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Nachrichten und Buchbesprechungen.

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Volkmar Wittmütz<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />

Der Jahreswechsel 1899/1900 im Wuppertal<br />

Dieser kleine Beitrag gründet auf der Vermutung,<br />

daß der Übergang von einem Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

oder gar Jahrtausend in das folgende, wie<br />

er uns jetzt bevorsteht, mehr ist als das Überschreiten<br />

einer von der Mathematik <strong>und</strong> der<br />

Astronomie gesetzten, von vielen Zeitzeugen<br />

deshalb als willkürlich empf<strong>und</strong>enen Scheidelinie.<br />

Ein derartiger Jahreswechsel hat immer<br />

Wirkungen gehabt, vor allem wohl des -<br />

halb, weil viele andere Zeitgenossen von ihm<br />

eine besondere Wirkung erwarteten, so daß<br />

eine Jahrh<strong>und</strong>ertwende sich in der Art einer<br />

„self-fulfilling prophecy“ entfalten konnte 1 .<br />

Gewiß, die Geschichte orientiert sich nicht an<br />

Jahrh<strong>und</strong>erten, sie ist keine mathematische<br />

Wissenschaft, doch wenn viele Menschen<br />

meinen, daß mit einem neuen Jahrh<strong>und</strong>ert auch<br />

eine neue Epoche beginnt <strong>und</strong> ein anderes<br />

Zeitalter vergeht, <strong>und</strong> wenn diese Menschen<br />

deshalb dem Ende <strong>und</strong> gleichzeitigen Anfang<br />

viel Gewicht beimessen – dann bekommen<br />

Ende <strong>und</strong> Anfang ein entsprechendes Gewicht.<br />

Es ist auch in der Geschichte so, daß jene<br />

Ereignisse Bedeutung haben, denen nicht nur<br />

die Nachwelt, sondern auch die Zeitgenossen<br />

Bedeutung zumessen. Und daß der Beginn<br />

eines neuen Jahrh<strong>und</strong>erts wie eines Jahr -<br />

tausends für bedeutungsvoll gehalten wird, das<br />

erleben wir zur Zeit selbst. Was wird nicht alles<br />

unternommen, um dem Silvesterabend dieses<br />

Jahres ein besonderes Gepräge zu geben, weil<br />

mit dem Neujahrstag des Jahres 2000 das neue<br />

Jahrtausend beginnt! 2<br />

Schon jede Jahreswende läßt dies in ge -<br />

ringem Umfang spürbar werden; wir begehen<br />

sie in besonderer, aus dem Alltag herausgehobener<br />

Weise, wir „lassen unseren Geist über<br />

das Geschäftige der alltäglichen Materie<br />

steigen, wie die „Elberfelder Zeitung“ am 31.<br />

Dezember 1899 schrieb 3 , <strong>und</strong> blicken – meist<br />

in eine besondere Stimmung versetzt – zurück<br />

auf das vergangene Jahr, doch ebenso nach<br />

vorn, dem neuen Jahr entgegen, oft voller Er-<br />

wartungen <strong>und</strong> Hoffnungen, vielleicht aber<br />

auch voller Befürchtungen <strong>und</strong> Ängste. Bei<br />

einer Jahrh<strong>und</strong>ert- oder gar Jahrtausendwende<br />

wird daraus ein Massenphänomen. Priester <strong>und</strong><br />

Pfarrer, Psychologen <strong>und</strong> Soziologen, Ge -<br />

schäftsleute <strong>und</strong> Reiseveranstalter <strong>und</strong> nicht<br />

zuletzt Historiker verzeichnen eine Konzentration<br />

von Erwartungen, manchmal auch eine<br />

Zunahme von Ängsten. Nicht zu leugnen ist,<br />

daß der Charakter der unmittelbar bevorstehenden<br />

Jahrtausendwende vor allem durch die<br />

kommerzielle Werbung geprägt wird, die jede<br />

Gelegenheit ergreift, das Einzigartige des<br />

Ereignisses zu unterstreichen <strong>und</strong> ihm eine<br />

Aura von Exklusivität <strong>und</strong> Bedeutung zu<br />

geben. Aber auch hier verstärkt die Werbung<br />

nur unsere eigenen Neigungen <strong>und</strong> beutet unsere<br />

Stimmungen aus. Sicherlich ist dies alles<br />

irrational, noch viel irrationaler als die Furcht,<br />

die die Menschen früherer Jahrh<strong>und</strong>erte beim<br />

Anblick eines Kometen erfaßte. Doch auch irrationale<br />

Ängste <strong>und</strong> Hoffnungen sind nicht<br />

weniger geschichtsmächtig als rational begründete<br />

Handlungen der Menschen, manchmal<br />

sind sie sogar wirkungsvoller.<br />

„Seine Majestät der Kaiser <strong>und</strong> König<br />

haben mittelst Allerhöchster Ordre vom 11.<br />

dieses Monats (Dezember) zu bestimmen<br />

geruht, daß der am 1. Januar bevorstehende<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwechsel in feierlicher Weise begangen<br />

werde.<br />

Ich ersuche infolgedessen, in geeigneter<br />

Weise bei gemeinnützigen Vereinen <strong>und</strong> auch<br />

anderweitig auf die Abhaltung von Versammlungen<br />

<strong>und</strong> Vorträgen hinzuwirken, bei denen<br />

des zur Neige gehenden Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> der<br />

Segnungen, die es unserer Nation gebracht hat,<br />

gedacht <strong>und</strong> namentlich auf die glorreiche<br />

Leitung unserer Geschicke durch die preußi -<br />

sche Krone hingewiesen wird.“<br />

Dieser Text erschien in den Zeitungen des<br />

Rheinlandes am Samstag, dem 23. Dezember<br />

1899 4 . Sein Verfasser war der rheinische Ober-<br />

1


präsident. Das Erscheinen einer entsprechenden<br />

kaiserlichen Ordre ist auch andernorts<br />

belegt: der junge Journalist <strong>und</strong> Kritiker Alfred<br />

Kerr berichtete darüber in einer seiner<br />

regelmäßigen Korrespondenzen, in denen er<br />

das hauptstädtische Leben Berlins den Lesern<br />

der „Breslauer Zeitung“ schilderte 5 . Doch Kerr<br />

kritisierte nur, daß Kaiser <strong>und</strong> Regierung<br />

amtlich verfügten, daß das neue Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

am 1. Januar 1900 <strong>und</strong> nicht, wie mathematisch<br />

richtig, am 1. Januar 1901 zu beginnen<br />

habe. Er bemängelte nicht, was dem Redakteur<br />

der „Langenberger Zeitung“ auffiel: „Es bleibt<br />

fraglich, ob Beamte, die die Überzeugung von<br />

den Verdiensten der preußischen Krone zu befestigen<br />

haben, die gewünschte Wirkung haben<br />

werden. Werturteile bildet man nicht gern auf<br />

Kommando.“ 6 Beide Journalisten aber<br />

wandten sich nicht gegen die von der kaiserlichen<br />

Obrigkeit verfügte Anordnung, jenen<br />

Jahreswechsel überhaupt besonders feierlich<br />

zu begehen.<br />

Eben diese Anordnung erlaubt nun aller -<br />

dings die auch von anderer Seite gestützte 7<br />

Vermutung, daß für die Bevölkerung in<br />

Deutschland die Wende vom 19. zum 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert kein Ereignis darstellte, das man<br />

mit größerem Aufwand als sonst zu feiern<br />

gedachte. Demgegenüber sahen der Kaiser <strong>und</strong><br />

seine Umgebung in dem bevorstehenden<br />

Ereignis eine Gelegenheit, erneut die Verdienste<br />

der Hohenzollern-Dynastie um die politische<br />

Einigung Deutschlands ins Zentrum der<br />

Aufmerksamkeit zu rücken <strong>und</strong> das Ereignis<br />

damit gewissermaßen politisch zu instrumentalisieren.<br />

Kerr berichtet in seinen Korrespondenzen,<br />

daß zur Feier des neues Jahrh<strong>und</strong>erts in Berlin<br />

„ein ungeheures Schlemmen losgehen“ <strong>und</strong><br />

„der Champagner fließen“ würde 8 . Für das<br />

Wuppertal ist dagegen zu konstatieren, daß der<br />

Umfang <strong>und</strong> die Intensität von öffentlichen wie<br />

privaten Vergnügungen zur Jahreswende 1899/<br />

1900 nicht über das für einen „normalen“<br />

Jahreswechsel übliche Ausmaß hinausging.<br />

Daß das neue Jahrh<strong>und</strong>ert aber auch in anderen<br />

Städten zum Anlaß für verfeinerte kulinarische<br />

Genüsse genommen wurde, wird in einer<br />

Nachricht aus Köln deutlich, die im „Täglichen<br />

2<br />

Anzeiger für Berg <strong>und</strong> Mark“ 9 abgedruckt<br />

wurde: Kölner Bürger hatten ihrer Stadt aus<br />

Anlaß der Jahrh<strong>und</strong>ertwende ein aus 930<br />

Teilen (!) bestehendes silbernes Eß- <strong>und</strong><br />

Tafelservice geschenkt! Doch bei dieser so<br />

großzügig anmutenden Schenkung überwiegt<br />

der Eindruck, einige Kölner Bürger hätten<br />

überhaupt nur einen Anlaß gesucht, um mit<br />

ihrer mäzenatischen Geste ihren Reichtum zu<br />

demonstrieren, <strong>und</strong> da sei ihnen die Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />

gerade recht gewesen. Also handelt<br />

es sich hierbei ebenfalls eine Instrumenta -<br />

lisierung dieses Datums.<br />

Originäre Produkte der Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />

sind allerdings etliche Gelegenheitsgedichte,<br />

die auch in den Zeitungen des Wuppertals am<br />

Ende des Jahres 1899 erschienen. In ihnen verliehen<br />

meist unbekannt bleibende Autoren<br />

ihren Gefühlen, ihren Erwartungen, aber auch<br />

ihrer Skepsis gegenüber dem neuen Säkulum<br />

Ausdruck. Einige dieser Gedichte sollen im<br />

folgenden vorgestellt werden. Übrigens erschienen<br />

auch Prosatexte am 30. oder 31.<br />

Dezember 1899 in den Zeitungen; meist waren<br />

es zeitkritische Betrachtungen, manchmal fast<br />

mit dem Charakter einer religiösen Besinnung<br />

<strong>und</strong> Andacht, auch philosophische Überlegungen<br />

zum Wesen der Zeit werden hineinge -<br />

mischt. Diese Texte sollen ebenfalls mit<br />

herangezogen werden. Dabei geht es hier nicht<br />

darum, sie <strong>und</strong> die Gelegenheitsgedichte etwa<br />

als poetischen Ausdruck von individuellen<br />

Gefühlslagen oder auch von persönlichen<br />

Überlegungen <strong>und</strong> Einsichten literarisch zu<br />

würdigen. Die Gedichte <strong>und</strong> Texte sollen vor<br />

allem als Versuche einer „kollektiven Sinndeutung“<br />

verstanden werden 10 . Dieser Zugriff<br />

vergewaltigt die Produkte nicht, er erscheint<br />

umso eher angemessen, da es sich bei den Publikationen<br />

nicht um „große“ Literatur handelt,<br />

sondern um Bemühungen, das Besondere einer<br />

Situation – den Anfang eines neuen Säkulums<br />

– sowohl durch einige von Distanz zum Tagesgeschehen<br />

zeugende, dabei doch dieses auch<br />

kritisch reflektierende Gedanken in einer<br />

sprachlich anspruchsvollen Form – möglichst<br />

ein Gedicht – zum Ausdruck zu bringen.<br />

Im „Täglichen Anzeiger für Berg <strong>und</strong><br />

Mark“ erschien am Sonntag, dem 31. Dezem-


er 1899, das folgende Gedicht:<br />

Zum Jahrh<strong>und</strong>ertwechsel<br />

Ein neu’ Jahrh<strong>und</strong>ert ist emporgestiegen<br />

Am ewgen Firmament, genannt die Zeit –<br />

Zur Zukunft spannt es seinen lichten Bogen<br />

Heraus aus Trümmern der Vergangenheit –<br />

Und forschend schaut die Menschheit nun<br />

entgegen<br />

Dem strahlend aufgegangnen jungen Licht,<br />

Vertrauend, daß es ihr nur reichsten Segen<br />

In seinem hehren Rosenschein verspricht!<br />

Der Hoffnung Banner lieben wir zu schwingen<br />

Ja stets auf unserm rauhen Pilgerpfad –<br />

In diesem Zeichen kämpfen wir <strong>und</strong> ringen<br />

Im Daseinswogen immer früh <strong>und</strong> spat. –<br />

So laßt uns fürder denn auch vorwärts schauen<br />

Mit unerschüttert hoffnungsvollem Blick,<br />

So wollen froh der Zukunft wir vertrauen,<br />

Daß sie uns allen bringt ein neues Glück!<br />

Wohlan, du neuer Zeitenraum, wir grüßen<br />

Dich alle d’rum mit frischem Lebensmut. –<br />

Mög’ uns in deinem Lauf nur Heil ersprießen,<br />

Und immer schirmen Gottes treue Hut. –<br />

O, wahre ferner auch den gold’nen Frieden<br />

Dem vielgeliebten deutschen Vaterland,<br />

Damit ihm ferner Wohlfahrt sei beschieden<br />

Vom Firn der Alpen bis zum nord’schen Strand!<br />

Das ist keine emphatische Begrüßung des<br />

neuen Säkulum, wenn dessen Erscheinen auch<br />

mit positiven Epitheta belegt wird. Eher ist<br />

vorsichtige Zuversicht eine das Gedicht beherrschende<br />

Empfindung, gepaart mit einer<br />

Portion Skepsis. Die Anfangszeilen der<br />

zweiten Strophe lassen indessen anklingen,<br />

daß eine verhaltene Hoffnung schon immer<br />

zum täglichen Daseinskampf der Menschen<br />

dazugehörte <strong>und</strong> ihren „rauhen Pilgerpfad“<br />

stets charakterisiert hat. Die Hoffnungen „der<br />

Menschheit“ (in der ersten Strophe) wie „des<br />

deutschen Vaterlands“ (in der dritten Strophe)<br />

– der Autor bleibt diesen Kollektiven verhaftet,<br />

an keiner Stelle gibt er seinen eigenen<br />

Empfindungen Ausdruck – richten sich auf den<br />

„gold’nen Frieden“. Aber es bleibt auch das<br />

Gefühl dafür lebendig, daß der Frieden <strong>und</strong><br />

seine Folgen abhängig bleiben von „Gottes<br />

treuer Hut“. Überraschenderweise tritt der<br />

Rückblick auf das vergangene Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

deutlich hinter diesen Erwartungen an die<br />

Zukunft zurück, dabei ist nur sehr pauschal von<br />

den „Trümmern der Vergangenheit“ die Rede.<br />

Viele anderen Gelegenheitsgedichte vermitteln<br />

ähnlich unpersönliche, schematische <strong>und</strong><br />

manchmal geradezu stereotype Erwartungen<br />

<strong>und</strong> Erfahrungen. In einem in der „Langenberger<br />

Zeitung“ am 30. Dezember 1899 erschienenen<br />

Gedicht verschwindet der Dichter<br />

ebenfalls in einem Kollektiv. Allerdings fällt<br />

sein Rückblick auf das vergangene Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

ausführlicher <strong>und</strong> im Sinne der eingangs erwähnten<br />

Aufforderung des Kaisers aus. Da<br />

heißt es:<br />

Doch auch viel Herrliches sah’n wir erstehen,<br />

Und mancher Stern ging neu <strong>und</strong> glänzend auf.<br />

Ein einig Deutschland, von der Welt bew<strong>und</strong>ert<br />

Ein deutscher Kaiser, seiner Ahnen wert,<br />

Voll Friedenssinn, <strong>und</strong> doch die Hand am<br />

Schwert,<br />

War Deine Gabe, fliehendes Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Die Erfahrung der staatlichen Einigung<br />

Deutschlands beherrscht diesen Rückblick,<br />

während der Ausblick auf das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

fragender <strong>und</strong> skeptischer als in dem ersten<br />

Gedicht ausfällt:<br />

Du aber, das, mit Schleiern dich verhangen,<br />

Bei Glockenklang jetzt auf die Schwelle tritt,<br />

Hier jubelnd <strong>und</strong> dort sorgenvoll empfangen –<br />

Was bringst Du uns, was bringst der Welt<br />

Du mit?<br />

Wirst friedlich Du wohl lösen all’ die Fragen,<br />

Die unheilvoll bedrohen uns’re Zeit?<br />

Versöhnend schlichten der Parteien Streit<br />

Und Deutschlands Ruhm durch alle Lande<br />

tragen?<br />

Die größte Erwartung an das neue Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

besteht auch in Langenberg darin, daß es<br />

Frieden bringen möge. Der Frieden ist der Begleiter<br />

eines „stillen Glücks“, ein Ausdruck,<br />

der – jenseits des in allen Gelegenheitsgedichten<br />

auftretenden Kollektivs – auch eine<br />

gewisse persönliche, häusliche Sphäre<br />

evoziert.<br />

Ein stilles Glück, das sich mit Frieden paart,<br />

3


Das sei von Dir auf Deiner langen Fahrt,<br />

Erwachendes Jahrh<strong>und</strong>ert, uns beschieden!<br />

Der Wunsch, daß das neue Jahrh<strong>und</strong>ert vor<br />

allem Frieden bringen möge, ist die alle übrigen<br />

Gedichte ebenfalls beherrschende Erwartung.<br />

Dabei wird gelegentlich durchaus bemerkt,<br />

daß der Krieg als „Vater aller Dinge“<br />

auch Positives zu leisten imstande ist. Zum<br />

Beispiel ist, wie der Autor anführt 11 , nur durch<br />

die Kriege Bismarcks die nationalstaatliche<br />

Einigung Deutschlands erreicht worden. Doch<br />

droht diesem Werk „schnellverblich’ner<br />

Glanz“, <strong>und</strong> das nicht etwa, weil es den<br />

Kriegen entsprungen ist, sondern weil „Pfaff,<br />

Schranze <strong>und</strong> Demagog“ an ihm nagen, womit<br />

der Verfasser knapp die seiner Auffassung<br />

nach wesentlichen gesellschaftlichen Kräfte<br />

be zeichnet, die die Einheit Deutschlands unterminieren.<br />

Dabei sind „Pfaff“ <strong>und</strong> „Dem -<br />

agog“ noch am ehesten zu identifizieren: es<br />

sind die Kirchen <strong>und</strong> die politischen Parteien,<br />

die der nationalen Einheit entgegenwirken, die<br />

Kir chen, weil sie die konfessionellen Schran -<br />

ken betonen, die Parteien, weil ihre Vertreter<br />

auf dem Marktplatz, aber auch im Reichstag<br />

demagogische Reden halten <strong>und</strong> damit ebenfalls<br />

Zwietracht in die mühsam errungene Eintracht<br />

der Nation säen – ein deutlicher Hinweis<br />

auf eine in bestimmten gesellschaftlichen<br />

Schich ten verbreitete Verständnislosigkeit<br />

gegenüber einem modernen politischen Plura -<br />

lismus.<br />

Daß zuletzt auch „Schranzen“ die Einheit<br />

Deutschlands bedrohen, kann nur bedeuten,<br />

daß es sogar am kaiserlichen Hof, in der nächsten<br />

Umgebung des Kaisers, Kräfte, nämlich<br />

„Hofschranzen“, gibt, die Wilhelm II. in eine<br />

falsche, gefährliche Richtung zu bewegen<br />

suchen – eine deutliche Kritik des Hofes <strong>und</strong><br />

seiner Organisation, vielleicht gar eine verhaltene<br />

am Kaiser selbst, dem üblichen ge dank -<br />

lichen Muster folgend, der schlecht unterrichtete<br />

<strong>und</strong> beratene Kaiser möge sich mit<br />

besseren Beratern umgeben!<br />

Der kritische Ton des Gedichts wird sogar<br />

stärker, geradezu pessimistisch beim Blick auf<br />

andere Länder <strong>und</strong> deren Entwicklung:<br />

Doch, wo zu schau’n gehofft auf neuer Erde<br />

4<br />

Der Freiheit Reis man sprießen, schlank <strong>und</strong><br />

hehr,<br />

Herrscht über kläffender Banausenheerde<br />

Der Milliardär.<br />

Amerika, schnell hast du, lautre Quelle<br />

Der Väter Geist zum Pfuhl der Korruption<br />

Gewandelt du, McKinley füllt die Stelle<br />

Von Washington. 12<br />

Libertas, deine Leuchte droht zu fallen,<br />

Die bessre Zeiten w<strong>und</strong>ervoll erhellt,<br />

Ein Opfer für Gewerbebeuterkrallen<br />

Scheint heut die Welt.<br />

Der Jobber, aufgestiegen zum Minister,<br />

Sich waschend in des Golds erhöhter Fluth,<br />

Und neben ihm mit langem Borgregister<br />

Der Prinz von Blut.<br />

Und nach einer ähnlichen Kritik an<br />

Großbritannien heißt es in den letzten Zeilen,<br />

sicherlich vom Autor überspitzt formuliert,<br />

aber in der Tendenz doch deutlich:<br />

Die Reiter der Apokalypse reiten<br />

Im Börsensold.<br />

Diese f<strong>und</strong>amentale Opposition zum zeitgenössischen<br />

Imperialismus <strong>und</strong> Kapitalismus<br />

entspringt nicht allein der Überzeugung, daß<br />

ein ungeheurer Materialismus überall die Welt<br />

regiert <strong>und</strong> sich das Geld alles untertan macht,<br />

sie wird noch verschärft dadurch, daß auch<br />

dort, wo die Ideen <strong>und</strong> Werte der Aufklärung<br />

noch eine Heimstatt zu haben schienen, nämlich<br />

in den USA, daß nun auch dort der Kapitalismus<br />

herrscht <strong>und</strong> die Ideale der Menschheit<br />

ihm schon fast vollständig zum Opfer<br />

gefallen sind – ein wenig Hoffnung hat der Autor<br />

immerhin noch, etwa wenn er schreibt, daß<br />

die „Leuchte der Libertas zu fallen drohe“ <strong>und</strong><br />

daß die „Welt ein Opfer für Gewerbebeuterkrallen<br />

zu sein scheine“ <strong>und</strong> nicht „sei“.<br />

Freilich ist das apokalyptische Schlußbild<br />

dieses Gedichts nicht dazu angetan, dieser<br />

winzigen Hoffnung für das neue Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Nahrung zu geben, selbst wenn man die<br />

manieristischen Züge dieses Bildes in Rechnung<br />

stellt.<br />

Auch die am letzten Tag des Jahres 1899 in<br />

den Zeitungen publizierten „Besinnungen“


oder „Gedanken“ sind nicht dazu angetan, den<br />

vorherrschenden Eindruck von Zurückhaltung,<br />

Skepsis, geringer Erwartung, zum Teil sogar<br />

von Hoffnungslosigkeit gegenüber dem neuen<br />

Säkulum zu korrigieren. Da ist überhaupt kein<br />

Aufbruch zu Neuem, trotz vieler Erfolge <strong>und</strong><br />

Errungenschaften des zu Ende gehenden<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, zu spüren. Die „Elberfelder<br />

Zeitung“ etwa brachte am 31. Dezember 1899<br />

„Syvester-Gedanken“, die ein mit den Initialen<br />

„H. T.“ auftretender Verfasser sich gemacht<br />

hatte. Auch darin heißt es: „Die Welt versinkt<br />

im Materialismus“. Dieser Eindruck sei weit<br />

verbreitet, aber es werde von keiner Seite etwas<br />

unternommen, um dieser unheilvollen<br />

Ent wicklung entgegenzuwirken. Angesichts<br />

der drohenden Katastrophe beschwört der Autor<br />

die Zukunftshoffnung des christlichen<br />

Glau bens <strong>und</strong> die Botschaft des Neuen Testaments:<br />

„Es werden Zeiten kommen, wo wirklich<br />

Gleich heit <strong>und</strong> Brüderlichkeit herrschen“.<br />

Dieses Zitat aus der Französischen Revolution<br />

gibt allerdings die eschatologische Dimension<br />

der christlichen Hoffnung in die Zukunft kaum<br />

wieder; insofern ist der Aufsatz selbst ein<br />

Beispiel für jene Säkularisation <strong>und</strong> Entfernung<br />

von den Ideen <strong>und</strong> Idealen des Christentums,<br />

deren materialistische Wirkung der Autor<br />

zuvor beklagt hatte.<br />

Die „Barmer Zeitung“ entledigte sich des<br />

Auftrags, zum Jahrh<strong>und</strong>ertwechsel etwas<br />

Besinnliches zu veröffentlichen, bereits am<br />

Samstag, dem 30. Dezember. Der von ihr<br />

gedruckte Aufsatz ist bestimmt von einem ausführlichen<br />

Rückblick auf das vergehende<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert. Dabei geht es fast ausschließlich<br />

um die rasante <strong>und</strong> umstürzende technische<br />

Entwicklung der letzten h<strong>und</strong>ert Jahre, <strong>und</strong><br />

dem entsprechend beeindruckt zeigt sich der<br />

Autor. Das „Jahrh<strong>und</strong>ert der Technik“ hat dem<br />

Menschen faktisch die Beherrschung der Natur<br />

gebracht:<br />

Wie schön, o Mensch, mit Deinem Palmenzweige<br />

Stehst Du an des Jahrh<strong>und</strong>erts Neige<br />

In edler, stolzer Männlichkeit...<br />

Herr der Natur, die Deine Fesseln liebet,<br />

Die Deine Kraft in tausend Kämpfen übet<br />

Und prangend unter Dir aus der Verwildrung<br />

stieg.<br />

Die Überwindung der Grenzen von Zeit<br />

<strong>und</strong> Raum durch Erfindungen wie die Eisenbahn<br />

<strong>und</strong> die <strong>Nachrichten</strong>übermittlung hat das<br />

alltägliche Leben der Menschen gr<strong>und</strong>legend<br />

verändert. Doch sind diese <strong>und</strong> andere Er fin -<br />

dun gen auch für Krieg <strong>und</strong> Vernichtung eingesetzt<br />

worden, <strong>und</strong> am Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

tobt der Krieg Großbritanniens gegen die<br />

Burenrepublik in Südafrika:<br />

Edler Fre<strong>und</strong>, wo öffnet sich dem Frieden,<br />

Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort!<br />

Das Jahrh<strong>und</strong>ert ist im Sturm geschieden,<br />

Und das neue öffnet sich mit Mord.<br />

Angesichts der technischen Errungenschaften<br />

wie der blutigen Kriege stellt der Autor<br />

sich die Frage, ob man wirklich von einem<br />

Fortschritt sprechen könne, den das Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

den Menschen gebracht habe. Er neigt<br />

dazu, die Frage zu verneinen, denn „haben alle<br />

Bequemlichkeiten des Daseins nicht dahin<br />

geführt, indem sie uns Zeit ersparen sollten,<br />

uns immer weniger Zeit für uns selbst zu<br />

lassen?“ 13 Allein, für den Autor ist entscheidend,<br />

daß die „Bedürfnisfähigkeit des mensch -<br />

lichen Geistes“ während des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

gesteigert wurde, „<strong>und</strong> das ist Culturfort -<br />

schritt“.<br />

Die Frage, ob diese Entwicklung auch im<br />

neuen Jahrh<strong>und</strong>ert weitergehen wird, stellt der<br />

Verfasser nicht explizit, er äußert nur den<br />

Wunsch, daß die „Wogen des kommenden<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts ruhiger, gemessener <strong>und</strong> harmo -<br />

ni scher fließen“ mögen, ist also offensichtlich<br />

der Auffassung, wenn diese Entwicklung<br />

schon nicht geändert oder rückgängig gemacht<br />

werden könne, so könne doch ihr Tempo verlangsamt<br />

werden. Mit dieser Auffassung aber<br />

hat er den Charakter des Prozesses der<br />

Nutzbarmachung von Erfindungen nicht oder<br />

nur unvollkommen erfaßt, denn die permanente<br />

Beschleunigung der Entwicklung ist<br />

eines seiner wesentlichen Charakteristika. Aus<br />

diesem Wunsch nach mehr Ruhe <strong>und</strong><br />

Langsamkeit spricht auch – bei aller positiven<br />

Würdigung der technischen Entwicklung<br />

während des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts – eine gewisse,<br />

5


auch an anderer Stelle bemerkbare negative<br />

Sicht der Technik: sie wird dem Menschen immer<br />

unverständlicher, enteilt ihm sozusagen,<br />

<strong>und</strong> er muß hurtig sein <strong>und</strong> selbst immer<br />

schneller werden, um mit der Technik<br />

mitzuhalten. Sie verändert dazu seine traditionellen<br />

Lebensumstände, so daß er den Umständen,<br />

unter denen seine Großväter <strong>und</strong> Urgroßväter<br />

gelebt haben, <strong>und</strong> damit auch diesen<br />

selbst entfremdet wird. Er wird sie immer<br />

weniger verstehen, <strong>und</strong> unausgesprochen, aber<br />

greifbar ist der Gedanke, daß das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

zwar „Culturfortschritt“ brachte, aber auf<br />

Kosten menschlicher Nähe, vielleicht sogar<br />

menschlichen Glücks. Die „Kosten“ dieses<br />

Fortschritts kommen bei diesem nachdenk -<br />

lichen Aufsatz deutlich in den Blick.<br />

Auch in dem kurzen Aufsatz „Zum neuen<br />

Jahre <strong>und</strong> zum neuen Jahrh<strong>und</strong>ert“ in dem<br />

„Täglichen Anzeiger für Berg“ klingen diese<br />

Kosten an 14 . Auch dort ist von vielen Fort -<br />

schritten während des vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

die Rede, auch von politischen Fortschritten,<br />

eben solchen, die errungen wurden durch<br />

„nationale Kämpfe“ <strong>und</strong> die in eine „größere<br />

Freiheit der politischen, sozialen, wirt schaft -<br />

lichen <strong>und</strong> geistigen Bewegung an die Stelle<br />

überlebter, beschränkter alter Zustände“ mündeten.<br />

„Ob der größeren Freiheit ...auch immer<br />

die rechte Weisheit <strong>und</strong> Würde im Menschen<strong>und</strong><br />

Völkerleben gefolgt ist, wird indessen<br />

wohl niemand zu behaupten wagen, denn viele<br />

Mißstände <strong>und</strong> Gebrechen, viele Aufgaben <strong>und</strong><br />

Rätsel nehmen wir aus dem alten Jahre <strong>und</strong><br />

dem scheidenden Jahrh<strong>und</strong>ert mit hinüber ins<br />

neue Säkulum“. Auch hier das Ungenügen hinsichtlich<br />

der vorübergehenden Zeitspanne, <strong>und</strong><br />

es ist noch nicht einmal Skepsis gegenüber<br />

dem anbrechenden Säkulum, was diese Zeilen<br />

bestimmt, sondern eher die Gewißheit, daß das<br />

neue Jahrh<strong>und</strong>ert sich mit den gleichen,<br />

vielfach sogar denselben „Mißständen <strong>und</strong> Gebrechen,<br />

Aufgaben <strong>und</strong> Rätseln“ wird be -<br />

schäftigen müssen wie das alte, das sie nicht<br />

hat lösen können. Dazu dann die Auffassung,<br />

daß zwar bestimmte „Errungenschaften“ das<br />

vergangene Jahrh<strong>und</strong>ert kennzeichneten, denen<br />

jedoch keine entsprechenden Entwicklungen<br />

in den Menschen selbst, etwa in ihrer<br />

6<br />

„Weisheit“, ihrer „Würde“ oder ihren morali -<br />

schen Fähigkeiten, folgten. Deshalb äußert der<br />

Autor zum Schluß den Wunsch, das kommende<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert möge „eine innere Konsolidation<br />

begründen, der Befestigung, der<br />

Sammlung, der Würde <strong>und</strong> Weihe im Leben<br />

der Völker <strong>und</strong> Menschen“ dienen.<br />

Wenn man die Äußerungen in der Presse<br />

des Wuppertals zum Jahresende 1899 insgesamt<br />

überblickt, stellt man fest, daß kein Blatt<br />

der Anordnung des Kaisers nachgekommen ist.<br />

Nirgendwo findet sich eine Verherrlichung der<br />

Hohenzollern, noch nicht einmal eine Würdigung<br />

ihrer politischen oder militärischen Taten,<br />

allenfalls eine positive Erwähnung Bismarcks.<br />

Die Hochstimmung der nationalen Einheit ist<br />

weitgehend verflogen, der Blick in die Vergangenheit<br />

läßt sie nur am Rande anklingen. Das<br />

Politische spielt überhaupt nur eine untergeordnete<br />

Rolle bei den Rückblicken, die Errungenschaften<br />

von Wissenschaft <strong>und</strong> Technik<br />

faszinieren mehr. Doch werden beider Leistungen<br />

nicht überschwenglich gelobt, sondern –<br />

mit überraschender Deutlichkeit – in ihren<br />

sozialen <strong>und</strong> politischen Bezügen gesehen <strong>und</strong><br />

dann eben auch als möglicherweise durchaus<br />

gefährlich, manchmal sogar als verhängnisvoll<br />

beurteilt. Natürlich werden im Angesicht des<br />

neuen Jahrh<strong>und</strong>erts auch Hoffnungen <strong>und</strong> Erwartungen<br />

formuliert, aber doch überraschend<br />

verhalten <strong>und</strong> verb<strong>und</strong>en mit gehöriger Skepsis.<br />

