Leseprobe_Duett und Duell
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Maria Deppermann <strong>und</strong> Alexej Parin<br />
<strong>Duett</strong> <strong>und</strong> <strong>Duell</strong><br />
Dialog einer deutsch-russischen Fre<strong>und</strong>schaft
DUETT UND DUELL<br />
DIALOG EINER DEUTSCH-RUSSISCHEN<br />
FREUNDSCHAFT
Maria Deppermann <strong>und</strong> Alexej Parin<br />
DUETT UND DUELL<br />
DIALOG EINER DEUTSCH-RUSSISCHEN<br />
FREUNDSCHAFT
Maria Deppermann <strong>und</strong> Alexej Parin: <strong>Duett</strong> <strong>und</strong> <strong>Duell</strong>.<br />
Dialog einer deutsch-russischen Fre<strong>und</strong>schaft<br />
Wien: HOLLITZER Verlag, 2020<br />
Coverabbildung:<br />
Katrin Ullmann: Das gotische Münster in Freiburg im Breisgau <strong>und</strong><br />
die barocke Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz in Moskau – zwei konträre Kultursymbole.<br />
Cover <strong>und</strong> Layout: Nikola Stevanović<br />
Hergestellt in der EU<br />
ISBN 978-3-99012-632-5<br />
www.hollitzer.at
INHALT<br />
Vorwort<br />
9<br />
Erstes Gespräch<br />
Wie wir uns kennengelernt haben<br />
11<br />
Zweites Gespräch<br />
Kindheit <strong>und</strong> Geschichte<br />
49<br />
Drittes Gespräch<br />
Perestroika – Russland<br />
75<br />
Viertes Gespräch<br />
Fall der Berliner Mauer – DDR<br />
97<br />
Fünftes Gespräch<br />
Religion, Atheismus <strong>und</strong> Kirche<br />
113<br />
Sechstes Gespräch<br />
1989 als historische Zäsur –<br />
Gerard Mortier <strong>und</strong> die Salzburger Festspiele<br />
139<br />
Bildteil<br />
173
Gewidmet dem Andenken an Gerard Mortier,<br />
den visionären Opernreformer,<br />
brillanten Kulturtheoretiker<br />
<strong>und</strong> großen Europäer.
<strong>Duett</strong> <strong>und</strong> <strong>Duell</strong> – Dialog einer deutsch-russischen Fre<strong>und</strong>schaft<br />
Fre<strong>und</strong>schaft ist nicht nur ein köstliches Geschenk,<br />
sondern auch eine dauernde Aufgabe.<br />
Ernst Zacharias<br />
VORWORT<br />
Dieses Buch spricht mit zwei Stimmen <strong>und</strong> in zwei Sprachen. Es ist ein Dialog in<br />
sechs Gesprächen, <strong>und</strong> die mündliche Diktion wurde bewusst beibehalten. Dieser<br />
Dialog hat nicht alltägliche Dimensionen: Er ist hervorgewachsen aus dem Humus<br />
einer ungewöhnlichen Fre<strong>und</strong>schaft, die nun schon vierzig Jahre andauert.<br />
Sie reicht hinein in die Tiefe der Zeit des vorigen Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> hinaus in die<br />
Weite des Raumes, in zwei weit voneinander entfernte kulturelle Regionen – sie<br />
oszilliert zwischen Russland <strong>und</strong> Deutschland.<br />
Entsprechend seinem dialogischen Charakter hat das Buch zwei Autoren: die russische<br />
Stimme gehört Alexej Parin, der mehrere europäische Sprachen spricht,<br />
abendländische Lyrik von der Antike bis zur Moderne in diversen Bänden übersetzt<br />
hat, als Dichter, Romancier <strong>und</strong> Essayist hervorgetreten ist, ein Standardwerk<br />
über die russische Oper vorlegte (Paradigmen der russischen Oper, Wien 2016)<br />
<strong>und</strong> als Russlands führender Musik- <strong>und</strong> Opernkritiker internationales Renommee<br />
hat.<br />
Die deutsche Stimme gehört mir. Meine Profession <strong>und</strong> Passion ist die Vergleichende<br />
Literaturwissenschaft zwischen den beiden Polen der Literaturen West<strong>und</strong><br />
Osteuropas mit dem Schwerpunkt auf der großen russischen Literatur von<br />
Puschkin <strong>und</strong> Gogol über Turgenjew, Tolstoj <strong>und</strong> Dostojewskij bis hin zu Anton<br />
Tschechow, Anna Achmatowa <strong>und</strong> Marina Zwetajewa, Ossip Mandelstam <strong>und</strong><br />
Vladimir Nabokov. Meine bevorzugten Epochen in der akademischen Forschung<br />
<strong>und</strong> Lehre sind die europäische Romantik, die Dichtung des Symbolismus im Fin<br />
de siècle um 1900 sowie die Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Theater <strong>und</strong><br />
Musiktheater, Musik <strong>und</strong> Bildender Kunst in der Ästhetischen Moderne.<br />
Der Titel unseres Buches deutet schon an, dass sich die Spannweite unserer Fre<strong>und</strong>schaft<br />
