auch für den gemeinsamen<br />

Weg, den es in Diagnostik und Therapie<br />

zu gehen gilt. Der Atem als Taktgeber bestimmt<br />

nicht nur im medizinischen Kontext<br />

die Arzt-Patientenkommunikation, sondern<br />

Autor: Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo<br />

auch im Gebirge den eigenen Schritt sowie<br />

jenen der geführten Gruppe. Die Unerfahrenen<br />

erkennt man an beiderorts an der<br />

überfordernden Gangart, dem beschleunigten<br />

Atem, der zu lauten, schrill klingenden<br />

Stimme und der Unruhe. Im Gebirge lernten<br />

wir eine einfache Faustregel kennen, die<br />

auch heilsam für Menschen im medizinischen<br />

Kontext wirken kann:<br />

Gehe du allein oder mit deiner Gruppe zu<br />

Beginn einer Bergtour gerade so schnell, als<br />

du sicher sein kannst, nach acht bis zwölf<br />

Stunden noch immer gehen zu können. So<br />

wirst du Kräfte schonen und auch am Ziel<br />

über genügend Reserven verfügen.Ein solches<br />

Schritttempo mag vielen am Anfang<br />

einer Bergtour als zu langsam erscheinen,<br />

wird aber mit zunehmender Wegstrecke als<br />

stärkend empfunden und hilft, auch nicht<br />

voraussehbare Herausforderungen erfolgreicher<br />

zu bewältigen, wie die nachfolgende<br />

Fallvignette zeigt.<br />

Überforderung im Gelände<br />

Die herausfordernde Situation stellte sich<br />

mir auf einer Wanderwoche für Seniorinnen<br />

und Senioren auf der Seiser Alm in Südtirol.<br />

Auf einer Gratwanderung brachte die<br />

von mir geführte gemütlichere Gruppe von<br />

fünf Personen zusammen 438 Lebensjahre<br />

auf die Beine. Das Durchschnittsalter betrug<br />

also 73 Jahre, wobei außer meiner Frau alle<br />

Teilnehmerinnen älter als 75 Jahre waren,<br />

die Älteste befand sich im 90. Lebensjahr. Ein<br />

leicht abfallendes Stück Weg nach der Bergstation<br />

des Sesselliftes gab mir zu Beginn der<br />

Wanderung die Gelegenheit, die Gruppe auf<br />

den kurzen, aber steilen Anstieg zum Grat<br />

einzustimmen. Meine ‚Golden Girls‘ waren<br />

guten Mutes und in Plauderstimmung. Mein<br />

Schritttempo war dagegen bewusst langsam.<br />

Leise mischte ich mich in die Gespräche<br />

ein mit dem mehrfach wiederholten Vorschlag,<br />

doch dem wohltuenden Ein und Aus<br />

des eigenen Atems zu folgen, immer weiter<br />

und weiter, tiefer und tiefer. Allmählich verstummte<br />

auch die letzte Teilnehmerin.«Nun<br />

sind wir soweit, auf unseren eigenen Körper<br />

zu achten», fuhr ich fort, « jede für sich. Unser<br />

inneres Ich weiß, was wir brauchen, damit<br />

es uns den ganzen Tag über gut geht, wir<br />

voller Kraft und Freude die Natur geniessen<br />

können. Unser Schritt ist und bleibt gerade<br />

so schnell wie unser Atem ruhig fließen kann,<br />

ein und aus, immer weiter und weiter, tiefer<br />

und tiefer.» Friedliche Ruhe nahm allmählich<br />

von der Gruppe Besitz. Trotzdem blieb eine<br />

76-jährige Teilnehmerin beim Einstieg in den<br />

steilen Hang zum Grat hinauf plötzlich stehen,<br />

hektisch nach Luft schnappend. Sie war<br />

Asthmatikerin und hatte ausgerechnet an<br />

diesem Tag ihr Atemspray im Hotel liegen lassen.<br />

Sie war in diesem Moment überzeugt,<br />

den Aufstieg nicht zu schaffen und wollte<br />

umkehren. «Franziska (Name geändert), ich<br />

sehe, dass dich der Aufstieg beeindruckt. Ich<br />

denke, dass alle in der Gruppe Respekt vor<br />

diesem Wegabschnitt haben und froh sind,<br />

dass wir jetzt unser Schritttempo nochmals<br />

anpassen werden.» Meine Hand liegt auf der<br />

Schulter der Teilnehmerin, meine Stimme<br />