Und wenn ein Autor feststellt, daß der Ent -<br />

wicklung auf den Feldern von Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Technik während des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

kein Fortschritt der Weisheit, der Würde oder<br />

der Moral der Menschen entsprach, so impliziert<br />

er damit, daß durch das entstandene –<br />

<strong>und</strong> sich möglicherweise noch erweiternde –<br />

Ungleichgewicht zwischen technischem Fort -<br />

schritt <strong>und</strong> moralischer Entwicklung der Menschen<br />

das Risiko technischer Errungenschaften<br />

deren Chancen für die Menschen übersteigt.<br />

Schließlich wird der Gedanke formuliert, daß<br />

viele Probleme <strong>und</strong> Schwie rig keiten, die im<br />

alten Jahrh<strong>und</strong>ert nicht bewältigt wurden, in<br />

das neue Jahrh<strong>und</strong>ert mitgenommen werden<br />

müssen, daß mithin die zeitliche Grenzlinie für<br />

den Charakter von Problemen ebenso wie für


ihre Lösungsmöglichkeit unerheblich ist.<br />

Schauen wir, wenn wir diese einh<strong>und</strong>ert<br />

Jahre alten Texte lesen, nicht in einen Spiegel?<br />

Anmerkungen<br />

1 Diese Auffassung widerspricht der Einschätzung<br />

anderer Historiker; vgl. dazu etwa<br />

den französischen Historiker Gilbert Badia, der<br />

die Jahrh<strong>und</strong>ertwende als eine „notion arbitraire,<br />

irrationelle et historiquement non pertinente“<br />

bezeichnet hat; vgl. ders.: Les limites de<br />

siècles; in: M.Gilli (Hg.): Les limites de siècles.<br />

Grußkarte zum Jahreswechsel 1900/1901<br />

(Privatbesitz)<br />

Lieux de ruptures novatrices depuis les temps<br />

modernes. Actes du colloque international à Besançon<br />

29–31 mai 1997. Paris 1998, S. 765–770<br />

2 Es bleibt hierbei unberücksichtigt, daß das neue<br />

Jahrtausend – mathematisch korrekt – erst am 1.<br />

Januar 2001 beginnt; die Diskussion um den<br />

„exakten“ Beginn eines neuen Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

kennzeichnet auch die Silvestertage der Jahre<br />

1799 <strong>und</strong> 1899<br />

3 Vgl. Stadtarchiv Wuppertal (SAW), Elberfelder<br />

Zeitung vom 31.12.1899<br />

4 Hier zitiert nach der Langenberger Zeitung vom<br />

23.12.1899, im Stadtarchiv Velbert (StV)<br />

5 Vgl. Alfred Kerr: Wo liegt Berlin? Briefe aus der<br />

Reichshauptstadt 1895–1900. Hg. von G. Rühle.<br />

Berlin o.J. (1998), S. 538 ff.<br />

6 Vgl. Langenberger Zeitung (wie Anm. 4)<br />

7 Ein Blick in die Zeitungen des Wuppertals wie<br />

den Täglichen Anzeiger für Berg <strong>und</strong> Mark, die<br />

Elberfelder Zeitung, die Barmer Zeitung (alle<br />

im SAW) <strong>und</strong> auch in die Langenberger Zeitung<br />

für den Landkreis Mettmann (im StV) zeigt<br />

deutlich, daß sowohl in den Anzeigen wie in den<br />

Berichten <strong>und</strong> Meldungen auf die Jahrh<strong>und</strong>ert -<br />

wende kaum Bezug genommen wurde; es finden<br />

sich vor allem vermehrt Verlo bungs an zeigen,<br />

dazu zahlreiche private Glück wünsche zum<br />

Neuen Jahrh<strong>und</strong>ert, als sei das Erleben desselben<br />

ein persönliches Verdienst, dazu Hinweise<br />

auf Silvesterkonzerte <strong>und</strong> Anzeigen von Buchhandlungen,<br />

zur Jahrh<strong>und</strong>ertwende sich mit<br />

Memoirenliteratur zu versorgen<br />

8 Vgl. Alfred Kerr (wie Anm. 5), S. 538<br />

9 Vgl. Täglicher Anzeiger für Berg <strong>und</strong> Mark vom<br />

30.12.1899, im SAW<br />

10 Vgl. dazu H.U.Gumbrecht: Funktionen parlamentarischer<br />

Rhetorik in der Französischen<br />

Revolution. Vorstudien zur Entwicklung einer<br />

historischen Textpragmatik. München 1978<br />

11 Das Gedicht heißt „Zum Abschied“ <strong>und</strong> erschien<br />

in der Elberfelder Zeitung am 31.12.1899<br />

12 William McKinley war von 1897 bis 1901 der<br />

25. Präsident der USA <strong>und</strong> ein Vertreter des<br />

amerikanischen Imperialismus, etwa im Krieg<br />

gegen Spanien<br />

13 Vgl. „An der Wende des Jahrh<strong>und</strong>erts“; Barmer<br />

7


Hermann J. Mahlberg<br />

St. Suitbertus in Wuppertal-Elberfeld<br />

„Hast Du schon vom hl. Suitbertus, dem Bischof<br />

gehört? Der hat die Urbewohner der hiesigen<br />

Gegend <strong>und</strong> unseres Wupperthales der<br />

Macht des Heidentums entrissen <strong>und</strong> sie vom<br />

Götzendienst ab zum Glauben an den wahren<br />

Gott hingeführt. Er ist nicht nur der erste, sondern<br />

auch der größte Wohlthäter unserer Stadt,<br />

<strong>und</strong> wenn irgend wer es verdient, in Elberfeld<br />

ein Denkmal zu haben, so ist es St. Suitbertus.<br />

Sieh, unser St. Suitbertus-Dom in spe, wenn<br />

möglich »ein großartig monumentales Werk«,<br />

soll dies Ehrendenkmal sein; es soll zugleich<br />

Zeugnis dafür ablegen, wie die Stadt Elberfeld<br />

ihren größten Wohlthäter ehrt.“ 1<br />

Gespickt mit kernigen Sätzen in der hier zitierten<br />

Diktion wendet sich im Jahre 1887 ein<br />

anonym bleibender Autor in Form einer Denkschrift<br />

an die Katholiken Elberfelds. Trotz des<br />

stellenweise theatralisch anmutenden Sprachstils<br />

weist der Offene Brief eine Fülle interessanter<br />

Interna auf, die auch für die Geschichte<br />

der Stadtentwicklung Elberfelds einen nicht<br />

unerheblichen Stellenwert haben. Elberfeld<br />

bildete ursprünglich nur einen katholischen<br />

Pfarrbezirk, der auch nach dem Bau von<br />

St. Laurentius (1829 bis 1835) von hier aus betreut<br />

werden mußte. 2 Mit wachsender Bevölkerung<br />

in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

dehnte sich die Stadt zunächst in nördliche <strong>und</strong><br />

westliche Richtung hin aus. Folgerichtig teilte<br />

man die Laurentiuspfarre in drei Pfarreien <strong>und</strong><br />

ließ zwei neue Kirchen bauen: In den Jahren<br />

1884 bis 1886 entstand an der westlichen<br />

Hardthöhe die St. Marienkirche, in der Elberfelder<br />

Nordstadt wurde von dem bekannten<br />

Kölner Architekten August Lange im Jahre<br />

1886 die Herz-Jesu-Kirche errichtet. 3<br />

Genau an diesem Punkt setzt nun der Verfasser<br />

der Denkschrift an. Er trägt alle relevanten<br />

Argumente vor, die für die „Südstädter“ einen<br />

eigenen Pfarrbezirk mit Pfarrkirche unterstützen<br />

helfen. Immerhin reicht die Pfarrei im<br />

Westen bis Königshöhe <strong>und</strong> Ruthenbeck <strong>und</strong><br />

8<br />

hat auch auf den Südhöhen die gleiche Ausdehnung<br />

wie die Zivilgemeinde Elberfeld. Erste<br />

Klagen über „den Mangel einer nahegelegenen<br />

Kirche“ seien bereits Ende der 1850er Jahre<br />

laut geworden. Die Kritiker waren Bewohner<br />

der Ronsdorfer Straße <strong>und</strong> dem „Kleeblatt“,<br />

„wo mehrere achtbare Beamten-Familien<br />

aus der vorwiegend katholischen Westfalia eingezogen<br />

waren <strong>und</strong> jetzt wegen des weiten<br />

Weges zur Kirche ihrer liebgewonnenen heimischen<br />

Sitte <strong>und</strong> Gewohnheit, täglich die<br />

hl. Messe zu besuchen, entsagen mußten.“<br />

Abgesehen von den weiten Kirchwegen<br />

<strong>und</strong> den Behinderungen durch Eisenbahntrasse<br />

<strong>und</strong> fehlende Wupperübergänge wird die mangelnde<br />

Anbindung neu entstandener Schulen<br />

an eine naheliegende Kirche vorgebracht. Mit<br />

wachsender Bautätigkeit in der Südstadt etablierten<br />

sich auch katholische Volksschulen.<br />

Die erste wurde bereits am 1. Mai 1861 eröffnet.<br />

Im Jahre 1887 bestanden hier drei Schulen<br />

mit insgesamt 23 Klassen <strong>und</strong> 1508 Schülern. 4<br />

Die Ansiedlungen in der Südstadt waren in<br />

starkem Maße von der Entwicklung des Eisenbahnbetriebes<br />

geprägt, so daß arbeitsplatznahe<br />

Arbeiter- <strong>und</strong> Beamtenwohnungen erforderlich<br />

wurden.<br />

Alles in allem wohnten mindestens 7000<br />

Katholiken im Bereich der Südstadt. Man empfand<br />

es als ungerecht, wegen der neu erbauten<br />

Kirchen an der Hardt (St. Marien) <strong>und</strong> auf dem<br />

Höchsten (Herz-Jesu) die notwendig gewordene<br />

Erhöhung der Kirchensteuer mittragen zu<br />

müssen. Um dem Ziel der eigenen Südstadt-<br />

Pfarrkirche näher zu kommen, hatte sich durch<br />

Initiative des Lehrers J.G.Breuer 5 im Jahre<br />

1884 der „St. Suitbertus-Kirchbau-Verein“ begründet.<br />

Die rührigen Mitglieder bemühten<br />

sich um ein Baugr<strong>und</strong>stück. Zunächst liebäugelten<br />

einige „Südstädter“ mit dem rückwärtigen<br />

Gartengr<strong>und</strong>stück des beliebten Lokals Johannisberg.<br />

Doch Rudolf Küpper, der Betreiber<br />

des florierenden Garten- <strong>und</strong> Veranstal-


St. Suitbertus, Innenansicht, Zustand um 1920 (Pfarrarchiv St. Suitbertus)<br />

9


tungsetablissements, wußte um den Wert dieser<br />

Top-Immobilie oberhalb der Elberfelder City.<br />

Der Preis für das „Suitbertus-Denkmal“ in Gestalt<br />

einer Kirche wäre zu hoch gewesen; die<br />

Nähe zu dem mitunter ausgelassenen Treiben<br />

eines großen Ausflugslokals für ein Gotteshaus<br />

wohl auch unangemessen <strong>und</strong> unschicklich.<br />

Die Tatsache, daß nach 1895 auf dem Küpper’schen<br />

Gelände die Elberfelder Stadthalle errichtet<br />

wurde 6 , spricht für sich. Immerhin hatten<br />

die Betreiber des Kirchenbauprojektes eines<br />

der markantesten Baugr<strong>und</strong>stücke Elberfelds<br />

im Visier, wenn sie auch in finanzieller<br />

Hinsicht an die Grenzen ihrer Möglichkeiten<br />

gerieten.<br />

Eine realistischere Option auf ein geeignetes<br />

Gr<strong>und</strong>stück für den Kirchenbau bot das<br />

Gelände, das östlich an die Kölner Straße angrenzte<br />

<strong>und</strong> auf dem schließlich die Kirche<br />

aufgeführt wurde. In zäher Vorgehensweise<br />

wurden hier von 1886 bis 1891 Parzellen aus<br />

unterschiedlichem Besitz aufgekauft, die z.T.<br />

vorhandene ältere Wohnbebauung abgebrochen<br />

<strong>und</strong> eine sinnvolle Arrondierung des Baugr<strong>und</strong>stückes<br />

erreicht. 7<br />

Noch vor endgültiger Klärung der Bauplatzfrage<br />

hatte sich in katholischen Kreisen<br />

der Südstadt ein weiterer Verein gebildet, der<br />

die Förderung konfessioneller Belange <strong>und</strong><br />

Einrichtungen auf seine Fahnen geschrieben<br />

hatte. 8 Die am 27. März 1889 begründete Vereinigung<br />

gab sich den Namen „Gesellschaft<br />

Südstadt“ <strong>und</strong> forcierte sogleich die Bereitstellung<br />

eines größeren Baugeländes als man es<br />

seitens der Mutterpfarrei St. Laurentius für<br />

tunlich gehalten hatte. Zugleich vergab die Gesellschaft<br />

den Auftrag zur Erstellung eines<br />

Bauplanes. Leider wird der Architekt nicht genannt.<br />

Ob dies bereits Gerhard August Fischer<br />

aus Barmen war, der den Bau von St. Suitbertus<br />

schließlich ausführen würde, kann nur vermutet<br />

werden. Im Frühjahr 1896 erfolgte der<br />

erste Spatenstich; der feierliche Akt der Gr<strong>und</strong>steinlegung<br />

zum „Südstadt-Dom“ wurde am<br />

6. Mai 1897 durch den damaligen Weihbischof<br />

Fischer, späteren Erzbischof von Köln, vollzogen.<br />

9 Zu den Einweihungsfeierlichkeiten des<br />

fertiggestellten Gotteshauses indes war seine<br />

Eminenz verhindert. Kurz vor den angesetzten<br />

10<br />

Festlichkeiten, die für den Himmelfahrtstag<br />

1899 <strong>und</strong> den darauffolgenden Sonntag (11.<br />

<strong>und</strong> 14. Mai) vorgesehen waren, starb Kardinal<br />

Krementz, Erzbischof von Köln10 , so daß<br />

Weihbischof Fischer unabkömmlich war. Über<br />

die Einweihung am 11. Mai 1899 findet sich<br />

ein relativ ausführlicher Zeitungsbericht, der<br />

im folgenden wiedergegeben wird.<br />

„Die Suitbertuskirche in Elberfeld<br />

Bei der überaus raschen Entwicklung der<br />

Südstadt Elberfelds war es schon lange ein<br />

Herzenswunsch der katholischen Bewohner<br />

derselben, ein eigenes Gotteshaus zu besitzen.<br />

Dieser Wunsch ist jetzt in Erfüllung gegangen.<br />

Die Kirche, die den Namen des bergischen<br />

Apostels Suitbertus erhalten hat, <strong>und</strong> auf dem<br />

Gr<strong>und</strong>stück an der Kölner-, Feld- <strong>und</strong> Weststraße<br />

erstanden ist, wurde gestern feierlich<br />

eingeweiht <strong>und</strong> danach dem Verkehr übergeben.<br />

Vertreten waren bei der Einweihung zahlreiche<br />

katholische Vereine mit ihren Fahnen,<br />

der Klerus, von der städt. Behörde die Beigeordneten<br />

Lütje <strong>und</strong> Mäurer, sowie Stadtschulrath<br />

Dr. Boodstein, <strong>und</strong> als Vertreter des Regierungspräsidenten<br />

Oberregierungsrath Hamann.<br />

Die Einweihung vollzog Dechant Hönningen.<br />

An die Einweihung schloß sich ein feierliches<br />

Hochamt mit Predigt. Die Südstadt<br />

war reich beflaggt.<br />

Das Bauwerk selbst ist zwar einfach, aber<br />

dennoch künstlerisch hervorragend. Die Baumittel<br />

waren nicht sehr reichlich; damit war<br />

schon auf den zu wählenden Baustil hingewiesen.<br />

Der theure gothische Stil, der das Bauwerk<br />

in h<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> aberh<strong>und</strong>ert kleine Kunstwerke<br />

auflöst, konnte nicht in Betracht kommen,<br />

wenn er seine Eigenart bewahren wollte.<br />

Baumeister Fischer, unter dessen Leitung<br />

schon so manche Kirche in Rheinland <strong>und</strong><br />

Westfalen entstand <strong>und</strong> welchem Schloß Burg<br />

seine Rekonstruktion verdankt, hat eine romanische<br />

Kirche entworfen, die in einfachster<br />

Ausführung <strong>und</strong> praktischer Raumvertheilung<br />

einen durchaus erfreulichen Anblick von innen<br />

<strong>und</strong> außen bietet. Im Allgemeinen sind die einfachen<br />

Verhältnisse der mittelromanischen Periode<br />

bevorzugt, jedoch auch spätere Formen<br />

passend verwendet. Gedrungen <strong>und</strong> kräftig


flankieren zwei viereckige Thürme das Westportal<br />

an der Kölnerstraße. Einfache Friese<br />

kennzeichnen die vier Stockwerke. Leider tritt<br />

hier nur einmal der überhaupt nur spärlich<br />

verwendete <strong>und</strong> doch so werthvolle R<strong>und</strong>bogenfries<br />

auf, eine Dekorationsform, die auf’s<br />

glücklichste die Verbindung zwischen horizontaler<br />

<strong>und</strong> vertikaler Kraftentwicklung in den<br />

Baugliedern vermittelt. Die Fensteranlage<br />

bringt in der beim romanischen Stile üblichen<br />

Abstufung die Vertheilung von Kraft <strong>und</strong> Last<br />

zum Ausdruck; unten nur massives Mauerwerk,<br />

allein durch ein kleines Radfenster unterbrochen<br />

<strong>und</strong> durch eine weitgespannte<br />

Blend arkade geziert, darauf erst zwei einfache,<br />

schmale Fenster, <strong>und</strong> nun, je höher die Lage,<br />

desto größer (<strong>und</strong> durch 2, zuletzt 3 Arkaden<br />

eingetheilt) die Fenster, die das Mauerwerk<br />

nach oben immer mehr zurückdrängen. Das<br />

Dach der Thürme bildet eine vierkantige Pyramide,<br />

die auf den 4 Seitengiebeln ruht. Das<br />

Hauptportal zwischen den Thürmen ist einfach<br />

<strong>und</strong> edel ausgestattet. Die tiefen Laibungen<br />

sind dreifach abgestuft mit drei vorgesetzten<br />

Säulen, deren Tragkraft symbolisch in der<br />

Mitte durch einen Ringwulst zusammengefaßt<br />

wird. Das Tympanon oder Bogenfeld über der<br />

Thüre enthält eine Suitbertusstatue. Das Feld<br />

über dem Portal weist ein großes Radfenster<br />

auf, das durch kleine Säulen gespannt wird.<br />

Noch höher sehen wir drei Kreise durch romanisches<br />

Bandornament der Frühzeit ausgefüllt<br />

Vom Mittelschiff gehen drei Strebebögen über<br />

die niedrigen Seitenschiffe hinweg, wodurch<br />

dem gedrungenen romanischen Bau etwas von<br />

gothischer Leichtigkeit verliehen wird. Diesem<br />

Prinzip entspricht auch das innere System, das<br />

möglichst viel die großen Mauerflächen auflöst<br />

oder unterbricht. Den eigentlichen R<strong>und</strong>bogen<br />

sehen wir nur bei kleineren Überspannungen<br />

angewendet, sonst aber den Spitzbogen, <strong>und</strong><br />

zwar als gedrückten, gleichseitigen <strong>und</strong> sogar<br />

steilen. (Diesen letzteren beim Durchgang aus<br />

dem Seiten- ins Querschiff.) Ferner dient demselben<br />

Zweck die Gestalt der Pfeiler, die durchweg<br />

kräftige R<strong>und</strong>pfeiler <strong>und</strong> in beschränkter<br />

Zahl vorhanden sind, so daß der Überblick in<br />

der Kirche möglichst ungehemmt bleibt. Vom<br />

Westportal aus gelangt man in das Mittelschiff<br />

unter der Empore durch, die die Orgel trägt<br />

<strong>und</strong> auf drei Säulenreihen ruht. Das gesammte<br />

Langhaus hat fast die Breite des Querschiffes.<br />

Die Wand des Chores (mit der Apsis) ist recht<br />

hübsch durch sieben Arkaden, die auf dicht an<br />

der Wand stehenden schlanken Säulen ruhen,<br />

durch eine Säulchengallerie <strong>und</strong> hohe Fenster<br />

gegliedert. Ueber der Vierung erhebt sich ein<br />

Dachreiter, der leider in seiner Schiefereinkleidung,<br />

die kein Mauerwerk wirken läßt, nüchtern<br />

aussieht. Das Innere der Kirche ist ungemein<br />

hell, da erst wenige bunte Fenster gestiftet<br />

worden sind, die wegen der unmittelbaren<br />

Nachbarschaft der hellen Fenster nicht zur<br />

Geltung kommen können. Man hat dem Mangel<br />

im Chor durch Abblenden der hellen Fenster<br />

abzuhelfen gesucht. Das Mauerwerk ist im<br />

Innern röthlich oder bläulich getönt, sodaß<br />

demnächst, wenn bereitwillige Spender die<br />

Buntverglasung auch der übrigen Fenster ermöglichen<br />

werden, die Belichtung ganz harmonisch<br />

werden wird. Die innere Einrichtung ist<br />

hier <strong>und</strong> da noch provisorisch, besonders in<br />

den Altären, die noch nicht vollendet sind. Bei<br />

der Ornamentik bei Kapitälen, Friesen, Gurten,<br />

Feldern u.s.w. sei darauf hingewiesen, daß<br />

sie in streng romanischer Art gehalten ist <strong>und</strong><br />

im Rahmen allgemeiner Symmetrie bei gleichen<br />

Baugliedern reizvolle Abwechslung aufweist.<br />

Die Symbolik tritt nur selten hervor, so<br />

z.B. in den Portalen in den Figuren von Adler<br />

(Stärke), Hahn (Wachsamkeit) oder Ente<br />

(Weis heit). Die Südstadt hat in der St. Suitbertuskirche<br />

eine architektonische Zierde erhalten,<br />

die bei möglichster Einfachheit <strong>und</strong> praktischer<br />

Einrichtung reich an künstlerischer Wirkung<br />

ist.“ 11<br />

Stilistische Querverweise<br />

Der 1899 fertiggestellte Sakralbau knüpfte<br />

in seinem äußeren Erscheinungsbild an spätromanische<br />

Vorbilder an. Das markante Westwerk<br />

mit seiner Doppelturmfassade läßt z.B.<br />

an die Stifts- <strong>und</strong> Pfarrkirche St. Georg in Limburg<br />

an der Lahn denken. 12 Bei den übrigen<br />

Baulösungen an St. Suitbertus finden sich zum<br />

„Limburger Dom“ jedoch kaum noch Paralle-<br />

11


Gr<strong>und</strong>riß der katholischen Kirche für Elberfeld, Nachlaß von Th. Roß<br />

(Historisches Archiv der Stadt Köln)<br />

12


len. Dies gilt auch für die Außenhautbehandlung:<br />

Während in Limburg zum weißen Putz<br />

die rot abgesetzten Architekturgliederungen<br />

das Bild bestimmen, herrscht bei St. Suitbertus<br />

die Steinsichtigkeit, d.h. die natürliche Farbigkeit<br />

des jeweiligen Natursteines vor. Damit<br />

entspricht der Elberfelder Bau dem ästhetischen<br />

Verständnis des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. 13 In<br />

der Tat stammten die in der Außenarchitektur<br />

der Suitbertus-Kirche verwendeten Materialien<br />

aus den traditionellen Bezugsgebieten. Die in<br />

Ziegelbauweise ausgeführte Kirche wurde im<br />

Sockel mit Niedermendiger Basaltlava <strong>und</strong> im<br />

Aufgehenden mit Tuff aus den Brohltaler<br />

Steinbrüchen verblendet. Zu den Eckquadern<br />

der Türme, zur Einfassung von Fenstern, zu<br />

Abdeckungen, Gesimsen, Kragsteinen <strong>und</strong><br />

Säulen verwendete man roten Sandstein von<br />

Kyllburg. Die innere Einfassung der Portale<br />

<strong>und</strong> Türen wie auch die Säulen wurden aus hellem<br />

Cordeler Sandstein gefertigt. 14<br />

Der Architekt Gerhard August Fischer hatte<br />

zunächst einen skizzenhaften Entwurf vorgelegt,<br />

auf dessen Gr<strong>und</strong>lage am 21. Januar 1895<br />

das Generalvikariat des Erzbistums Köln ein<br />

generelles Placet für das Bauvorhaben abgab. 15<br />

Fischer hatte nun eine Reinzeichnung nebst<br />

Kostenvoranschlag zu erarbeiten. Wenn bei<br />

dem Kirchenbau in neoromanischem Baustil<br />

die Wahl ausgerechnet auf den Architekten<br />

G.A. Fischer fiel, so mag dies einigermaßen<br />

verw<strong>und</strong>ern. Weniger die Tatsache, daß ein Elberfelder<br />

Renommierprojekt von einem Barmer<br />

Baumeister zu konzipieren war, läßt uns<br />

hier stutzig werden, als vielmehr das Faktum,<br />

daß Fischer als eingefleischter Gotiker galt. 16<br />

Noch im Jahre 1906 wird der damals 73jährige<br />

als Senior des Barmer Architektenvereins<br />

durch seinen Kollegen Wilhelm Werdelmann<br />

entsprechend geehrt. 17 Wohl erst ab 1889, im<br />

Zusammenhang mit seinen Studien zur Rekonstruktion<br />

von Schloß Burg 18 , befaßte sich G.A.<br />

Fischer intensiver mit romanischen Formbeständen.<br />

Trotzdem bestehen an seiner alleinigen<br />

Autorschaft für die Entwürfe zu St. Suitbertus<br />

Zweifel. Im Nachlaß des Kölner Architekten<br />

Theodor Roß (1864–1939) findet sich<br />

ein kompletter Satz Reinzeichnungen zur Suitbertus-Kirche.<br />

19 Roß begegnet uns bereits im<br />

Alter von 26 Jahren als selbständiger Architekt;<br />

er hatte spätestens im März 1890 das<br />

„Atelier für Kirchen- <strong>und</strong> Profanarchitektur“<br />

seines Schwiegervaters Erasmus Schüller<br />

übernommen <strong>und</strong> war von 1886 an bei Kirchenbauten<br />

tätig. 20 Bei Schüller erschloß sich<br />

Theodor Roß seine Kenntnisse (neo-) romanischer<br />

Kirchenbauten. Daß Roß auch ansehnliche<br />

Sakralbauten in (neo-) gotischer Bauweise<br />

schaffen konnte, zeigt sich z.B. in den 1897<br />

vorgelegten Entwürfen für St. Peter in Köln-<br />

Ehrenfeld (Einweihung 1901). 21 Die im Nachlaß<br />

Roß überkommenen Zeichnungen tragen<br />

die Bezeichnung „Kath. Kirche für Elberfeld“.<br />

Außerdem existiert noch eine Bleistiftzeichnung<br />

mit der Aufschrift „Projekt zum Neubau<br />

einer kath. Kirche für den Osten der Stadt Elberfeld“.<br />

Dieser Entwurf in romanischer Formgebung<br />

mit zwei kleineren Türmen an der Eingangsseite,<br />

Zwerggalerien <strong>und</strong> einem oktogonalen<br />

Vierungsturm, greift Anregungen der<br />

Abteikirche Maria Laach auf <strong>und</strong> war möglicherweise<br />

als Wettbewerbsentwurf für den Bau<br />

der Marienkirche an der Hardt vorgesehen. 22<br />

Die sorgfältig ausgeführten Zeichnungen zur<br />

St. Suitbertus-Kirche („Kath. Kirche für Elberfeld“)<br />

bilden entweder Konkurrenzvorschläge<br />

zu den Plänen des Barmer Architekten G.A. Fischer<br />

oder aber es handelt sich um eine Auftragsarbeit<br />

von Fischer an den jüngeren Kollegen<br />

aus Köln, der dabei anonym bleiben<br />

mußte. Vieles spricht für die letztere Version,<br />

da die Ähnlichkeiten mit dem ausgeführten<br />

Kirchengebäude frappant sind. Dennoch zeigen<br />

sich markante Abweichungen, die sich aufgr<strong>und</strong><br />

einer Reduktion aus Kostengründen erklären<br />

ließen. Spricht nicht der von G.A. Fischer<br />

gut informierte Berichterstatter des General-Anzeigers<br />

anläßlich der Einweihung bezeichnenderweise<br />

von einer romanischen Kirche<br />

„in einfachster Ausführung“? Wohl wahr!<br />

Das Westwerk gerät weniger aufwendig z.B.<br />

durch Verzicht auf die Nebenportale in den<br />

Turmzonen oder reduzierte Gliederungselemente<br />

im Aufgehenden. Chorseitig wird auf<br />

die an St. Aposteln in Köln erinnernden Seitentürme<br />

verzichtet, die Gliederung der Seitenschiffe<br />

stark zurückgenommen. Einsparungen<br />

auch bei der Innenraumkonzeption. Hier ver-<br />

13


St. Suitbertus nach der Zerstörung 1943 (Pfarrarchiv St. Suitbertus)<br />

läßt Fischer das für einen dreischiffigen Basilikentyp<br />

vorgesehene „Geb<strong>und</strong>ene System“ <strong>und</strong><br />

kommt zu einer gotisierenden Lösung mit weiten<br />

Säulenabständen. Der von Theodor Roß<br />

ausgearbeitete Plan wäre zwar konsequenter<br />

gewesen, aber eben auch teurer gekommen.<br />

Mit dem an Roß delegierten Auftrag bewegen<br />

wir uns wohl am Beginn des Jahres 1895.<br />

Roß war zu diesem Zeitpunkt 30 Jahre alt <strong>und</strong><br />

noch nicht in einem Maße routiniert, um auf<br />

jegliche Anregung verzichten zu können. Es<br />

versteht sich von selbst, daß bei einem historisierenden<br />

Baumeister des späten 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

nicht einfach ein romanischer Sakralbau<br />

zum Vorbild genommen wurde. Anregungen<br />

von unterschiedlichen Baulösungen flossen in<br />

den Entwurf ein <strong>und</strong> es galt, die stilistische<br />

Vielfalt sowohl zu einem überzeugenden Gesamtkonzept<br />

zu integrieren als auch den ortsgegebenen<br />

Anforderungen anzugleichen. Vermutlich<br />

stand Roß auch unter Zeitdruck, so daß<br />

14<br />

ihn der unverhoffte Auftrag Fischers in Zugzwang<br />

brachte.<br />

Glücklicherweise entstand vom Jahre 1891<br />

an in Köln-Deutz die Kath. Pfarrkirche<br />

St. Heribert, die am 28. Mai 1896 ihrer Bestimmung<br />

übergeben werden konnte. Die Pläne für<br />

das Gotteshaus stammten von dem renommierten<br />

Kirchenbaumeister Caspar-Clemens Pickel<br />

(1847–1939) aus Düsseldorf. 23 Einerseits war<br />

der Bau im Jahre 1895 genügend weit fortgeschritten,<br />

um einem aufmerksamen Architekten<br />

als Vorlage dienen zu können, andererseits<br />

mochte es Roß auch gelungen sein, Einsicht in<br />

die Pläne zu nehmen. Bei einem Formvergleich,<br />

der allerdings den hier gesetzten Rahmen<br />

sprengen würde, wird deutlich, in welch<br />

starkem Maß die Roß’schen Pläne von<br />

St. Heribert geprägt sind. 24 Auch bei der<br />

schließlich durch G.A. Fischer realisierten<br />

Ausführung der St. Suitbertus-Kirche erinnern<br />

noch etliche Details an das durch Caspar-Cle-


Blick von der Orgelempore zum Chor, 1993 (Forschungsstelle für Architekturgeschichte <strong>und</strong><br />

Denkmalpflege der Bergischen Universität/Gesamthochschule Wuppertal)<br />

mens Pickel geschaffene Vorbild. Wenn man es<br />

milde formuliert, kann man sagen, daß sich um<br />

die St. Suitbertus-Kirche in Elberfeld immerhin<br />

drei namhafte Architekten verdient gemacht<br />

haben.<br />

Zerstörung <strong>und</strong> Wiederaufbau<br />

Die Rohbauleistungen für St. Suitbertus<br />

wurden an den Bauunternehmer Peter König<br />

(Briller Straße in Elberfeld) vergeben. Aus dem<br />

Barmer Büro G.A. Fischers war der Architekt<br />

Knevels mit der örtlichen Bauleitung betreut.<br />

Die Steinhauerarbeiten ließ man durch das Königswinterer<br />

Unternehmen Bachem & Cie vornehmen.<br />

Auch für Ausstattung <strong>und</strong> Fenster<br />

hatte man erste Adressen angesprochen, wenngleich<br />

die Vergabe aus finanziellen Gründen<br />

gestreckt werden mußte. 25 Als St. Suitbertus<br />

am 26. Oktober 1902 in den Rang einer selb -<br />

ständigen Pfarrkirche erhoben wurde, konnte<br />

dieser Freudentag bereits im Glanz aller Altäre<br />

<strong>und</strong> zu den Klängen einer Seiffert-Orgel ge -<br />

feiert werden. Die Ausstattung wurde im Jahre<br />

1927 durch eine Ausmalung mit Wand- <strong>und</strong><br />

Deckenfresken komplettiert. 26<br />

Wie zahlreiche Gebäude in der Südstadt<br />

wurde auch St. Suitbertus beim Luftangriff<br />

vom 25. Juni 1943 auf Elberfeld zerstört. Als<br />

eines der wenigen unversehrten Bauwerke<br />

wird die Stadthalle genannt. 27 Der Wiederaufbau<br />

der Südstadt in den 50er Jahren führte zu<br />

einem völlig veränderten Ortsbild, in dem nur<br />

wenige Bauten eine Orientierung an den Vorkriegszustand<br />

ermöglichen. St. Suitbertus<br />

gehört zu dieser Kategorie. Dem Brand vom<br />

25.6.1943 hatten Außenmauern <strong>und</strong> Gewölbe<br />

zwar standgehalten, doch ein Gottesdienst<br />

konnte in der Trümmerstätte nicht mehr stattfinden.<br />

Zudem waren von den r<strong>und</strong> 8000 Katholiken<br />

des Pfarrsprengels nach der Bombar-<br />

15


dierung gerade mal zwei Dutzend Mitglieder<br />

übrig geblieben. Bis zum Mai 1949 rechnete<br />

man wieder mit etwa 1600 Pfarrangehörigen. 28<br />

Ab Juni 1946 hatte man zunächst die Sakristei<br />

als Notkirche genutzt, vom 5.6.1947 an das<br />

linke Seitenschiff. 29 In einem Zeitungsbericht<br />

zum 50jährigen Bestehen der Kirche lesen wir:<br />

„Goldene Jubelfeier in St. Suitbertus.<br />

Die katholische Gemeinde St. Suitbertus<br />

beging gestern die kirchliche Feier ihres<br />

50jährigen Bestehens. Noch ragen die ehedem<br />

imposanten Türme des romanischen Baues in<br />

der Elberfelder Südstadt wie stumpfe Kegel<br />

aus dem Ruinenfeld dieses hart mitgenommenen<br />

Stadtteils empor, so daß das zu einer Kapelle<br />

ausgebaute linke Seitenschiff die Festgemeinde<br />

aufnehmen mußte...“ 30<br />

Wenig vorher waren die Gewölbe wiederhergestellt<br />

<strong>und</strong> die Orgelpartie „durch eine Betondecke<br />

geschützt“ worden. Am 10. Mai 1949<br />

war die „letzte Niete in die Stahlkonstruktion<br />

für das eigentliche Dach eingeschlagen“ worden.<br />

31 Am 21. August des Jahres 1950 konnte<br />

in einem feierlichen Pontifikalamt die wiederaufgebaute<br />

Kirche eingeweiht werden. 32 Im<br />

Jahre 1953 wurden die Restarbeiten an den<br />

Türmen abgeschlossen. Zum gleichen Zeitpunkt<br />

legte das Erzbistum Köln die Betreuung<br />

von Kirche <strong>und</strong> Pfarrei in die Hände des<br />

Kreuzherrenordens. 33<br />

Der Wiederaufbau von St. Suitbertus geschah<br />

unter der Leitung des Kölner Dombaumeisters<br />

Willy Weyres. Neben einigen Vereinfachungen<br />

im Außenbau fällt vor allem die Innenraumgestaltung<br />

ins Auge: Durch Abschlagen<br />

des Putzes tritt der Ziegelbau zutage <strong>und</strong><br />

vermittelt die herbe Ästhetik der frühen Nachkriegsjahre.<br />

Von der nach <strong>und</strong> nach erneuerten<br />

Ausstattung seien ein Tabernakel <strong>und</strong> ein den<br />

Altarraum beherrschendes Hängekreuz hervorgehoben,<br />

beides Arbeiten von Prof. Karl<br />

Schrage, dem Leiter der Wuppertaler Werkkunstschule.<br />

34<br />

St. Suitbertus läßt sich im Rückblick auf<br />

eine h<strong>und</strong>ertjährige Geschichte kunsthistorisch<br />

in die Gruppe jener historisierenden Kirchenbauten<br />

einreihen, die zur Zeit ihrer Entstehung,<br />

aber auch im Zuge des Wiederaufbaus Qualität<br />

16<br />

<strong>und</strong> gestalterischen Anspruch zu dokumentieren<br />

vermochten.<br />

Anmerkungen<br />

1 Vgl. Pfarrarchiv St. Suitbertus: Abschrift (Manuskript<br />

1950er Jahre?), S. 73–97: Anonym:<br />

„Appelation (sic!) An die Elberfelder Katholiken<br />

in Angelegenheit der projektierten St. Suitbertus-Kiche.<br />

Ein Wort zur Aufklärung.“ Das<br />

Schreiben war wohl auch <strong>und</strong>atiert, es erschien,<br />

wie aus dem Text sinngemäß hervorgeht, kurz<br />

vor Weihnachten des Jahres 1887. Der Verfasser<br />

ist möglicherweise Hauptlehrer J.G. Breuer, der<br />

1884 den „St. Suitbertus-Kirchbau-Verein“ begründete.<br />

2 Im Jahre 1687 errichtete die kleine katholische<br />

Gemeinde Elberfelds am Turmhof ein bescheidenes<br />

Gotteshaus, das in den Jahren 1729–1732<br />

durch einen größeren Bau ersetzt wurde. Das<br />

Gr<strong>und</strong>stück wurde in den 1820er Jahren zum<br />

Bau des Rathauses benötigt, so daß man im<br />

Zuge der westlichen Stadterweiterung Elberfelds<br />

an einen großzügigen Neubau für die etwa<br />

5000 Katholiken des Pfarrsprengels denken<br />

konnte. Vgl. u.a. Pfeffer (1980) S. 28.<br />

3 August Lange verstarb 1883; seine Pläne für die<br />

Herz-Jesu-Kirche wurden von Baumeister<br />

Schmitz aus (Köln-) Deutz ausgeführt; vgl. König<br />

(1986), S. 8. (Der Name Lange ist hier fälschlich<br />

mit Lunge wiedergegeben). Bei dem<br />

„Baumeister Schmitz“ handelt es sich vermutlich<br />

um Franz Schmitz (1832–1894), der 1884<br />

als Diözesanbaumeister in Köln nachgewiesen<br />

ist <strong>und</strong> 1890 Dombaumeister von Straßburg<br />

wurde. Vgl. Weyres/Mann (1968), S. 92 Nr. 630.<br />

Die St. Marienkirche wurde nach Plänen des<br />

„Stadtbaumeisters Schmitz aus Deutz“ gebaut<br />

(vgl. Wichard, 1986, S. 14). Vermutlich handelt<br />

es sich um den gleichen Architekten wie von<br />

Herz-Jesu; Pfeffer (1980), S. 37/38 benennt für<br />

St. Marien die Düsseldorfer Architektensozietät<br />

Tuishaus (Tüshaus, H.M.) & van Abbema. Um<br />

die Verwirrung perfekt zu machen: Pfarrer Karl<br />

Neumann von St. Laurentius schreibt den Bau<br />

von Herz-Jesu den Architekten Tüshaus <strong>und</strong> van<br />

Abbema zu, vgl. Neumann (1910), S. 323. Vorerst<br />

läßt sich die Frage nach dem (bzw. den) Architekten<br />

von St. Marien nicht klären. Bezüglich<br />

Herz-Jesu ist die Quellenlage durch einen Reprint<br />

der Bauurk<strong>und</strong>e gesichert. Vgl. König<br />

(1986), S. 8.