zwischen <strong>Duett</strong>, also einmütiger Harmonie, bis zum gelegentlichen <strong>Duell</strong>,<br />
also bis zu kritischer Dissonanz, erstreckt, was immer wieder zum kreativen Funkenschlag<br />
führt. Was die Kernzone unserer Fre<strong>und</strong>schaft ausmacht, ist die Liebe<br />
zur Kunst <strong>und</strong> die Wahlverwandtschaft im Lebensgefühl, die auf einer lyrischen<br />
Gr<strong>und</strong>stimmung beruht. Wo die Differenzen liegen, das ist unsere verschiedene<br />
Art zu denken <strong>und</strong> zu urteilen: während Alexej Parin bei klarer Strukturiertheit<br />
(die den promovierten Naturwissenschaftler verrät), mehr assoziativ denkt,<br />
emotional <strong>und</strong> intuitiv urteilt, geht meine Neigung eher zum analytischen Denken,<br />
zum theoretischen Diskurs <strong>und</strong> schlüssigen Argumentieren. Was uns aber<br />
9
Maria Deppermann <strong>und</strong> Alexej Parin<br />
in der Tiefe verbindet, ist ein unerschütterliches gegenseitiges Vertrauen, sind<br />
gemeinsame Projekte <strong>und</strong> wechselseitige Übersetzungen, das sind Reisen, Theater-,<br />
Opern- <strong>und</strong> Ausstellungserlebnisse sowie die unablässige Reflexion über das<br />
Erlebte – also der lebenslange, stimulierende Dialog.<br />
Das Bild auf dem Einband unseres Bandes – gestaltet von der Malerin Katrin Ullmann<br />
– deutet auf die symbolische Amplitude kultureller Kontraste hin. Es stehen<br />
sich gegenüber: einerseits die westliche Gotik des Freiburger Münsters, mit der<br />
Vertikale filigraner Geistigkeit, <strong>und</strong> andererseits das östliche Barock der Basiliuskathedrale<br />
auf dem Roten Platz in Moskau, mit der Horizontale märchenhaft<br />
orientalischer Erdverb<strong>und</strong>enheit. Die beiden architektonischen Kultursymbole<br />
mögen unseren Leserinnen <strong>und</strong> Lesern visuelle Inspiration bieten.<br />
Inhalt <strong>und</strong> Aufbau dieses deutsch-russischen Dialogs ergaben sich organisch aus<br />
einer Konzeption, die die Ereignisgeschichte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> des beginnenden<br />
21. Jahrh<strong>und</strong>erts als objektive Achse mit der ganz persönlichen Erinnerungsgeschichte<br />
im subjektiven Prisma verschränkt. So wird Geschichte im Sinne<br />
der Historie durch erzählte Geschichten aus dem biographischen F<strong>und</strong>us lebendig<br />
nachvollziehbar. Weil wir aber in einer nicht sehr geschichtsbewussten Zeit leben,<br />
haben wir uns entschlossen, den Dialog-Text um Fußnoten zu ergänzen. Sie bilden<br />
einen fortlaufenden ‚zweiten Text‘, der den historischen Kontext vergegenwärtigt.<br />
Wie dankbar gerade junge Leser für solche Zusatzinformation sind, weiß<br />
ich aus meiner langjährigen Arbeit mit Studierenden. Das Smartphone mit seinem<br />
Mikrocomputer ist da kein Ersatz.<br />
Eine russische Version unseres Buches ist übrigens 2019 im renommierten Moskauer<br />
Verlag Agraf unter dem Titel Vom Durchlebten, vom Schrecklichen, vom Schönen (O<br />
prožitom, o strašnom, o prekrasnom) erschienen.<br />
Innsbruck, im April 2020<br />
10
<strong>Duett</strong> <strong>und</strong> <strong>Duell</strong> – Dialog einer deutsch-russischen Fre<strong>und</strong>schaft<br />
Erstes Gespräch<br />
Wie wir uns kennengelernt haben<br />
Paris, 22. Januar 2012<br />
P: Gut, nun können wir anfangen mit unseren Gesprächen.<br />
D: Fängst du an oder ich?<br />
P: Also, wir hatten ja im Vorfeld vereinbart, unsere Gespräche in zwei Teile zu<br />
gliedern: in ‚alte Zeiten‘ <strong>und</strong> ‚neue Zeiten‘. Und deshalb ist es richtig, chronologisch<br />
mit unserer allerersten Begegnung im Leben zu beginnen.<br />
D: Das war 1978, als ich eine Studienreise nach Russland gemacht habe, da hab<br />
ich dich <strong>und</strong> Ira 1 mit meinem Fre<strong>und</strong> Motja 2 in Moskau besucht. Also, vor vierzig<br />
Jahren.<br />
P: Denk nur, schon vierzig Jahre ist es her.<br />
D: Ja, das war in Moskau – als die Welt noch in zwei Blöcke geteilt war. Zu jener<br />
Zeit war es nicht immer ganz einfach, eine Begegnung zustande zu bringen, aber<br />
wir haben das doch immer geschafft.<br />
P: Ja, trotz enormer Schwierigkeiten.<br />