bleibt ruhig und leise. «Wir ruhen uns jetzt<br />

aus, bis dein Atem wie auch der aller anderen<br />

in der Gruppe wieder ganz ruhig geht,<br />

ein und aus, ein und aus, genauso, sehr<br />

gut machst du das, Franziska.» Meine Hand<br />

bleibt auf der Schulter und unterstützt beruhigend<br />

die Atmung.<br />

«Jetzt, wo du ganz bei dir bist, kannst du<br />

spüren, dass Einatmen Arbeit ist, Ausatmen<br />

Loslassen bedeutet, Entspannung schenkt.<br />

Je länger es dir in aller Ruhe gelingt auszuatmen,<br />

desto tiefer wirst du dich erholen, bei<br />

jedem Atemzug, ein und aus, immer weiter<br />

und weiter, tiefer und tiefer. Vielleicht hilft<br />

es dir beim Einatmen auf Zwei, und beim<br />

Ausatmen auf Vier zu zählen, Einatmen auf<br />

Zwei, Ausatmen auf Vier, wunderbar, du<br />

machst das sehr gut, Franziska.» Allmählich<br />

beruhigte sich der Atem der Teilnehmerin.<br />

Trotzdem blieb sie überzeugt, der Gruppe<br />

nur ein Klotz am Bein zu sein und wollte nicht<br />

mehr weitergehen. «Ich kann verstehen,<br />

dass du noch zweifelst, aber ebenso spüre<br />

ich, wie du wieder ganz ruhig wirst und habe<br />

dich am gestrigen Tag wandern sehen, voller<br />

Kraft und Ausdauer. Ich bin sicher, dass<br />

wir alle gemeinsam diesen kurzen Aufstieg<br />

schaffen werden. Du gehst gleich hinter mir,<br />

bleibst bei dir und deinem nun wieder ganz<br />

ruhigen Atem. Schau zu deinem Schritt im<br />

Bewusstsein, dass du uns genau das Tempo<br />

vorgibst, das uns allen Gutes tut und uns<br />

hilft, voller Kraft den Grat zu erreichen.» Dabei<br />

kam mir die Arbeit von Andreas Kruse zur<br />

Atem-Selbsthypnose nach Brian Alman (<strong>Suggestionen</strong><br />

2019, Seite 20-21) in den Sinn. Ich<br />

war überzeugt, dass mir diese dabei helfen<br />

würde, die Achtsamkeit der Teilnehmerin auf<br />

sich zu lenken und ihren Atem zu vertiefen.<br />

«Während du mit mir Schritt für Schritt sicher,<br />

gelassen und voller Kraft gehst, kannst<br />

du bei jedem Atemzug ein weiteres, Stärke,<br />

Ruhe und Zuversicht schenkendes Wunder<br />

entdecken. Deine Beine werden dabei ganz<br />

von alleine und völlig sicher Schritt für Schritt<br />

den Weg für dich gehen, immer weiter und<br />

weiter, tiefer und tiefer in den blauen Himmel<br />

hinein, in die kühle und gesunde Bergluft,<br />

die dich laufend erfrischt und stärkt.<br />

Du kannst spüren, wie am Wendepunkt zwischen<br />

Ein- und Ausatmen ein Moment der<br />

absoluten Stille auftritt, der erholsame Ruhe<br />

und kraftspendenden Frieden mit sich und<br />

der Welt spendet. Einatmen – Wendepunkt<br />

– Ausatmen. Und du wirst entdecken, dass<br />

am Wendepunkt zwischen Ausatmen und<br />

Einatmen ein ebensolcher Moment der Stille,<br />

Ruhe und des Friedens auftritt.<br />

Es geht von selbst<br />

Einatmen – Wendepunkt der Ruhe – Ausatmen<br />

– Wendepunkt des Friedens – Einatmen<br />

– Wendepunkt der Ruhe – Ausatmen, immer<br />

weiter und weiter, tiefer und tiefer. Genauso,<br />

du machst das ausgezeichnet, Franziska.<br />

Du kannst spüren, wie es der ganzen Gruppe<br />

guttut, deinem Schritttempo zu folgen<br />

und sich dabei bei jedem Atemzug erholen<br />

zu können, beim Wendepunkt zwischen Einund<br />

Ausatmen, beim Loslassen während des<br />

Ausatmens und beim Wendepunkt zwischen<br />

Aus- und Einatmen. So ist es sehr gut, wie du<br />

führst, mit jedem Schritt höher und höher,<br />

weiter und weiter, tiefer und tiefer in den<br />

frischen, blauen Himmel hinein. Deine Füße<br />

finden von selbst und sicher bei jedem Schritt<br />