4 Vgl. Pfarrarchiv St. Suitbertus: Abschrift, S. 86.<br />

Es handelt sich um folgende katholische Schulen:<br />

1. Schule an der Grifflenberger Straße: 9 Klassen<br />

mit 547 Schülern<br />

2. Schule an der Simonsstraße: 7 Klassen mit<br />

498 Schülern<br />

3. Schule an der Andreasstraße: 7 Klassen mit<br />

463 Schülern.<br />

5 Vgl. Festschrift 75 Jahre St. Suitbertus. 1899–<br />

1974, S. 13; Im Jahre 1885 war der ehemalige<br />

Hauptlehrer J.G. Breuer, wohnhaft in der Hofauerstraße<br />

39, bereits „emeritiert“, vgl. STAW<br />

(Stadtarchiv Wuppertal): Adreßbuch der Stadt<br />

Elberfeld 1885. In der Amtszeit des Pfarrers Friderici<br />

von St. Laurentius war Breuer vor allem<br />

auf sozialem Gebiet stark engagiert <strong>und</strong> der Initiator<br />

zahlreicher sozialer Einrichtungen <strong>und</strong><br />

Vereinigungen, vgl. Neumann (1910),<br />

S. 323.<br />

6 Vgl. Wieck (1995), S. 19; an die Stadt Elberfeld<br />

veräußerte die Familie Küpper allerdings den<br />

Gesamtkomplex zum Preise von 525000 Mark.<br />

7 Vgl. Festschrift 75 Jahre St. Suitbertus, 1899–<br />

1974, S. 14.<br />

8 Vgl. Pfarrarchiv St. Suitbertus: Abschrift,<br />

S. 132f.<br />

9 Vgl. Festschrift 75 Jahre St. Suitbertus, 1899–<br />

1974, S. 14; Neumann (1910), S. 326. Antonius<br />

Fischer (geb. Jülich 30.5.1840, gest. Köln<br />

30.7.1912) wurde 1888 Domkapitular in Köln;<br />

1889 Weihbischof, 1902 Erzbischof von Köln<br />

<strong>und</strong> 1903 zum Kardinal ernannt, vg. Steimel<br />

(1958), Sp. 126.<br />

10 Philippus Krementz (geb. Koblenz 1.12.1819,<br />

gest. Köln 6.5.1899) wurde 1867 Bischof von<br />

Ermland, 1885 zum Erzbischof von Köln ernannt,<br />

erhielt 1893 die Kardinalswürde. Vgl.<br />

Steimel (1958), Sp. 230; vgl. auch : STAW: Täglicher<br />

Anzeiger für Berg <strong>und</strong> Mark, Nr. 112 v.<br />

14.5.1899.<br />

11 STAW: General-Anzeiger für Elberfeld-Barmen,<br />

Nr. 110 v. Freitag, 12. Mai 1899. Der anonym<br />

verfaßte Text scheint sehr stark auf Hinweisen<br />

des Architekten G.A. Fischer zu basieren, da<br />

auf formale Details des Kirchenbaues eingegangen<br />

wird.<br />

12 Der sog. „Dom zu Limburg“ wurde nach 1211<br />

bis 1235 erbaut. Vgl. Binding (1980), S. 58,<br />

Abb. 152.<br />

13 Zur Rezeption romanischer Sakralbauten <strong>und</strong><br />

ihrer Restaurierung/Rekonstruktion. Vgl. Hoffmann/Godehard:<br />

Rheinische Romanik im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, Köln 1995.<br />

14 Vgl. Pfarrarchiv St. Suitbertus: Abschrift, S. 41<br />

<strong>und</strong> 229.<br />

15 Vgl. Pfarrarchiv St. Suitbertus: Auszug aus dem<br />

Lagerbuch von St. Laurentius, betr. Suitbertus-<br />

Kirche (<strong>und</strong>atiertes Manuskript, um 1903), S. 2.<br />

16 Vgl. Aleweld (1994), S. 92–94 <strong>und</strong> Moll (1994),<br />

S. 18–20.<br />

17 Vgl. STAW: Barmer Zeitung v. 30.10.1906:<br />

„Eine Ehrenfeier für Architekt Fischer“.<br />

18 Vgl. Fischer (1892)<br />

19 Vgl. HASK (Historisches Archiv der Stadt<br />

Köln): Abt. 1081, Nachlaß Theodor Roß.<br />

20 Zu Theodor Roß. Vgl. Frielingsdorf (1992),<br />

S. 93/94; Mahlberg (1982), S. 34 <strong>und</strong> S. 42<br />

Anm. 110. Von Erasmus Schüller <strong>und</strong> Theodor<br />

Roß befinden sich Originalpläne in der vom Verfasser<br />

geleiteten Forschungsstelle für Architekturgeschichte<br />

<strong>und</strong> Denkmalpflege der Bergischen<br />

Universität-Gesamthochschule Wuppertal.<br />

21 Vgl. Hilgers (1993), S. 4.<br />

22 Vgl. HASK: Abt. 1081, Nachlaß Theodor Roß,<br />

Nr. 193 „Projekte fremder Architekten“.<br />

23 Vgl. Schmitges (1971), Fußbroich (1982) <strong>und</strong><br />

Krings (1988).<br />

24 Für Pickel wie für Roß hatten außer St. Georg in<br />

Limburg a. d. Lahn noch folgende romanische<br />

Kirchen Vorbildfunktion: St. Aposteln in Köln,<br />

Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Andernach<br />

<strong>und</strong> St. Kastor in Koblenz. Direkte Anregungen<br />

für den Erstenwurf (Nachlaß Roß) wie auch die<br />

schließlich durch G.A. Fischer ausgeführten<br />

Pläne konnten ferner von der Krefelder neoromanischen<br />

Kirche St. Josef (in den Jahren 1887–<br />

90 nach den Plänen Pickels ausgeführt), ausgegangen<br />

sein. Vgl. Schmitges (1971),<br />

S. 78–84.<br />

25 Hochaltar, Nebenaltäre <strong>und</strong> Kommunionbank<br />

wurden von den Kunstwerkstätten Custodis<br />

(Köln) erstellt. Der Bildhauer Ferdinand Josef<br />

Friedrich Custodis fertigte übrigens auch den<br />

Marienaltar in St. Heribert in Köln (vgl. Fußbroich,<br />

1982, S. 24); die Kanzel war ein Werk des<br />

Holzbildschnitzers Goldkuhle (Essen).Die Fenster,<br />

deren Anschaffung aus Kostengründen über<br />

etliche Jahre verteilt wurde, stammten aus der<br />

bekannten Glaswerkstatt Oidtmann in Linnich.<br />

Der Marienaltar wurde am 25. 11 1899 eingeweiht,<br />

der Hochaltar Weihnachten 1899, St. Josefsaltar<br />

<strong>und</strong> Kanzel Ostern 1900, der Taufaltar<br />

Ostern 1901, die Orgel wurde im Oktober 1901<br />

in Betrieb genommen <strong>und</strong> die Kommunionbank<br />

im Jahre 1903 aufgestellt; im gleichen Jahr er-<br />

17


folgte auch der Einbau der restlichen 6 Chorfenster.<br />

Vgl. Pfarrarchiv St. Suitbertus, Abschrift,<br />

S. 40.<br />

26 Zu dem Künstler sind leider keine näheren Angaben<br />

zu finden. Als Programm kann aufgr<strong>und</strong><br />

älterer Fotovorlagen das Wirken des Hl. Suitbertus<br />

ausgemacht werden.<br />

27 Vgl. Picard (1993), S. 90.<br />

28 Vgl. STAW: Westdeutsche Zeitung v. 13. 5.<br />

1949: „50 Jahre St. Suitbertus-Kirche“.<br />

29 Festschrift 75 Jahre St. Suitbertus, 1899–1974,<br />

S. 44.<br />

30 Vgl. STAW: Westdeutsche Zeitung v. 27. 5.<br />

1949.<br />

31 Vgl. STAW: Westdeutsche Zeitung v. 13. 5.<br />

1949.<br />

32 Vgl. STAW: Generalanzeiger der Stadt Wuppertal<br />

(Beilage) v. 19. 8. 1950 <strong>und</strong> 21 8.1950.<br />

33 Vgl. STAW: General-Anzeiger der Stadt Wuppertal<br />

v. 16.5.1953, 4.7.1953 <strong>und</strong> Barmer Zeitung<br />

v. 29.8.1953.<br />

34 Vgl. Mahlberg (1994), S. 94/95.<br />

Literaturverzeichnis<br />

Aleweld, Norbert: Gerhard August <strong>und</strong> Richard Fischer.<br />

Der Architekt von Schloß Burg <strong>und</strong> sein<br />

Sohn, in: Hans Joachim de Bruyn-Ouboter<br />

(Hrsg.): Barmer Südstadt. Wuppertal, 1994,<br />

S. 92–94.<br />

Binding Günther: Architektonische Formenlehre.<br />

Darmstadt, 1980.<br />

Fischer, G.A.: Schloß Burg an der Wupper <strong>und</strong> andere<br />

Burgen des Rheinlandes, Barmen 1892<br />

(Reprint mit einem Nachwort von Dirk<br />

Soechting, Remscheid 1980).<br />

Frielingsdorf, Joachim: Der Baumeister Heinrich<br />

Wolff (1843–1924). Wuppertal, 1992.<br />

Fußbroich, Helmut: Die Pfarrkirche St. Heribert in<br />

Köln-Deutz (=Rheinische Kunststätten, H. 270).<br />

Neuss, 1982.<br />

Hilgers, Fritz: Die Pfarrkirche St. Peter in Köln-Ehrenfeld<br />

(=Rheinische Kunststätten, H. 380).<br />

Neuss 1993.<br />

Hoffmann, Godehard: Rheinische Romanik im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert. Denkmalpflege in der preußischen<br />

Rheinprovinz. Köln, 1995.<br />

Klinkenberg, Joseph: Köln <strong>und</strong> seine Kirchen. Führer<br />

durch Köln für die Besucher der 50. Generalversammlung<br />

der Katholiken Deutschlands.<br />

Köln 1903.<br />

18<br />

König, Franz (Hrsg.): 100 Jahre Pfarrgemeinde<br />

Herz-Jesu Wuppertal-Elberfeld. 1886–1986.<br />

Wuppertal o.J. (1986).<br />

Krings, Ulrich: Die Katholische Pfarrkirche<br />

St. Heribert in Köln-Deutz. Gedanken zu ihrer<br />

denkmalpflegerischen Instandsetzung 1986–<br />

1988, in: Rechtsrheinisches Köln. Jahrbuch für<br />

Geschichte <strong>und</strong> Landesk<strong>und</strong>e, Bd. 14 (Köln<br />

1988), S. 65–88.<br />

Mahlberg, Hermann J.: Karl Schrage (1904–1972)<br />

in: Kunst /Design <strong>und</strong> Co. (Hrsg. Dekan FB 5):<br />

Von der Kunstgewerbeschule Barmen/Elberfeld<br />

– Meisterschule – Werkkunstschule Wuppertal<br />

zum Fachbereich 5 der Bergischen Universität<br />

Gesamthochschule Wuppertal. 1894–1994.<br />

Wup per tal 1994, S. 94–95.<br />

Ders.: 850 Jahre Kirch-Kleintroisdorf. Ein Beitrag<br />

zur geschichtlichen Entwicklung des Doppelortes,<br />

in: 850 Jahre Kirch-Kleintroisdorf (Hrsg.<br />

Ralf v. Ameln u.a.). Bedburg 1982, S. 7–42.<br />

Moll, Jörg: Fischer, Fischer <strong>und</strong> Fischer. Der Barmer<br />

Stadtbaumeister August Fischer (1824ca.1885),<br />

seine Vorgänger, Nachfolger <strong>und</strong> Namensvettern,<br />

in: POLIS, H. 4, 1994, S. 18–20.<br />

Neumann Karl: Geschichte der Katholischen Gemeinde,<br />

in: Die Stadt Elberfeld. Festschrift zur<br />

Dreijahrh<strong>und</strong>ert-Feier 1910 (Hrsg. v. Heinrich<br />

Born), Elberfeld, 1910, S. 320–329.<br />

Pfeffer, Klaus: Die Kirchenbauten in Wuppertal-Elberfeld<br />

(=Rheinische Kunststätten, H. 229),<br />

Neuss, 1980.<br />

Picard, Wilfried: Erinnerungen eines Neunjährigen,<br />

in: Herbert Pogt (Hrsg.): Vor fünfzig Jahren.<br />

Bomben auf Wuppertal. Wuppertal 1993, S. 88–<br />

90.<br />

Schmitges, Horst: Die Kirchenbauten des Caspar-<br />

Clemens Pickel. Ein Beitrag zur katholischen<br />

Kirchenbaugeschichte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

München 1971.<br />

Steimel, Robert: Kölner Köpfe. Köln, o.J. (1958)<br />

Weyres, Willy/Mann, Albrecht: Handbuch zur rheinischen<br />

Baukunst des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, 1800–<br />

1880. Köln 1968.<br />

Wichard, Felix u.a. (Hrsg.): 100 Jahre katholische<br />

Pfarrgemeinde St. Marien in Elberfeld. 1886–<br />

1986. Wuppertal o.J. (1986).<br />

Wieck, Anke: Zur Geschichte der Elberfelder Stadthalle,<br />

in: Frielingsdorf, Joachim / Hartwig, Jost<br />

(Hrsg.): Die Stadthalle. Ein Wuppertaler Monumentalbauwerk.<br />

(1895–1995). Wuppertal 1995,<br />

S. 12–73.


Klaus Goebel<br />

Literarische Ortsbeschreibung<br />

Zu Jung-Stillings Erzählung „Auch eine heilige Familie“<br />

Seit ich mich erinnern kann, bin ich in dieser<br />

Stadt zu Hause. Laute, Gerüche, Farben,<br />

Tageszeiten zwischen Morgengrauen <strong>und</strong><br />

Dämmerung, Regenschauern <strong>und</strong> Sonnenschein<br />

verbinden sich mit den Gesichtern der<br />

Eltern, der Großeltern, der verzweigten Familie.<br />

Die Erinnerung klammert sich an täglich<br />

geschaute, immer wieder neu gesehene Orte,<br />

an Möbel, Zimmer, Häuser, Straßen, weite<br />

Wiesen, an schneebedeckte Hänge, über die es<br />

auf dem Schlitten in rasender Fahrt abwärts<br />

geht.<br />

An einem Septembermorgen steht die<br />

Nachbarin mit ernstem Gesicht an der Wohnungstür.<br />

Ihr Mann sei in der Nacht eingezogen<br />

worden <strong>und</strong> schon unterwegs nach Polen, an<br />

die Front. Wenig später teilt sie der Mutter tränenüberströmt<br />

die Todesnachricht mit. Ich<br />

stehe dabei <strong>und</strong> schaue auf das schwarze Kleid<br />

<strong>und</strong> ins Treppenhaus. An der Haustür hängt ein<br />

schwarzer Flor. Die nächsten Kriegsjahre ver -<br />

knüpfen sich im Bewußtsein des Kindes mit<br />

dem Keller unter der Treppe, wo ein Luft -<br />

schutzraum eingerichtet ist. Wir sitzen an zwei<br />

oder drei Tischen. Langsam erwache ich aus<br />

der Schlaftrunkenheit. Die Vermieterin, Hausherrin<br />

genannt, spielt ein Würfelspiel mit uns.<br />

Dann verkünden die Sirenen Entwarnung. Alle<br />

kehren in ihre Wohnungen zurück. Einmal<br />

spielen wir nicht, sondern haben nur Angst,<br />

weil Bomben fallen, st<strong>und</strong>enlang. Am nächsten<br />

Morgen geht das Kind über die Straße, die mit<br />

Glassplittern übersät ist. Auf der Straßenecke<br />

Collenbuschstraße–Litzmannstraße steht die<br />

Gulaschkanone. Dort wird Suppe ausgeschenkt.<br />

Ein Junge aus der Klasse sagt zu mir:<br />

„Lebst du noch?“<br />

Die Schulwege. Zu den Volksschulen Liegnitzer<br />

Straße, Wichlinghauser Straße, Germanenstraße,<br />

Rübenstraße. Sechs Jahre lang von<br />

Heckinghausen zum Carl-Duisberg-Gymnasium<br />

in der Diesterwegstraße auf Wupperfeld,<br />

mal über Rittershausen, mal über die Wupper-<br />

brücke Brändströmstraße, die die Großmutter<br />

Schillerbrücke nennt, der Großvater wohl auch<br />

einmal Totenbrücke. Wer das Schellen versäumt,<br />

findet das große Schulportal geschlossen.<br />

Erst nach Minuten läßt der Hausmeister<br />

Hölschen die Zuspätgekommenen ein. Drei<br />

Treppen hoch droht der Eintrag ins Klassenbuch.<br />

Die Fahrten mit dem Rad durch die<br />

Stadt, mit der Talbahn, mit der Bergbahn, mit<br />

der Schwebebahn. Ins Theater an der Berg -<br />

straße. Die Gemarker Kirche, die im Krieg ausgebrannt<br />

war, ist wieder aufgebaut. Ich bekomme<br />

im Festgottesdienst einen Stehplatz.<br />

Das Glasmosaik neben der Kanzel leuchtet in<br />

allen Farben, <strong>und</strong> der Oberbürgermeister<br />

Schmeißing, der mich anzusehen scheint, sagt<br />

am Ende seiner Rede: Veni, creator spiritus. An<br />

wie vielen Ruinen gehen die Wege damals vorbei!<br />

Vielleicht fallen mir die ganz alten Häuser,<br />

die aus Fachwerk, darum besonders ins Auge,<br />

die Bauten, über die ich dann als Schüler <strong>und</strong><br />

Student Artikelserien in den Zeitungen<br />

schreibe. Gespräche mit Hausbewohnern <strong>und</strong><br />

lokalgeschichtliche Literatur aus der Stadt -<br />

bibliothek bilden die Gr<strong>und</strong>lagen. Kindheits -<br />

eindrücke <strong>und</strong> Lektüre verdichten sich zum<br />

Bild der Stadt, in dem Erinnerung <strong>und</strong> Gegenwart<br />

zusammenfließen. Vor allem aber begegnen<br />

uns immer wieder Menschen, traurige oder<br />

lachende Gesichter, wenn wir uns erinnern.<br />

Wortfetzen schallen ans Ohr. Die Großmutter<br />

schiebt uns einen Teller Essen hin. Draußen<br />

spielt ein Lumpenhändler auf seiner Flöte.<br />

Autobiographische Momentaufnahmen lassen<br />

erkennen, daß sich keine Erinnerung ohne<br />

die Orte <strong>und</strong> Menschen denken läßt, denen<br />

man im Leben begegnet ist. Bewegte Schauplätze<br />

gehören zum Erzählen. Sie erscheinen<br />

wie Märkte voller Menschen, von denen sich<br />

ab <strong>und</strong> zu einer löst <strong>und</strong> auf uns zugeht. Ohne<br />

bestimmte Orte sind weder die erf<strong>und</strong>enen<br />

noch die geschehenen Geschichten zu denken,<br />

ohne Menschen wiederum bleiben diese Orte<br />

19


leblos. Menschliche Sprache <strong>und</strong> Wechsel der<br />

Orte bringt die Handlung vorwärts, wie es im<br />

Wesen der Biographie, des Schauspiels <strong>und</strong> des<br />

Films liegen.<br />

Doch in Geschichtsschreibung <strong>und</strong> Literaturtheorie<br />

„bleibt der Raum fast unbeachtet,<br />

genauer, der Ort, an dem Geschichte stattfand,“<br />

stellte Anke Bennholdt-Thomsen nachdenklich-kritisch<br />

fest. 1 Die Funktion, die der Ort in<br />

der fiktiven Literatur wie in der Geschichtsschreibung<br />

einnimmt, besteht gewöhnlich in<br />

der Wiedergabe äußeren Geschehens <strong>und</strong> in<br />

der Vermittlung ebenso äußerlichen Lokalkolorits.<br />

Zeit <strong>und</strong> Raum im Roman, von Michail<br />

Bachtin mit dem Begriff Chronotopos umschrieben,<br />

verbinden die Zeitverhältnisse mit<br />

bestimmten Räumlichkeiten. 2 Welche Bedeutung<br />

der literarisch vermittelte Raum für das<br />

Geschichtsbewußtsein des Autors besitzt <strong>und</strong><br />

in welcher Weise eine literarische Dimension<br />

dem Ort zu danken ist, in dem das vom Autor<br />

beschriebene Geschehen abläuft, bleibt häufig<br />

unbeantwortet. Welcher Einfluß aber dem Ort<br />

im fiktiven wie im faktischen Erzählen ein ge -<br />

räumt werden muß, läßt sich unzählig oft nachweisen.<br />

Wir greifen die Essayfolgen heraus,<br />

die von Marie Luise Kaschnitz unter den Titeln<br />

„Orte. Aufzeichnungen“ 3 <strong>und</strong> „Orte <strong>und</strong> Menschen“<br />

4 veröffentlicht wurden. Ausdrücklich<br />

werden „Orte“ hervorgehoben. Städte, Häuser,<br />

Hügel, den Flughafen <strong>und</strong> das Schloß, geographisch<br />

genau fixierbare Örtlichkeiten wählt die<br />

Dichterin zu Ausgangs- <strong>und</strong> Endpunkten reflektierender<br />

Beschreibungen. Eindrücke <strong>und</strong><br />

Empfindungen machen sich an Orten fest. In<br />

Begegnungen mit Menschen nimmt der Geist<br />

des Ortes Gestalt an. „Orte will ich beschreiben<br />

[…]dann nur noch ein einziges Gefühl […]die<br />

Liebe der Lebenden, der Toten <strong>und</strong> von ihr getragen,<br />

von ihr umhüllt. Die Quintessenz aller<br />

Erfahrungen Liebe, empfangene <strong>und</strong> gegebene,<br />

wie ist das zu unterscheiden, empfangen<br />

<strong>und</strong> geben ist eins.“ 5<br />

Jung-Stillings Ortsbeschreibungen<br />

Johann Heinrich Jung-Stillings „Auch eine<br />

heilige Familie“ 6 ist ein Beispiel für diesen<br />

20<br />

Johann Heinrich Jung-Stilling (Archiv Klaus<br />

Goebel)<br />

Einfluß des Ortes. Der Verfasser gilt als derjenige<br />

unter den deutschen Schriftstellern, der<br />

Örtlichkeiten des Wuppertals, Stadtteile der<br />

heutigen Stadt Wuppertal, sowie Städte <strong>und</strong><br />

Dörfer in der Umgebung, im Bergischen Land,<br />

in die über regionale Grenzen hinaus gelesene<br />

Literatur eingeführt hat. Zum Beweis ist vor allem<br />

die von ihm selbst erzählte Lebensgeschichte<br />

zu nennen, deren dritten Teil „Henrich<br />

Stillings Wanderschaft. Eine wahrhafte Geschichte“<br />

7 <strong>und</strong> vierter Teil „Henrich Stillings<br />

häusliches Leben. Eine wahrhafte Ge -<br />

schichte“ 8 vorwiegend im Bergischen Land<br />

spielen. Das Manuskript des ersten Teils „Henrich<br />

Stillings Jugend“, der die Kindheit im Siegerland<br />

zum Gegenstand hat, nahm Goethe anläßlich<br />

seines Besuchs bei Jung-Stilling in Elberfeld<br />

1774 mit <strong>und</strong> veröffentlichte es drei<br />

Jahre später 9 . Auch der Roman „Theobald oder<br />

die Schwärmer“ weist Ronsdorf <strong>und</strong> Elberfeld<br />

als Schauplätze auf 10 .<br />

1762 setzte die „Wanderschaft“ des damals<br />

22jährigen Jung ein. Er verließ die Heimat <strong>und</strong>


erreichte am vierten Tag seiner zu Fuß unternommenen<br />

Reise Elberfeld, das er als „Schönenthal“<br />

begeistert beschreibt: „Als er auf die<br />

Höhe kam <strong>und</strong> die unvergleichliche Stadt mit<br />

dem paradiesischen Tal überschaute, so freute<br />

er sich, setzte sich hin auf den Rasen <strong>und</strong> beschaute<br />

das alles eine Weile; hiebei stieg ihm<br />

der Wunsch so tief aus dem Innersten seiner<br />

Seele empor: Ach Gott! Möcht ich doch da<br />

mein Leben beschließen!“ 11 Doch die Arbeitsstelle,<br />

die er suchte, fand er nicht hier, sondern<br />

in Solingen, Hückeswagen <strong>und</strong> Radevormwald.<br />

Als er im Jahr darauf aus der Werkstatt<br />

des Radevormwalder Schneidermeisters<br />

Becker nach Kräwinklerbrücke wechselte, um<br />

Hauslehrer in der Fabrikantenfamilie Flender<br />

zu werden, besuchte er erneut Elberfeld. Von<br />

der Erinnerung an den Anblick der Stadt im<br />

Jahr zuvor überwältigt, „wurde er begeistert,<br />

setzte sich hin unter das Gesträuche, zog eine<br />

Schreibtafel heraus <strong>und</strong> schrieb.“ 12 Die sechs<br />

Strophen des Gedichtes, das jetzt entsteht, nennen<br />

die innerlich <strong>und</strong> äußerlich im zurückliegenden<br />

Jahr erfahrenen Qualen <strong>und</strong> preisen angesichts<br />

einer verheißungsvollen neuen Tätigkeit<br />

des himmlischen „Vaters Wohlgefallen, /<br />

Der reinen Wonne Wiederkehr. / Die Wolken<br />

ziehen sanft herüber, / Tief unten braun, licht<br />

oben drüber.“<br />

Es vergingen glückliche Jahre im Hause<br />

Flender, bis Jung 1769 nach von Johann Baptist<br />

Molitor erworbenen Rezepten die ersten<br />

Augenheilkuren durchführte. Er fand auch in<br />

Elberfeld Patienten, die er dort besuchte. Er<br />

machte bei dieser Gelegenheit Bekanntschaft<br />

„mit vielen frommen gottesfürchtigen Leuten,<br />

die ihn Sonntagsmittags wechselsweise zum<br />

Essen einluden <strong>und</strong> sich mit ihm vom Christentum<br />

<strong>und</strong> andern guten Sachen unterredeten.“ 13<br />

Nachdem er sich entschieden hatte, ein Medizinstudium<br />

aufzunehmen, erhielt er auch in Elberfeld<br />

„einen Wink vom himmlischen Vater“<br />

14 , nach Straßburg zu gehen. Während dieser<br />

Studienzeit wurde er 1771 in Ronsdorf mit<br />

Christine Heyder getraut; seine Elberfelder<br />

Fre<strong>und</strong>e, der Arzt Dr.Dinkler <strong>und</strong> der Chirurg<br />

Troost, nahmen an dieser Hochzeit teil <strong>und</strong><br />

schlugen ihm vor, sich als Arzt in Elberfeld<br />

niederzulassen, sobald er in Straßburg das Ex-<br />

amen abgelegt habe. 15 Dies erfolgte auch am<br />

1.Mai 1772. Zu Beginn des „Häuslichen Lebens“,<br />

des vierten Teils der Autobiographie,<br />

schildert Jung die Fußwanderung, die er an diesem<br />

Tage mit Ehefrau <strong>und</strong> Schwiegervater von<br />

Ronsdorf nach Elberfeld unternahm. Erneut<br />

widmete er der Stadt im Tal Worte tief empf<strong>und</strong>enen<br />

Gefühls. Sie werden in der Literatur,<br />

nicht zuletzt in Zitatsammlungen 16 , immer wieder<br />

herangezogen, porträtieren sie doch den<br />

Gegenstand der Verehrung in anschaulicher<br />

<strong>und</strong> dabei vorteilhaftester Weise: „Diese Stadt<br />

liegt in einem sehr anmutigen Tal, welches von<br />

Morgen gegen Abend in gerader Linie fortläuft<br />

<strong>und</strong> von einem mittelmäßigen Flüßchen, der<br />

Wupper, durchströmt wird; den Sommer über<br />

sieht man das ganze Tal zwei St<strong>und</strong>en hinauf<br />

bis an die märkische Grenze mit leinen Garn<br />

wie beschneit, <strong>und</strong> das Gewühl von tätigen <strong>und</strong><br />

sich glücklich nährenden Menschen ist unbeschreiblich:<br />

alles steht voller einzelner Häuser;<br />

ein Garten, ein Baumhof stößt an den andern,<br />

<strong>und</strong> ein Spaziergang durch dieses Tal hinauf ist<br />

paradiesisch. Stilling träumte sich in eine selige<br />

Zukunft, <strong>und</strong> unter diesen Träumen schritt<br />

er ins Getöse der Stadt hinein.“ 17<br />

Doch die Aussichten auf eine „selige Zukunft“<br />

sollten sich als wolkenverhangen, ja als<br />

umso düsterer erweisen, je länger Jung in Elberfeld<br />

wohnte. Er beklagte im „Häuslichen<br />

Leben“ <strong>und</strong> anderer Stelle den Umgang mit<br />

manchem Frommen, der den Pietisten zugerechnet<br />

werde <strong>und</strong> sich besser als andere<br />

dünke, tatsächlich jedoch den Heuchlern zuzurechnen<br />

sei. „Jüngling, willst du den wahren<br />

Weg gehen“, rät er <strong>und</strong> kennzeichnet zugleich<br />

die eigene Haltung, „so zeichne dich durch<br />

nichts aus als durch ein reines Leben <strong>und</strong> edle<br />

Handlungen; bekenne Jesum Christum durch<br />

eine treue Nachfolge seiner Lehre <strong>und</strong> seines<br />

Lebens <strong>und</strong> sprich nur von ihm, wo es nottut<br />

<strong>und</strong> frommet; dann aber schäme dich auch seiner<br />

nicht.“ 18<br />

Auch eine heilige Familie<br />

Johann Heinrich Jung-Stillings vor 1795<br />

entstandene Erzählung „Auch eine heilige Fa-<br />

21


milie“ hat Elberfeld zum Schauplatz. 19 In elenden<br />

Lebensverhältnissen leuchtet darin ein<br />

Beispiel uneigennütziger Nächstenliebe auf,<br />

das der Autor in ein erbauliches Gewand kleidet.<br />

Der eingangs zur Sprache gebrachte „Einwurf“,<br />

die christlichen Völker seien sittlich<br />

nicht besser als die von andern Religionen geprägten<br />

außereuropäischen Nationen, ist auch<br />

200 Jahre später noch aktuell. Der Verfasser<br />

sucht ihn zu entkräften, denn der „hohe Grad<br />

der Menschengüte“, zu dem Christinnen <strong>und</strong><br />

Christen fähig seien, ließe sich nicht übertreffen.<br />

Ob <strong>und</strong> in welcher Weise die absolut gemeinte<br />

Antwort Jung-Stillings Gültigkeit beanspruchen<br />

kann, soll uns an dieser Stelle nicht<br />

beschäftigen. Gegenstand ist im Blick auf die<br />

Möglichkeiten literarischer Ortserk<strong>und</strong>ung<br />

vielmehr die Tatsache, daß eine solche Geschichte<br />

in „Schönthal“, im an anderer Stelle<br />

„Schönenthal“ genannten Elberfeld also spielt.<br />

Erfahrungen, die Jung-Stilling während seiner<br />

mehrjährigen ärztlichen Praxis in der Stadt<br />

sammelte, finden ihren Niederschlag. Wie bei<br />

anderer Gelegenheit, so zeichnet er auch hier<br />

zunächst das Bild der Stadt in der Landschaft<br />

mit charakteristischen Einzelheiten. Er<br />

schwärmt erneut von „dem herrlichen Tal“.<br />

Weißes Garn, das die Wupperwiesen übersät,<br />

bleicht in der Sonne. Dem aufmerksamen Leser<br />

begegnen Hinweise auf voneinander abgeschlossen<br />

stehende prächtige Villen, auf Handel<br />

<strong>und</strong> Gewerbe, die im Tal blühen, auf handwerkliche<br />

Tätigkeiten, technische Neuerungen,<br />

ärztliche Praktiken <strong>und</strong> soziale Probleme.<br />

In dem zuletzt genannten Stichwort verbirgt<br />

sich der Umgang von Menschen unterschiedlicher<br />

Schichten miteinander <strong>und</strong> entwickelt<br />

sich zum Hauptthema. Das „paradiesische<br />

Tal“ allein hätte dazu nicht ausgereicht.<br />

Es entsteht ein differenziertes Bild, das nicht<br />

etwa zu einer „frommen Stadt“ führt. Da steht<br />

auf der einen Seite die arme Witwe, deren<br />

Tochter Katherine mit Johannes Langenborn<br />

eine neue Familie gründet. Die Familie wird<br />

als gottesfürchtig, fleißig <strong>und</strong> anspruchslos geschildert.<br />

Die Witwe findet weder „beim Kaufmann,<br />

für den sie arbeitete“ noch beim Prediger,<br />

also Pfarrer, Beachtung, denn sie lebt mit<br />

22<br />

der Tochter in völliger Zurückgezogenheit. Die<br />

Mentalität von Gerhard Tersteegen erscheint in<br />

den geschilderten Menschen personifiziert, eines<br />

Tersteegen, der in Briefen <strong>und</strong> Versen zu<br />

Einsamkeit <strong>und</strong> Stille rät, Abgeschiedenheit<br />

<strong>und</strong> duldendes Leiden preist: „Ein ganz vergeßner<br />

Bürger sein, / Von dem man nicht viel<br />

weiß noch höret; / Nur Gott bekannt <strong>und</strong> Gott<br />

gemein: / So lebt man frei <strong>und</strong> ungestöret.“ 20<br />

Doch die Pflege eigener Frömmigkeit<br />

reicht dem Tersteegen geistesverwandten Jung-<br />

Stilling nicht. Erst durch die Zuflucht, die die<br />

Frommen den Kranken, Hilfsbedürftigen <strong>und</strong><br />

Verlassenen bieten, vervollständigt sich wahre<br />

Christlichkeit. Dem gottesfürchtigen Johannes<br />

Langenborn wird der hartherzige, unbarmherzige<br />

Kaufmann gegenübergestellt, ein scheinheiliger<br />

Christ, der im Begriff steht, seine arbeitsunfähige<br />

Magd auf die Straße zu setzen.<br />

Der Erzähler läßt die eigene Person in das Geschehen<br />

eintreten, was den autobiographischen<br />

Hintergr<strong>und</strong> deutlich macht. Doktor Stilling<br />

leistet uneigennützig medizinische Hilfe <strong>und</strong><br />

zeigt damit, auf wessen Seite er steht. Als er<br />

Schönthal verläßt, weint er mit den vier Langenborns<br />

„zärtliche Tränen“. Es ist, als verabschiede<br />

er sich von einer wahren Heimat, in der<br />

er jenseits von Glück <strong>und</strong> Unglück die Bekanntschaft<br />

wahrer Christen gemacht hatte,<br />

mitten in der arbeitsamen Stadt, in der niedrigen<br />

Hütte, wo einem so ums Herz ist, „als<br />

wenn da der Blitz nicht einschlagen könnte.“<br />

Anmerkungen<br />

1 Anke Bennholdt-Thomsen, Die Bedeutung des<br />

Ortes für das literarische Geschichtsbewußtsein.<br />

In: Hartmut Eggert/Ulrich Profitlich/Klaus R.<br />

Scherpe (Hg.), Geschichte als Literatur. Formen<br />

<strong>und</strong> Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit.<br />

Stuttgart 1990, S.128–139, hier wie<br />

Anm. 1, S.128.<br />

2 In: Kunst <strong>und</strong> Literatur II (1974), zitiert bei A.<br />

Bennholdt-Thomsen, wie Anm. 1, S.128.<br />

3 Zuerst Frankfurt am Main 1973. Wiederholt neu<br />

aufgelegt.<br />

4 Zuerst Frankfurt am Main 1986. Wiederholt neu<br />

aufgelegt.