D: Ja, damals gab es noch diese schrecklichen, starren Grenzen zwischen den Ländern<br />
im Westen <strong>und</strong> denen im Ostblock, <strong>und</strong> es war schwierig, sie zu überschreiten.<br />
Vor allem, wenn man, wie meistens, Bücher oder andere Sachen für Fre<strong>und</strong>e<br />
dabeihatte.<br />
P: Ja, <strong>und</strong> das war gerade bei uns der Fall. Du aus Deutschland <strong>und</strong> German Ritz 3<br />
aus Zürich, ihr habt mir viele Bücher mitgebracht.<br />
1 Irina Parina (Ira), die Frau von Alexej Parin.<br />
2 Matthias Ohlenroth (Motja, 1922–2004), deutscher Übersetzer, Leiter der Übersetzungsabteilung<br />
der Firma MAN in Augsburg, Dozent für technisches Englisch, gute Kenntnisse der russischen<br />
Sprache, mit großem Interesse an russischer Literatur.<br />
3 German Ritz, geb. 1951, Slawist, speziell für polnische <strong>und</strong> tschechische Literatur, Professor an<br />
der Universität Zürich.<br />
11
Maria Deppermann <strong>und</strong> Alexej Parin<br />
D: Ja, freilich, wir wussten ja, wie sehr du sie gebraucht hast.<br />
P: Und weswegen warst du damals in Moskau, als wir uns zum ersten Mal begegnet<br />
sind?<br />
D: Das kam durch die Slawistik. Ich war nach dem Studium der Germanistik,<br />
Slawistik <strong>und</strong> Philosophie im Anfangsstadium meiner Dissertation über Andrej<br />
Belyj <strong>und</strong> die ästhetische Theorie des russischen Symbolismus, <strong>und</strong> ich war natürlich an<br />
russischer Literatur, Kultur <strong>und</strong> an russischem Leben, vor allem auch am ganz<br />
alltäglichen Leben, interessiert. Das war eine Reise, die ich extra gemacht habe,<br />
um Russland <strong>und</strong> die Menschen dort noch besser kennenzulernen.<br />
P: Dann warst du also damals nicht zum ersten Mal in Russland?<br />
D: Nein. Ich war das erste Mal in Russland 1974 mit einer Gruppe von Slawisten,<br />
da waren wir zuerst in Leningrad, dann in Nowgorod – ich weiß noch, mit<br />
der gewaltigen Sophienkathedrale <strong>und</strong> dem Magdeburger Tor – <strong>und</strong> schließlich<br />
in Moskau. Dass wir uns dann 1978 kennengelernt haben, das hängt mit Ludwig<br />
Wenzler 4 zusammen.<br />
P: Ja, völlig richtig. Also das muss ich ausführlicher erzählen. Eines schönen Tages<br />
fuhr ich in Moskau per Zufall mit Ludwig im selben Trolleybus, <strong>und</strong> er fragte<br />
mich, wie er zu einer bestimmten Station fahren muss, <strong>und</strong> er fragte mich auf<br />
Russisch, genauer gesagt, er versuchte es. Er leitete eine Gruppe deutscher Studenten,<br />
<strong>und</strong> ich sagte ihm, wie er fahren muss. Wir fuhren eine Weile zusammen,<br />
<strong>und</strong> ich dachte mir, dass er wohl ein Deutscher sei <strong>und</strong> ich eigentlich mit ihm<br />
reden sollte, denn ich hatte sofort gemerkt, dass er sozusagen ein Mensch höherer<br />
Ordnung war. Natürlich war zu dieser Zeit jeder derartige Kontakt für mich wie<br />
ein Schatz. Ich sprach ja schon damals verschiedene Fremdsprachen <strong>und</strong> hatte sehr<br />
gut verstanden, dass mir diese Sprachen nicht umsonst gegeben sind, nicht nur<br />
zum Lesen <strong>und</strong> zum Hören im Kino oder Theater, sondern auch zur lebendigen<br />
Mitteilung <strong>und</strong> natürlich auch, um neue Menschen kennenzulernen.<br />
D: Ja, das sollte sich eigentlich von selbst verstehen. Aber nur wenige haben das<br />
damals in Russland begriffen …<br />
4 Ludwig Wenzler, geb 1938, deutscher Theologe <strong>und</strong> Religionsphilosoph, Professor an der<br />
Universität Freiburg im Breisgau, seine Dissertation ist Wladimir Solowjow, seine Habilitation<br />
Emmanuel Levinas gewidmet, katholischer Priester, Direktor der Katholischen Akademie in<br />
Freiburg von 1990–2002.<br />
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<strong>Duett</strong> <strong>und</strong> <strong>Duell</strong> – Dialog einer deutsch-russischen Fre<strong>und</strong>schaft<br />
P: Dann habe ich ihn auf Deutsch angeredet <strong>und</strong> im Bus musste das schnell gehen.<br />
Wir fuhren ja nur ein kurzes Stück zusammen, da mussten wir uns schnell<br />