einen guten Tritt wie auf einer bequemen<br />

Wendeltreppe, die uns in die Höhe führt,<br />

ohne dass wir es merken, immer höher und<br />

höher. Es ist wunderbar, wie du jetzt zu dir<br />

und deinem Atem schaust, voller Ruhe und<br />

Zuversicht. Dein Körper hat nun alle Zeit und<br />

Muße, den Sauerstoff aus der frischen Bergluft<br />

bis in die Finger- und Zehenspitzen zu<br />

verteilen. Deine vielen roten Blutkörperchen<br />

sind die kleinen, flinken und unermüdlichen<br />

Briefträger, die durch deine Blutgefäße in<br />

deine Lunge strömen, den vielen, kraftspendenden<br />

Sauerstoff in ihre Taschen packen<br />

und dann in den Briefkasten jeder einzelnen<br />

Zelle deines Körpers werfen, wieder und<br />

wieder, ohne dass du mehr tun musst, als auf<br />

deinen Atem zu achten unddeinem Körper<br />

zu vertrauen. Dieser sorgt dafür, dass jede<br />

Zelle deines Körpers zuverlässig ihre Arbeit<br />

tut, sodass es dir gut geht und du dich wohl<br />

und voller Tatendrang fühlst. Du machst das<br />

wunderbar!<br />

Deine Beine finden den Weg von selbst,<br />

Schritt für Schritt haben diese dich schon<br />

viel näher zu unserem herrlichen Aussichtsziel<br />

gebracht und du kannst ganz und gar<br />

bei deinem ruhigen Atem bleiben, auf Zwei<br />

zählen beim Einatmen, am Umkehrpunkt<br />

den Moment der absoluten Ruhe genießen,<br />

auf Vierzählen beim Ausatmen, dabei loslassen<br />

und entspannen, um den Frieden beim<br />

Umkehrpunkt zwischen Ausatmen und Einatmen<br />

sich in dir ausbreiten zu lassen, bevor<br />

du wieder einatmest, immer weiter und<br />

weiter, immer tiefer und tiefer. Du kannst<br />

auch bei jedem Umkehrpunkt stolz in Gedanken<br />

deinen Namen sagen, denn du hast das<br />

ideale Schrittmaß nicht nur für dich, sondern<br />

für uns alle gefunden, sodass es uns allen<br />

sehr gut geht. Du, Franziska, führst jetzt die<br />

Gruppe und das Ziel ist schon viel näher als<br />

zuvor.»<br />

Wir machten im einstündigen Aufstieg zwei<br />

Pausen, bei denen wir jeweils Wasser oder<br />

Tee aus unseren Feldflaschen tranken. Es<br />

waren bewusst kurze Halte, bei denen ich die<br />

Gruppe nicht absitzen ließ, um den gefundenen<br />

Rhythmus nicht unnötig zu unterbrechen.<br />

Dafür wurden die veränderte Aussicht<br />

und die zwischenzeitlich neu gewonnene<br />

Höhe genossen, begleitet von vielen Komplimenten<br />

über die bereits erbrachte Leistung<br />

an Franziska und die ganze Gruppe. Der weitere<br />

Aufstieg wurde erneut unterstützt durch<br />

das bereits geschilderte Pacing und Leading.<br />

Oben auf dem Grat wurde allen mit einem<br />

herzlichen ‚High five‘ gratuliert, das ich auch<br />

gerne im klinischen Kontext, bei Kindern<br />

und Erwachsenen, als eine die Anspannung<br />

lösende und anerkennende Geste verwende.<br />

Franziska gab ich noch, wenn man so will,<br />

die posthypnotische Suggestion mit auf den<br />

Weg, dass sie nun wisse, wie sie auch in Zukunft<br />

steile Herausforderungen bewältigen<br />

könne. Nach einem Moment des Durchatmens<br />

nahm mich Franziska auf die Seite<br />

mit der Frage, was ich denn mit ihr gemacht<br />

hätte, dass ihr der Aufstieg so gut gelungen<br />

sei? «Hast du mich etwa hypnotisiert?»«Alles,<br />

was ich getan habe, war dir zu helfen, auf<br />

dich zu achten, auf dein inneres Ich zu hören<br />

und diesem zu vertrauen. Aufgestiegen bist<br />

du mit deinem eigenen Willen und deinen<br />

eigenen Kräften. Du kannst wirklich stolz auf<br />

dich sein!» >>

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