5 Ebenda, Frankfurt am Main/Leipzig 1991 (it<br />

1361), S.30<br />

6 Siehe die in diesem Heft vollständig abgedruckte<br />

Erzählung.<br />

7 Berlin/Leipzig 1778. Häufig neu aufgelegt, zuletzt<br />

umfassend kommentiert in: Johann Heinrich<br />

Jung-Stilling, Lebensgeschichte. Vollständige<br />

Ausgabe, mit Anmerkungen herausgegeben<br />

von Gustav Adolf Benrath. Darmstadt 3 1993,<br />

S.187–288.<br />

8 Berlin/Leipzig 1789. In: wie Anm.7, S.289–440.<br />

9 Berlin/Leipzig 1777. In: wie Anm.7, S.1–79.<br />

10 Erschienen Leipzig 1784 (1.Teil) <strong>und</strong> 1785<br />

(2.Teil). Näheres bei: Klaus Goebel, Jung-Stillings<br />

Beziehungen zu Ronsdorf. In: Derselbe, In<br />

allem Betracht ein angenehmer Aufenthalt.<br />

Ronsdorfer Vorträge <strong>und</strong> Aufsätze. Köln 1994,<br />

S.103–121.<br />

11 Wie Anm. 7, S.192; Rechtschreibung <strong>und</strong> Zeichensetzung<br />

in allen Zitaten modernisiert.<br />

12 Ebenda, S.224.<br />

13 Ebenda, S.247.<br />

Johann Heinrich Jung-Stilling<br />

Auch eine heilige Familie<br />

Ich habe oft von Männern, die am Christus-<br />

Ekel kränkeln, den Einwurf gehört: was denn<br />

doch die Religion Jesu viel nütze <strong>und</strong> genützt<br />

habe? – Die europäischen oder christlichen Nationen<br />

seien ja doch in Ansehung ihrer sittlichen<br />

Vervollkommnung um keinen Grad besser,<br />

als von jeher auch andere gebildete Völker<br />

gewesen sind.<br />

Im Ganzen genommen ist freilich etwas<br />

dran: die Staatspolitik ist noch immer eben so<br />

pfiffig, als sie bei den Assyriern, Babyloniern,<br />

Persern, Griechen <strong>und</strong> Römern war; <strong>und</strong> unsere<br />

Kriege haben durchgehends so wenig<br />

Christliches, daß man eine europäische Armee<br />

wohl schwerlich von Nebukadnezars 1 oder<br />

Alexanders 2 Heeren, was die Handelsweise 3<br />

betrifft, würde unterscheiden können. Was<br />

vollends den physischen <strong>und</strong> moralischen Luxus<br />

angeht, so geben wir daran den Völkern aller<br />

Orten <strong>und</strong> aller Zeiten nichts nach. Wenn<br />

14 Ebenda, S.257.<br />

15 Ebenda, S.284.<br />

16 So bei Kurt Hackenberg, Wuppertal. Ein Pa -<br />

norama. Wuppertal o.J. (1955), S. 7 f.; Kurt<br />

Schnöring, Wuppertaler Lesebuch. Stimmen aus<br />

drei Jahrh<strong>und</strong>erten. Wuppertal 1988, S.17.<br />

17 Wie Anm. 7, S. 289 f.<br />

18 Ebenda, S. 345; über die Elberfelder Zeit zuletzt:<br />

Erich Mertens, Jung-Stilling im Bergischen<br />

Land. Siegen 1995, S. 67–115; Universitätsbibliothek<br />

Siegen (Hg.), Goethes Jugendfre<strong>und</strong><br />

Johann Heinrich Jung-Stilling im Siegerland<br />

<strong>und</strong> im Bergischen Land. Ausstellung in<br />

Verbindung mit der Jung-Stilling-Gesellschaft,<br />

Siegen 1999, hier vor allem S. 47–50.<br />

19 Aus der Erzählung wird nachfolgend zitiert.<br />

20 Gerhard Tersteegen, Der Frommen Lotterie<br />

Nr.51. In: Geistliches Blumengärtlein inniger<br />

Seelen; oder: Kurze Schlußreime, Betrachtungen<br />

<strong>und</strong> Lieder über allerhand Wahrheiten des<br />

inwendigen Christenthums, zur Erweckung,<br />

Stärkung <strong>und</strong> Erquickung in dem verborgenen<br />

wir aber ins Einzelne gehen <strong>und</strong> die Volksmasse<br />

von Haus zu Haus <strong>und</strong> von Familie zu<br />

Familie prüfen, so findet der ruhige <strong>und</strong> Gott<br />

liebende Beobachter manches verborgene, aber<br />

eben darum desto reinere Gute; – einen Fortschritt<br />

in der Heiligung, den man außer der<br />

Christenheit in dem Grade vergebens sucht.<br />

Man trifft allerdings unter Juden, Muhamedanern<br />

<strong>und</strong> Heiden auch einzelne Menschen an,<br />

aber bei weitem nicht in der Menge <strong>und</strong> in dem<br />

hohen Grad der Menschengüte, als unter den<br />

Christen. „Das Reich Gottes ist einem Sauerteige<br />

gleich, den Jemand nahm <strong>und</strong> ihn unter<br />

das Mehl verbarg, bis es ganz durchgesäuert<br />

ward.“ 4 Noch immer ist der Teig nicht gesäuert,<br />

aber das Ferment wirkt im Verborgenen unaufhaltsam<br />

fort, <strong>und</strong> Er wird schon daraus machen,<br />

was daraus werden soll.<br />

Wenn Prediger <strong>und</strong> Ärzte Augen <strong>und</strong> Willen<br />

zum Beobachten haben, so können sie Wir-<br />

23


kungen der Religion, besonders unter dem gemeinen<br />

Volke, entdecken, die Einem Herz <strong>und</strong><br />

Seele erquicken. Ein treffliches Beispiel von<br />

der Art will ich jetzt erzählen; es geht ohnehin<br />

stark auf Mitternacht zu: wir werden über dem<br />

langen Warten auf die Zukunft unseres Herrn<br />

schläfrig 5 , <strong>und</strong> es gibt der muthwilligen Knaben<br />

so viele, die immer darüber aus sind, Einem<br />

das ohnehin so schwach brennende Lämpchen<br />

unvermerkt auszublasen, welches sie aufklären<br />

nennen, so daß es höchst nöthig ist, sich<br />

untereinander wachend zu halten: <strong>und</strong> da ist<br />

bekanntlich nichts besser <strong>und</strong> zweckdienlicher,<br />

als wenn man sich etwas Hübsches erzählt.<br />

Nun, Kinder, seyd aufmerksam! – Aber gebt<br />

auch Acht auf die pausbackigen Jungens <strong>und</strong><br />

haltet die Hand um das Flämmchen!<br />

In dem herrlichen Thal, in welchem unten<br />

am Ende Schönthal 6 liegt, blühen die Leinwand-Fabriken<br />

in einem hohen Grade; von<br />

Osten gegen Westen zu, zwei St<strong>und</strong>en lang,<br />

sieht der ganze Gr<strong>und</strong> einem Lustgarten voller<br />

prächtiger Landhäuser ähnlich; hier wohnen<br />

reiche Kaufleute <strong>und</strong> wohlhabende Fabrikanten<br />

zerstreut durcheinander. Jeder hat das, was er<br />

bedarf, um sich her, Alles wimmelt von Thätigkeit,<br />

<strong>und</strong> im Sommer staunt der Wanderer aus<br />

der Ferne die großen, prächtigen Fluren an. –<br />

Er kann nicht begreifen, wie sich der Schnee<br />

mit schwüler Sommerhitze verträgt; kommt er<br />

aber näher, so entdeckt er erst, daß sie über <strong>und</strong><br />

über mit schneeweißem Garn belegt sind.<br />

In einer abgelegenen Ecke des großen<br />

Thals, da, wo ein kleiner Bach durch ein enges<br />

Thälchen herabschlängelt <strong>und</strong> dann den Bleichern<br />

zum Begießen des Garns dient, guckt ein<br />

kleiner, einsamer Schornstein aus einem Obstgebüsche<br />

hinter dem Hügel hervor. Zoar 7 fällt<br />

einem ein, wenn man dahin blickt, <strong>und</strong> es ist einem<br />

so, als wenn da der Blitz nicht einschlagen<br />

könnte. Tausende reiten, fahren <strong>und</strong> gehen die<br />

nur eine Viertelst<strong>und</strong>e entfernte Straße, <strong>und</strong><br />

schwerlich bemerkt einer die niedrige Hütte;<br />

aber desto besser kennen sie die unsichtbaren<br />

Gesandten, die dienstbaren Geister, die denen<br />

zum Dienst thätig sind, die die Seligkeit er -<br />

erben sollen 8 .<br />

In dieser Hütte wohnte ehemals eine arme<br />

Witwe mit einer einzigen Tochter; sie ernährte<br />

24<br />

sich mit Baumwollenspinnen <strong>und</strong> Garn -<br />

spuhlen, <strong>und</strong> in ihrem fleißigen Gärtchen hinter<br />

dem Hause erzog sie sich die ärmliche Nahrung<br />

für sich <strong>und</strong> ihr Mädchen. Viele Jahre lang<br />

kannte sie die Nachbarschaft nur von Angesicht;<br />

der Kaufmann 9 , für den sie arbeitete,<br />

sagte von ihr, sie sei eine arme, aber fleißige<br />

<strong>und</strong> treue Frau; aber da sie nie in ihrem Leben,<br />

außer Gott, Jemand ihr Leiden klagte, so<br />

dachte auch Niemand weiter an sie; sie war mit<br />

ihrer Tochter ein alltäglicher Gegenstand, von<br />

dem man weder Gutes noch Böses sprach, eine<br />

Null in der menschlichen Gesellschaft, die aber<br />

gemeiniglich sehr viel bedeutete, wenn eine<br />

gültige Zahl vor sie gesetzt wird.<br />

Gute <strong>und</strong> treue Prediger pflegen sonst wohl<br />

arme, gute Menschen zu kennen; aber das war<br />

auch hier nicht einmal der Fall. Diese Frau<br />

äußerte sich auch in Ansehung ihrer Empfindungen<br />

<strong>und</strong> Kenntnisse nicht; <strong>und</strong> so bekümmerte<br />

sich Niemand um sie. Immer hatte sie<br />

gekränkelt, <strong>und</strong> ihr Leben war eine Kette von<br />

Jammer gewesen, ohne daß es Jemand wußte;<br />

auf den nämlichen Fuß hatte sie auch ihre<br />

Tochter erzogen: dies Mädchen fiel hübsch <strong>und</strong><br />

bescheiden ins Auge, aber sie hatte im Geringsten<br />

nichts Anziehendes; von allen ihren inneren<br />

Kostbarkeiten hing sie nichts auf den Laden,<br />

um Käufer anzulocken, folglich kam auch<br />

keiner, der etwas bei ihr suchte.<br />

Endlich wurde es schlimmer mit der Frau;<br />

sie konnte nichts mehr arbeiten, ihre Tochter<br />

mußte ihr aufwarten. Schmerzen <strong>und</strong> Elend bestürmten<br />

sie unaufhörlich <strong>und</strong> ohne Zahl, <strong>und</strong><br />

noch immer blieben beide bei ihrem Gr<strong>und</strong>satz,<br />

ihren M<strong>und</strong> auch auf der Schlachtbank<br />

zum Klagen nicht zu öffnen. Daher kam’s<br />

dann, daß kein Mensch auf der Welt von diesen<br />

beiden großen Dulderinnen etwas wußte.<br />

Dieses Elend mochte ungefähr ein Vierteljahr<br />

gewährt haben, als an einem Nachmittage<br />

zwei Bleichergesellen, von welchen der eine<br />

Johannes Langenborn hieß, in der Nähe der<br />

Hütte auf einer Bleiche beschäftigt waren. Ob<br />

sie nun gleich oft <strong>und</strong> vielfältig da gearbeitet<br />

<strong>und</strong> sich nie um das Häuschen <strong>und</strong> seine Bewohner<br />

bekümmert hatten, so wurden sie doch<br />

jetzt dadurch aufmerksam gemacht, daß die<br />

Tochter der armen Witwe aus ihrer Hausthüre


gelaufen kam <strong>und</strong> die Hände über dem Kopfe<br />

zusammenschlug, dann im Hofe herumlief <strong>und</strong><br />

wehklagte.<br />

Beide Bleichergesellen durften nicht zugleich<br />

vom Garn gehen, sie wurden also einig,<br />

daß Langenborn hinlaufen <strong>und</strong> nachsehen<br />

sollte, was das zu bedeuten habe; dieser war<br />

aber auch der rechte Mann zu dieser göttlichen<br />

Gesandtschaft, <strong>und</strong> der war der Ehre werth,<br />

Engeldienste zu übernehmen. Er lief, was er<br />

laufen konnte, <strong>und</strong> war in einer Minute an Ort<br />

<strong>und</strong> Stelle. Angelegentlich rief er schon aus der<br />

Ferne: „Mädchen! Mädchen! was ist? – was<br />

fehlt Dir?“ – „Johannes,“ antwortete sie ängstlich:<br />

„Komm <strong>und</strong> siehe es!“ Langenborn lief an<br />

den Ort des Elends, <strong>und</strong> siehe da, die Kreuzträgerin<br />

lag auf ihrem Bette <strong>und</strong> schien todt zu<br />

seyn. Flugs nahm er das kleine Spiegelchen<br />

von der Wand <strong>und</strong> hielt es ihr vor den M<strong>und</strong> 10 ;<br />

– da bemerkte er denn, daß es noch anlief; so<br />

hielt er sie mit Recht noch nicht für todt. Er<br />

wusch sie also mit kaltem Wasser <strong>und</strong> Essig<br />

<strong>und</strong> brachte sie wieder zurecht; sie konnte vor<br />

Schwäche zwar noch nicht reden, aber sie<br />

lächelte himmlisch <strong>und</strong> streichelte seine Wangen.<br />

So eigensinnig waren die beiden Dulderinnen<br />

nicht, daß sie auf Langenborns liebevolle<br />

Fragen nicht nach der Wahrheit hätten antworten<br />

sollen; er erfuhr also den ganzen Jammer.<br />

Schmerz <strong>und</strong> Mangel an Erquickung waren die<br />

Peiniger, denen die sonst starke Natur der<br />

guten Frau unterliegen mußte. Er suchte also<br />

seinen Sparpfennig hervor, begab sich seiner<br />

Bleichergeschäfte 11 <strong>und</strong> ward der Pfleger der<br />

armen kranken Wittwe. Jetzt lernte er nun das<br />

verborgene Kleinod, das in ein ärmliches Gewand<br />

<strong>und</strong> in der niedern Hütte versteckt war,<br />

recht kennen, <strong>und</strong> er glaubte, die größte irdische<br />

Belohnung für seine Dienste sey Katharinens<br />

Besitz; das glaubte er <strong>und</strong> er betrog sich<br />

nicht. Ebenso hielten auch Mutter <strong>und</strong> Tochter<br />

ihren Johannes für den größten Schatz, den sie<br />

in diesem Leben erringen konnten, <strong>und</strong> auch<br />

sie betrogen sich nicht. Langenborn <strong>und</strong><br />

Katha rine heiratheten sich am Krankenbette<br />

der Mutter; im Himmel war Freude über diese<br />

Verbindung, auf Erden aber besorgte man,<br />

durch diese Heirath würde nun eine Familie<br />

entstehen, die mit der Zeit durch Betteln <strong>und</strong><br />

durch Bedürfnisse dem Armenfond zur Last<br />

fallen könnte; allein diese Sorge war unnöthig:<br />

denn Johannes ernährte sich, seine Frau <strong>und</strong><br />

nachher seine Kinder recht ordentlich, er war<br />

allgemeinerer Wohlthäter 12 als alle, die für den<br />

Armenfond besorgt gewesen waren.<br />

Die alte Kreuzträgerin wurde so lange auf<br />

den Händen getragen, bis sie von den Engeln in<br />

Abrahams Schooß 13 getragen wurde. In ihren<br />

letzten Tagen besuchte sie der Prediger; dieser<br />

erfuhr nun, welch’ eine kostbare Seele er in der<br />

Nähe gehabt hatte, ohne sie zu kennen. Er bedauerte<br />

laut <strong>und</strong> öffentlich diesen Verlust, <strong>und</strong><br />

zog den großen Nutzen daraus, daß er von nun<br />

an die Hütten des gemeinen Mannes fleißiger<br />

besuchte <strong>und</strong> die daselbst wirkenden Geister<br />

genauer prüfte; er hielt der abgeschiedenen Edlen<br />

die Leichenpredigt über die Worte: Jesaja<br />

57, V. 1–2 „Aber der Gerechte kommt um. Und<br />

Niemand ist, der es zu Herzen nehme, <strong>und</strong> heilige<br />

Leute werden aufgerafft <strong>und</strong> Niemand<br />

achtet darauf: denn die Gerechten werden weggerafft<br />

für 14 dem Unglück, <strong>und</strong> die richtig für<br />

sich gewandelt haben, kommen zum Frieden<br />

<strong>und</strong> ruhen in ihren Kammern.“ Johannes Langenborn<br />

<strong>und</strong> sein Weib Katharine hielten nun<br />

lange <strong>und</strong> viele Jahre im Segen Haus; beide<br />

waren allgemein beliebt, <strong>und</strong> ihre Kinderzucht<br />

war ein Muster für alle ihres Gleichen.<br />

Kreuz hat jeder gottesfürchtige Hausvater.<br />

Langenborn wurde also auch nicht damit verschont.<br />

Indessen fand es der große Schmelzer 15<br />

der Mühe werth, ihn auf den Treibheerd zu<br />

bringen <strong>und</strong> ihn da recht tüchtig auszubrennen.<br />

Erst starben dem guten Ehepaar alle Kinder bis<br />

auf die zwei ältesten Töchter; darauf bekam<br />

Langenborn einen Zufall 16 ans rechte Knie, so<br />

daß er Jahr <strong>und</strong> Tag das Bett hüten mußte, <strong>und</strong><br />

als er es wieder verlassen konnte, so war das<br />

Knie so krumm gewachsen, daß er ein hölzernes<br />

Bein anschnallen <strong>und</strong> auf einer Krücke gehen<br />

mußte. Jetzt war er nicht mehr fähig, mit<br />

Bleichen sein Brot zu erwerben; er sah also,<br />

wenn er bloß seine Vernunft zu Rathe zog, einer<br />

traurigen Zukunft entgegen; allein er war<br />

ein Christ, das heißt: er glaubte <strong>und</strong> hoffte, wo<br />

nichts zu glauben <strong>und</strong> zu hoffen war, <strong>und</strong> dann<br />

war er zu jedem ehrlichen Gewerbe, sey es<br />

25


auch das niedrigste, geringste <strong>und</strong> verächtlichste,<br />

bereit, sobald es ihm die Vorsehung anwies,<br />

sich dadurch zu ernähren.<br />

Es währte nicht lange, so bekam er ein Geschäft,<br />

womit er sich zwar kümmerlich, aber<br />

doch ehrlich durchbringen konnte: es wurde<br />

nämlich eine Maschine erf<strong>und</strong>en, womit man<br />

durch bloßes Drehen einer Kurbel, nachdem<br />

die gehörige Vorrichtung geschehen war, in<br />

großer Geschwindigkeit viele Ellen Schnürbänder<br />

flechten konnte 17 . Ein Kaufmann verschaffte<br />

dem Johannes eine solche Maschine;<br />

nun konnte er sich dabei setzen <strong>und</strong> wenigstens<br />

das trockene Brot verdienen, seine Frau <strong>und</strong><br />

die beiden Töchter spannen <strong>und</strong> spuhlten dazu,<br />

<strong>und</strong> so brachten sich die lieben Leute ehrlich<br />

<strong>und</strong> redlich durch.<br />

Bis soweit findet der Menschenbeobachter<br />

noch nichts Ausgezeichnetes, das mich berechtigen<br />

könnte, dieser Familie vorzugsweise den<br />

Charakter der Heiligkeit beizulegen. Daß auch<br />

diese vier Leute von Herzen fromm waren,<br />

ohne Anspruch auf den Ruf der Frömmigkeit<br />

zu machen, macht es noch nicht allein aus; daß<br />

sie aber bei ihrer Armuth aus reinem <strong>und</strong> lauterem<br />

Liebestriebe noch die Pfleger armer Kranken<br />

<strong>und</strong> eine Zuflucht der Verlassenen waren,<br />

das ist schon etwas Erhabenes. Dazu kommt<br />

denn noch, daß sie alle vier einen so hohen<br />

Grad der Erleuchtung <strong>und</strong> der sittlichen Kultur<br />

erstiegen hatten, wie ihn wenige, auch der<br />

wahrhaft Aufgeklärte unter den Christen ersteigen.<br />

In diesem Zustand war diese Familie, als<br />

der Doktor Stilling nach Schönthal kam 18 , er<br />

hörte zwar zuweilen etwas von diesen Leuten,<br />

das ihm wohlgefiel; allein da sie arm <strong>und</strong> gering<br />

waren, so schätzte man ihre Handlungen<br />

nicht nach ihrem wahren Werthe. Das Gerücht<br />

sagte daher immer viel zu wenig von ihnen,<br />

<strong>und</strong> er erfuhr vor der Hand weder ihre Geschichte,<br />

noch ihre ausgezeichnet edlen Thaten,<br />

bis er sie endlich bei folgender Gelegenheit<br />

selbst kennen lernte.<br />

In der Nachbarschaft des Langenborn’schen<br />

Hauses wohnte ein reicher Mann; dieser<br />

hatte über zwanzig Jahre eine Magd gehabt, die<br />

durch vorzügliche Treue in ihrem Dienst <strong>und</strong><br />

durch ihre christliche Aufführung als eine<br />

26<br />

fromme <strong>und</strong> brave Person, wenigstens ihrem<br />

Gott, <strong>und</strong> dann auch einigen Wenigen, die das<br />

wahre Verdienst allenthalben, auch da schätzten,<br />

wo es nicht mit äußerem Glanz umgeben<br />

ist, bekannt war. Diese gute Seele mußte viele<br />

Jahre lang mit Engbrüstigkeit kämpfen, die<br />

ihr ihren Beruf öfters äußerst beschwerlich<br />

machte. Endlich bekam sie am Beine eine Geschwulst<br />

<strong>und</strong> zugleich verlor sich ihr kurzer<br />

Odem, <strong>und</strong> die Brust wurde frei; jetzt aber<br />

konnte sie nicht mehr fortkommen, ihr Dienst<br />

wurde ihr also sehr sauer. Anstatt nun, daß ihr<br />

Dienstherr sie hätte verpflegen <strong>und</strong> für ihre Genesung<br />

sorgen sollen, verfuhr er mit ihr nach<br />

der gewöhnlichen Weise, so wie es die Gesetze<br />

der Dienstordnung mit sich bringen; er kündigte<br />

ihr also an, daß sie aus dem Dienst gehen<br />

müsse, bis sie vom ihrem Übel geheilt wäre.<br />

Die arme Magd wußte jetzt weder aus noch<br />

ein; in’s Hospital konnte sie nicht aufgenommen<br />

werden, denn sie war keine Bürgerstochter,<br />

<strong>und</strong> Geld hatte sie auch nicht, um sich verpflegen,<br />

viel weniger um sich kuriren zu lassen.<br />

Sie schleppte sich also mit ihrem Jammer<br />

<strong>und</strong> arbeitete über Vermögen. Unter der Hand<br />

bemerkte sie nahe am Schienbein, einwärts gegen<br />

den Waden zu, an ihrem braun angelaufenen<br />

<strong>und</strong> geschwollenen Bein einen schwärzlichen<br />

Flecken. Diese Erscheinung machte ihr<br />

Angst, <strong>und</strong> nun sehnte sie sich nach einem<br />

Arzte, den sie auch an einem Leinweber zu finden<br />

hoffte, der zwei St<strong>und</strong>en weit in einem<br />

Flecken wohnte <strong>und</strong> durch seine Kuren<br />

berühmt war. Da sie nun nicht selber dahin gehen<br />

konnte, so erbarmte sich ein Webergeselle<br />

über sie, der an einem Sonntage hinging <strong>und</strong><br />

den Doktor Leinweber ihrenthalben konsultirte;<br />

dieser erklärte gleich das Übel für gefährlich<br />

<strong>und</strong> gab den Flecken für den kalten<br />

Brand 19 aus; er verordnete also seiner Meinung<br />

nach eine sehr kräftige Arznei: denn er gab ein<br />

ätzendes Pulver, das auf den Fleck gestreut<br />

werden sollte.<br />

Die arme Leidende folgte treulich dem<br />

Rath des Afterarztes 20 , sie streute das Pulver<br />

auf den schadhaften Ort, das Pulver fraß um<br />

sich <strong>und</strong> verursachte ihr unleidliche Schmerzen,<br />

wobei sie nun ihren Fuß nicht mehr von<br />

der Stelle bewegen konnte. Jetzt mußte sie also


das Bett hüten. Ihr Herr wurde darüber äußerst<br />

ungeduldig, er fuhr sie an <strong>und</strong> sagte: wenn sie<br />

nicht machte, daß sie aus dem Hause käme, so<br />

würde er sie hinaustransportiren <strong>und</strong> auf die<br />

Straße werfen. Diese Unbarmherzigkeit schnitt<br />

W<strong>und</strong>en in ihr Herz, <strong>und</strong> sie rief mit unaussprechlichem<br />

Weinen in ihrem trostlosen Zustand<br />

Gott um Hülfe an, der sie dann auch gnädig<br />

hörte.<br />

Langenborn, der immer der Erste war, der<br />

so etwas erfuhr, ward auch bald den Zustand<br />

der bedauerungswürdigen Dienstmagd gewahr;<br />

flugs nahm er seine Krücken unter dem<br />

Arm <strong>und</strong> stolperte nach dem <strong>und</strong>ankbaren<br />

Hause. Gleich bei dem Eintritt begegnete ihm<br />

der hartherzige Kaufmann, der ihn anfuhr <strong>und</strong><br />

fragte, was er wolle? – Mit dem erhabenen<br />

Ernst des Christen antwortete Johannes: „ich<br />

will Ihre Magd abholen <strong>und</strong> zu mir nehmen.“<br />

„So?“ antwortete der Kaufmann; „Ihr habt ja<br />

selber nichts; Ihr hofft vielleicht für die Magd<br />

zu betteln, <strong>und</strong> dann mitzuessen!“ – Mit sanftem<br />

Lächeln versetzte Langenborn: „O ja! ich<br />

hoffe bei dem lieben Gott recht viel für Ihre<br />

arme Magd zu erbetteln, <strong>und</strong> dann freilich auch<br />

von dem, was Er bescheeret, mitzuessen!<br />

Aber,“ setzte er entschlossen hinzu: „bei Menschen<br />

habe ich noch nie gebettelt <strong>und</strong> wenn’s ja<br />

dazu kommen sollte, so würde ich doch einen<br />

so sehr armen Mann, wie Sie sind, niemals beschwerlich<br />

fallen; denn wahrlich! Sie müssen<br />

wohl blutarm seyn, weil sie nicht einmal vermögend<br />

sind, Ihren kranken Dienstboten die<br />

Kost zu geben, wenn sie nichts verdienen können.“<br />

Der Kaufmann eilte glühend weg, <strong>und</strong> Johannes<br />

hockte hinauf in die Kammer. Hier war<br />

er nun freilich kein hinkender Bote 21 , sondern<br />

ein Engel des Herrn, der Heil verkündigt. Mit<br />

einem Wort: noch in der nämlichen St<strong>und</strong>e trugen<br />

einige Gesellen <strong>und</strong> Knechte die fromme<br />

Dulderin in Langenborns segenvolle Hütte.<br />

Nun waren aber nur zwei Betten im Haus. In<br />

der Stube schliefen Vater <strong>und</strong> Mutter, <strong>und</strong> in<br />

der Kammer beide Töchter, allein die Liebe<br />

findet allenthalben Auskunft 22 ; die Kranke<br />

wurde in’s beste Bett in die warme Stube gelegt;<br />

der gebrechliche Vater <strong>und</strong> die schwächliche<br />

Mutter schliefen in der Kammer, <strong>und</strong> die<br />

beiden Töchter lagen bei der Kranken in der<br />

Stube auf der Erde auf bloßem Stroh, um immer<br />

bei der Hand zu seyn. Jetzt war nun die<br />

Magd zwar insoweit versorgt, aber deswegen<br />

war ihr Bein noch immer nicht besser. Sie<br />

streute das Pulver <strong>und</strong> duldete die fürchterlichen<br />

Schmerzen, indessen wurde das Loch am<br />

Waden immer größer; Langenborns älteste<br />

Tochter lief also wieder zum Arzte, der aber<br />

befahl, immer mit dem Pulverstreuen fortzufahren.<br />

Einige Zeit wurde dieser Rath unter<br />

unsäglichen Schmerzen noch fortgesetzt; allein<br />

nun fing die Sache an, gefährlicher zu werden.<br />

Die Patientin zehrte ab, <strong>und</strong> es hatte das Ansehen,<br />

als ob das Bein verloren gehen würde.<br />

Endlich fiel dem guten Langenborn ein,<br />

daß er von dem neuen Doktor Stilling gehört<br />

habe, er sey ein guter Mann, der den Armen<br />

nichts abnähme 23 , er wolle also selbst zu ihm<br />

gehen, <strong>und</strong> ihn erst einmal ausforschen, ob<br />

dem Ding auch wohl so wäre, <strong>und</strong> was er zu<br />

dem Umstand sagen würde. Stilling saß eben<br />

auf seiner Studirstube <strong>und</strong> arbeitete, als er ein<br />

dreifüßiges Wesen, einen hölzernen Fuß, eine<br />

Krücke <strong>und</strong> einen natürlichen Fuß, die Treppe<br />

herauf kommen hörte. Er eilte an die Tür <strong>und</strong><br />

führte den edlen Langenborn, den er jetzt zum<br />

ersten Male sah, herein. – Das ist wahr, ein<br />

solch apostolisches Gesicht hatte er in seinem<br />

Leben noch nicht gesehen. Ehrfurcht <strong>und</strong><br />

Liebe durchschauerte ihn bei dem Anblicke<br />

dieses ärmlich, aber sehr reinlich gekleideten<br />

Mannes; er ließ ihn sitzen <strong>und</strong> seine Kappe aufsetzen:<br />

denn wahrlich! Langenborn war ein<br />

vornehmerer Mann als er. Auch Stilling mußte<br />

dem scharfblickendem Geist so ziemlich behagen;<br />

denn er floß alsofort von Zutrauen <strong>und</strong><br />

Leutseligkeit über, <strong>und</strong> bedauerte, daß er den<br />

Herrn Doktor nicht eher gekannt habe. Stilling<br />

freute sich ebenfalls über diesen neuen <strong>und</strong><br />

würdigen Fre<strong>und</strong>, <strong>und</strong> fragte ihn dann, was<br />

sein Begehren wäre. Jetzt erzählte Langenborn<br />

nun die Geschichte mit der Magd so umständlich,<br />

als ich sie hier erzähle, <strong>und</strong> im Augenblick<br />

machte sich Stilling bereit <strong>und</strong> eilte zu der<br />

Kranken.<br />

Nie in seinem Leben wird er das Leidensbild<br />

vergessen, das er hier zwischen den die -<br />

nenden Christinnen antraf. – Abgezehrt bis auf<br />

27


die Gebeine lag sie da, – jede Miene war Ausdruck<br />

der schrecklichsten Schmerzen, <strong>und</strong> jeder<br />

Odemzug war ein himmelansteigender<br />

Seufzer um Erbarmung. Dieser Anblick trieb<br />

dem Arzte häufige Thränen aus den Augen, die<br />

Wangen herab; er eilte also zur Linderung.<br />

Aber großer Gott! welch ein Anblick! – er fand<br />

das Schienbein fast vom Knie bis auf den<br />

Knöchel entblößt, der ganze Waden hatte sich<br />

abgelöst, <strong>und</strong> hing nur noch vermittelst der<br />

Haut <strong>und</strong> ein Paar Muskeln mit dem Bein zusammen,<br />

<strong>und</strong> man konnte beinahe den ganzen<br />

Vorderarm in dieser ungeheuren W<strong>und</strong>e verbergen.<br />

Stilling nahm also die schleunigsten Maß -<br />

regeln zur Hülfe; die älteste Tochter Langenborns<br />

mußte in den nahen Wald laufen, um einen<br />

Arm voll Goldwurzeln (chelidonium majus)<br />

24 zu suchen; die zweite mußte in die Stadt<br />

<strong>und</strong> Bienenhonig holen, <strong>und</strong> die Mutter, der<br />