verständigen. Ich gab ihm meine Telefonnummer <strong>und</strong> sagte, dass ich ihn durch<br />
Moskau führen <strong>und</strong> ihm manches Interessante zeigen könnte. Er hat mich dann<br />
angerufen, <strong>und</strong> wir waren mit seinen Studenten auf dem berühmten Friedhof des<br />
Neujungfrauen-Klosters (Nowodjewitschje Kladbischtschje), wo viele Prominente<br />
begraben sind. Ich habe ihnen dann dort auf Deutsch eine Führung gemacht,<br />
<strong>und</strong> alle waren sehr angetan davon. Danach habe ich mich noch ziemlich ausgiebig<br />
mit Ludwig unterhalten. Er hat mich als Persönlichkeit ungemein interessiert,<br />
<strong>und</strong> ich habe ihm gesagt, dass ich ihn sehr gern einmal nach Hause einladen<br />
würde. Er ist dann auch zu uns gekommen, wir haben zu Abend gegessen, <strong>und</strong><br />
danach habe ich ihm aus meinen Gedichten <strong>und</strong> Übersetzungen vorgelesen. Als<br />
ich ihm meine Übersetzung der Todesfuge von Paul Celan vorgelesen habe, kamen<br />
ihm die Tränen. Das hat auf mich einen sehr tiefen Eindruck gemacht. Und so ist<br />
alles weitere entstanden. Das war wirklich der Anfang einer langen Reihe von<br />
Ereignissen in meinem Leben, ja wirklich. Dann begannen wir einen regen Briefwechsel<br />
<strong>und</strong> schon damals war mir klar, dass eine derart offene Korrespondenz<br />
mit einem Ausländer mich zu einem Andersdenkenden stempeln würde. Denn ich<br />
schrieb über vieles ganz unverblümt.<br />
D: Und ein solcher Briefwechsel war damals nicht ungefährlich.<br />
P: Ja, der war überhaupt nicht ungefährlich, <strong>und</strong> das war mir sonnenklar. Ziemlich<br />
früh in meinem Leben, das war so 1968, war nämlich einmal ein großer<br />
Wissenschaftler nach Moskau gekommen, ein Virologe aus Paris. Er hieß Joseph<br />
Huppert 5 , war eigentlich Jude, gebürtig aus Polen, <strong>und</strong> ich als junger Gelehrter<br />
musste ihn auf einem Kongress am Institut für Molekularbiologie begleiten, wo<br />
ich damals arbeitete. Wir haben dann sehr offene Gespräche über verschiedenste<br />
Themen geführt. Ich war überhaupt immer ganz offen im Gespräch. Auch wenn<br />
ich jemanden aus dem Ausland kennenlernte, habe ich mit ihm offen geredet. Damals<br />
arbeitete ich oft als Simultandolmetscher bei wissenschaftlichen Kongressen,<br />
wo ich interessante Leute traf <strong>und</strong> mich mit ihnen unterhielt.<br />
D: Und mit Huppert konnte man offen sprechen?<br />
P: Mit ihm konnte man das, er war überhaupt immer sehr, sehr nett zu mir. Er<br />
hatte schwer gelitten während des Krieges <strong>und</strong> war im Konzentrationslager …<br />
5 Joseph Huppert, französischer Virologe, Direktor des Laboratoriums am Institut Pasteur in Paris,<br />
einem der weltweit führenden Zentren der Gr<strong>und</strong>lagenforschung für Biologie <strong>und</strong> Medizin.<br />
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Maria Deppermann <strong>und</strong> Alexej Parin<br />
D: Gelitten natürlich, weil er Jude war?<br />
P: Ja. Dann hat er mir auch geschrieben, <strong>und</strong> wir haben sogar miteinander telefoniert.<br />
Einige Zeit später kam dann seine Tochter nach Moskau <strong>und</strong> brachte Bücher<br />
<strong>und</strong> einen Brief für mich mit. Ich war damals, das war schon 1969, nicht in Moskau,<br />
<strong>und</strong> sie hat diesen Brief <strong>und</strong> diese Bücher dagelassen, wo L’ homme révolté von<br />
Albert Camus dabei war <strong>und</strong> andere ‚schädliche‘ Sachen, kannst dir ja vorstellen,<br />
was ich meine.<br />
D: Ja, natürlich, das kann ich mir sehr gut denken.<br />
P: In dem Brief von Huppert stand, dass junge Leute wie ich die Hoffnung der<br />
Menschheit sind <strong>und</strong> dergleichen, alles in großem Stil. So, <strong>und</strong> seine Tochter hat<br />
das alles ihrem Führer von Intourist übergeben. Als sie wieder nach Hause nach<br />
Paris kam <strong>und</strong> ihm erzählt hat, was sie in Moskau gemacht hat, da hat er, der<br />
Vater, sie einfach nur geschlagen, weil ihm sofort klar war, dass das alles, dieser<br />
Brief <strong>und</strong> die Bücher, beim KGB 6 landet. Und genau so war es. Meine Schwester<br />
Nina 7 sollte damals gerade nach Paris ins Institut Pasteur, das berühmte Forschungszentrum<br />
