Rijec 58_59
Riječ: glasnik Hrvatske kulturne zajednice Wiesbaden / Das Wort: Mitteilungsblatt der Kroatischen Kulturgemeinschaft e.V. / HKZ Wiesbaden.
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Mitteilungsblatt der Kroatischen Kulturgemeinschaft e.V. Nr. 58/59, 2020
Rezession zu der Biografie
IM BRAND DER WELTEN: IVO ANDRIĆ- EIN EUROPÄISCHES LEBEN
Verfasst von Michael Martens
Diese Rezession möchte ich gerne mit
der bekannten Bemerkung oder dem
Scherz beginnen, den Herr Martens bei
der Vorstellung des Buchs „Im Brand
der Welten. Ivo Andrić- ein europäisches
Leben“ im November 2019 in
Sarajevo gemacht hat.
Die Kroaten hassen Ivo Andrić, weil er
als Kroate geboren wurde und als
Serbe starb, Serben hassen Ivo Andrić
weil er weil er als Kroate geboren
wurde und als Serbe starb, Bosnier
hassen Ivo Andrić, weil er geboren
wurde!
Ist das eine Tragödie des eigentlichen
Menschen Ivo Andrić, der Zeit, in der
er lebte, oder eine Tragödie der Umgebung
in der er lebte?
Der deutsche Journalist und Korrespondent
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
für das südöstliche Europa entdeckte
auf Empfehlung seines Gymnasiallehrers
Andrić als Autor, las „Die
Brücke über die Drina“ und in der
Folge alle seine Werke.
Seither befasst er sich mit Andrić und
seinem komplexen politischen und
diplomatischen Leben.
Martens schrieb eine Romanbiografie,
mit der Absicht chronologisch Tatsachen
aufzuzeigen, wobei er dabei
diverse Geschichtsdokumentation benutzte,
ohne irgendeinen Pathos oder
nationalen Verwicklungen.
Martens rechtfertigt, oder kritisiert
nicht Andrićs Weltanschauung und sein
politisches Bekenntnis sondern stellt
ihn in Kontext seiner Zeit und des
politischen Klimas dieser Zeit.
Wie selbst Martens schrieb, ist es erforderlich
die gesellschaftlichen und politische
Turbulenzen Anfang und Mitte
des 20. Jahrhunderts gut zu kennen, um
über Andrićs politische Ambitionen
sprechen zu können: die Balkankriege,
die Befreiung des Balkans von dem
Osmanischen Reich, die Besetzung
Bosniens durch die Österreichisch-Ungarische
Monarchie, das Erwachen des
Nationalbewusstseins der Südslawen,
die jugoslawischen Ideen, das Attentat
von Sarajevo, er erste Weltkrieg,
Schaffung von Königreichen der Serben,
Kroaten und Slowenen, anschließend
der zweite Weltkrieg und
letztendlich die Gründung Jugoslawiens.
All diese politischen Turbulenzen haben
Ivo Andrić, geboren in ärmlichen
Verhältnissen in Travnik im lange
zurückliegendem Jahr 1892, geformt.
Der Junge, der von seiner Mutter getrennt
wurde, wurde zu Bekannten in
eine für ihm neue und fremde Umgebung
geschickt, damit er eine Schule
besuchen konnte. Sein ganzes Leben
wollte er akzeptiert werden, wollte sich
zugehörig fühlen, nicht national sondern
klassisch oder intellektuell. Er
lebte sein ganzes Leben nach dem
Prinzip: „ Gehör zu denen, die dir das
ein angenehmeres Leben ermöglichen
werden.“ Andrić mit allen Schwächen
eins sterblichen Menschen: „was nutzt
es viel zu haben und jemand zu sein,
wenn der Mensch sich von den Ängsten
vor der Armut nicht befreien kann,
noch der niederen Gedanken, noch der
Rauheit der Worte, noch der Unsicherheit
des Handelns, wenn das bittere
und unerbittliche aber unsichtbare
Elend den Menschen auf Schritt und
Tritt verfolgt und das schönere, ruhigere
und bessere Leben sich wie eine
trügerische Erscheinung entfernt“,
sagte Andrić.
Konzeptionelles Mitglied der „Junges
Bosnien“-Bewegung, aber nicht revolutionär,
Diplomat 1939 in Berlin,
1940 Rückkehr ins besetzte Belgrad.
Während der Kriegsjahre lebt er zurückgezogen
in Belgrad und schafft
seine besten Werke „Die Brücke über
die Drina“, „Travnička hronika“, „Das
Fräulein“.
Die neuen Turbulenzen in der Nachkriegszeit
führen ihn erneut in das
politische Leben, aus dem Unmöglichen
wird das Mögliche. Andrić will
wieder dazu gehören, damit er tun kann,
was ihn real aussehen lässt, damit er
schreiben kann. Jugoslawe sein oder
der Jugoslawischen Idee anzugehören,
bedeutet bessere Karrierechancen und
Anerkennung zu haben. Kommt daher
sein Opportunismus?
Auch wenn es für Andrić bizarr ist das
Leben des geringsten Widerstandes
zum Vorteil der eigenen Annehmlichkeit
zu führen, schreibt er in seinen
Werken mit der epischen Kraft des
Geschichtenerzählers über chronologische
Schicksale einzelner, das gesellschaftliche
Leben, verbindet diese mit
Objekten, z.B. einer Brücke die die
Charakterzüge dieses Volkes widerspiegelt,
Widerstandskraft, Ausdauer,
Verbundenheit.
Sein Roman „Das verdammte Gefängnis„
ist die Darstellung der Macht als
Apparat der Gewalt, Darstellung
menschlicher Schicksale in Gefängnissystemen,
Gefängnissen, die bis zum
heutigen Tag aktuell sind. Der konstante
Kampf zwischen Gut und Böse.
Wenn wir seine Romane lesen, führt
uns Andrić in eine andere vergangene
Zeit, jedoch kämpfen seine Figuren mit
Schwächen und Tugenden, die uns auch
in unserem alltäglichen Leben begegnen,
was Andrić zeitlos macht.
Andrić, der Kenner der menschlichen
Seele: „Bei Menschen, die uns nahe
kommen, vergessen wir normalerweise
all diese Details des ersten Kontakts mit
ihnen. Es scheint, als hätten wir sie
immer gekannt und sie waren immer
bei uns.“
Fragen wir uns noch einmal, ob Andrić
wegen seines Lebenswegs und der Zeit
in der er lebte für uns von weniger
Wert ist, ob ihn das künstlerisch weniger
wertvoll macht?
Werden wir Kroaten ihn als unsereins
akzeptieren, obwohl er uns nicht genug
kroatisch war?
Werden die Serbe ihn als ihresgleichen
annehmen, ihren großen Ivo Andrić?
Die Bosnier werden sagen, dass Ivo
Andrić ein bosnischer Schriftsteller ist,
weil er über Bosnien schrieb. Lasst uns
Andrićs Werke lesen, aber nicht oberflächlich.
Lasst uns seine Werke ausführlich
und mit Tiefe lesen, und wir
werden verstehen, wie weltoffen und
menschlich der Schriftsteller Ivo
Andrić war.
Auf dieser Welt kann es keine Güte
ohne Hass geben, noch Größe ohne
Neid, genauso wie es keinen noch so
kleinen Gegenstand ohne Schatten
gibt. - Ivo Andrić
Jela Šare
Übersetzung Božica Banović
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