Vater <strong>und</strong> der Arzt pflückten Scharpie 25 . Als<br />

nun Alles bei der Hand war, so wurden die<br />

Wurzeln <strong>und</strong> Stengel der Goldwurzel in einem<br />

Mörser gestoßen <strong>und</strong> der Saft durch ein Tuch<br />

gepreßt. Zu einem halben Schoppen dieses<br />

Saftes mischte Stilling eben so viel Honig,<br />

tauchte dann Büschlein von Scharpie in dieses<br />

Gemische, <strong>und</strong> füllte die ganze Höhle der<br />

W<strong>und</strong>e damit aus; dann legte er den beinahe<br />

abgelösten Waden wieder an seinen Ort, <strong>und</strong><br />

umwand das ganze Bein mit dem gehörigen<br />

Verband. Durch dieses Arzneimittel <strong>und</strong> durch<br />

diese Methode nebst der gehörigen Diät wurde<br />

das Bein innerhalb drei bis vier Wochen vollkommen<br />

heil <strong>und</strong> brauchbar, so daß die gute<br />

Person hernach wieder bis an ihr Ende in Dienste<br />

gehen konnte. Daß sie ihrem vorigen Herrn<br />

die Ehre nicht erzeigte, versteht sich von<br />

selbst.<br />

Während dieser Kur wurden Stilling <strong>und</strong><br />

Langenborn vertraute Fre<strong>und</strong>e; beide erzählten<br />

sich ihre Schicksale, <strong>und</strong> wenn der Erste zuweilen<br />

in seinen schweren Prüfungen sich erholen<br />

wollte, so ging er zu seinem Fre<strong>und</strong>e<br />

Langenborn, dem kreuzgewohnten Dulder, der<br />

ihn dann aus seiner Fülle reichlich zu trösten<br />

wußte.<br />

Endlich zog Stilling bekanntlich als Professor<br />

der Staatswirthschaft nach Rittersburg 26 ; er<br />

28<br />

nahm auch bei Langenborn Abschied. Alle fünf<br />

weinten zärtliche Thränen, <strong>und</strong> das Präsent,<br />

das der erhabene Streiter seinem Fre<strong>und</strong>e mitgab,<br />

bestand in dem herrlichen Spruch: „Trachtet<br />

nicht nach hohen Dingen, sondern haltet<br />

Euch herunter zu den Niedrigen.“ 27<br />

Jetzt dreht Langenborn nicht mehr Schnürbänder,<br />

auch braucht er seine Krücke <strong>und</strong> sein<br />

hölzern Bein nicht mehr; denn er wandelt mit<br />

andern seines Gleichen unter den Lebensbäumen<br />

im Paradiese Gottes, <strong>und</strong> genießt, was<br />

seine Thaten werth sind.<br />

Der Titel bezieht sich auf die „Heilige Familie“<br />

mit Maria, Joseph <strong>und</strong> dem Jesuskind.<br />

Abdruck nach: Johann Heinrich Jung’s, genannt<br />

Stilling, sämmtliche Werke. Neue Ausgabe.<br />

12. Bd.: Erzählungen – Gedichte – Taschenbuch-Aufsätze.<br />

Stuttgart (J. Scheible)<br />

1842, S. 5–18. Zuerst in: Urania. Herausgegeben<br />

von J. L. Ewald. Bd. 3, 6. Stück, Leipzig<br />

1795, S.431–444 unter dem Titel „Auch eine<br />

heilige Familie. Anekdote von Wilhelm Stilling“.<br />

Für diesen Nachweis danke ich Herrn<br />

Dr. Erich Mertens, Lennestadt. Klaus Goebel<br />

Anmerkungen von Klaus Goebel<br />

1 Babylonischer König, über den im Buch 2. Könige<br />

24 <strong>und</strong> 25 sowie bei den Propheten Jeremia<br />

<strong>und</strong> Daniel berichtet wird.<br />

2 Der mazedonische König Alexander der Große.<br />

3 Gemeint: Handlungsweise.<br />

4 Lukas 13, Vers 21.<br />

5 Anspielung auf das Gleichnis von den zehn<br />

Jungfrauen (Matthäus 25).<br />

6 Elberfeld, in Jung-Stillings Lebensgeschichte<br />

„Schönenthal“ genannt.<br />

7 Wörtlich „die Kleine“. Eine der fünf Städte der<br />

Pentapolis nach 1.Mose 14. Lot flüchtete nach<br />

Zoar, als Sodom <strong>und</strong> Gomorrha untergegangen<br />

waren (1.Mose 19).<br />

8 Für Jung-Stilling ist die Welt von unsichtbaren<br />

Geistern belebt. Dazu mit eingehenden Nachweisen:<br />

Gerhard Merk (Hg.), Jung-Stilling-Le-


xikon Religion. Kreuztal 1988, S. 45–57.<br />

9 Kaufmann in seiner Funktion als Verleger.<br />

10 Probe, ob ein Totgeglaubter noch atmete.<br />

11 Im Sinne von: gab den Beruf auf.<br />

12 Gemeint: Wohltaten der Allgemeinheit, der Gemeinde<br />

zukommen lassen.<br />

13 Nach Lukas 16, 22.<br />

14 vor.<br />

15 Vergleich Gottes mit einem Schmelzer, so beim<br />

Propheten Maleachi 3,2–3.<br />

16 Im Sinne einer Krankheit, die einem zufällt.<br />

17 Mechanische Flecht- <strong>und</strong> Riemenmaschine,<br />

viel leicht Vorgänger der Erfindung oder Verbesserung,<br />

die Johann Heinrich Bockmühl in Elberfeld<br />

in dieser Zeit zugeschrieben wird. Vgl. Walter<br />

Dietz, Die Wuppertaler Garnnahrung. Geschichte<br />

der Industrie <strong>und</strong> des Handels von Elberfeld<br />

<strong>und</strong> Barmen von 1400 bis 1800. Neustadt<br />

an der Aisch 1957 (Bergische Forschungen<br />

IV), S.53; Friedrich Christoph Müller, Choragraphie<br />

von Schwelm. Anfang <strong>und</strong> Versuch einer<br />

Topographie der Grafschaft Mark. Schwelm<br />

1789. Neu hg. von Gerd Helbeck, Gevelsberg<br />

1980, S. 74 f., 92. Es liegen keine genauen<br />

<strong>Nachrichten</strong> über die Erfindung des „Riemengangs“<br />

zur Herstellung von Kordeln <strong>und</strong> Schuh-<br />

oder Schnürriemen vor. Jungs Hinweis ist<br />

darum ein bemerkenswerter literarischer Beleg.<br />

18 Jung begann im Mai 1772 seine ärztliche Praxis<br />

in Elberfeld.<br />

19 Unspezifische Bezeichnung für in Fäulnis übergehende<br />

Körperteile, die brandig absterben <strong>und</strong><br />

verwesen (Nekrose); volkstümlicher Gegensatz:<br />

„heißer Brand“, durch den das Leben im Feuer<br />

stirbt.<br />

20 Falscher Arzt, Kurpfuscher.<br />

21 Seit dem 17.Jahrh<strong>und</strong>ert (angeblich zuerst 1607)<br />

als Kalendername bekannt. Ursprünglich garantierte<br />

ein kriegsversehrter Invalide mit Stelzbein<br />

zuverlässige Postzustellung guter wie böser<br />

<strong>Nachrichten</strong>; er hinkte dem eiligen Postreiter,<br />

dem aber nicht immer zu trauen war, hinterher.<br />

Danach regelmäßig erscheinende Jahreskalender<br />

benannt. Näheres bei Adolf Dresler, Kalenderk<strong>und</strong>e.<br />

München 1972, S.61.<br />

22 Im Sinne von: Auskommen finden.<br />

23 Jung schrieb keine Rechnungen, wenn er sah,<br />

daß der Patient nicht zahlen konnte.<br />

24 Schöllkraut.<br />

25 Verdeutscht aus Charpie (französ.), durch Zerrupfen<br />

von Leinwand gewonnene Fäden, die als<br />

Verbandsmaterial verwendet wurden.<br />

Elberfeld von Westen, um 1810 (Aus: H. Pogt: Historische Ansichten aus dem Wuppertal, 2. Aufl.<br />

1998).<br />

29


Stefan Gilsbach<br />

Missionare aus dem Bergischen Land<br />

Die hier vorgelegten Quellen sind handschriftliche<br />

Lebensläufe, verfaßt von Missionaren<br />

<strong>und</strong> Missionarsfrauen der Rheinischen<br />

Missionsgesellschaft, die aus Elberfeld, Barmen<br />

oder dem bergischen Umland stammen<br />

bzw. hier aufwuchsen. Sie finden sich im ersten<br />

Lebenslaufbuch der Rheinischen Mission,<br />

das den Zeitraum von 1829–1881 umfaßt. 1<br />

Wer heute seinen Lebenslauf vorlegt, tut<br />

dies in der Regel, um sich bei einem möglichen<br />

Arbeitgeber vorzustellen. Mit den hier gesammelten<br />

Quellen verhält es sich anders. Die<br />

Frauen <strong>und</strong> Männer, die darin Rechenschaft<br />

über ihr bisheriges Leben geben, waren bereits<br />

in den Dienst der Rheinischen Mission aufgenommen<br />

worden, manche schon längst als<br />

Missionare tätig, wie etwa Friedrich Becker,<br />

der seine Lebensgeschichte per Brief aus Borneo<br />

sandte. In den meisten Fällen jedoch wurden<br />

die Lebensläufe unmittelbar vor der Abreise<br />

in die Missionsgebiete geschrieben. Man<br />

darf nicht vergessen: In den ersten Jahrzehnten<br />

der Mission bedeutete dieser Schritt eine Fahrt<br />

ins Ungewisse. Doch auch später, als bereits<br />

ständige Missionsstationen errichtet worden<br />

waren, konnte man keineswegs sicher sein, die<br />

Ausgesandten im Barmer Missionshaus eines<br />

Tages wieder begrüßen zu können. Man kann<br />

daher sagen, daß diese Lebensläufe keine<br />

„Überreste“ sind, sondern von vornherein als<br />

historische Dokumente konzipiert waren, als<br />

dauerhafte Zeugnisse ihrer Autorinnen <strong>und</strong><br />

Autoren.<br />

In den Jahrzehnten, die das erste Lebenslaufbuch<br />

umfaßt, legte die Rheinische Mission<br />

die Gr<strong>und</strong>lagen für ihre Missionstätigkeit in<br />

Südafrika, Indonesien <strong>und</strong> China. Gegründet<br />

wurde die Gesellschaft im Jahre 1828, als Zusammenschluß<br />

mehrerer Missionsvereine, zu<br />

denen auch die Elberfelder <strong>und</strong> Barmer Missionsgesellschaft<br />

gehörten. 2 Ein Jahr später wurden<br />

bereits die ersten Missionare nach Südafrika<br />

ausgesandt, darunter auch der Elberfel-<br />

30<br />

der Paulus Daniel Lückhoff 3 . Für die Gründung<br />

einer Missionsgesellschaft bot das Wuppertal<br />

mit seiner pietistischen Atmosphäre günstige<br />

Voraussetzungen. Die teilweise mit der<br />

Erweckungsbewegung 4 verschwisterte Missionsbewegung<br />

fand in den Gemeinden <strong>und</strong><br />

Konventikeln im Bergischen großen Widerhall.<br />

Nicht umsonst wurde der Wichlinghauser,<br />

später Elberfelder Pfarrer Immanuel Friedrich<br />

Sander 5 der erste Präsident der neugegründeten<br />

Missionsgesellschaft.<br />

Schon vor der Gründung der Rheinischen<br />

Missionsgesellschaft hatte die Barmer Mission<br />

eine Ausbildungsstätte für die zukünftigen<br />

Missionare <strong>und</strong> Lehrer eingerichtet, die zu -<br />

nächst „Katecheten-Seminar“ genannt wurde.<br />

Bei der Auswahl der Bewerber wurden strenge<br />

Kriterien angelegt, die gesamte Lebensführung<br />

wurde berücksichtigt. Das war nicht zuletzt<br />

wegen der hohen Bewerberzahlen notwendig.<br />

Man darf nicht übersehen, daß für junge Männer<br />

der Unterschicht der Beruf des Missionars<br />

eine der wenigen Möglichkeiten des sozialen<br />

Aufstiegs war. Was wir heute „kirchliches Engagement“<br />

nennen würden, spielte bei der Auswahl<br />

eine wichtige Rolle. Viele Bewerber waren<br />

Mitglied der Jünglingsvereine, die einerseits<br />

den christlichen Glauben fördern, andererseits<br />

die jungen Handwerker oder Arbeiter<br />

vor einem Absinken in schlechte Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Alkoholismus bewahren wollten.<br />

Die Ausbildung der Aufgenommenen fand<br />

an drei Tagen der Woche statt, in der übrigen<br />

Zeit übten die Zöglinge fürs erste ihren erlernten<br />

Beruf weiter aus. Im Jahre 1832 wurde das<br />

erste Missionshaus der Gesellschaft in Barmen<br />

errichtet, in dem die Zöglinge während der<br />

Ausbildung lebten. Der Theologe Heinrich<br />

Richter war bereits 1827 zum Leiter des Seminars<br />

berufen worden, sein Bruder Wilhelm<br />

wurde zweiter Lehrer an demselben. Beide<br />

prägten die Missionarsausbildung der ersten<br />

Jahre. 1829 wurde das Institut offiziell in Semi-


nar der Rheinischen Missionsgesellschaft umbenannt.<br />

Der Schwerpunkt lag nun nicht mehr<br />

auf der Ausbildung zum Schuldienst, sondern<br />

auf der Vorbereitung zum geistlichen Beruf.<br />

Neben der theologischen Ausbildung wurden<br />

praktische Fächer wie Geographie <strong>und</strong> Naturgeschichte<br />

unterrichtet, ebenso Englisch <strong>und</strong><br />

Holländisch, die vorherrschenden Kolonialsprachen<br />

in den Missionsgebieten. 6 Im Jahre<br />

1858 wurde unter Direktor Friedrich Fabri die<br />

Seminarausbildung reformiert, die Studienzeit<br />

von drei auf vier Jahre verlängert, außerdem<br />

eine Vorschule für die „Aspiranten“ eingerichtet,<br />

in der die Kenntnisse der Elementarfächer<br />

vertieft wurden. Neu auf dem Lehrplan erschienen<br />

die alten Sprachen Hebräisch, Griechisch<br />

<strong>und</strong> Latein, denn für Bibelübersetzungen<br />

in die jeweiligen Landessprachen hatte<br />

sich das Verständnis des Gr<strong>und</strong>textes als wichtig<br />

erwiesen. Die meisten Missionszöglinge<br />

wurden vor der Abreise zum Geistlichen ordiniert,<br />

nur in einigen Fällen folgte die Ordination<br />

erst nach mehreren Jahren Missionsdienst.<br />

Die Neuankömmlinge wurden in der Regel auf<br />

den Hauptstationen der Missionsgebiete – beispielsweise<br />

Stellenbosch in der Kapregion –<br />

mit der praktischen Missionsarbeit vertraut gemacht,<br />

bevor sie selber als Stationsleiter tätig<br />

werden konnten.<br />

Was die Frage der Heirat betraf, so hatte die<br />

Missionsgesellschaft am Anfang sehr strenge<br />

Gr<strong>und</strong>sätze. Eine Verlobung während der Ausbildung<br />

bedeutete den Ausschluß aus dem Missionshaus.<br />

Die ersten Missionare waren unverheiratet<br />

ausgesandt worden <strong>und</strong> hatten erst<br />

nach mehreren Jahren im Missionsdienst<br />

Frauen genommen, die meist den weißen Siedlerfamilien<br />

enstammten. Im Laufe der Zeit bildete<br />

sich die Regel aus, daß die Missionare<br />

mindestens zwei Jahre Missionsdienst leisten<br />

mußten, bevor sie heiraten durften. Doch<br />

mußte eine Eheschließung in jedem Fall durch<br />

die Missionsleitung genehmigt werden.<br />

Bei der Auswahl der Missionarsfrauen<br />

spielten Lebensführung <strong>und</strong> Charakter eine<br />

ebenso große Rolle wie bei den männlichen<br />

Bewerbern. Aus den Lebensläufen läßt sich ein<br />

klares Profil dieser Anforderungen entnehmen:<br />

tiefe religiöse Überzeugung, Bereitschaft zu<br />

Hingabe <strong>und</strong> Opfer, strenge Sittlichkeit. Man<br />

sollte aber nicht den Schluß ziehen, die geistigen<br />

Fähigkeiten der Frauen hätten keine Rolle<br />

gespielt. „Seht auch darauf, daß eure Auserkorene<br />

über eine gute Bildung verfügt“, heißt<br />

es in einem Gr<strong>und</strong>satzpapier um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende,<br />

„denn eine an Bildung unter dem<br />

Mann stehende Frau wird ihm zur Hinderung.“<br />

7 Hier mochten Erfahrungen aus den vergangenen<br />

Jahrzehnten eine Rolle gespielt haben,<br />

denn auch für Frauen der Unterschicht gab<br />

es neben religiösen Motiven handfeste Gründe,<br />

diesen Weg einzuschlagen, nicht zuletzt eine<br />

gesicherte Versorgung.<br />

Aus den frühen Jahren der Mission sind<br />

keine Lebensläufe von Missionarsfrauen erhalten,<br />

erst im Jahre 1846 taucht mit Caroline Seringhaus<br />

der erste weibliche Eintrag im Lebenslaufbuch<br />

auf. In vielen Fällen kannten die<br />

ausgesandten Frauen von ihrem zukünftigen<br />

Ehemann nur den Namen. Persönliche Sympathie<br />

<strong>und</strong> Verträglichkeit der Charaktere wurden<br />

als Nebensache betrachtet, was die Ehepartner<br />

einigen sollte, war der gemeinsame Dienst an<br />

der Mission. Neben der Haushaltsführung <strong>und</strong><br />

Kindererziehung leiteten die Missionarsfrauen<br />

häufig Nähvereine <strong>und</strong> Singst<strong>und</strong>en. Auch die<br />

Krankenpflege lag in ihrem Aufgabenbereich,<br />

manchmal auch die Leitung von Sonntagsschulen.<br />

Eine große Belastung waren die häufigen<br />

Kindgeburten, die in manchen Fällen Jahr<br />

auf Jahr folgten. Viele Missionarsfrauen sind<br />

im Kindbett oder an den ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Spätfolgen gestorben.<br />

Die vorliegenden Lebensläufe liefern vor<br />

allem für die Mentalitätsgeschichte wertvolles<br />

Quellenmaterial. Sie geben einen unmittelbaren<br />

Einblick in die religiöse Welt der breiten<br />

Bevölkerung im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, denn der<br />

überwiegende Teil der Schreiberinnen <strong>und</strong><br />

Schreiber kam aus kleinen Verhältnissen. Immer<br />

wieder wird eingeräumt, daß man nur eine<br />

lückenhafte Schulbildung genossen habe, was<br />

nicht zuletzt durch die manchmal fehlerhafte<br />

Orthographie belegt wird. Das freimütige Eingeständnis<br />

betont freilich auch die nun erreichte<br />

Position. In den Texten wird auch die<br />

besondere Atmosphäre des Wuppertales mit<br />

seinem Reichtum an Konfessionen <strong>und</strong> christ-<br />

31


Barmer Missionshaus, ca. 1872 (Alle Abbildungen dieses Beitrages stammen aus den Beständen<br />

der Archiv- <strong>und</strong> Museumsstiftung Wuppertal der Vereinten Evangelischen Mission).<br />

lichen Vereinen spürbar, was den zusätzlichen<br />

Wert der Lebensläufe als regionalgeschichtliche<br />

Quelle unterstreicht.<br />

Bei der Lektüre der Quellen fällt sofort eine<br />

gewisse Ähnlichkeit der einzelnen Lebensläufe<br />

auf. Es scheint fast, als seien die Schreiberinnen<br />

<strong>und</strong> Schreiber einem verbindlichen Aufbau<br />

gefolgt. So wird immer wieder die Konfirmation<br />

als eine wichtige Zäsur angegeben, wobei<br />

man gelegentlich den Eindruck gewinnt, daß<br />

dieser Zeitpunkt besonders betont wird, weil<br />

die Verfasser keine psychologisch stringente<br />

Schilderung ihrer religiösen Entwicklung geben<br />

können. Die Ähnlichkeiten gehen bis zu<br />

wiederholt gebrauchten Bibelzitaten oder stehenden<br />

Formulierungen, etwa der Versicherung,<br />

daß man „in der Zucht <strong>und</strong> Vermahnung<br />

zum Herrn“ erzogen wurde oder die Zeit im<br />

Missionshaus einem „zum Segen gereicht“<br />

habe. Doch geht die Ähnlichkeit noch tiefer,<br />

sie zeigt sich in der Sicht der Beziehung Gott-<br />

Mensch <strong>und</strong> belegt, welchen Einfluß der Pietismus<br />

bis weit ins 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein behalten<br />

hatte. Das zeigt sich in den Texten eindrucksvoll<br />

in einer sehr innigen, persönlichen<br />

32<br />

Frömmigkeit, jedoch auch in einem Hang zu<br />

selbstquälerischen Überlegungen. Immer wieder<br />

berichten die Schreiberinnen <strong>und</strong> Schreiber<br />

über Rückfälle in die Sündenhaftigkeit, über<br />

Phasen der Gleichgültigkeit, in denen sie sich<br />

von Gott entfernt hätten, der sie letztlich doch<br />

„zu sich gezogen“ habe. Im Rückblick werden<br />

die überw<strong>und</strong>enen Schwierigkeiten als Bewährung<br />

vor Gott gesehen, selbst Brüche in der<br />

Biographie fügen sich unter diesem Blickwinkel<br />

in Gottes Gnadenplan ein. So spricht Fried -<br />

rich Wilhelm Weber gegen Ende seines Ein -<br />

trages vom „Heilswege“ <strong>und</strong> den „Führungen“<br />

des Herrn. Wilhelm Kind schreibt über seine<br />

Einziehung zum Militär, die ein Jahr nach Aufnahme<br />

ins Missionshaus erfolgte: „Als ich erst<br />

einberufen wurde, wußte u[nd] verstand ich<br />

nicht, warum ich nun noch Soldat werden<br />

sollte; später habe ich’s eingesehen u[nd] dem<br />

Herrn dafür gedankt.“<br />

Die Spuren der Lektüre religiös-erbaulicher<br />

Literatur lassen sich in Stil <strong>und</strong> Inhalt wiederholt<br />

nachweisen. An manchen Stellen werden<br />

solche Einflüsse auch genannt, so erwähnt<br />

Laura Böckmann die Lieder Gerhard Terstee-


gens <strong>und</strong> Wilhelm Lobscheid spricht von seiner<br />

Lektüre Johann Heinrich Jung-Stillings. 8<br />

Besonders deutlich werden solche Lektüreerlebnisse<br />

in dem ausführlichen Lebenslauf<br />

Fried rich Beckers. Passagen wie die folgende<br />

könnten, vom Ich-Erzähler abgesehen, aus<br />

„Heinrich Stillings Jugend“ stammen: „Wenn<br />

ich später so oft als Knabe draußen im Felde<br />

einsam umherging: so erhoben sich meine Augen<br />

unwillkührlich gen Himmel, während ich<br />

dabei in meinem Herzen [unklar] <strong>und</strong> sprach:<br />

Dort oben ist meine liebe selige Mutter,<br />

möchte ich doch bei ihr sein, <strong>und</strong> Thränen der<br />

Wehmut <strong>und</strong> Sehnsucht rollten in demselben<br />

Augenblick über meine Wangen.“ Und in<br />

Beckers Schilderung seiner Seereise nach Java<br />

meint man ein fernes Echo von Schnabels „Insel<br />

Felsenburg“ zu spüren. Auch bei diesen<br />

Lektüreeinflüssen darf man den regionalen Bezug<br />

nicht übersehen, denn manche Geistliche<br />

im Wuppertal waren zur gleichen Zeit einflußreiche<br />

religiöse Schriftsteller, so die reformierten<br />

Pfarrer Gottfried Daniel Krummacher<br />

(1774–1837) <strong>und</strong> sein Neffe Friedrich Wilhelm<br />

Krummacher (1796–1868).<br />

Weitgehend offen bleiben muß die Frage,<br />

inwiefern die Schreiberinnen <strong>und</strong> Schreiber<br />

der Versuchung erlegen sind, im Rückblick bestimmte<br />

Züge ihres Lebens stark zu betonen<br />

<strong>und</strong> andere auszulassen. So fällt der manchmal<br />

schwärmerische Tonfall auf, mit dem die ehemaligen<br />

Zöglinge von ihrer Zeit im Missionshaus<br />

sprechen. Daß hier manche Erinnerung<br />

unterdrückt wurde, belegt ein Brief des ausgeschiedenen<br />

Missionars Wilhelm Lobscheid an<br />

Inspektor Ludwig von Rohden. „Oft lag ich im<br />

Missionshaus von meinem Fieber Paroxismus<br />

geschüttelt“, schreibt Lobscheid, „<strong>und</strong> Niemand<br />

kümmerte sich um mich. Niemand<br />

machte mir ein Feuer an oder kehrte mir die<br />

Stube aus; niemand erquickte mich mit einem<br />

Fruchtwasser. So behandelt man keinen H<strong>und</strong>;<br />

am wenigsten einen kranken Missionar […]“. 9<br />

Zu der heiklen Frage der Heirat schrieb Lobscheid:<br />

„Ich will die innere Entrüstung nicht<br />

beschreiben, welche ich fühlte, als mir Pastor<br />

Banning Vorwürfe über meine Verlobung<br />

machte, aber in meiner Gegenwart seine Frau<br />

umarmte <strong>und</strong> küßte, weil sie die Nachricht von<br />

der Anstellung zweier Kandidaten brachte, mit<br />

welchen seine Töchter verlobt waren!“. 10<br />

Muß man insgesamt eine große Ähnlichkeit<br />

im Aufbau der einzelnen Lebensläufe feststellen,<br />

so kann doch nahezu jeder Text mit individuellen<br />

Details aufwarten. Nicht selten sind die<br />

Schilderungen eindrucksvoll, ja bewegend.<br />

Auch das Sprichwort, daß der Stil den Menschen<br />

abbildet, wird bei genauer Lektüre bestätigt.<br />

Man vergleiche den verschachtelten,<br />

umständlichen Satzbau im Lebenslauf Johann<br />

Heinrich Külpmanns mit der präzisen, lakonischen<br />

Sprache eines Peter Heinrich Bernsmann.<br />

Külpmanns Hang zur selbstquälerischen<br />

Gewissenserforschung, wie sie aus seinem Bericht<br />

hervorgeht, <strong>und</strong> Bernsmanns Ordnungsliebe<br />

<strong>und</strong> Selbstdisziplin, wie Weggefährten sie<br />

bezeugen, liegen hier offen zutage.<br />

Bei der Edition der Quellen konnte auf die<br />

maschinenschriftliche Transkription des Lebenslaufbuches<br />

zurückgegriffen werden, die<br />

Gustav Menzel, ehemaliger Direktor der Rheinischen<br />

Mission, erstellt hat. Diese Fassung<br />

wurde anhand des Quellentextes überprüft, gegebenenfalls<br />

korrigiert, <strong>und</strong>, soweit es möglich<br />

war, mit Anmerkungen versehen. Den Texten<br />

wurde ein kurzer Abriß der weiteren Biographie<br />

der Schreiberinnen <strong>und</strong> Schreiber hinzugefügt.<br />

Dabei wurden vor allem die Nachrufe<br />

ausgewertet, die sich in den „Berichten der<br />

Rheinischen Missionsgesellschaft“ finden. Von<br />

großem Wert waren auch die Personalkarten,<br />

auch wenn hier, vor allem bei den Missionarsfrauen,<br />

die Informationen oft spärlich sind. In<br />

Zweifelsfällen, etwa bei widersprüchlichen<br />

Daten, wurde auch Einblick in die jeweilige<br />

Personalakte genommen. Die Lebensläufe<br />

wurden nach der jeweiligen Herkunft in drei<br />

Teile – Elberfeld, Barmen, das übrige Bergische<br />

Land – geordnet, innerhalb dieser Teile<br />

sind die Texte chronologisch nach dem Aussendungsdatum<br />

ihrer Verfasser gereiht.<br />

Mein Dank gilt den Mitarbeitern der Archiv-<br />

<strong>und</strong> Museumsstiftung der Vereinten<br />

Evangelischen Mission in Wuppertal, besonders<br />

der Archivarin, Frau Barbara Faulenbach,<br />

<strong>und</strong> dem Bibliothekar, Herrn Wolfgang Appelt,<br />

die nicht nur auf die fre<strong>und</strong>lichste Weise mein<br />

Praktikum bei der VEM begleiteten, sondern<br />

33


mir auch ermöglichten, die vorliegende Arbeit<br />

während dieser Zeit fertigzustellen. Dank<br />

schulde ich auch Herrn Pfarrer em. Peter Merx,<br />

Wuppertal, für seine große Hilfe bei der Herkunftsbestimmung<br />

von Lieder- <strong>und</strong> Gedichtversen.<br />

Die Lebensläufe<br />

Missionare <strong>und</strong> Missionarsfrauen aus Elberfeld<br />

Paulus Daniel Lückhoff (1803–1891)<br />

[Paulus Daniel Lückhoff, Tischler]<br />

Paulus Daniel Lückhoff wurde den 27ten<br />

Sept[ember] 1803 in der reformirten Gemeine<br />

zu Elberfeld geboren. Nach der Einsicht meiner<br />

Eltern genoß ich eine gute Erziehung; sie<br />

hielten mich fleißig zur Schule an, weil ich<br />

aber lieber spielen als lernen mochte <strong>und</strong> sonst<br />

allerhand sündliche Streiche ausübte, so<br />

brachte ich meine Jugendzeit sehr unnütz dahin.<br />

Es war im Jahr 1816 wo der barmherzige<br />

Gott diese Stadt so gnädig heimsuchte 11 <strong>und</strong><br />

viele Todtengebeine nicht allein rauschen, sondern<br />

auch lebendig machte. Da gefiel es ihm,<br />

nach seiner unbegreiflichen Liebe, auch vor<br />

mir, dem im Blute Liegenden, vorüberzugehen<br />

<strong>und</strong> zu sagen: ,,Du sollst leben, ja du sollst leben.“<br />

Dieses geschah in meinem 13. Jahre, in<br />

welchem ich auch confirmirt wurde <strong>und</strong> dem<br />

Herrn versprach, mit Leib <strong>und</strong> Seele Ihm anzugehören.<br />

Dieser Entschluß war, soviel ich<br />

weiß, aus meiner Seele gesprochen; daß aber<br />

ein Vertrauen auf eigene Kraft mit dabei gewesen,<br />

habe ich später sehr erfahren müssen.<br />

Nach meiner Confirmation konnte ich nicht<br />

mehr in die Schule gehen, sondern war meiner<br />

Mutter behülflich in einem kleinen Spezerei-<br />

Geschäft. 12 Als dieses einige Jahre geschehen<br />

war, wünschte ich eine Profession zu lernen<br />

<strong>und</strong> kam mit Einwilligung meiner Eltern bei einem<br />

christlichen Färber in die Lehre. Nachdem<br />

ein ganzes Jahr bei diesem Geschäfte verflossen<br />

war, mußte ich wegen einem Übel an der<br />

Hand zu Hause gehen, woselbst ich auch aus<br />

34<br />

Paulus Daniel Lückhoff<br />

guten Gründen meiner Eltern bleiben mußte<br />

<strong>und</strong> nun bei meinem Vater das Tischlerhandwerk<br />

lernte. Was in der verflossenen Zeit in<br />

geistlicher Hinsicht mit mir vor gegangen, ist in<br />

dem lieben Verse enthalten: ,,Du hast auch,<br />

mein Gott <strong>und</strong> König, mich nicht wenig deine<br />

Treue lassen sehn; bin ich gleich nicht treu geblieben,<br />

dich zu lieben, doch bleibt deine Treue<br />

stehen.“ Und das ist köstlich. Im Jahr 1823 arbeitete<br />

ich bei einem christlichen Fre<strong>und</strong>e; da<br />

ich bisher mehreren Versammlungen beigewohnt,<br />

wo von der Ausbreitung des Reiches<br />

Gottes unter den Heiden oft die Rede war <strong>und</strong><br />

auch hier Gelegenheit hatte, mich davon zu unterhalten,<br />

so fand sich damals ein sehr starker<br />

Trieb zum Missionarwerden bei mir ein. Weil<br />

ich so viele Unlauterkeiten bei diesem Triebe<br />

gewahr wurde <strong>und</strong> auch sonst noch allerhand<br />

Schwierigkeiten hatte, so fürchtete ich, mich<br />

anzumelden. Dabei blieb es denn, bis ich nach<br />

mancherlei Erfahrungen im Jahr 1828 den<br />

Muth hatte, nebst einigen anderen Brüdern<br />

mich bei der verehrten Miss[ions]-Ges[ell-


schaft] in Elberfeld zu melden; welche mich<br />

auch nach einiger Zeit aufnahm <strong>und</strong> den 28.<br />

Sept[ember] 1828 in das Missionshaus abgehen<br />

ließ. Und jetzt schon ist der Ruf an mich<br />

ergangen, auszugehen aus meinem Vaterland,<br />

von meinen noch lebenden Eltern <strong>und</strong> 3 Brüdern<br />

u[nd] hinzugehen in ein Land, welches<br />

der Herr uns gezeigt hat. Nun:,,Gelobet sei<br />

Gott, der Herr, der Gott Israels, der allein W<strong>und</strong>er<br />

thut, <strong>und</strong> gelobet sei sein herrlicher Name<br />

ewiglich; <strong>und</strong> alle Lande müssen seiner Ehre<br />

voll werden. Amen, Amen. 13<br />

Du führest Herr die Deinen,<br />

Nie so, wie sie es meinen,<br />

Nein! Nur nach deinem Rath.<br />

Ob ich mich auch betrübe,<br />

bleibt doch dein Rath voll Liebe,<br />

Daß zeigt der Ausgang mit der Tath.<br />

Barmen den 30. Juni 1829<br />

Paulus Daniel Lückhoff gehörte zu den ersten<br />

Missionaren, die von der Rheinischen<br />

Missions-Gesellschaft ausgesandt wurden. Am<br />

7. Oktober 1829 landete er mit vier Begleitern14<br />

in Kapstadt <strong>und</strong> wurde nach einigen Wochen<br />

von den Christen der holländischen Kolonistensiedlung<br />

Stellenbosch zu ihrem Geistlichen<br />

berufen. Am 6. Januar 1830 hielt er dort<br />

seine Antrittspredigt. Der überwiegende Teil<br />

der Bevölkerung bestand aus Sklaven. Am 13.<br />

März 1831 ließ sich eine 60jährige, die sich<br />

freigekauft hatte, als erste taufen. Doch erst<br />

nach der von Großbritannien verfügten Sklavenbefreiung<br />

(1834 – 38) konnten Lückhoff<br />

<strong>und</strong> die hinzugekommenen Missionare deutliche<br />

Fortschritte machen. Die Zahl der Kirchgänger<br />

<strong>und</strong> der Schulkinder stieg stark an, am<br />

1. Dezember 1840 konnte die erweiterte Kirche<br />

eingeweiht werden. Gleichzeitig stieg die farbige<br />

Bevölkerung Stellenboschs von 2000 auf<br />

7000 Personen.<br />

Als die Missionare 1846 vorschlugen, auch<br />

Schwarze ins Direktorium der Missions-Gesellschaft<br />

von Stellenbosch aufzunehmen, reagierte<br />

die weiße Bevölkerung empört. Als<br />

Folge dieser Auseinandersetzung spaltete sich<br />

die schwarze Gemeinde unter alleiniger Leitung<br />

der Rheinischen Mission ab. Einige Zeit<br />

wurden die Gottesdienste in der Schule abge-<br />

halten, bis ein Kompromiß zur gemeinsamen<br />

Nutzung der Kirche geschlossen wurde. Später<br />

ging die gesamte Station Stellenbosch in die<br />

Verfügung der Rheinischen Mission über, was<br />

Lückhoffs Arbeit wesentlich erleichterte. Die<br />

Station entwickelte sich zum Zentrum der afrikanischen<br />

Mission, dort wurden die Neu -<br />

ankömmlinge aufgenommen <strong>und</strong> Erholungsaufenthalte<br />

für Missionare <strong>und</strong> ihre Angehörigen<br />

ermöglicht. Außerdem wurden dort Missionarskinder<br />

erzogen. Neben seiner Missions -<br />

tätigkeit sammelte Lückhoff zahlreiche Spenden<br />

für die Bodelschwinghschen Anstalten in<br />

Bethel. Obwohl 1878 emeritiert, wirkte er weiter<br />

bis zu seinem Tod am 29. Dezember 1891 in<br />

Stellenbosch.<br />

Lückhoff war seit 1833 mit Susanne Johanne<br />

Albertyn aus Stellenbosch verheiratet,<br />

mit der er elf Kinder hatte, von denen nur vier<br />

ein höheres Alter erreichten: Daniel (*1836,<br />

Prediger am Kap), Johanne (*1841, verheiratet<br />

mit Carl Ritter, 1866–1874 Generalkassierer<br />

Kapland), Jacob (*1842, Prediger am<br />

Kap), Conrad (*1851). Susanne Lückhoff starb<br />

am 24. Februar 1856 in Stellenbosch.<br />

Caroline Lutz, geb. Seringhaus (1817–1859)<br />

Elberfeld den 7ten Juli [1846]<br />

Caroline Seringhaus<br />

Ich C[aroline] S[eringhaus] wurde geboren<br />

den 9 December 1817 in Elberfeld meines Seeligen<br />

Vaters Geschäft, war ein Becker, er<br />

schikte mich früh zur schule, nämlich zu dem<br />

Lehrer Hausmann, dessen frau die kleine<br />

schule leitete; wo ich denn leider sehr wenig<br />

gelernt habe. Später mußte der Vater sein Geschäft,<br />

niederlegen, <strong>und</strong> so war er den<br />

genöthigt, uns früh an Arbeit zu thun, wodurch<br />

ich denn in Schulkenntniß sehr zurückge -<br />

blieben bin. – So gefiehl es denn dem Herrn,<br />

mich die Welt schon frühe zu verleiden, um<br />

mich zu sich zu ziehen. – Die Gnade des Herrn<br />

bewahrte mich nun zwar vor groben Sünden,<br />

aber in dem Jahre wo ich Konformirt wurde,<br />

fühlte ich mein inneres Sündliche verderben<br />

so, daß der Spruch. O, das du kalt oder warm<br />

wärest, so du aber Lau bist werde ich dich aus-<br />

35


speien aus meinem M<strong>und</strong>e 15 , mich immer verfolgte.<br />

– Anstatt nun meine Zuflucht zu dem<br />

Herrn zu nehmen, wollte ich mir selbst helfen,<br />

jemehr ich nun das gute wollte, fand ich das<br />

mich das Böse anhing, ich ging denn auch<br />

wohl fleißig zur Kirche, wohnte auch die Missions-St<strong>und</strong>en<br />

16 mit bei, wo denn auch der erste<br />

Missionstrieb in mir erwachte, <strong>und</strong> kann sagen<br />

das mich der Gedanke nie verlassen hat, obwohl<br />

ich noch keinen Frieden, für meine Seele<br />

gef<strong>und</strong>en, es währte auch noch lange ehe ich<br />

zum Frieden kam; ich fing an zu verzagen, es<br />

kam so weit, das ich dachte der Herr erhöre<br />

mich nicht. – In der Zeit hörte ich mal Pastor<br />

Sander 17 predigen, über die worte, Johannes<br />

that dem Himmelreich, gewalt an, <strong>und</strong> die so<br />

gewalt thun, reißen es zu sich 18 : diese Worte<br />

trieben mich denn wieder ins Gebet, <strong>und</strong> so<br />

fand ich denn auch endlich Frieden, für meine<br />

Seele, obwohl es später wieder durch manche<br />

dunkle, Zeiten ging. –<br />

Jetzt wurde der Trieb zur Mission auch immer<br />

größer, <strong>und</strong> ich keinen größeren Wunsch<br />

hatte, als das mich der Herr zu den Heiden senden<br />

möge obwohl, ich dazu keine Aussicht<br />

sahe. Da hieß es den zu mir: Ihn laß doch thun<br />

<strong>und</strong> Walten, er ist ein Weiser Fürst; <strong>und</strong> wird<br />

sich so verhalten das du dich w<strong>und</strong>ern wirst,<br />

wenn Er wies Ihm gebühret mit W<strong>und</strong>erbarem<br />

Rath, das Werk hinaus geführet; was dich<br />

bekümmert hat. Anstatt ich nun mein Vertrauen<br />

ganz, auf den Herrn setzte, setzte ich meine<br />

Hoffnung auf Menschen, <strong>und</strong> dachte wenn dieser,<br />

<strong>und</strong> jener es mal wüsste. Eines Sontags<br />

ging ich mal, in die Barmer Missions-St<strong>und</strong>e,<br />

worin bekannt gemacht wurde, das Frau Inspekterin<br />

19 , ein Nähverein angefangen habe,<br />

wo ein jeder theil annehmen könne, so fühlte<br />

ich mich denn gedrungen, auch hin zu gehen,<br />

wodurch ich denn mit Inspäkters, bekannt<br />

wurde, da hätte ich dann wohl Gelegenheit gehabt,<br />

ihnen meinen Wunsch zu offenbaren,<br />

hatte aber immer noch keine Freudigkeit dazu.<br />

– konnte aber auch mein anliegen, jetzt mehr<br />

wie sonst, auf den Herrn werfen: der die seinen<br />

nicht Ewig will in Unruh lassen.<br />

Am schluße des vorigen Jahres, dachte ich<br />

so darüber nach, das schon wieder ein Jahr zu<br />

ende ginge, <strong>und</strong> ich noch nicht im klaren wäre,<br />

36<br />

Caroline Lutz, geb. Seringhaus<br />

ob es wirklich des Herrn guter <strong>und</strong> Wohlgefäl -<br />

liger Wille sei, mich zu den Heiden zu senden;<br />

bat auch den Herrn mich seinen Willen kennen<br />

zu lassen. Ich nahm das Wort Gottes zur Hand,<br />

<strong>und</strong> traf gerade die Stelle. Jesaja 30 vers 21. 20<br />

Vor einiger Zeit war ich gerade bei Frau Inspäckterin<br />

wo wir über Missions-angelegenheiten<br />

sprachen – <strong>und</strong> ich mich gedrungen<br />

fühlte ihr mal zu sagen das ich schon lange ein<br />

verlangen gehabt hätte, unter den Heiden,<br />

wirksam zu sein. – Es ist nun meines Herzenswunsch,<br />

das es ihnen der Herr in ihrem Gebete<br />

möge erkennen lassen, ob mein Gang von ihm,<br />

gefödert wird, <strong>und</strong> er Lust zu meinen Wegen<br />

hat. Ich an meinem Theil kann aus allem, wie<br />

ich geführt worden bin nicht anderes erkennen<br />

als des Herrn Wille, habe auch große Freudigkeit<br />

dazu, <strong>und</strong> alle Gefahren die im Missionsdienste<br />

vorkommen können, schrecken mich<br />

nicht ab. Weil der Herr dem alle Gewalt gegeben<br />

ist, bei den seinen will sein, alle Tage bis<br />

an der Welt Ende. Der Wunsch meines Herzens<br />

sei:


Nimm mich Herr Jesu hin für dich,<br />

<strong>und</strong> laß mich sein die deine;<br />

regire führ <strong>und</strong> leite mich:<br />

Dein Wille sei der Meine;<br />

Ich will, o, Herr, nicht rathen mit,<br />

zeug das ich folge, schritt für Schritt;<br />

wie, <strong>und</strong> wohin, du führest.<br />

So empfehle ich mich den ihrer Fürbitte,<br />

Sie im Herrn liebende<br />

Caroline Seringhaus.<br />

Caroline Seringhaus heiratete am 29. Dezember<br />

1846 den ehemaligen Messerschmied<br />

Johann Heinrich Lutz (1812–1887), der seit<br />

1841 als Missionar in der Kapregion wirkte,<br />

zuerst in Ebenezer, seit 1845 in Amandelboom.<br />

Von ihren neun Kindern überlebten das Säuglingsalter:<br />

Caroline (1847–1866), Lydia<br />

(1849–1934, verheiratet am Kap), Heinrich<br />

(1852–1896, Kaufmann in Afrika), Felix<br />

(1854–1927, Orgelbauer am Kap), Auguste<br />

(1855–1942, Lehrerin am Kap), Maria (1858–<br />

1948, verheiratet am Kap), Jacob (1859–<br />

1955). Caroline Lutz, geb. Seringhaus, starb<br />

am 21. August 1859 in Amandelboom im Kindbett.<br />

Johann Heinrich Lutz heiratete 1862 Babette<br />

Kühn, wie er, aus dem schweizerischen<br />

Rheineck gebürtig. 1875 kehrte er nach Europa<br />

zurück <strong>und</strong> arbeitete hier weiter für die<br />

Mission. Er starb am 17. September 1887 in<br />

He risau/Schweiz.<br />

Julie Kreft, geb. Seringhaus (1824–1867)<br />

[Julie Seringhaus (verheiratet mit Missionar<br />

Kreft, Schwester von Caroline Seringhaus<br />

verh. Lutz)]<br />

Lebenslauf von Julie Seringhaus<br />

Ich wurde den 21 März 1824 in Elberfeld<br />

geboren Mein Vater Peter Johan Seringhaus<br />

war Baeker daselbst <strong>und</strong> meine Mutter Johane<br />

Maria geb Hofmann. Meine Eltern waren damals<br />

nicht gläubig. Wie ich 12 Jahr alt war verlor<br />

ich meinen Vater durch den Tod <strong>und</strong> muß<br />

bekennen daß ich deßhalb sehr wenig Schulkenntnis<br />

erlangt habe. Wie ich 17 Jahr alt war<br />

wurde ich confirmirt. Schon früh wurde ich<br />

zum Herrn gezogen, aber erst kurz nach meiner<br />

Confirmation wurde ich meines Gnadenstandes<br />

völlig gewiß. Im Jahr 1847 schrieb mein<br />

Schwager Lutz ich sollte zu Ihm kommen<br />

<strong>und</strong>[?] das wollten meine Geschwister nicht<br />

haben. Was seit der Zeit in meinem Herzen<br />

vorgegangen ist, davon will ich schweigen; allein<br />

der Herr hat meines Herzens Wunsch erfüllt.<br />

Im März dieses Jahr starb meine Mutter<br />

<strong>und</strong> ich war also freier. Im Mai d[ieses) J[ahres]<br />

wurde mir der Antrag durch Herrn Inspector<br />

Wallmann gemacht, ob ich Lust hätte mit<br />

H[e]r[rn] Kreft nach Süd Afrika zu gehen; <strong>und</strong><br />

da ich dies nicht anders als einen Ruf vom<br />

Herrn annehmen konnte, habe ich ja gesagt <strong>und</strong><br />

freue mich das es der Herr bis dahin wohl gemacht<br />

hat, ich traue es dem Herrn zu, er wird es<br />

auch ferner wohl machen.<br />

Barmen den[?] 21 Juli 1852<br />

Julie Seringhaus<br />

Julie Seringhaus heiratete am 23. Juli 1852<br />

den ehemaligen Holzschuhmacher Heinrich<br />

Hermann Kreft (1823–1878), der von 1853 bis<br />

1878 als Missionar in Bethanien/Namaland<br />

stationiert war. Von ihren acht Kindern überlebten<br />

das Säuglingsalter: Hermann (* 1855),<br />

Johannes (* 1856), Julie (* 1858), Caroline<br />

(* 1860), Georg (* 1862), Sophie (* 1863),<br />

Auguste (*. 1865). Der älteste Sohn, Hermann<br />

Kreft (gestorben 1927), wirkte später als Missionar<br />

in Tulbagh/Kapland. Julie Kreft, geb.<br />

Seringhaus, starb „nach kurzer Krankheit“ 21<br />

am 10. Juni 1867 in Bethanien. Heinrich Hermann<br />

Kreft heiratete 1869 Magdalena Hatje<br />

(1869–1930) aus Holstein. Er starb am 3. Mai<br />

1878 auf der Reise von Grootfontein nach Be -<br />

thanien.<br />

Ida Heidmann, geb. Eick (1836–1899)<br />

Ida Eick [verheiratet am 4. Juni 1869 mit<br />

Missionar Heidmann in de Tuin]<br />

Am 29. April 1836 wurde ich zu Elberfeld<br />

geboren, es sind unser 10 Kinder gewesen von<br />

denen ich das fünfte war. Mein Vater war<br />

Bäcker u[nd] habe ich wenn auch leider keine<br />

christliche, doch eine liebevolle u[nd] ordentliche<br />

Erziehung gehabt. Mein Herz hörte auch<br />

37


gerne das Gute, wie ich überhaupt mich nie mit<br />

den gewöhnlichen Freuden der Jugend beschäftigt<br />

habe. Zwar ging ich doch in der Welt<br />

dahin, bis es dem Herrn gefiel, mich im Jahr<br />

1854 in die Familie des nun schon selig vollendeten<br />

Pastor Schumacher aus Schleswig-Holstein<br />

zu führen wo ich wie Kind im Hause war<br />

<strong>und</strong> auf diese Zeit nur mit innigem Dank gegen<br />

den Herrn zurückblicke. [Randnotiz:] Herr Pastor<br />

Schumacher war damals Hilfsprediger in<br />

Wichlinghausen. Im Herbst des Jahres 1854<br />

wurde Herr Pastor Schumacher nach Gennweiler<br />

bei Saarbrücken versetzt, ich erhielt die Erlaubniß<br />

meiner Eltern, mitzugehen, <strong>und</strong> bin bis<br />

zum Juli 1856, also 2 1 /2 Jahre als ihre Pflege -<br />

tochter bei ihnen geblieben, u[nd] kehrte von<br />

da nach Hause zurück.<br />

In dieser Zeit wurde der Gr<strong>und</strong> zu meinem<br />

inneren Leben gelegt, aber das echte Suchen<br />

fing erst an, nachdem ich wieder zu Hause war.<br />

Mein inneres Ohr war geöffnet für das süße<br />

Wort des Herrn, welches in unserm gesegneten<br />

<strong>und</strong> geliebeten Wupperthal so reichlich gepredigt<br />

wird. Doch war es vorzugs weise der öftere<br />

Besuch in dem Hause des verehrten <strong>und</strong> geliebten<br />

Insp. von Rohden 22 welcher sich im<br />

Mai 1854 mit der einzigen Tochter des Pastors<br />

Schumacher verheiratet hatte, <strong>und</strong> noch besonders<br />

die Liebe u[nd] Güte dieser meiner Herzensfre<strong>und</strong>inn,<br />

das so ganz andere u[nd] besondere<br />

Leben, welches ich dort kennen lernte,<br />

daß ich immer mehr davon überzeugt wurde,<br />

wie selig es sein müßte, auch diesem Herrn anzugehören.<br />

Meine Seele gerieth in große Betrübniß<br />

über meine Sünde <strong>und</strong> nachdem ich einige<br />

Zeit also dahingegangen war, gefiel es<br />

dem Herrn nun plötzlich das ewige Licht aufgehen<br />

zu lassen; es war dies am Tage der<br />

25jährigen Feier der Missionsgesellschaft den<br />

25. October 1857. 23 Von da an wurde ich immer<br />

mehr zu Ihm hingezogen durch Freud <strong>und</strong><br />

Leid, unendlich viel habe ich dem theueren<br />

Herrn Inspektor u[nd] seiner nun schon seit einigen<br />

Jahren heimgegangenen, lieben, innigen<br />

u[nd] von mir sehr vermißten u[nd] betrauerten<br />

Frau zu danken, dann auch den Predigten <strong>und</strong><br />

St<strong>und</strong>en des sehr geliebten Pastor Kraft 24 in Elberfeld,<br />

welcher ein Mann nach dem Herzen<br />

Gottes ist <strong>und</strong> den ich nie vergessen werde, ich<br />

38<br />

habe ihn sehr tief in mein Herz geschlos sen<br />

<strong>und</strong> es ist sehr schwer für mich, seine treuen<br />

Lehren <strong>und</strong> Ermahnungen nicht mehr hören zu<br />

dürfen.<br />

Da ich durch die Fre<strong>und</strong>schaft mit Insp.<br />

von Rohden’s viel von der Mission hörte, <strong>und</strong><br />

damit bekannt wurde, so erwachte die Liebe zu<br />

derselben in mir <strong>und</strong> wünschte ich oft, ihr auch<br />

mit meinen geringen Kräften zu dienen. Doch<br />

wußte der Herr, daß Er mich noch nicht gebrauchen<br />

konnte, <strong>und</strong> wenn ich mich jetzt bedenke,<br />

so wäre ich auch nicht werth gewesen,<br />

denn mein Glaube war noch mehr Gefühls- wie<br />

Herzensglaube. Darum mußte ich erst nach<br />

Seinem Rathschluß eine Zeit vieler Sorge <strong>und</strong><br />

Trübsal durchmachen, aber dadurch erfuhr ich<br />

auch Seine Hülfe, Macht <strong>und</strong> Treue <strong>und</strong> weiß,<br />

daß Er Alles thut, was Er will u[nd] wenn man<br />

im Glauben bittet, allewege hilft.<br />

In dieser Gewißheit habe ich die an mich<br />

am 5. Febr[uar] d[es] Jahr[es] gekommene Anfrage,<br />

ob ich mich dazu entschließen könne,<br />

Eltern u. Heimath zu verlassen u. die Frau eines<br />

Missionars zu werden, angenommen.<br />

Meine lieben Eltern, welche der treue Herr<br />

nach Seinem Gnadenwege zu Sich gezogen<br />

hat, haben mir gleich, wenn auch mit schwerem<br />

Herzen, ihre Einwilligung gegeben, <strong>und</strong><br />

habe ich darauf, nachdem Ende Juli die eigentliche<br />

Werbung gekommen, mich mit Missionar<br />

F[riedrich] Heidmann auf de Tuin in Süd-<br />

Africa ver lobt <strong>und</strong> werde, so der Herr will! in<br />

nächster Woche in Beglei tung vieler Geschwister<br />

ausziehen. Der treue Heiland gebe uns eine<br />

glückliche Reise u[nd] bringe uns an das irdische,<br />

aber vor Allem an das himmlische Ziel.<br />

Ihm sei Lob, Ehre <strong>und</strong> Preis in Ewigkeit.<br />

Amen!<br />

Barmen, d[en] 17 Oct[ober] 1868.<br />

Ida Eick heiratete am 4. Juni 1869 den ehemaligen<br />

Glaser Johann Christian Friedrich<br />

Heidmann (1834–1913) aus Lübeck, der seit<br />

1865 als Missionar in Südwestafrika tätig war,<br />

zuerst in de Tuin (wo auch die Hochzeit stattfand),<br />

ab 1868 in Rehoboth. Heidmanns Name<br />

ist eng verb<strong>und</strong>en mit dem Stamm der Bastards<br />

(auch: Baster, Bastergemeente, heute etwa<br />

40 000 Menschen). Dieses Volk, das ursprüng-


lich südlich des Oranje-Flusses lebte, führte er<br />

gemeinsam mit ihrem Käpitan Hermanus van<br />

Wijk im Jahre 1869 nach Norden. 1870 ließ<br />

sich der Stamm im Gebiet von Rehoboth nieder.<br />

25 Das Ehepaar Heidmann hatte ein Kind,<br />

das kurz nach der Geburt starb. Ida Heidmann,<br />

geb. Eick, starb am 10. Juni 1899 in Rehoboth.<br />

Ihr Mann arbeitete bis zu seiner Emeritierung<br />

1906 in Rehoboth <strong>und</strong> starb dort am 30. Juni<br />

1913, nachdem er seine letzten Lebens jahren<br />

in einer Heilanstalt verbracht hatte.<br />

Anna Mohri, geb. Barschig (1836–1893)<br />

Anna Barschig [verheiratet am 22.2.1871<br />

mit Missionar Mohri]<br />

Im Jahre 1836, den 31 Mai wurde ich zu<br />

Mainz geboren. Meine Mutter lehrte mich<br />

frühe beten, u[nd] ist mir immer besonders<br />

lieblich die Erinnerung an die Dämmerst<strong>und</strong>e,<br />

in der wir mit unserer Mutter beteten. Mein Vater<br />

wurde als Gensdarm nach Waldbröl versetzt,<br />

ich besuchte die dortige Elementarschule.<br />

Im Jahr 1847 wurde mein Vater nach<br />

Elberfeld berufen, als Postbeamter angestellt.<br />

Von meinem zwölften bis 14 Jahre genoß ich<br />

den Religionsunterricht des Sel[i]g[en] Herrn<br />

Pastor Sander 26 wurde von demselben 1851<br />

konfirmirt. Die Konfirmation hatte Eindruck<br />

auf mich gemacht, der aber bald wieder verwischt<br />

wurde. Doch ging der gute Hirte dem<br />

Verlorenen nach rief u[nd] lockte auf mancherlei<br />

Weise Es ging durch manches äußere u[nd]<br />

innere Gedränge hindurch, habe oft erfahren,<br />

wie gar nichts man in seiner eignen Kraft kann.<br />

Der liebe Heiland zerbrach meine Kraft, damit<br />

er in mir könne ein neues schaffen, u[nd] gebraucht<br />

dazu Wege u[nd] Führungen von denen<br />

ich oft dachte: Sie sind mir zu schwer, aber sie<br />

waren allein richtig u[nd] gut. – Den 17 Mai<br />

1855 starb unsere liebe gute Mutter das war ein<br />

großer Verlust für uns 6 Kinder von denen ich<br />

die Älteste. Ich suchte Trost für meinen<br />

Schmerz u[nd] Frieden u[nd] Ruhe für meine<br />

Seele, u[nd] fand sie nicht. Da im Jahr 1859 in<br />

dem die Cholera in Elberfeld so viele Opfer<br />

forderte 27 , wurde ich von der Cholera befallen,<br />

u[nd] war dem Tode sehr nahe. Nun standen<br />

die Schrecken des Todes die Strafen der Sünde,<br />

das Gefühl dem Herrn auf Tausend nicht eins<br />

antworten zu können immer vor meiner geängsteten<br />

Seele, ich wußte nicht wo aus noch ein!<br />

Da führte mir der Herr meinen theuersten<br />

Fre<strong>und</strong> u[nd] Seelsorger den Herrn Pastor<br />

Köllner 28 zu. Er zeigte mir den Weg des Heils,<br />

ich hielt mich an die Ver heißung wer zu mir<br />

kommt den werde ich nicht hinaus stoßen.<br />

Habe glauben u[nd] erfahren dürfen das der<br />

Herr über mir Gedanken des Friedens habe.<br />

Sein für mich vergossenes Blut ein vollgültiges<br />

Opfer sei für alle meine Sünden. Welche Seligkeit<br />

ein Herz das ein Heiland gef<strong>und</strong>en erfüllt<br />

läßt sich nicht sagen, wer es erfahren preise mit<br />

mir den Herrn <strong>und</strong>[?] alles was er an Seinen<br />

Kindern thut. Seit dem Tode meiner Mutter<br />

stand ich dem Haushalt vor u[nd] suchte meine<br />

lieben Geschwister zu erziehen. Im Jahr 1863<br />

erlaubte mir mein Vater die Anstalt für Kinderpflege<br />

in Nonnenweiher zu besuchen unter<br />

Leitung der nun heimgegangenen Frau Dr. Jolberg.<br />

Im Jahr 64 rief mein lieber Vater mich<br />

zurück da er schwer erkrankt war, u[nd] schon<br />

nach 14 Tagen in die obere Heimath abgerufen<br />

wurde. Die Stelle an der Kleinkinderschule in<br />

Ronsdorf war vakant, ich meldete mich, u[nd]<br />

wurde als Kinderlehrerin daselbst angestellt.<br />

Im Jahr 1868 verließ ich Ronsdorf um in Berlin<br />

einer Schule vorzustehen, blieb dort zwei Jahre<br />

u[nd] arbeitete mit viel Freudigkeit unter den<br />

Ärmsten der Armen, unter denen ich gerne geblieben<br />

wäre. Nach des Herrn Wohlgefallen<br />

sollte ich einen anderen Weg gehen, der mir so<br />

köstlich u[nd] durch so manches theure Angeld<br />

[?] des Herrn Treue versiegelt wurde. Ich bin<br />

gewiß das Er der meiner Schultern Vermögen<br />

kennt, wird Gnade geben zu dem was kommen<br />

wird. Sei die Noth auch groß u[nd] der Trübsal<br />

viel, größer als der Helfer ist die Noth doch<br />

nicht. Die Gewißheit ,,Es ist der Herr“ erfüllt<br />

mein Herz mit Freudigkeit, meinem lieben<br />

Bräutigam zu folgen. Der Herr Jesu lasse den<br />

in Gnaden seine Allmachtshände über mir aus -<br />

gebreitet, halte meine Glaubensauge offen allezeit<br />

auf ihn gerichtet. Gilt auch mir die Verheißung<br />

,,Siehe ich bin bei euch alle Tage bis<br />

an der Welt Ende“. 29<br />

Barmen den 8. Sept. 1870.<br />

39


Anna Mohri, geb. Barschig<br />

Anna Barschig heiratete am 22. Februar<br />

1871 den ehemaligen Fabrikarbeiter August<br />

Mohri (1835–1907) aus Allendorf/Nassau, der<br />

seit 1868 als Missionar in Indonesien tätig war,<br />

zuerst auf der Insel Nias, später auf Sumatra<br />

(1870–1888 Si Poholon, 1888–1891 Pea<br />

Radja, 1892–1907 Huta Bavat). Das Paar<br />

hatte fünf Kinder: Anna (1872–1954, verheiratet<br />

mit Henri Guillaume, Missionar auf Sumatra),<br />

August (*1873), Friedrich (*1875), Theodor<br />

(*1877), Heinrich (*1879). Nach einem<br />

Aufenthalt in Deutschland (Herborn) in den<br />

Jahren 1891–92 kehrte das Ehepaar Anfang<br />

1893 nach Sumatra zurück. Noch am Tag der<br />

Ankunft in Pangaloan erkrankte Anna Mohri<br />

schwer <strong>und</strong> starb kurz darauf, am 11. Januar,<br />

in Pea Radja. Nach dem Bekanntwerden ihrer<br />

Todesnachricht sollen sich h<strong>und</strong>erte von Menschen<br />

aus Si Poholon <strong>und</strong> Pea Radja versammelt<br />

haben, um die Verstorbene zu ehren 30 . August<br />

Mohri heiratete 1898 Elly Schumacher<br />

(1865–1914) aus Barmen. Er starb am 13. Juni<br />

1907 in Purba.<br />

40<br />

Emma Schütz, geb. Haarmann (1835–1876)<br />

[Emma Haarmann, verheiratet am 9.2.1870<br />

mit Missionar Schütz]<br />

E[m]ma Haarmann wurde am 27ten Mai<br />

1835 geboren zu Elberfeld. Meine lieben Eltern<br />

waren dem Leben aus Gott fremd, der<br />

treue Herr schickte schwere Leiden, machte<br />

meinen armen Vater gemüthskrank, das machte<br />

auf mich einen tiefen ich kann sagen unauslöschlichen<br />

Eindruck. Durch den langjährigen<br />

Unterricht bei dem theuren Pastor Jaspis 31 <strong>und</strong><br />

durch seinen näheren Umgang lernte ich mein<br />

armes Herz kennen suchte besonders in dem<br />

letzten Jahr vor der Confirmation ein Kind der<br />

Gnade zu werden, durfte auch wohl mal etwas<br />

von dem Frieden der aus Jesu kommt fühlen<br />

kam jedoch zu keiner Entscheidung, im Gegentheil<br />

alles verwischte sich wieder durch den<br />

dreijährigen Aufenthalt bei Verwandten in Arnheim.<br />

Von dort kam ich nach Kaiserswerth,<br />

wurde Lehrerin, bekam eine Stelle in Wetzlar,<br />

aber war immer noch nicht wiedergeboren. In<br />

dem Hause des Herrn [Name unklar] legte man<br />

mir mein hochmüthiges Herz recht bloß, es<br />

ging durch viele u[nd] schwere Kämpfe hindurch<br />

bis endlich der Herr sein „Ich will’s, sei<br />

gereinigt“ sprach. Nun fühlte ich tief wie<br />

schwer es sei im Reich Gottes, im Weinberg<br />

des Herrn zu arbeiten, mußte umreißen was ich<br />

selbst gebaut, jedoch der Herr half <strong>und</strong> ließ<br />

mich im Segen arbeiten. Im Jahre 1865 durfte<br />

ich nach Beerberg in Schlesien ziehen, durfte<br />

dort Kleinkinderschule u[nd] Gemeindepflege<br />

einrichten. Nachdem ich zwei Jahre dort gearbeitet<br />

<strong>und</strong> zu den Ferien nach Hause reiste,<br />

(meine Eltern waren zwar schon gestorben)<br />

frug mich Miss[ionar] Schütz mein jetziger<br />

Bräutigam, der mich in Wetzlar kennengelernt<br />

ob ich, wenn der Herr Gnade gäbe ihm nach<br />

Sumatra folgen wolle, ich konnte freudig „Ja“<br />

sagen, mußte mich zwar tief beugen vor der<br />

großen Gnade dem Herrn an Seinen Heiden<br />

dienen zu dürfen. Bis Ostern 1869 blieb ich<br />

noch in Beerberg, kam dann nach Barmen in<br />

das Haus eines Fre<strong>und</strong>es meines lieben Bräutigams.<br />

Viel, viel Gnade u[nd] Segen durfte ich<br />

erfahren, wenn es auch manch mal dunkel<br />

u[nd] trübe war, der Herr ist aber treu, Er


nimmt die Seinen in Seine Hut [?] nach väterlicher<br />

Weise. Ihm sei Lob in Ewigkeit. Er gebe<br />

mir Kraft für Sein Werk zu leben <strong>und</strong> zu leiden!<br />

Um einen ewgen Kranz<br />

dies arme Leben ganz!<br />

Emma Haarmann heiratete am 9. Februar<br />

1870 den ehemaligen Anstreicher Christian<br />

Philipp Schütz (1838–1922) aus Braunfels, der<br />

von 1868 –1912 als Missionar in Bungabondar<br />

im Batakland auf Sumatra tätig war. Das Paar<br />

hatte zwei Söhne: Christian (* 1871) <strong>und</strong> August<br />

Georg (* 1874). Emma Schütz, geb. Haarmann<br />

starb am 28. Januar 1876 in Bungabondar.<br />

Christian Phillip Schütz heiratete 1877<br />

Eva Meisner (1852–1939) aus Mainz. Er starb<br />

am 14. März 1922 in Herborn.<br />

Wilhelmine Thomas, geb. Müller<br />

(1851–1912)<br />

Wilhelmine Müller [am 28. Januar 1874<br />

mit Missionar Thomas verheiratet]<br />

Am 30. Oktober 1851 wurde ich in Elberfeld<br />

geboren. Mein Vater Joh[ann] Wilhelm<br />

Müller war Schuhleistenmacher. Es waren unser<br />

sechs Geschwister, wovon ich die zweitjüngste<br />

bin; wir hatten das große Glück gläubige<br />

Eltern zu haben, daher wir in der Furcht<br />

u[nd] Vermahnung zum Herrn erzogen wurden.<br />

Jedoch durften wir uns nicht lange unserer<br />

Eltern freuen, unser Herr nahm den Vater nach<br />

längerem Leiden im Jahre 1861 zu sich in den<br />

Himmel; daher nun unserer lieben Mutter eine<br />

große Aufgabe überblieb. Sie mußte das Geschäft<br />

mit fremden Leuten fortsetzen, wobei<br />

sie oft die Hülfe des Herrn erfahren durfte, der<br />

Herr Jesus war ihr Mann u[nd] unser Vater,<br />

nach seiner Verheißung. Später im Jahr 1863<br />

konnte sie das Geschäft meinem ältesten Bruder<br />

anvertrauen. Vom 6 bis 14 Jahre besuchte<br />

ich die Elementarschule <strong>und</strong> vom 11 – 14 Jahre<br />

den Religionsunterricht des l[ieben] Pastor<br />

Köllner 32 , worinnen sich der Herr in mancherlei<br />

Weise zu mir bekannte. Als ich confirmirt<br />

wurde faßte ich den Ent schluß, ganz dem<br />

Herrn zu leben, mußte jedoch erfahren daß es<br />

durch Sterben zum Leben ging, wobei ich mir<br />

oft den Spruch sagte: ,,Die Christi angehören,<br />

kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten u[nd]<br />

Begierden. 33 Eine alte liebe Christin, die in unserer<br />

Nachbarschaft wohnte, war meine liebste<br />

Fre<strong>und</strong>in, zu dieser ging ich täglich. So<br />

schwand ein Jahr an der Hand des Herrn dahin.<br />

Danach wurde ich sehr vom geistlichen<br />

Hochmuth geplagt, u[nd] verließ ein ganzes<br />

Jahr meinen treuen Heiland u[nd] ich wurde ärger<br />

denn zuvor. Meine früheren Fre<strong>und</strong>innen<br />

denen ich den Abschied gegeben hatte fanden<br />

wieder einen Ort bei mir, u[nd] ich diente mit<br />

Leib u[nd] Seele dem Teufel. Meine alte<br />

Fre<strong>und</strong>in trauerte sehr über mich u[nd] weinte<br />

u[nd] ermahnte viel aber vergeblich. Da geschah<br />

es einmal als ich bei meinen Fre<strong>und</strong>innen<br />

war, daß sie anfingen zu tanzen, dabei bekam<br />

ich aber die größte Unruhe, Eilte nach<br />

Hause, setzte mich an einen stillen Ort u[nd]<br />

las in einem Predigtbuche, konnte aber vor Unruhe<br />

meines Herzens nichts verstehen; lief<br />

dann in meiner Angst zu meiner lieben alten<br />

Fre<strong>und</strong>in <strong>und</strong> klagte ihr Alles. Diese brach in<br />