für Biologie <strong>und</strong> Medizin, fahren.<br />
Da meldete sich eine männliche Stimme bei mir am Telefon. Man sagte mir, sie<br />
hätten einen Brief <strong>und</strong> Bücher für mich, die wollten sie mir gern übergeben. Ich<br />
traf mich mit diesem Genossen dann im Zentrum beim Karl-Marx-Denkmal, er<br />
ging mit mir in ein Zimmer im Hotel Metropol <strong>und</strong> hat mir sofort seinen Ausweis,<br />
einen KGB-Ausweis, gezeigt. Die Bücher <strong>und</strong> den Brief gab er mir noch<br />
nicht. Damals lebte mein Vater 8 noch – das war 1969, <strong>und</strong> er ist 1971 gestorben<br />
– das heißt, ich war zu dieser Zeit vor allem der Sohn eines sehr berühmten Mannes,<br />
der einen Namen hatte!<br />
D: … eines prominenten Wissenschaftlers von internationalem Format!<br />
P: Ja, eines großen Wissenschaftlers, den sehr viele durch die Raumfahrt <strong>und</strong><br />
die Kosmonautik kannten. Und dieser KGB-Mann – der wusste, dass ich damals<br />
ab <strong>und</strong> zu als Simultandolmetscher in Russland <strong>und</strong> im Ausland arbeitete – fing<br />
6 Das KGB (auch: der KGB), dt. Komitee für Staatssicherheit) war der sowjetische In- <strong>und</strong> Auslandsgeheimdienst,<br />
der von 1954 bis 1991 bestand.<br />
7 Nina Wassiljewna Loginowa, geb. Parina (1931–2014), Virologin, Doktorin der medizinischen<br />
Wissenschaften, Direktorin des Laboratoriums am Institut für Virologie der Akademie der Medizinischen<br />
Wissenschaften der UdSSR.<br />
8 Wassili Wassiljewitsch Parin (1903–1971), Physiologe, Mitglied der Akademie der Medizinischen<br />
Wissenschaften der UdSSR, zu verschiedenen Zeiten Direktor verschiedener wissenschaftlicher<br />
Institute, Gelehrter von Weltrang.<br />
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<strong>Duett</strong> <strong>und</strong> <strong>Duell</strong> – Dialog einer deutsch-russischen Fre<strong>und</strong>schaft<br />
folgendermaßen an, mit mir zu reden: „Also, vielleicht wenn … wenn Sie Kontakte<br />
zu Ausländern haben, würden Sie uns dann anrufen <strong>und</strong> einfach erzählen,<br />
worüber Sie so sprechen.“ Meine Reaktion war ganz eindeutig: „Nein, nein, ich<br />
habe keinerlei solche Kontakte.“ In meinem Kopf aber tauchte sofort auf, dass ich<br />
gerade vor kurzem einen derartigen Kontakt gehabt hatte. Ich hatte eine Woche<br />
zuvor auf einem Kongress zwei Engländer kennengelernt, <strong>und</strong> wir hatten uns sehr<br />
gut <strong>und</strong> offen über alles Mögliche unterhalten. Aber ihm habe ich natürlich etwas<br />
anderes erzählt, so als ob ich mich überhaupt nicht mit Leuten unterhalten kann:<br />
„Wissen Sie, auf einem Kongress, wenn ich da als Simultandolmetscher arbeite,<br />
habe ich überhaupt keine Zeit, ich sitze doch ständig in der Kabine <strong>und</strong> übersetze.“<br />
Und so weiter. Kurz – ich habe ihm Märchen erzählt. Das war ein ziemlich<br />
langes Gespräch, <strong>und</strong> er zitterte die ganze Zeit während dieses Gesprächs …<br />
D: Wer zitterte? Er?<br />
P: Ja, er zitterte. Wer sonst?<br />
D: Nicht du?<br />
P: Er war es, der zitterte. Er schlotterte förmlich. Und als dieser schlotternde<br />
KGB-Mann gemerkt hatte, dass ich sein Zittern sehe, da sagte er: „Ja, ich habe so<br />
lange [Hupperts Tochter war im August gekommen, <strong>und</strong> draußen war schon November<br />
oder Dezember] nicht angerufen, weil ich sehr schwer krank war.“ Dann<br />
am Ende des Gesprächs, das sich so etwa eine St<strong>und</strong>e hinzog, fragte er, ob ich<br />
nicht zumindest ab <strong>und</strong> an bei ihnen anrufen könnte, um Fragen zu beantworten<br />
<strong>und</strong> dergleichen. Ich habe nur gesagt: „Sie haben meine Telefonnummer, ich kann<br />
nicht nein sagen, aber ich verstehe wirklich nicht, womit ich ihnen nützlich sein<br />
könnte.“ Damit endete das alles, <strong>und</strong> dann hat er mir tatsächlich den Stoß Bücher<br />
gegeben <strong>und</strong> den Brief. Dann erst war ich es, der anfing zu zittern …<br />
D: Natürlich, klar, nach so einem Gespräch!<br />
P: In diesem Brief war alles schwarz auf weiß geschrieben, über die Sowjetunion<br />