Thränen aus u[nd] freute sich über die Erscheinung.<br />

Das war der Anfang meiner zweiten Bekehrung,<br />

u[nd] bis hierher hat Gott geholfen<br />

Gott hilft, Gott wird weiter helfen. Nachdem<br />

ich das Nähen u[nd] die häuslichen Arbeiten<br />

gelernt hatte, kam ich zu meinem Schwager,<br />

dem Bäcker Funccius um meiner leidenden<br />

Schwester als Stütze zu dienen. Das Leiden<br />

meiner l[ieben] Schwester mehrte sich immer<br />

mehr <strong>und</strong> mehr, so daß wir zuletzt keine Hoffnung<br />

mehr hatten u[nd] sie durfte am 22. Juni<br />

1871 eingehen zu ihres Herrn Freude. Gott<br />

aber sei Dank der mir diese Zeiten hat erleben<br />

lassen. Nachdem meine 1[iebe] Mutter ihre<br />

Zustimmung auf die Bitte meines 1[ieben]<br />

Bräutigams um meine Hand gegeben hatte;<br />

verließ ich meinen Schwager, um die kurze<br />

Zeit bei meiner 1[ieben] Mutter u[nd] Geschwister<br />

sein zu können. Jetzt stehe ich am<br />

Abschluß der zwei Jahre, u[nd] Gott der Herr<br />

hat mir bis heute Freudigkeit u[nd]Kraft gegeben,<br />

u[nd] ich hoffe getrost u[nd] in aller Zuversicht<br />

auf seine Hülfe noch ferner.<br />

Barmen den 23/8 1873.<br />

41


Wilhelmine Thomas, geb. Müller<br />

Nachtrag 13.7.1933: Der Vater der Schreiberin<br />

Johann Wilh[elm] Müller wurde am<br />

22.3.1809 in Barmen geboren <strong>und</strong> starb am<br />

15.7. 1861 in Elberfeld. Die Mutter Maria Ka -<br />

tharina geb. Knipp schild wurde in Höringhausen/Wald<br />

eck am 22.12.1816 geboren u[nd]<br />

starb am 3.9.1878 in Elberfeld. Diese Angaben<br />

stehen auf den Grabsteinen in Elberfeld [Unterschrift:]<br />

Diehl<br />

Wilhelmine Müller heiratete den ehemaligen<br />

Bauern Johann Wilhelm Thomas (1843–<br />

1900) aus Eibach/Nassau am 28. Januar 1874.<br />

Thomas war seit 1873 als Missionar auf Nias<br />

tätig. 1883 gründete er die Missionsstation Teluk<br />

Dalam im Süden der Insel, unter großen<br />

Schwierigkeiten, so daß Wilhelmine Thomas,<br />

die dort schwer erkrankte, die Station verlassen<br />

mußte34 . 1886 mußte die Station aufgegeben,<br />

die Missionare Thomas <strong>und</strong> Lagemann<br />

durch holländische Kanonenboote aus ihrer<br />

heiklen Lage befreit werden. Nach einem Jahr<br />

in Neu-Guinea <strong>und</strong> einem Aufenthalt in<br />

42<br />

Deutschland kehrte das Paar 1889 nach Nias<br />

zurück. 1891 wurde durch sie die neue Missionsstation<br />

in Humene gegründet, die sich in<br />

den folgenden Jahren zur größten Station der<br />

Rheinischen Mission auf der Insel entwickelte.<br />

Das Ehepaar Thomas hatte sieben Kinder, von<br />

denen nur einige ein höheres Alter erreichten:<br />

Wilhelm (* 1875), Lydia (* 1876, verheiratet<br />

mit Missionar Eduard Lewandowsky), Luise<br />

(* 1877), Paul (1880–1949, Geistlicher in Wisconsin/USA),<br />

Johannes Peter (* 1882), Theophil<br />

(1884–1958) <strong>und</strong> Adolf (* 1888). Ende<br />

1900 erkrankte Johann Wilhelm Thomas an<br />

Gürtelrose <strong>und</strong> starb unerwartet am 30. Dezember<br />

in Humene. Wilhelmine Thomas bat die<br />

Missions-Gesellschaft zunächst, in Nias bleiben<br />

zu dürfen: „Ich arbeite mit großer Freude<br />

an unserem Volke; es ist mir in den 27 Jahren<br />

sehr ans Herz gewachsen.“ 35 Später zog sie mit<br />

der Familie nach Dillenburg, wo sie am 17.<br />

Juni 1912 starb.<br />

Friedrich Wilhelm Staudte (1845–1884)<br />

Fried[rich] Wilh[elm] Staudte [Drechsler/<br />

Jünglingsverein] 36<br />

Am 1. Mai 37 wurde ich, Fr[iedrich]<br />

Wilh[elm] Staudte, am Hahnerfeld bei Elberfeld<br />

als 1[ste]r Sohn der Amalie geb. Bünger<br />

u[nd] des Michael Staudte, Drechslers zu<br />

Hahnerfeld, geboren. In meinem 6[ste]n Jahre<br />

starb die Mutter, <strong>und</strong> ich war, da 2 jüngere Geschwister<br />

ebenfalls gestorben waren, einziges<br />

Kind meines Vaters. Er erzog mich nach bestem<br />

Wissen in der Zucht u[nd] Vermahnung<br />

zum Herrn. Seine äußeren Verhält nisse gestatteten<br />

es ihm nicht, mich auch den Elementarunterricht<br />

ununterbrochen genießen zu lassen;<br />

meine Kraft wurde dem Geschäfte u[nd] dem<br />

Hauswesen dienstbar gemacht, so daß meine<br />

Schulbildung im Allgemeinen schwach u[nd]<br />

noch dazu sehr lückenhaft blieb. Bis züm<br />

13[te]n Jahre hatte mein bild sames Herz schon<br />

tiefe Eindrücke menschl[icher] Sünde empfangen,<br />

doch stand es auch durch die vorwiegend<br />

christl[iche] Erziehung u[nd] durch eine gewisse<br />

religiöse Änlage der Wahrheit offen. Es<br />

war noch zweifelhaft, welche Richtung für die


Folgezeit die herrschende werden sollte; doch<br />

bald sollte es sich entscheiden.<br />

Der theure P[astor] Rinck 38 , dessen Catechumenen-Unterricht<br />

ich damals besuchte,<br />

übte durch seine einfachen aber geist-gesalbten<br />

Zeugnisse wie auch durch seine persönl[iche]<br />

Haltung einen mächtigen Einfluß auf mich aus.<br />

Zu einer vollen u[nd] bleibenden Hingabe an<br />

den Herrn kam es aber zu der Zeit u[nd] am<br />

Tage der Confirmation, die übrigens von<br />

großem Segen für mich war, nicht.<br />

Zwei Jahre verflossen, ohne besondere Verändrung.<br />

Ich erlernte das Drechslerhandwerk<br />

bei meinem Vater u[nd] besuchte in den Feierst<strong>und</strong>en<br />

den Jünglingsverein. Es war im Jahre<br />

1861, da entstand in diesem Verein eine Erweckung.<br />

Mit 5 Fre<strong>und</strong>en zusammen entschloß<br />

ich mich den Herrn zu suchen. Meine Fre<strong>und</strong>e<br />

kamen auch bald der Reihe nach u[nd] bezeugten<br />

es unter vielem Jubel, daß sie den Herrn gef<strong>und</strong>en<br />

haben. Ich selbst konnte mich dessen<br />

nicht erfreuen. Doch die Fre<strong>und</strong>e zogen mich<br />

mit fort u[nd] hielten mich für gläubig,<br />

während mein Herz doch noch keineswegs zur<br />

Festigkeit gekommen war. Es dauerte nicht<br />

lange, so trat eine Reaktion ein, u[nd] ich zog<br />

mich allmählich aus der Gemeinschaft der<br />

Gläubigen wieder zurück; das war in meinem<br />

18. Jahre.<br />

Bis zum 20[ste]n Jahre blieb ich im Vaterhause,<br />

dann wollte ich reisen, die Welt sehen<br />

u[nd] mich in meinem Geschäfte ausbilden.<br />

Mein Vater willigte ein, u[nd] nun wurden die<br />

Städte Hannover[?], Berlin u[nd] Dresden<br />

meine Aufenthaltsorte. Der Herr hat mich w<strong>und</strong>erbar<br />

bewahrt in dieser Zeit, daß ich nicht in<br />

den allgemeinen Strom der Sünde mit hineingerissen<br />

wurde.<br />

In Folge der Mobilmachung 1866 kehrte<br />

ich zurück nach Elberfeld. Und kaum waren einige<br />

Wochen verflossen, als der Herr wiederum<br />

mächtig bei mir anklopfte. Es ging<br />

durch mancherlei Kämpfe hindurch, bis<br />

endl[ich] mit dem Worte: „Laß dir an meiner<br />

Gnade genügen“ 39 u.s.w. der erste Licht strahl<br />

des Glaubens in mein Herze hineinfiel.<br />

Was nun meinen Missionstrieb anbetrifft,<br />

so wurde er erst in dem Jahre 67 recht lebendig<br />

u[nd] bewußt. Das Ev[angelium] zu predigen<br />

war längst mein Ideal; aber ich wußte nicht,<br />

wie ich es realisieren sollte. Bei einer Abordnungsfeier<br />

wurde mein Herz durch die Schilderung<br />

der Nothstände in Brasilien mächtig ergriffen,<br />

u[nd] ich bat den Herrn mich doch<br />

auch zum Zeugen Seiner Wahrheit auszurüsten;<br />

doch war es mir noch ungewiß ob ich<br />

mich zur Mission melden dürfe. Nach vielem<br />

Harren u[nd] Berathen mit meinem Vater u[nd]<br />

Onkel gab endl[ich] Herr P[astor] Rinck, der<br />

uns besuchte, den Auschlag. Mit Freudigkeit<br />

<strong>und</strong> dem Glauben an die Berufung des Herrn<br />

konnte ich mich melden u[nd] wurde nach einjähriger<br />

Warte- u[nd] Prüfungszeit im Jahre<br />

1868 in die Vorschule des Missions hauses aufgenommen.<br />

Jetzt stehe ich im Begriff aus der engeren<br />

Gemeinde des Missionshauses zu scheiden.<br />

Mein Weg führte durch viel Trübsal u[nd]<br />

Angst hindurch, aber auch Gottes Gnade ist<br />

reich gewesen über mir, des Segens u[nd] der<br />

Freude ist mehr, als ich hier niederzuschreiben<br />

vermag. Wie der Herr mir bisher so herrlich geholfen<br />

hat, so wird er mich auch weiter führen<br />

bis zur Vollendung in ihm.<br />

Barmen, d[en] 18. Aug[ust] 1873.<br />

Friedrich Wilhelm Staudte wurde 1873 als<br />

Missionar nach Sumatra ausgesandt, wo er<br />

zunächst am Gehilfenseminar in Prausorat<br />

tätig war, gleichzeitig jedoch als Evangelist<br />

mehrere Reisen ins Innere der Insel unternahm.<br />

Ein Augenleiden machte ihm die Arbeit<br />

bald unmöglich, so daß eine Rückkehr nach<br />

Deutschland erwogen wurde. Erst nach einer<br />

erfolgreichen Behandlung in Padang konnte er<br />

im Herbst 1876 seine neue Tätigkeit in Pangaloan<br />

aufnehmen, wo er bis 1882 stationiert<br />

war. Am 22. März 1877 heiratete er Lina Kind<br />

(1851–1933), die Tochter eines Schweizer<br />

Pfarrers. Das Paar hatte vier Kinder: Wilhelm<br />

(* 1878, Buchhändler, gefallen 1917), Anna<br />

(* 1879), Paul (* 1881) <strong>und</strong> Fritz (* 1883). Da<br />

Lina Staudte „seit mehreren Jahren körperlich<br />

schwer leidend“ 40 war, bemühte sich Staudte<br />

um die Versetzung in eine gesündere Gegend.<br />

Im Herbst 1882 wurde er Missionar in Sipirok.<br />

Während seine Frau sich dort erholte, erkrankte<br />

Staudte selbst an Dysenterie, der er am<br />

43


Friedrich Wilhelm Staudt<br />

8. April 1884 erlag. Nach dem Tod ihres Mannes<br />

blieb Lina Staudte noch ein Jahrzehnt in<br />

Sumatra, bevor sie 1895 mit ihren Kindern<br />

nach Deutschland zurückkehrte. Seit 1907<br />

lebte sie in Bethel, wo sie am 12. Februar 1933<br />

starb.<br />

Emilie Irle, geb. Schweißfurth (1839–1888)<br />

Emilie Schweißfurth [verheiratet am 21.<br />

Januar 1872 mit Missionar Johann Jakob Irle]<br />

Den 29sten Juli 1839 bin ich in Elberfeld<br />

geboren. Mein seliger Vater war Schreiner, daneben<br />

betrieb er Acker bau. Von den sieben<br />

Töchtern meiner lieben Eltern bin ich die<br />

zweitjüngste. Wir wurden in der Zucht <strong>und</strong><br />

Vermahnung zum Herrn erzogen. Von meinem<br />

siebenten Lebensjahre an besuchte ich die reformirte<br />

Pfarrschule, <strong>und</strong> als später meine Eltern<br />

eine andre Wohnung, außerhalb der Stadt,<br />

bezogen, 2 Jahre lang die Nützenberger<br />

Schule. Im Jahre 1850 starb mein lieber Vater –<br />

meine Mutter entschloß sich, die unruhige<br />

44<br />

Ackerwirth schaft, der sich der Vater in den<br />

letzten Jahren ausschließlich gewidmet hatte,<br />

niederzulegen. Sie zog wieder in die Stadt, <strong>und</strong><br />

etablirte ein Spezereigeschäft 41 , wobei meine<br />

beiden älteren Schwestern Sie nach Kräften<br />

unterstützten – die älteste Schwester war damals<br />

schon verheirathet. Nachdem ich im Jahr<br />

1854 von Herrn Pastor Feldner 42 konfirmirt<br />

war, wünschte meine liebe Mutter mich als<br />

Lehrerin ausbilden zu lassen, dazu war aber<br />

mein Körper, wie der Arzt erklärte, nicht kräftig<br />

genug, <strong>und</strong> blieb ich deßhalb in unserm<br />

kleinen Haushalt beschäftigt, daneben lernte<br />

ich die weibl[ichen] Handarbeiten, <strong>und</strong> es war<br />

dieseThätigkeit für meine Ges<strong>und</strong> heit recht zuträglich.<br />

Unser Geschäft segnete der Herr augenscheinlich,<br />

sodaß, als im Jahr 1862 auch<br />

meine zweitälteste Schwester heirathete, wir<br />

viele fremde Hülfe nöthig hatten, wodurch ich<br />

in den Umgang mit allerlei Leuten kam. Nur<br />

etwas stiller ist es wieder in unserm Hause geworden<br />

durch die Geschäftsveränderung welche<br />

meine Mutter durchführte im Jahr 1870<br />

nachdem Sie zu der Bitte, meines jetzigen lieben<br />

Bräutigams, J[akob] Irle, um meine Hand,<br />

Ihre Zustimmung zu geben hatte, dies war im<br />

Herbst 68. Statt Spezerein haben wir jetzt nur<br />

ein Kurzwaren-Geschäft.<br />

In meinem 11ten Jahr, sobald ich den Religionsunterricht<br />

besuchte, fing der Herr sein<br />

Gnadenwerk in mir an; bis dahin hatte ich in<br />

jugendlichem Leichtsinn dahingelebt, nun<br />

konnte ich nicht mehr mit Ruhe sündigen, ich<br />

mußte bitten um Vergebung der Sünden <strong>und</strong><br />

um ein neues Herz. Mehrere Jahre vergingen,<br />

ehe ich mich der fühlbaren Erhörung freuen<br />

durfte, doch schenkte mir der Herr zugleich ein<br />

so reiches Maß seiner Liebe, das ich oft meinte,<br />

ich könnte auch mein Leben für ihn lassen.<br />

Aber ich erkannte noch nichts von den verborgenen<br />

Banden der Sünde, mit denen ich geb<strong>und</strong>en<br />

war, darum führte mich der Herr durch die<br />

Zucht seines Heiligen Geistes <strong>und</strong> die Entziehung<br />

seiner fühlbaren Gnade, viele Jahre hindurch<br />

in tiefe Demüthigungen <strong>und</strong> Ängste, so,<br />

daß ich oft wünschte, ich hätte den Weg der<br />

Gerechtig keit nie erkannt, als in solchem Zustande<br />

zu sein. Der Herr erbarmte sich meiner<br />

aufs Neue, durch innere <strong>und</strong> äußere Gnadener-


weise lernte ich endlich mich unbedingt <strong>und</strong><br />

völlig ihm zu überlassen, was auch heute noch<br />

mein herzlichstes Begehren, <strong>und</strong> wozu ich mir<br />

täglich neue Gnade <strong>und</strong> Kraft erflehe von meinem<br />

Heiland.<br />

Emilie Schweißfurth heiratete am 21. Januar<br />

1872 den ehemaligen Schreiner Jacob Johann<br />

Irle aus Hatzfeld/Hessen, der seit 1869 in<br />

Südwest-Afrika (Hereroland 43 ) als Missionar<br />

wirkte, zuerst in Otjikango <strong>und</strong> Okahandja,<br />

schließlich wurde er Missionar der Station Otjosazu,<br />

wo er bis 1903 tätig war. Das Paar<br />

hatte sechs Kinder: Emilie (* 1872), Maria<br />

(* 1875), Jakob (* 1878), Otto (* 1879), Luise<br />

(* 1880) <strong>und</strong> Bertha (1881–1918). Der älteste<br />

Sohn Jakob war später ebenfalls als Missionar<br />

im Hereroland tätig (gestorben 1954 in Elberfeld),<br />

die Tochter Bertha heiratete 1907 den<br />

Missionar Eduard Müller. 44 Im Nachruf auf<br />

Emilie Irle, geb. Schweißfurth 45 wird ein ausführlicher<br />

Brief ihres Mannes wiedergegeben,<br />

in dem er vermerkt, seine Frau habe schon vor<br />

der Aussendung gewußt, „daß dieser Weg ein<br />

Sterbeweg für sie sei“ 46 , dennoch sei sie mit<br />

„freudigem Herzen“ 47 dem Ruf des Herrn gefolgt.<br />

Irle würdigt den Einsatz der Verstorbenen,<br />

die sich in den letzten Jahren besonders<br />

um die Sonntagsschule gekümmert hätte, <strong>und</strong><br />

schildert die Trauer über den Tod der Missionarsfrau:<br />

„Die Leute hingen an ihr mit der<br />

größesten Liebe, <strong>und</strong> der Schmerz aller, die in<br />

den Tagen ihrer Krankheit herzueilten, war tief<br />

ergreifend.“ 48 Emilie Irle war offenbar schon<br />

längere Zeit kränkelnd gewesen (Wassersucht?).<br />

Auf einer Reise nach Otjimbingue kam<br />

eine Lungenentzündung hinzu, sie konnte noch<br />

nach Otjosazu zurückgebracht werden, wo sie<br />

am 3. August 1888 starb. Jacob Johann Irle<br />

heiratete am 7. Juli 1890 Hedwig von Rohden,<br />

die Tochter des Barmer Missionsinspektors, 49<br />

mit der er drei Kinder hatte. Hedwig Irle wurde<br />

vor allem durch ihre Publikation „Wie ich die<br />

Herero lieben lernte“ 50 bekannt. Irle selbst entwickelte<br />

sich zu einem Sprecher für die Herero<br />

<strong>und</strong> verteidigte sie nach dem Aufstand von<br />

1904 51 in Zeitungsartikeln, obwohl „seine“<br />

Station Otjosazu, die inzwischen ein Nachfolger<br />

übernommen hatte, wegen der Kämpfe auf-<br />

gegeben werden mußte. In seinen letzten Lebensjahren<br />

publizierte er wissenschaftliche<br />

Werke über Sprache, Gebräuche <strong>und</strong> Religion<br />

der Herero. Er starb am 7. September 1924 in<br />

Witten.<br />

Agnes Pabst, geb. Neumann (1854–1896)<br />

Agnes Neumann<br />

Braut von Missionar Pabst [verheiratet am<br />

17. Februar 1880]<br />

[spätere Notiz:] gestorben 20.6.1906 in<br />

Stellenbosch<br />

Am dritten März 1854 bin ich in Elberfeld<br />

geboren. Mein Vater war zu der Zeit Lehrer an<br />

der städt[ischen] Töchterschule wurde aber im<br />

Jahre 1856 von der ländlichen Schulgemeinde<br />

Fingscheid im Langenbergischen zum Lehrer<br />

gewählt, <strong>und</strong> folgte diesem Ruf insonderheit<br />

um seiner Ges<strong>und</strong>heit willen. Daher kam es<br />

daß ich den größten Theil meiner Kindheit auf<br />

dem Lande verlebte. Dieselbe war eine recht<br />

glückliche. – Unsere Verhältnisse verlangten es<br />

das der Haushalt so spar sam wie möglich gehalten<br />

werden mußte, wenn Nahrungssorgen<br />

fern gehalten werden sollten. Und da war<br />

meine 1[iebe] sel[ige] Mutter so recht an ihrem<br />

Platze. Sie hatte in ihrer Jugend oft Zeiten<br />

schwerer äußerer Bedrängnisse durchmachen<br />

müssen, aber auch zugleich das Glück gehabt<br />

unter der Zucht frommer Eltern das „Bete<br />

u[nd] arbeitete“ 52 gründlich zu lernen. Es war<br />

nun auch ihre einzige Sorge, daß auch ihre<br />

Kinder des Segens theil haftig werden möchten<br />

den sie selbst in so reichem Maße an ihrem<br />

Herzen erfahren hatte. Selbstverständlich besuchte<br />

ich die Schule meines Vaters. Im Jahre<br />

1866 zogen wir wieder nach Elberfeld woselbst<br />

mein 1[ieber] Vater zum Hauptlehrer einer<br />

Armenschule gewählt war. Damit beginnt[?]<br />

die Zeit worin die 1[ieben] Eltern<br />

u[nd] wir Kinder durch Krankheiten aller Art<br />

oft u[nd] schwer heimgesucht wurden. Im<br />

Jahre 1869 bin ich durch Herrn Pastor Lichtenstein<br />

53 hier konfirmirt worden, nachdem ich 2<br />

Jahre durch ihn in den Heilswahrheiten unterrichtet<br />

war. Diese Zeit des Unterrichts ist eine<br />

besondere Segenszeit für mich gewesen sowie<br />

45


auch die Konfirmation selbst. – Ein Jahr später<br />

traf mich u[nd] die Meinen ein sehr schwerer<br />

Schlag. Binnen wenigen Tagen war unsere gute<br />

Mutter ges<strong>und</strong> u[nd] todt. Bei ihrem Sterben<br />

verherrlichte sich der Herr ganz besonders indem<br />

er sie, wiewohl sie meinen schon seit 4<br />

Jahren kränkelnden Vater u[nd] außer mir noch<br />

8 Kinder (hinterließ) u[nd] ihre eigene Mutter<br />

hinterließ, fast wie im Triumph heimgehen<br />

hieß. Für einen jeden hatte sie ein besonderes<br />

Trostwort. Unvergeßlich wird mir der Augenblick<br />

bleiben da sie sich aufrichtete u[nd] sich<br />

von ihrer 1[ieben] Mutter mit dem Segen des<br />

dreieinigen Gottes einsegnen ließ fürs Grab.<br />

Die letzten Worte, die wir von ihr hörten kurz<br />

vor dem Hinscheiden waren die des 23te[n]<br />

Ps[a]l[m]: Und ob ich schon wanderte usw.<br />

Von dieser Zeit an war meine Jugend eine<br />

schwere da nämlich eine ältere Schwester sich<br />

einen geschäftlichen Beruf u[nd] eine jüngere<br />

Schwester damals sehr kränklich, so lag das<br />

Gewicht des großen Haushaltes fast allein auf<br />

meinen Schultern, ich erfuhr aber in dieser<br />

schweren Zeit oftmals in besonderer Weise die<br />

Hülfe des Herrn u[nd] dadurch wurde ich näher<br />

gezogen. Zwei Jahre später ging auch meine<br />

1[iebe] Großmutter heim wonach sie sich so<br />

lange gesehnt; nachdem sie noch die Freude erlebt<br />

hatte daß der Herr eine 1[iebe] neue Mutter<br />

ins Haus führte. Im Jahre 1879 hatten wir<br />

neue Heimsuchungen u[nd] wohl der schwersten<br />

Art. 6 Geschwister erkrankten nacheinander<br />

am Typhus worunter ich diejenige war die<br />

am schwersten krank war. Eines derselben ein<br />

herzensliebes Schwesterchen ging selig heim;<br />

ich jedoch wofür menschlich geredet keine<br />

Hoffnung auf Besserwerden war genaß noch<br />

einmal. Die Krankheit ist ein besonderes Liebesseil<br />

gewesen wodurch mich der Herr ganz<br />

zu sich zog u[nd] mit der wiederkehrenden<br />

körperlichen Kraft wurde der Wunsch dem<br />

Herrn treuer zu dienen wie bisher in mir lebendiger.<br />

Als nun am 31ten Okt[o]b[e]r desselbigen<br />

Jahres mein jetziger 1[ieber] Bräut[igam]<br />

mir seine Hand antrug ihm zu folgen in die<br />

Wüste konnte ich durch Gottes Gnade am dritten<br />

November ja sagen nachdem mich u[nd]<br />

die 1[ieben] Eltern der Herr deutlich darauf<br />

hinwies daß es sein Wille sei.<br />

46<br />

Agnes Pabst, geb. Neumann<br />

Auch heute am Tage des Abschieds aus<br />

dem 1[ieben] Elternhause u[nd] Missionshaus<br />

darf ich dem Herrn danken für seine w<strong>und</strong>erbaren<br />

Führungen: Ihm sei die Ehre!<br />

Barmen d[en] 10.10.79.<br />

Agnes Neumann heiratete am 17. Dezember<br />

1880 den ehemaligen Schuhmacher Heinrich<br />

Pabst (1847–1917) aus Biebernheim bei<br />

St. Goar. Pabst war unter anderem in der Missionierung<br />

der Bastards54 in Südwestafrika<br />

tätig. Seit 1878 war er als Missionar im Namaland<br />

stationiert, zunächst in Grootfontein (bei<br />

Bethanien) <strong>und</strong> Warmbad, ab 1885 in Rietfontein,<br />

am Rand der Kalahari, bereits auf britischem<br />

Gebiet gelegen. Das Paar hatte acht<br />

Kinder: Toni (* 1881), Heinrich (* 1882), Wilhelm<br />

(* 1884), Johannes (* 1886), Agnes (*<br />

1887), Margarete (* 1889), Heinrich (* 1890)<br />

(?) <strong>und</strong> Otto (* 1896). Anna Pabst, geb. Neumann,<br />

starb am 20. Juni 189655 im Hospital<br />

von Stellenbosch im Kindbett. Heinrich Pabst<br />

heiratete 1899 Caroline Saure (1864–1902)<br />

aus Düsseldorf. 1913 kehrte er nach Deutschland<br />

zurück. Er starb am 21. Juli 1917 im Missionarsheim<br />

in Borken bei Kassel.


Ludwig Heine (1855–1884)<br />

Ludwig Heine [Notiz:] Postbeamter Gemeinschaft<br />

Jünglingsverein<br />

Am 22. März 1855 wurde ich zu Elberfeld<br />

als Sohn der Eheleute Seilermacher Ludwig<br />

Heine <strong>und</strong> Friedericke, geb. Schneider geboren.<br />

Mein Vater wurde bereits am 13. März<br />

1856 aus diesem Leben abgerufen, <strong>und</strong> meine<br />

Mutter verehelichte sich im Jahre 1858 zum<br />

zweiten Male mit dem Spezereiwarenhändler 56<br />

Wilhelm Freyer zu Elberfeld. Von meinem siebenten<br />

Jahre ab besuchte ich die Elementarschule<br />

<strong>und</strong> seit dem zwölften Jahre den Religionsunterricht<br />

bei Herrn Pastor Lichtenstein 57 in<br />

Elberfeld. Da mein Stiefvater auch am 14.<br />

April 1866 gestorben war, <strong>und</strong> meine Mutter<br />

sich <strong>und</strong> ihre Kinder mit Näharbeiten durchbringen<br />

mußte, so wurde es nöthig, daß ich seit<br />

November 1867 als Bureau gehülfe bei Herrn<br />

Adv[okat] Anwalt Neuhaus in Elberfeld Arbeit<br />

<strong>und</strong> Verdienst suchte. Bis zu meiner Confirmation<br />

– am 7. März 1869 – geschah dies<br />

während der Nachmittage, wobei ich Vormittags<br />

noch die Schule besuchte. Bei Herrn Neuhaus<br />

arbeitete ich bis zum Januar 1873. Von da<br />

ab trat ich durch Vermittlung eines Verwandten<br />

in den Dienst der Kaiserl[ichen] Telegraphen-<br />

Station zu Straßburg i[m] Els[ass]. Gelegentlich<br />

der Verschmelzung der Bezirks-Verwaltungen<br />

von Post <strong>und</strong> Telegraphie wurde ich<br />

Anfangs 1876 der Kaiserl[ich] Ober[en] Post.<br />

Direction zu Metz überwiesen. An beiden Orten<br />

fand ich meine Beschäftigung in der Depeschen-Registratur<br />

<strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Revisions-Arbeiten. Meine Stellung in Metz<br />

verließ ich Ende September 1876 <strong>und</strong> trat am<br />

7. des folgenden Monats in die Missions-Vorschule<br />

ein. – In Bezug auf die Militairpflicht<br />

hat die Sache bei mir sich derartig gestaltet,<br />

daß ich nach zweimaliger Zurückstellung im<br />

Früh-Jahr 1877 wegen Hornhautflecken 58 zur<br />

Ersatzreserve II. Klasse 59 geschrieben wurde.<br />

Was die Entwicklung des inneren Lebens<br />

betrifft, so habe ich Folgendes anzugeben:<br />

Schon in die Zeit des Knabenalters fallen einzelne<br />

Eindrücke der Wirkungen des Geistes<br />

Gottes. Indeß im Großen <strong>und</strong> Ganzen ließ die<br />

Erziehung des Elternhauses, der Unterricht <strong>und</strong><br />

die Confirmation kaum etwas Anderes als einen<br />

dem Guten wenigstens durch Vorsätze zugewandten,<br />

aber auch für das Böse empfänglichen<br />

Sinn zurück. Eine tiefer gehende Anregung<br />

fand statt im Herbste 1870 durch eine<br />

Predigt des seligen Herrn Pastor Rinck 60 . Mein<br />

Gewissen regte sich <strong>und</strong> ich trachtete nach der<br />

Gerechtigkeit aus dem Gesetz. Es verliefen<br />

nun drei Jahre des inneren Kampfes. Es stritten<br />

um die Herrschaft einestheils eine peinliche<br />

Genauigkeit im Wandel, oder vielmehr das<br />

Trachten darnach, <strong>und</strong> anderen theils eine völlige<br />

Gleichgültigkeit. Während dieser Zeit war<br />

ich ein unglücklicher Mensch. Meine Uebersiedelung<br />

nach Straßburg geschah mit der<br />

Hoffnung <strong>und</strong> dem Wunsche, daß der Herr<br />

mich Frieden finden lasse. Aber mein Suchen<br />

war noch nicht das Rechte. Erst mußte ich dahin<br />

kommen, mich ohne alles eigene Können<br />

dem Heiland in die Gnadenarme zu werfen.<br />

Endlich konnte ich glauben, daß Jesus auch<br />

mein Heiland sei. Durch Anfechtungen, Zweifel,<br />

Mängel <strong>und</strong> Gebrechen ging der Weg weiter,<br />

aber der Herr half in Gnaden hindurch. Es<br />

wurde mir dabei die Evangelische Gemeinschaft<br />

in Straßburg, der ich mich angeschlossen<br />

hatte, zum Segen. Auch die Jünglings -Vereins<br />

61 - <strong>und</strong> Sonntagsschul-Sache half mir auf<br />

meinem Wege voran. – Durch das Bekanntwerden<br />

mit Missionsfre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> der Sache des<br />

Reiches Gottes unter den Heiden wurde in mir<br />

der Wunsch rege, in den Missionsdienst einzutreten.<br />

Als meine äußeren Verhältnisse es möglich<br />

machten – meine Mutter, die meiner Unterstützung<br />

bedurfte, wurde am 5. März 1876<br />

vom Herrn nach diesem Leben abgerufen –,<br />

meldete ich mich behufs Aufnahme in das Missionshaus<br />

zu Barmen. Gott erhörte mein Gebet,<br />

die Rheinische Missionsgesellschaft erfüllte<br />

meine Bitte <strong>und</strong> ließ mich im Herbste 1876 in<br />

ihre Vorschule ein treten. Seitdem habe ich die<br />

Ausbildung in hiesiger Anstalt genossen. Jahre<br />

der Weiterbildung waren es in reichem Maße<br />

nach Innen <strong>und</strong> Außen. Die Segensströme der<br />

Gnade unseres Gottes, väterliche Liebe seitens<br />

meiner geschätzten Lehrer <strong>und</strong> herz liche Gemeinschaft<br />

im Bruderkreise durfte ich genießen.<br />

Gebe der Herr, daß die Erfahrungen,<br />

die ich hier gemacht, nicht vergeblich sein mö-<br />

47


Ludwig Heine<br />

gen. In der Selbsterkenntnis durfte ich wachsen,<br />

aber auch einen volleren <strong>und</strong> besseren Einblick<br />

in die Schätze des Heils <strong>und</strong> der Gnade<br />

erlangen. Als einen großen Vorzug betrachte<br />

ich es, daß ich in <strong>und</strong> durch das Missionshaus<br />

gehen durfte. – Am 10. August d[ieses] J[ahres]<br />

wurde ich ordinirt <strong>und</strong> einige Zeit darnach<br />

bestimmt, als Missionar nach Borneo zu gehen.<br />

Die letzten Wochen haben noch mancher lei<br />

(betrübende <strong>und</strong> erfreuliche) Erfahrungen gebracht,<br />

doch der Herr war nahe. Ja bei einem<br />

Gesammtblick über mein Leben darf ich sagen:<br />

Der Herr hat mich fre<strong>und</strong>lich geleitet, Ihm sei<br />

Dank <strong>und</strong> Preis! Zum Schlusse befehle ich<br />

mich auch weiter hin der liebevollen Führung<br />

meines Herrn; meine Bitte ist, daß Er mir zu<br />

völligem Glaubensgehorsam helfe <strong>und</strong> die<br />

Gewiß heit schenke, daß meine ferneren Wege<br />

solche sind, die Er mich leitet.<br />

Der Herr ist mein Hirte. 62<br />

Missionshaus Barmen, den 13. Oktober<br />

1881.<br />

48<br />

Ludwig Heine wurde 1881 nach Borneo<br />

ausgesandt <strong>und</strong> war dort zunächst als Missionar<br />

auf der Station Kuala Kapuas tätig. Bereits<br />

während seiner Ausbildung im Barmer Missionshaus<br />

litt er an einem „nicht unbedenklichen<br />

Brustleiden“ 63 , das sich nach einer Operation<br />

jedoch besserte. Heine bestand das Examen<br />

mit Bravour, <strong>und</strong> man entschied sich, ihn trotz<br />

seiner schwachen Ges<strong>und</strong>heit nach Indonesien<br />

zu senden, da „gerade Borneo mit seinem<br />

feuchten warmen Klima für ihn heilsam“ 64 sein<br />

würde. Schon nach kurzem Aufenthalt auf der<br />

Missionsstation kehrte Heines Krankheit (offensichtlich<br />

Tuberkulose) zurück. Nach erfolglosen<br />

Behandlungsversuchen in Bandjermasin<br />

<strong>und</strong> auf Mandomai rieten Ärzte zu einer Luftveränderung.<br />

Anfang 1884 reiste Heine nach<br />

Java, wo er im Seminar von Depok aufgenommen<br />

wurde. Da sich keine Besserung zeigte,<br />

schiffte sich Heine am 29. Mai nach Europa<br />

ein, doch erlitt er am 14. Juni einen schweren<br />

Blutsturz. Ludwig Heine starb am 16. Juni<br />

1884 auf dem Indischen Ozean.<br />

Missionare <strong>und</strong> Missionarsfrauen aus Barmen<br />

Johann Friedrich Becker (1811–1849)<br />

Beckers Lebensgeschichte [es handelt sich<br />

um Johannes Friedrich Becker, der seinen Lebensbericht<br />

auf Auffor derung von Inspektor<br />

von Rohden an diesen aus Borneo schickte,<br />

<strong>und</strong> zwar in Form eines Briefes]<br />

Palingkau, den [Datum nicht mehr erkennbar]<br />

Sehr geschätzter Herr von Rohden! 65<br />

In Ihrem werthen Schreiben vom Monat<br />

Feb[ruar] vorigen Jahres haben [Wort nicht<br />

mehr erkennbar] ersucht, Ihnen unsre Le -<br />

bensbeschrei bung zusenden zu wollen, – <strong>und</strong><br />

damit wir auf keine Einwen dungen <strong>und</strong> Ausflüchte<br />

sinnen möchten, sind Sie selbst uns in<br />

dieser Sache mit gutem Beispiel vorangegangen.<br />

Ich will mich denn auch gerne bereit zeigen,<br />

Ihren Wunsch zu erfüllen <strong>und</strong> Ihnen hier<br />

einige Bemerkungen über mein armes (um<br />

nicht mit Herder zu sagen: verfehltes) Leben


mitzutheilen. Nehme ich hiebei Ihre eigene Lebensbeschrei<br />

bung, die, wie ansprechend, <strong>und</strong>,<br />

das fühlt man, der Wahr heit gemäß auch, nur<br />

eine Quartseite beschlägt: so bin ich schnell<br />

mit dieser Arbeit fertig, was mir um so lieber<br />

ist, da ein längeres Stehenbleiben bei einigen<br />

einzelnen Ereignissen meines Lebens mein Inneres<br />

in keine geringen Bewegung <strong>und</strong> Wallung<br />

bringen <strong>und</strong> mir auch manche schöne<br />

St<strong>und</strong>e Zeit rauben möchte. Mit dem Anfange<br />

also fange ich an.<br />

Wurde geboren auf dem Loh in der Nähe<br />

des jetzigen Rh[einischen] Missionshauses, im<br />

Jahr 1811 den 4. April. Mein Vater, ein Bleicher,<br />

hieß wie sein ältester Sohn, J[ohann]<br />

F[riedrich] Becker (oder eigentlich Bäcker),<br />

<strong>und</strong> meine fromme Mutter, mit ihrem Jungfrauennamen,<br />

Maria von Hemd[?]. Auf dem<br />

Loh wohnten meine Eltern nur kurze Zeit; ich<br />

war noch kein Jahr alt, so verzogen sie nach<br />

Riescheidt, einem kleinen Weiler eine halbe<br />

St<strong>und</strong>e seitwärts von Gemarke; hier aber blieben<br />

wir wohnen, bis zum Tode meines Vaters,<br />

welcher erfolgte im Jahre 1826. Meine Mutter<br />

war schon 9 Jahre früher in die Ewigkeit abgerufen<br />

worden, was für meinen Vater mit seinen<br />

3 kleinen Kindern ein herber Verlust war. Ihr<br />

Ende soll sehr erbaulich gewesen sein, wie ich<br />

mich auch selbst noch ziemlich deutlich zu erinnern<br />

weiß. Bis zu ihrem letzten Athemzuge<br />

behielt sie ihren vollen Verstand, sprach, so<br />

laut sie konnte, von dem Vorgeschmack der Seligkeit,<br />

die sie bereits, wie sie erklärte, im Angesicht<br />

des Todes empfinde, <strong>und</strong> als sie endlich<br />

scheiden wollte: so ermahnte sie alle Umstehenden,<br />

nicht über sie zu weinen, sondern sich<br />

vielmehr mit ihr zu freuen, denn sie sehe schon<br />

die Engel Gottes in der Ecke des Zimmers bereitstehen,<br />

sie abzuholen zu ihrem Heilande.<br />

Ihr Sterben machte einen tiefen Eindruck auf<br />

mich, <strong>und</strong> dieser Eindruck wurde nie ganz wieder<br />

aus meinem Gemüthe verwischt. Wenn ich<br />

später oft als Knabe draußen im Felde einsam<br />

umherging: so erhoben sich meine Augen unwillkührlich<br />

gen Himmel, während ich dabei in<br />

meinem Herzen [Wort nicht mehr erkennbar]<br />

<strong>und</strong> sprach: Dort oben ist meine liebe selige<br />

Mutter, möchte ich doch bei ihr sein, <strong>und</strong> Thränen<br />

der Wehmuth <strong>und</strong> Sehnsucht rollten in<br />

demselben Augenblicke über meine Wangen. –<br />

Acht Jahre lang hielt mich mein Vater strenge<br />

zur Schule; doch brachte ich es in den gewöhnlichen<br />

Elementarkenntnissen nur zu einer mittelmäßigen<br />

Fertigkeit. Mit dem Französischen<br />

hatte ich kaum den Anfang gemacht, als mein<br />

Vater, nach einer 5tägigen Krankheit, plötzlich<br />

zu sterben kam. Sein Plan, mich studiren zu<br />

lassen, konnte jetzt nicht in Aus führung gebracht<br />

werden, was mir damals auch wenig<br />

Kummer verursachte, da meine Lust zum Studiren<br />

sehr geringe war. Bei meiner Confirmation,<br />

die noch kurz vor dem Tode meines Vaters<br />

Statt fand, wurde ich durch die herzlichen<br />

Ermah nungen des theuern Pastor Dr. Gräber 66<br />

tief ergriffen, <strong>und</strong> ich faßte unter vielen Thränen<br />

den ernsten Vorsatz, mich ganz dem Herrn<br />

ergeben <strong>und</strong> in Zeit <strong>und</strong> Ewigkeit sein Eigen -<br />

thum sein zu wollen. Doch lange währte diese<br />

ernste Stim mung nicht; jugendlicher Leichtsinn<br />

bekam bald wieder die Oberhand bei mir,<br />

<strong>und</strong> riß mich zu allerlei Thorheiten <strong>und</strong> Sünden<br />