in politischer Hinsicht, alles Mögliche … Schon die Bücher zeigten ja ganz klar,<br />
auf welcher Seite ich stand. Ich habe lange überlegt, aber meinen Eltern kein Sterbenswörtchen<br />
gesagt. Doch in unserem Institut arbeitete eine Dame, die war mit<br />
einem KGB-Mann verheiratet, <strong>und</strong> die habe ich sofort gefragt: „Was soll ich machen,<br />
wenn sie mich nächstes Mal anrufen?“ Sie hat mit ihrem Mann gesprochen<br />
<strong>und</strong> mir gesagt: „Du solltest sagen, dass du im Schlaf redest, <strong>und</strong> dass du nach<br />
diesem Gespräch laut geschrien hast im Schlaf <strong>und</strong> fast alles ausgeplaudert hast.<br />
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Maria Deppermann <strong>und</strong> Alexej Parin<br />
Wenn du das einem KGB-Mann sagst, kapiert der sofort, dass du nicht zu ihnen<br />
passt: weil du viel zu sensibel bist.“ Ich muss allerdings zugeben, dass ich wirklich<br />
im Schlaf rede. Ich war also moralisch vorbereitet. Aber es kam kein Anruf mehr<br />
von ihnen.<br />
D: Kein Anruf mehr, kein einziger?<br />
P: Nein, niemals. Vielleicht hatten sie von meiner Version der Antwort erfahren<br />
…<br />
D: Aber diese KGB-Geschichte hatte sich zehn Jahre vor deiner Begegnung mit<br />
Ludwig Wenzler zugetragen?<br />
P: Fast zehn Jahre, <strong>und</strong> während dieser Zeit habe ich verstanden, Fre<strong>und</strong>e im<br />
Ausland zu haben – das ist meine Wahl. Es gab zwei Varianten: entweder habe<br />
ich einen Briefwechsel mit Fre<strong>und</strong>en im Ausland <strong>und</strong> riskiere, dass ich nicht mehr<br />
ins Ausland reisen darf, oder ich muss mich unauffällig verhalten <strong>und</strong> so tun, als<br />
ob ich ein zuverlässiger Staatsbürger bin <strong>und</strong> so weiter. Und diese Rolle wollte<br />
ich eigentlich nicht spielen. Das war selbstverständlich damit verb<strong>und</strong>en, dass ich<br />
eben in der Familie meines Vaters aufgewachsen bin. Ich war ja noch klein, also<br />
wirklich noch ein Knabe, als er 1953 aus dem GULAG 9 zurückgekommen ist. Und<br />
dieses Symbol der Unfreiheit blieb für mein ganzes Leben etwas Unmögliches,<br />
Unerträgliches! Deshalb habe ich mich auch manchmal so provokant aufgeführt,<br />
zum Beispiel im Institut für Molekularbiologie (wo ich nicht in politische Versammlungen<br />
ging) <strong>und</strong> früher schon in der Universität, als wir Geschichte der Partei<br />
als Fach hatten <strong>und</strong> diesen ganzen Müll lesen mussten. Da habe ich nun wirklich<br />
gute Miene gemacht, <strong>und</strong> nur ein einziges Mal in allen Studienjahren bekam ich<br />
prompt eine Drei, <strong>und</strong> nicht die Bestnoten Vier oder Fünf …<br />
D: In Geschichte der kommunistischen Partei?<br />
P: Ja. Ich musste diese Prüfung dann leider noch einmal machen, weil das die einzige<br />
Drei im ganzen Studium war, <strong>und</strong> ich wollte das Diplom doch mit Auszeichnung<br />
(s otlitschijem) machen. Ich musste also mindestens eine Vier haben.<br />
D: Na klar, bei euch ist ja die Sechs die beste Note <strong>und</strong> die Eins die schlechteste.<br />
9 Die Abkürzung Gulag bezeichnet das Netz von Straf- <strong>und</strong> Arbeitslagern in der Sowjetunion, im<br />
weiteren Sinn steht es für die Gesamtheit des sowjetischen Zwangsarbeitssystems, im weitesten<br />
Sinn für das gesamte sowjetische Repressionssystem.<br />
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<strong>Duett</strong> <strong>und</strong> <strong>Duell</strong> – Dialog einer deutsch-russischen Fre<strong>und</strong>schaft<br />
P: Und obwohl ich mich selber dafür hasste, wiederholte ich das Fach Geschichte<br />
der Partei, indem ich Mitschriften von ein paar Mädels abschrieb, die ich kannte,<br />
<strong>und</strong> alles ging mit Sehr gut über die Bühne.<br />
D: Als du Ludwig kennenlerntest, lag also der Kontakt mit Prof. Huppert schon<br />
fast zehn Jahre zurück.<br />
P: Ja, fast zehn Jahre. Und seit der Begegnung mit Ludwig 1978, die bald in eine<br />
Fre<strong>und</strong>schaft mündete, blieben wir im Briefwechsel. Er schickte mir auch Bücher<br />
<strong>und</strong> andere nützliche Sachen, aber es war riskant.<br />
D: Ja, sicher – <strong>und</strong> weil wir im Westen ja wussten, wie schwierig das alles ist,<br />
war es damals meistens so: wenn man erfuhr, dass jemand von uns nach Russland<br />
fährt, dann bekam der- oder diejenige Kleidung, Alltagsgegenstände oder Geschenke<br />
für Fre<strong>und</strong>e dort mitgegeben – je nach Familie, vor allem aber Bücher<br />
oder Briefe, die man nicht schicken wollte, nicht wahr?<br />
P: Ja, das wussten wir, <strong>und</strong> auch wir ließen euch Bücher zukommen, die für euch<br />
im Westen nötig waren. Viele Bücher bekam ich übrigens von einem britischen<br />
Professor, einem Litauer, der sie problemlos per Post schickte, aber das waren unverfängliche<br />
Bücher: Poesie, Literaturwissenschaft … Kassetten, CDs, <strong>und</strong> Videoaufzeichnungen<br />
schickte mir German Ritz.<br />
D: Interessant ist aber, dass ich dich durch Bücher <strong>und</strong> Briefe, die man nicht schicken<br />
wollte, überhaupt kennengelernt habe. Sie waren von Ludwig Wenzler, mit<br />
dem ich befre<strong>und</strong>et war. Er wohnte damals, wie auch ich, in Freiburg im Breisgau,<br />
<strong>und</strong> er hatte mich gebeten, sie dir zu übergeben. Und die Übergabe seiner<br />
Geschenke war der Anlass, dass wir uns 1978 zum ersten Mal begegnet sind. Und<br />
daraus wurde bald eine Fre<strong>und</strong>schaft, die uns beide bis heute verbindet, also ein<br />
halbes Leben … Aber damals gab es immer diese furchtbar lästigen Querelen an<br />
der Grenze. Besonders einmal, ich hab das schon oft erzählt, da hatte ich eine<br />
ziemliche Menge Bücher mit …<br />
P: Du hast sogar einen ganzen Koffer voll mitgehabt!<br />
D: Ich hatte einen großen Koffer, da war das alles drin …<br />
P: Ja, besondere russische Bücher …<br />
D: Ja, extra ausgewählte russische Bücher …<br />
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Maria Deppermann <strong>und</strong> Alexej Parin<br />
P: Und ein paar besonders interessante deutsche Bücher …<br />
D: Deutsche Bücher, darunter theologische …<br />
P: Ja, ich habe damals eine Menge hochinteressanter Bücher von dir bekommen,<br />
wirklich.<br />
D: Nicht nur politische!<br />
P: Auf keinen Fall!<br />
D: Viele philosophische <strong>und</strong> theologische.<br />
P: Zum größten Teil geistige Bücher, politische eher selten.<br />
D: Oder wichtige neue Literatur.<br />
P: Ja, wir haben diese Bücher verschlungen <strong>und</strong> sie unter einander weitergereicht!<br />
D: Ich wusste ja, dass die Grenzer in Moskau auf dem Flughafen einen Röntgenapparat<br />
haben <strong>und</strong> damit alle Gepäckstücke durchleuchten, stimmt’s? Und ich<br />
war moralisch vorbereitet auf Komplikationen. Dann habe ich mich erst mal ganz<br />
nachdenklich mit dem Grenzbeamten auf Russisch unterhalten. Er fragte auch,<br />
was ich denn in der Sowjetunion wollte. Da hab ich gesagt: „Ja, also, ich möchte<br />
nach Swenigorod, weil da der heilige Sergij von Radonesch gewirkt hat, <strong>und</strong> dort<br />
das Kloster <strong>und</strong> auch den Friedhof sehen. Nach Sagorsk will ich natürlich auch<br />
wegen des berühmten Dreifaltigkeitsklosters, das er gegründet hat.“ Dann wollte<br />
er wissen, was ich so für Bücher mithätte. Da hab ich gesagt: „Ja, ich hab hauptsächlich<br />
Bücher über Friedhöfe, zum Beispiel von Paris, Père Lachaise <strong>und</strong> Montparnasse.“<br />
Die hab ich ihm gezeigt. Der dachte wahrscheinlich, ich wäre etwas …<br />
P: Etwas verrückt.<br />
D: Ein bisschen meschugge, <strong>und</strong> das sollte er auch denken. Nebenbei aber hab<br />
ich mit dem Fuß meinen andern Koffer, der unter dem Schalter des Zollbeamten<br />
stand, immer etwas weiter nach rechts geschoben – da waren nämlich die eigentlichen<br />
Bücher drin – bis ich gesehen habe, ich bin jetzt außerhalb des Bereichs, wo<br />
der Röntgenapparat noch wirken kann. Da waren meine Bücher außer Gefahr.<br />
Solche Zöllner, die nicht mehr richtig aufgepasst haben, weil man sie abgelenkt<br />
hat, die hat’s zum Glück an der Grenze öfters gegeben.<br />
18
<strong>Duett</strong> <strong>und</strong> <strong>Duell</strong> – Dialog einer deutsch-russischen Fre<strong>und</strong>schaft<br />
P: Solche beschränkten Typen …<br />
D: Ja. Solche Vorfälle hat’s öfters gegeben. Aber die Hauptsache, man verwickelte<br />
die Grenzer erst mal in ein Gespräch, ein möglichst langes <strong>und</strong> ablenkendes …<br />
P: Ja, wirklich. Aber immer diese Angst an der Grenze … Heute habe ich zum<br />
Glück dieses ‚Grenz-Syndrom‘ nicht mehr. Aber bei den ersten Reisen in den<br />
Westen war das für uns völlig anders. Also, die ersten Reisen ins Ausland, die<br />
waren immer damit verb<strong>und</strong>en, dass wir … immer zitterten! Wir zitterten vor<br />
Angst, weil wir natürlich meistens etwas Unerlaubtes mithatten.<br />
D: Ja, sicher. Das war auch bei uns jedes Mal eine solche Angst, weil wir lauter<br />
Sachen für euch mitbrachten, die verboten waren …<br />
P: Wir zitterten immer. Passkontrolle, Gepäckkontrolle, Zollkontrolle – das war<br />
immer so peinlich, wenn wir die Koffer öffnen mussten, die Zöllner drin rumwühlten<br />
<strong>und</strong> alles durcheinander warfen. Ira hat immer noch etwas von diesem<br />
Reisefieber zurückbehalten, nicht einfach Reisefieber, sondern diese sowjetische<br />
Art von Reisefieber, das hat ihr noch lange im Kopf herum gespukt.<br />
D: Diese Reisenervosität! Eine richtige Reiseneurose konnte das am Grenzübergang<br />
werden.<br />
P: Ja, diese Nervosität bei der Zollkontrolle.<br />
D: Dieser ständige Stress konnte echt zur Neurose werden.<br />
P: Ja, genau! Absolut richtig. Dazu möchte ich noch sagen, einmal, als wir mit<br />
meiner Tochter Ljolja 10 zu Beate Mühl-Benninghaus 11 nach Heiligenstadt in Thüringen<br />
fahren wollten – auf dieser Reise sahen wir übrigens die Premiere von<br />
Pique Dame von Tschaikowsky-Schnittke in Karlsruhe, das war im Jahre Neunzig<br />
– da hatte ich von Beate eine Einladung bekommen, wo die Daten verwechselt<br />
waren. Dort war das vergangene Jahr angegeben, <strong>und</strong> das wäre an der Grenze<br />
nicht gültig gewesen. Da habe ich selber zuhause, nachts, in aller Stille diese Ziffern<br />
…<br />
10 Elena Parina (Ljolja), geb 1977, Tochter von Alexej Parin, promovierte Linguistin, Postdoktorandin<br />
<strong>und</strong> Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Marburg.<br />
11 Beate Mühl-Benninghaus, geb. 1927, deutsche Ärztin <strong>und</strong> Physiotherapeutin, lebte damals im<br />
Heilbad Heiligenstadt auf dem Eichsfeld.<br />
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Maria Deppermann <strong>und</strong> Alexej Parin<br />
D: Dir angeschaut?<br />
P: Nein, nein, ich habe sie abgeändert! Ich radierte die alten aus <strong>und</strong> hab die neuen<br />
hingeschrieben, ohne jemandem ein Wort zu sagen, nicht zu Ira, nicht zu meiner<br />
Mutter, zu niemandem.<br />
D: Nur einfach korrigiert?<br />
P: Ja. Und nicht besonders akkurat. Nur korrigiert, <strong>und</strong> mir war klar, ich bin selber<br />
verantwortlich dafür. Und als wir dann mit Ljolja bei der Passkontrolle waren<br />
<strong>und</strong> ich musste diese Einladung zeigen … Aber das waren schon ‚neue Zeiten‘…<br />
D: Schon nach dem Wende-Jahr 1989.<br />
P: ‚Neue Zeiten‘, <strong>und</strong> deshalb dieser Passkontrolleur. Der sagte nur: „Was haben<br />
wir denn hier?“ Und ich habe einfach gesagt: „Ich habe die Einladung so bekommen,<br />
das war schon.“<br />
D: Ach, Aljoscha, „Das war schon!“ – genau, wie wir als Kinder sagten, wenn wir<br />
was ausgefressen hatten. (lacht)<br />
P: Das war schon!<br />
D: Na, das war aber ein starkes Stück von dir!<br />
P: Der Passkontrolleur hat dann noch den Diensthabenden hinzugezogen, aber<br />
der hat nur gesagt: „Ach ja, das spielt keine Rolle.“ Und wir passierten die Grenze.<br />
Aber Ljolja fing sofort an mich auszufragen. Ich habe ihr natürlich alles erzählt,<br />
<strong>und</strong> sie mit ihren dreizehn Jahren meinte nur: „Jetzt versteh ich, warum du<br />
bei der Passkontrolle so totenblass dagestanden bist.“ So etwas bleibt für immer<br />
im Gedächtnis!<br />
D: Ja, das bleibt dir in den Knochen …<br />
P: Aber jetzt habe ich das nicht mehr so direkt im Gefühl, doch in der Erinnerung<br />
schon.<br />
D: Ich kannte das Ganze ja schon von der DDR, so waren solche Sachen für mich<br />
in Russland nichts Neues.<br />
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