fort, – <strong>und</strong> als ich ein halbes Jahr später nach<br />

Elberfeld zu einem Riethmacher, Friedrichs, in<br />

die Lehre kam, in dessen Hause nicht die geringste<br />

Gottesfurcht herrschte: so kam ich mit<br />

schnellen Schritten immer weiter <strong>und</strong> weiter ab<br />

vom rechten Ziel, <strong>und</strong> machte mir zuletzt gar<br />

meine eigenen Gr<strong>und</strong>sätze, nach denen ich leben<br />

<strong>und</strong> handeln wollte; oder bekannte mich<br />

vielmehr entschieden zu den all gemeinen<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen der Welt, indem ich bei mir selbst<br />

dachte, die große Mehrzahl muß es doch wohl<br />

am besten wissen, mit ihr will ich es halten,<br />

<strong>und</strong> mir nicht durch die Paar frommen Kopfhänger<br />

das Konzept verrücken lassen In dieser<br />

Gesinnung verlebte ich zwei volle Jahre; dann<br />

aber hieß es: „Bis hieher <strong>und</strong> nicht weiter.“<br />

Eine Predigt von Pastor Niethmann über den<br />

verlorenen Sohn brachte mich zur Be sinnung,<br />

<strong>und</strong> obschon es bei mir noch nicht gleich zu einer<br />

gründlichen Bekehrung kam: so hatte ich<br />

doch keinen Gefallen mehr an meinem bisherigen<br />

Leben, nahm oft im Gebete meine Zuflucht<br />

zu Gott, bekannte meine Sünden, <strong>und</strong> suchte<br />

Gnade. Auch ging ich von da an fleißig zur<br />

Kirche, schloß mich später an den Jünglingsverein<br />

67 an <strong>und</strong> besuchte die Versamm lung des<br />

sel[igen] Vater Diederich, auf welche Weise<br />

49


ich dann mehr <strong>und</strong> mehr mit den christlichen<br />

Wahrheiten bekannt <strong>und</strong> darin befestiget<br />

wurde. In dieser Zeit entstand auch das Verlangen<br />

in mir, Missionar zu werden, um den Heiden<br />

das Evangelium bringen zu können. Mein<br />

Umgang mit einigen der damaligen Missions-<br />

Zöglinge, namentlich Wachtendonk 68 <strong>und</strong> Terlinden<br />

69 , bestärkte dies Verlangen, <strong>und</strong> als ich<br />

nun eines Tages nach Gemarke kam: so wagte<br />

ich es, nach vorhergegangenem langen <strong>und</strong><br />

heftigen Streite mit mir selbst, Pastor Gräber<br />

zu besuchen, <strong>und</strong> ihm mein Inneres auszuschütten.<br />

Damit war ein Stein von meinem<br />

Herzen gefallen, <strong>und</strong> ich unterzog mich gerne<br />

der anempfohlenen Selbstprüfung. Bald darauf<br />

verließ ich das Riethmachergeschäft, <strong>und</strong> begab<br />

mich zu [?] Schul lehrer Mühlenweg auf<br />

dem Hatzfelde, um mich hier auf den Missionsberuf,<br />

oder auch, im Fall ich bei der bevorstehenden<br />

Aufnahme von Zöglingen fürs Missionshaus<br />

sollte abgewiesen werden, auf den<br />

Schuldienst vorzubereiten. Nachdem ich mehrere<br />

Monate bei [?] Mühl[enweg] zugebracht,<br />

wurde ich von [?] Wülfing zu Gemarke ersucht,<br />

als Lehrer-Gehülfe bei ihm einzutreten<br />

<strong>und</strong> seine dritte Klasse zu übernehmen, welches<br />

Anerbieten ich ohne Weiteres annahm. Es<br />

währte jetzt etwa noch ein starkes halbes Jahr,<br />

als die erwähnte Aufnahme von Miss[ions]-<br />

Zöglingen Statt fand, <strong>und</strong> ich war nicht wenig<br />

erstaunt, erfreut <strong>und</strong> beängstiget zugleich, als<br />

ich an einem Nachmittage in der Schule die<br />

Nachricht erhielt, daß ich mit unter der Zahl<br />

der Aufgenommenen sei. Im Juny 1831 traten<br />

wir, unsrer sechs, zur Diekerstraße ins Seminar<br />

ein, <strong>und</strong> mein Aufenthalt in demselben währte<br />

5 Jahre, bis zur Aussendung im Monate Mai<br />

1836. Dem Äußern nach gingen diese 5 Jahre<br />

ziemlich ruhig <strong>und</strong> angenehm für mich dahin,<br />

im Inneren aber hatte ich manchen harten<br />

Kampf zu bestehen, wozu meine besondere,<br />

resp[ektive] reformirte 70 Ansichten von einigen<br />

Glaubenspunkten, die ofte ritterlich angegriffen<br />

wurden, viel mochten bei tragen, <strong>und</strong> ich<br />

darf wohl bekennen, daß ich einige Male auf<br />

dem Punkte stand, das Seminar zu verlassen.<br />

Das hatte der Herr nun zwar anders beschlossen;<br />

nachdem ich volle 5 Jahre also in der Esse<br />

gewesen, erging der Ruf an mich <strong>und</strong> zugleich<br />

50<br />

an zwei meiner Gefährten: Vaterland <strong>und</strong><br />

Fre<strong>und</strong>schaft zu verlassen, <strong>und</strong> hinauszugehen<br />

an die Enden der Erde, den Namen des Herrn<br />

zu predigen. Damit war nun zwar aller Anfechtung<br />

<strong>und</strong> Noth noch keine Grenze gesetzt, im<br />

Gegentheil ging es jetzt erst recht aus einer<br />

Esse in die andere, die eine noch heißer als die<br />

andere, <strong>und</strong> Gott gebe nur, daß nicht etwa die<br />

heißeste mir noch bevor stehe. Kaum waren wir<br />

der heimathlichen Erde entflohen, <strong>und</strong> eilten<br />

mit vollen Segeln unserem Bestimmungsorte<br />

ent gegen, so stellten plötzlich neue Hindernisse<br />

sich in den Weg; der Wind der uns die ersten<br />

Tage so schnell von dannen geführt,<br />

sprang unerwartet nach der entgegen gesetzten<br />

Himmelsgegend, <strong>und</strong> warf uns 14 Tage lang im<br />

Engl[ischen] Kanal 71 von einer Seite auf die<br />

andere, <strong>und</strong> eines Morgens fehlte sogar nicht<br />

viel: so hätten wir schon an der Franz[ösischen]<br />

Küste unser Schiff <strong>und</strong> somit vielleicht<br />

auch unser Leben verloren. Aber wie im<br />

Äußern die Elemente sich gegen uns verschworen<br />

zu haben schienen, <strong>und</strong> uns in kein<br />

klein Gedränge brachten, so hieß es auch in<br />

meinem Innern: Wind, Regen stürmen auf<br />

mich zu, mein matter Geist find’ nirgends<br />

Ruh’.“ Wäre ich in diesen trüben Tagen, wo die<br />

miserabele Seekrankheit mich ganz melancholisch,<br />

miß muthig, ja lebenssatt gemacht, ans<br />

Land gekommen: so fürchte ich, hätte ich mit<br />

Moses ausgerufen: ,,Herr, sende, wen du<br />

willst.“ 72 Doch dieß Alles war nur erst ein kleines<br />

Vorspiel; das eigentliche Examen nahm<br />

beim Cap der guten Hoffnung seinen Anfang,<br />

<strong>und</strong> währte, mit wenigen Unterbrechungen, einen<br />

ganzen langen Monat. 13 Reisen, sagte unser<br />

Kapitän, habe er nach Indien gemacht, aber<br />

noch keine wie diese. Mehrere Male erging es<br />

uns buch stäblich nach den Worten Pauli: ,,Und<br />

ließen das Gefäß (die Segel) herunter, <strong>und</strong><br />

schwebten also.“ 73 Da taumelten wir, wie die<br />

Trunkenen; konnten weder liegen, sitzen noch<br />

stehen, ohne uns aus aller Macht fest zu halten,<br />

<strong>und</strong> mitunter, wenn unsre krachende Wohnung<br />

völlig auf der Seite lag, <strong>und</strong> die mächtigen Wogen<br />

brausend über uns hinrollten: so wollte es<br />

nicht wenig den Anschein für uns gewinnen,<br />

als wollte der Abgr<strong>und</strong> uns lebendig verschlingen.<br />

Aber auch diese Noth ging glücklich vor -


über, <strong>und</strong> wir landeten den 19. Sept[ember]<br />

1836 wohlbehalten zu Batavia. 74 -<br />

Seitdem sind nun wieder 11 oder beinah 12<br />

Jahre dahin geschw<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> wollte ich Ihnen<br />

all mein Wiederfahren in diesem Zeitraume<br />

umständlich beschreiben: so fürchte ich,<br />

würde, wenn auch nicht grade Ihr Archiv mit<br />

lesens werthen Folianten angefüllt, so doch<br />

eine kleine Zahl meiner noch etwa rückständigen<br />

Lebenstage mit lästiger <strong>und</strong> wohl auch<br />

unnützer Arbeit beladen werden. Meine eingesandten<br />

Tagebuch-Auszüge <strong>und</strong> Briefe enthalten<br />

jedoch auch schon das Hauptsäch lichste<br />

meiner bisherigen Erfahrungen, <strong>und</strong> haben sich<br />

auch, wie Sie mit Recht voraussetzen, meine<br />

Ansichten über das Eine <strong>und</strong> Andere im Laufe<br />

der Zeit verändert: so muß ich dabei doch zugleich<br />

bekennen, daß ich im Allgemeinen bei<br />

ähnlichen Vorkommenheiten, wie die verlebten,<br />

nicht wohl wüßte, wie anders zu urtheilen<br />

<strong>und</strong> zu handelen, gleich geschehen. Ich bin<br />

mir, was meine Wirksamkeit anbetrifft, im<br />

Ganzen bewußt, daß ich alles, was ich gethan,<br />

im Aufsehen auf den Herrn <strong>und</strong> in guter, d[as]<br />

h[eißt] wohlgemeinten Absicht gethan habe;<br />

daß aber dabei dennoch Manches verkehrt war<br />

<strong>und</strong> verkehrt abgelaufen ist, sehe ich von hinten<br />

nach nur zu deutlich ein. Dessen ungeachtet<br />

hat der barmherzige Gott sich in Gnaden zu<br />

mir bekannt, mir in aller Angst <strong>und</strong> Noth treu<br />

zur Seite gestanden <strong>und</strong> mich auch da, wo,<br />

wenn nicht immer mein eigener, so doch meiner<br />

Wirksamkeit Untergang fest beschlossen<br />

zu sein schien, seine Hülfe mächtiglich lassen<br />

erfahren. Übrigens glaube ich auch, was meine<br />

Person anbe trifft, nicht grade anmaßend zu<br />

handelen, wenn ich einige von Pauli Worten zu<br />

den meinigen mache, <strong>und</strong> spreche: „Ich bin oft<br />

in Gefahr gewesen auf den Flüssen, in Gefahr<br />

unter den Mördern, in Gefahr in den Städten, in<br />

Gefahr in der Wüste, in Gefahr auf dem<br />

Meere.“ 75 Aber noch immer stehe ich wenn<br />

auch als halber Invalide, auf dem Plane, trete,<br />

gestützt auf Gottes Verheißungen, aller Gefahr<br />

<strong>und</strong> allen meinen [Wort nicht mehr erkennbar]<br />

Tücken getrost unter die Augen, <strong>und</strong> bleibe,<br />

trotz aller noch immer hier häufig [?Statt finden]den<br />

heidnischen Greuel, trotz alles abgeschmackten<br />

Aberglaubens, <strong>und</strong> trotz aller<br />

[Wort nicht mehr erkennbar], Teufel <strong>und</strong><br />

schändlichen, lüderlichen [?], die schlimmsten<br />

aller unserer sichtbaren [Wort nicht mehr erkennbar],<br />

der guten Zuver sicht, daß die Hand<br />

des Herrn endlich herrlich siegen, <strong>und</strong> Er auch<br />

dies tief gesunkene Volk der Dajacken 76 , sich<br />

zum Raube nehmen wird. Noch vor einigen Tagen<br />

erklärte mir ein Dajacke aus unserm Kamponge<br />

77 , daß es mit ihren Festen <strong>und</strong> ihren Sitten<br />

<strong>und</strong> Gebräuchen bald würde geschehen<br />

sein; denn unsre Schüler (<strong>und</strong> deren Anzahl beträgt<br />

gegenwärtig gegen 350) würden später<br />

von all diesen Sachen nichts mehr wissen<br />

wollen; ein Beispiel, fügte er hinzu, sei<br />

Nik[olaus?] Tomogong; Niemand auf ganz<br />

Poe lo petak habe früher so viele [Wort nicht<br />

mehr erkennbar] geopfert <strong>und</strong> so viele Feste<br />

gemacht, wie gerade er, <strong>und</strong> nun, nachdem er<br />

unterrichtet <strong>und</strong> getauft sei, habe dieses Alles<br />

ein Ende.<br />

Erlauben Sie mir, hier für dießmal abzubrechen.<br />

Sollten Sie <strong>und</strong> die geehrte Deputation[?]<br />

nach Empfang dieser Zeilen, noch immer der<br />

Ansicht bleiben, daß ich einen ausführlichen<br />

[Wort nicht mehr erkennbar] über meinen Auffenthalt<br />

in Indien ausfertigen möge: so will ich,<br />

wenn die neuen [Wort nicht mehr erkennbar]<br />

hier sind, <strong>und</strong> ich mehr Zeit bekomme, zusehen,<br />

was ich thun kann. Viel [?] [Wort nicht<br />

mehr erkennbar] wäre es mir, Sie machten dort<br />

nach den eingegangenen Briefen <strong>und</strong> Tagebüchern<br />

[Wort nicht mehr erkennbar] auch<br />

noch mit aus dem Gr<strong>und</strong>e, weil mir das Schreiben<br />

gar nicht schnell von [der Hand?] geht. Lesen<br />

wir auch, wenigstens in der letzten Zeit, wo<br />

uns Kirchenzeitung [?<strong>und</strong> son]stige Schriften,<br />

dieß sei hier dankbar aner kannt, reichlich aus<br />

dem Vaterlande gesandt werden, wieder Manches<br />

in deutscher Sprache: so bleibt doch immer<br />

unsre [Spra?]che das Dajacksche. Deutsch<br />

Sprechen kommt in unserem Hause nur dann<br />

vor [im?] [Wort nicht mehr erkennbar] kreise<br />

holländisch, wenn grade Einer der Brüder auf<br />

einige St<strong>und</strong>en zu [Besuch da?] ist. -Erfreuen<br />

Sie uns oft durch solche ausführ liche Briefe,<br />

<strong>und</strong> wollen [Wort nicht mehr erkennbar] außerdem<br />

noch (wie Sie in Ihrem Briefe zu erkennen<br />

geben) durch Ausrich[tung von Bei?] trägen<br />

Ihnen verpflichten: so bitte ich Sie vor läufig<br />

51


Johann Friedrich Becker<br />

um eine gute Klavier[schule?] [Wort nicht<br />

mehr erkennbar] älteste Tochter Elise. Ist eine<br />

bessere <strong>und</strong> ausführlichere als die [vorige?]<br />

[her]ausgekommen, dann diese neuere.<br />

Empfangen Sie hiebei nebst Ihren mir zwar<br />

unbekannten, ver ehrten [Gattin?] [die?] herzlichsten<br />

Grüße<br />

Ihres geringen Fre<strong>und</strong>es J[ohann] F[ried -<br />

rich] Becker.<br />

Johann Friedrich Becker wurde 1836 nach<br />

Borneo ausgesandt <strong>und</strong> war bis 1840 in Bandjermasin<br />

als Missionar stationiert. Von 1840–<br />

49 war er Missionar auf der Station Palingkau.<br />

Gemeinsam mit Missionar August Hardeland<br />

(1814–1891) verfaßte er ein dajakisches Lesebuch<br />

<strong>und</strong> übersetzte das Neue Testament. 78 Bei<br />

seinen Bemühungen um die Missionierung der<br />

Dajaken griff Becker auf die Hilfe der holländischen<br />

Kolonialmacht zurück. So wurde ein<br />

missionsfeindlicher Häuptling abgesetzt <strong>und</strong><br />

der gesetzliche Sonntag eingeführt. 79 Becker<br />

war seit dem 13. November 1839 mit Maria<br />

52<br />

Brückner (Lebensdaten unbekannt) aus Samarang<br />

verheiratet. Das Paar hatte sieben Kinder,<br />

von denen vier das Säuglingsalter überlebten:<br />

Maria Elisabeth (1841–1849), Anna (*<br />

1843, verheiratet mit Carl v. Hoefen 80 ), Fritz (*<br />

1847) <strong>und</strong> Cornelius (* 1848). Becker starb am<br />

27. September 1849 in Bandjermasin. 81 Im<br />

Nachruf wurde er als „unser tüchtigster Arbeiter<br />

im Pulopetak auf Borneo“ bezeichnet. 82<br />

Henriette Beinecke, geb. Kannegießer<br />

(1818–1880)<br />

Henriette Kannegießer [verheiratet mit<br />

Friedrich Wilhelm Beinecke]<br />

Den 3 Januar 1818 wurde ich in Wupperfeld<br />

geboren das Geschäft meines Vaters war<br />

Mackler; er starb den 15 Nov[ember] 1832,<br />

hinterließ 9 Kinder, wovon 5 noch nicht confirmirt<br />

waren, da nun kein Vermögen vorhanden<br />

war, so nahm mein ältester Bruder uns zu sich<br />

der treulich an uns die älterliche Pflichten erwies.<br />

Meine Mutter starb den 25 Jan[uar] 1837.<br />

Confirmirt wurde ich von Herrn Pastor Heuser<br />

83 den 25 Ockt[ober] 1833 in Wupperfeld<br />

Kurz nach der Confirmation kam ich im Spezerei-Geschäft<br />

84 <strong>und</strong> Haushaltung. Nacheinige<br />

Jahre kam ich auf eine kurze Zeit zu meiner<br />

Schwester, in Elberfeld, wo ich eines Sonntags-Abends<br />

den Herrn Pastor Sander 85 pre -<br />

digen hörte über das Eine, was noth thut, wo -<br />

rinn er unter andern bemerkte, daß es nicht<br />

möglich sei ohne die neue Geburt ins Reich<br />

Gottes zu kommen. Er ließ das Lied singen:<br />

Eins ist noth ach Herr dies eine 86 u.s.w. Diese<br />

Predigt bewegte mich so, daß ich unter Thränen<br />

nach Hause ging; In dieser Bewegung <strong>und</strong><br />

Unruh meines Herzens wandte ich mich zu<br />

dem Heilande, wo Herr Pastor mir hin wies. Da<br />

nun mein sündlich <strong>und</strong> verdorbenes Herz mir<br />

immer mehr auf gedeckt wurde, so hatte ich am<br />

Geschäft keine Freude mehr, sondern suchte<br />

die Stille, was mir der Herr dann auch bald gewährte,<br />

indem ich aufgfefodert wurde eine<br />

Haushaltung zu übernehmen in der ich 2 Jahr<br />

thätig war; in dieser Zeit hörte ich den Herrn<br />

Pastor Sander predigen über den Text: Wenn<br />

meine Sünden gleich blutroth sollen sie doch


Schneeweiß werden 87 p p Diese Predigt vermehrte<br />

die Unruh meines Herzens so, daß ich<br />

weder Tag noch Nacht ruhe fand; in dieser Unruh<br />

meines Herzens konnt ich nur mit Jakob<br />

die Worte ausrufen Herr! ich lasse dich nicht<br />

du segnest mich denn! 88 In dieser Noth <strong>und</strong><br />

Verlegenheit ließ mich nun auch der treue Heiland<br />

nicht lange mehr stecken; sondern er<br />

wandte sein fre<strong>und</strong>lich Angesicht zu mir, unter<br />

den Worten Sei getrost mein Kind deine Sünden<br />

sind dir vergeben. 89 In dieser Freudigkeit<br />

meines Herzens mußte ich öft die Worte ausrufen:<br />

Wenn sie Jesu Liebe wüßten alle Menschen<br />

würden Christen p p Diese Sehnsucht<br />

auch andern die Liebe des Heilandes mitzutheilen<br />

wurde in mir so groß, daß mir mein Innerstes<br />

drängte, dem Herrn zu bitten, wenn er<br />

es nach seiner Weißheit zu lassen könne, mir<br />

doch in einen solchen Beruf zu setzen, worinnen<br />

ich nur für ihn wirken könne, auch diese<br />

Bitte erhörte der Herr, indem er mir den Weg<br />

bahnte, eine Kleinkinderschule zu beginnen,<br />

dieser Wirkungskreis aber brachte mein Herz<br />

nicht zur völligen Ruhe; sondern die Sehnsucht<br />

zu den armen Heiden wurde immer aerger in<br />

mir. Ich mußte mich aber mit den Worten zufriden<br />

geben: Was ich jetzt thue das siehest du,<br />

waß ich aber hernach thue wirst du erfahren. 90<br />

Mit diesen Worten wirkte ich nu ruhig in meinem<br />

Berufe fort, mit der gewissen Zuversicht,<br />

wenn der Herr mir zu etwas Anderem gebrauchen<br />

wolle dann auch Wege bahnen würde; In<br />

diesem Vertrauen hat mich der Herr auch nicht<br />

zu schanden werden lassen, sondern er hat den<br />

Weg gebahnt, indem er mir den Missionar Beineke<br />

zu führte, der mich aufforderte mit ihm<br />

unter den armen Heiden zu wirken so lange es<br />

des Herrn Wille sei. Mit dieser gewissen Hoffnung,<br />

zu dem lebendigen Gott, der allein alle<br />

Thoren <strong>und</strong> Thüren zu seiner Zeit öfnen kann<br />

<strong>und</strong> will, wodurch wir gehen sollen, habe ich<br />

bis hieher geduldig warten können, <strong>und</strong> warte<br />

so lange bis derselbe sagt: Stehe auf, du hast einen<br />

großen Weg vor dir. 91 Wohl weiß ich es,<br />

aber noch mehr werde ich es erfahren, das der<br />

Weg nicht leicht sein wird; sondern ich bin gewiß,<br />

daß es nicht selten Tage geben wird, von<br />

denen ich sagen möchte sie gefallen mir nicht;<br />

aber im Hinblick auf den Herrn, wage ich mich<br />

getrost mit dem Petrus auf dem Meere92 , <strong>und</strong><br />

mit dem Beistande des dreieinigen Gottes gehe<br />

ich freudig alle Gefahren entgegen die meiner<br />

dort warten. Mein einziges Begehren, <strong>und</strong><br />

meine dringende Bitte ist nun daß dieser Weg<br />

nicht anders, als zu meiner <strong>und</strong> andern seelen<br />

Seeligkeit gereichen möge. Mit meiner Kraft<br />

<strong>und</strong> mit meinem Wissen würde ich freilich<br />

nicht weit kommen, aber die freudige Erfahrung<br />

habe ich machen dürfen, daß der Herr es<br />

den Aufrichtigen gewiß gelingen läßt, <strong>und</strong><br />

auch allezeit Weisheit <strong>und</strong> Verstand schenkt,<br />

wenn es uns nöthig ist. Der wolle mir nur die<br />

Freudigkeit erhalten, <strong>und</strong> das Volbringen mir<br />

schenken nach seiner großen Barmherzigkeit.<br />

Mit diesem innigen Wunsche, <strong>und</strong> herzlichen<br />

Gebete zu dem Herrn der allein helfen kann,<br />

helfen muß <strong>und</strong> helfen will, legt nu getrost die<br />

Feder nieder. –<br />

Henriette Kannegießer<br />

July 1848<br />

Henriette Kannegießer heiratete am 13.<br />

Februar 1849 den ehemaligen Kellner <strong>und</strong><br />

Krankenwärter Friedrich Wilhelm Beinecke<br />

(1813– 1877) aus Höntrup/Lippe. Beinecke<br />

war 1844 zuerst als Lehrer in die Kapregion<br />

gesandt worden, erst 1846 wurde er in den Verband<br />

der Gesellschaft aufgenommen. Beinecke<br />

war von 1845–58 in Amandelboom als Lehrer<br />

<strong>und</strong> Missionsgehilfe von Missionar Lutz93 tätig.<br />

Erst 1858 wurde er ordiniert <strong>und</strong> zum Leiter<br />

der Station Ebenezer berufen. Das Ehepaar<br />

hatte sechs Kinder, von denen nur vier ein<br />

höheres Alter erreichten: Maria (* 1850, verheiratet<br />

am Kap), Friedrich (* 1851), Wilhelm<br />

(* 1853) <strong>und</strong> Luise (* 1855). Beinecke verstarb<br />

unerwartet am 3. Februar 1877. Seine Frau<br />

Henriette starb drei Jahre später, am 9. Oktober<br />

1880, in Ebenezer.<br />

Emma Hofmeister, geb. Rau (1828–1859)<br />

Einige kurze Züge aus meinem Leben<br />

Emma Rau wurde geboren den 7. März<br />

1828. Mein Vater Georg Jacob Rau, u[nd]<br />

meine Mutter, Johanne Jacobine geb. Osterwind,<br />

ließen mich einen guten Unterricht ge-<br />

53


nießen. – Von meinem Leben ist nicht viel zu<br />

sagen, als das Eine große Wort: ,,Er hat mich<br />

zu sich gezogen aus lauter Güte-“ 94 ,,Er hat<br />

mich gesucht u[nd] gef<strong>und</strong>en.“ Schon in meiner<br />

Kindheit ging diese suchende Liebe des<br />

Herrn mir nach; ich hörte auch oft seine<br />

Stimme, plagte mich aber immer, wie ich doch<br />

recht fromm, ja ohne Sünde werden wolle, betete<br />

auch oft recht ernstlich, daß der Herr Jesus<br />

mich doch ja selig machen wolle. Die letzten<br />

Jahre vor meiner Confirmation ging ich wieder<br />

recht leichtsinnig u[nd] in die Welt verstrickt<br />

dahin. Der 23te April 1843 war m[ein] Confirmationstag.<br />

Den Vor bereitungs-Unterricht er -<br />

theilte d[er] sel[ige] Herr P[astor] Balke 95 . Der<br />

treue Herr faßte mich durch denselben wieder<br />

recht mächtig an, u[nd] jene Zeit war mir eine<br />

reich gesegnete. Der Herr führte mich nun von<br />

einer Klarheit zur andern, ließ mich einen<br />

Blick nach dem andern in d[as] tiefe Elend, in<br />

d[as] gänzliche Verderben meines Herzens<br />

thun, ließ mich aber auch zugleich erkennen<br />

ihn als meinen einigen Heiland u[nd] Erlöser,<br />

so daß ich immer mehr lernte: Aus Noth u[nd]<br />

Liebe zu ihm zu blicken. Oft, gar oft ist m[ein]<br />

Herz abgewichen von s[ei]n[en] Wegen, ist<br />

kalt u[nd] lau geworden gegen ihn – aber Er hat<br />

mich nicht gelassen, mich immer auf’s Neue<br />

wieder gesucht u[nd] mich keine Ruhe finden<br />

lassen als an s[ei]n[em] Herzen. Den 13ten<br />

Juni 1846 – 14ten Juni 1847 weilte ich in Wesel.<br />

Der Aufenthalt daselbst in einem dem<br />

Ev[angelium] feindlich gesinnten Hause diente<br />

viel zu meiner Befestigung u[nd] reichlich erfuhr<br />

ich d[ie] Güte meines Herrn. Im Frühjahr<br />

1848 folgte ich einem Rufe an d[as] Waisenhaus<br />

in Coblenz. Mit einem unaussprechlich<br />

frohen Herzen zog ich hin, d[en] Herrn preisend,<br />

daß er mir ein Plätzchen in s[eine]m<br />

Weinberge gegeben. Meine Zeit theilte ich<br />

theils in die Pflege u[nd] Beaufsichtigung d[er]<br />

Kinder, theils in d[ie] Besorgung d[es] Hauswesens;<br />

auch leitete ich eine Arbeitsschule.<br />

Ende Oct[o]b[e]r 1849 kehrte ich wieder hierher<br />

zurück, um meinen 1[ieben] Eltern eine<br />

Stütze zu sein, die d[er] Herr jetzt willig gemacht<br />

hat, mich in d[as] Arbeits feld d[er] Mission<br />

ziehen zu lassen. Ihm sei Dank dafür! Ein<br />

lang gehegter heißer Wunsch, den ich schon<br />

54<br />

Emma Hofmeister<br />

d[em] lieben sel[igen] Balke mitgetheilt hätte,<br />

wenn es nicht bei mir geheißen: Du taugst nicht<br />

zur Missionarin, wird damit erfüllt. Der Herr<br />

hat jetzt selbst Bahn gebrochen. Der 21 Juli 51<br />

ist d[er] Tag meiner Verlobung mit E[duard]<br />

Hofmeister, rh[einischer] Missionar u[nd]<br />

d[er] 17. Aug[ust] der Tag meiner Verheirathung<br />

mit demselben. Ich sehe es an als d[ie]<br />

herrlichste Offenbarung Gottes in meinem unscheinbaren<br />

Leben, daß er mich d[er] hohen<br />

Gnade würdigt, meine schwachen Kräfte ihm<br />

im Dienst d[er] Mission weihen zu dürfen,<br />

u[nd] hoffe, er werde mich auch fernerhin leiten<br />

nach s[eine]s Namens Wohlgefallen u[nd]<br />

helfen, daß ich ihm treu bleibe bis an d[as]<br />

Ende meiner Tage.<br />

Emma Hofmeister geb. Rau<br />

Barmen, d. 19 Aug. 1851<br />

Am Tage meiner Abreise nach Borneo<br />

Emma Rau heiratete am 17. August 1851<br />

den ehemaligen Seminaristen Ernst Eduard<br />

Hofmeister (1822–1859) aus Altenroda, der


von 1852–59 in Borneo als Missionar tätig<br />

war, zuerst in Bandjermasin <strong>und</strong> ab 1854 in<br />

Penda Alei am Kajahan-Fluß. Die dortige Station<br />

war 1845 wegen des Widerstandes eines<br />

lokalen Herrschers aufgegeben worden,<br />

konnte durch Hofmeister jedoch neu gegründet<br />

werden. Das Ehepaar hatte vier Kinder: Johanne<br />

(* 1852), Christian (* 1853), Ernst (*<br />

1857) <strong>und</strong> Maria (* 1859). Als es 1859 zu einem<br />

gewaltsamen Thronfolgestreit unter der<br />

Bevölkerung des Sultanats kam – die holländische<br />

Kolonialmacht hatte einen bestimmten<br />

Herrscher favorisiert – richtete sich der Zorn<br />

der Gegenpartei auch gegen die europäischen<br />

Missionare. Anfang Mai wurden drei Missionare<br />

in Tanggohan niedergemetzelt, Frauen<br />

<strong>und</strong> Kinder ebenfalls ermordet oder in die Gefangenschaft<br />

verschleppt 96 . Ernst Eduard Hofmeister<br />

<strong>und</strong> seine Frau Emma wurden am 9.<br />

Mai 1859 in Penda Alei ermordet 97 . Die vier<br />

Kinder wurden verschleppt, schließlich nach<br />

Bandjermasin ausgeliefert, wo sie von Fre<strong>und</strong>en<br />

aufgenommen wurden. „Und nun sind sie<br />

in Barmen unter guten Händen in einem bessern<br />

Vaterland.“ 98<br />

Friedrich Wilhelm Weber (1830–1904)<br />

Friedr[ich] Wilh[elm] Weber<br />

[Notiz:] Jünglingsverein Schmied u[nd]<br />

Magazinverwalter<br />

In Jesu Namen – Amen!<br />

Ich wurde am 11 Sept[em]b[e]r 1830 in<br />

Wichlinghausen geboren u[nd] am 4.<br />

Oct[o]b[e]r durch Herrn Pastor Sander 99 getauft.<br />

Mein Vater ist ein Bandwirker <strong>und</strong> heißt<br />

Johann Friedrich u[nd] meine Mutter heißt<br />

Christiane geb. Bockmühl. Beide Eltern hat<br />

mir der Herr bis jetzt ges<strong>und</strong> erhalten, wofür<br />

Sein Name gelobet sei. Nachdem ich das 4te<br />

Lebensjahr erreicht hatte, zogen meine Eltern<br />

u[nd] ich nach Warendorf b[ei] Münster, woselbst<br />

mein Vater als Werkführer in einer Bandfabrik<br />

engagirt wurde. Der Aufenthalt in Warendorf<br />

sollte jedoch nicht von langer Dauer<br />

sein, indem der Kaufmann, bei dem mein Vater<br />

war, fallirte <strong>und</strong> da sonst keine passende Arbeit<br />

für meinen Vater zu finden war u[nd] zudem,<br />

meine Großmutter W[it]we Bockmühl um<br />

diese Zeit gestorben war, so kehrten wir wieder<br />

in die Heimath zurück. – Unser erster Wohnsitz<br />

nach der Rückkehr aus W[arendorf] wurde in<br />

der Oede – Gemeinde Langerfeld – aufgeschlagen.<br />

Die guten Fortschritte, welche ich in der<br />

evangel[ischen] Schule zu Warendorf gemacht<br />

hatte wurden jetzt durch den weiten Schul weg,<br />

durch Krankheit <strong>und</strong> durch Armuth, vielfach<br />

wieder redu ziert; auch lernte ich manches Böse<br />

u[nd] hatte überhaupt die Neigung mich leicht<br />

zum Bösen verführen zu lassen, so daß oft das<br />

mütterliche, ernst ermahnende Wort keinen<br />

Eingang bei mir zu finden schien. Meine Mutter<br />

legte es von je her darauf an, mich in rechter<br />

u[nd] wahrer Gottesfurcht zu erziehen. –<br />

Als ich 10 Jahr alt war, zogen meine Eltern, ich<br />

u[nd] meine Ge schwister nach Heckinghausen<br />

in die Wupperfelder Gemeinde, wo ich alsdann<br />

unausgesetzt, abgerechnet der durch die<br />

Krankheit meiner Mutter versäumten Schulzeit,<br />

die Schule wieder besuchen konnte. Der<br />

Lehrer H[er]r Weber nahm sich meiner mit vieler<br />

Liebe an, was ich hier dankend erwähne. Im<br />

14 Jahre besuchte ich den Confirmanden Unterricht<br />

bei Herrn Pastor Heuser 100 , jedoch nur<br />

ein halbes Jahr lang, indem der H[er]r Pastor in<br />

dem Jahr wegen der durch den Tod des Herrn<br />

Pastor Feldhoff 101 eingetretenen Vacanz 2 Mal<br />

zu confirmiren hatte. Da ich zu gleicher Zeit in<br />

die Knopfabrik ging, so ging der Unterricht ja<br />

auch die Confirmation selber ohne besonderen<br />

Eindrücke an mir vorüber. In der Knopfabrik<br />

lernte ich manche Unarth, welche mir später<br />

sehr viel zu schaffen machte. Als ich 16 Jahre<br />

alt war trat ich auf Verwendung des vorhin genannten<br />

Lehrers bei Herrn C. L. Wesenfeld in<br />

den Dienst; zuerst als Handlanger in der<br />

Schmiede, danach als Handlanger auf’m<br />

Comptoir u[nd] zuletzt bekleidete ich b[ei]<br />

Herrn W[esenfeld] die Stelle eines Magazin-<br />

Verwalters im Magazin. – In meinem 17 Jahre<br />

wurde ich im Missions-Verein aufgenommen,<br />

u[nd] besuchte die 4wöchentlichen Versammlungen,<br />

welche b[ei] Frau Riese gehalten wurden<br />

regelmäßig; sie waren mir von Anfang an<br />

gesegnete St<strong>und</strong>en. Um diese Zeit u[nd] von da<br />

an wurde ich um das Heil meiner Seele sehr<br />

bekümmert u[nd] es ging auch etwas mit vor,<br />

55


allein es kam noch nicht zum Durchbruch<br />

u[nd] auch eben zu dieser Zeit fühlte ich einen<br />

großen Trieb zum Missionsdienste. Ich gedenke<br />

hier der 1[ieben] Br[üder], namentlich<br />

der Mitglieder des Missionsvereins, welche<br />

sich meiner mit vieler u[nd] warmer Liebe annahmen.<br />

Wie schon früher in meinem damals<br />

eingereichten Lebenslaufe vermerkt habe, so<br />

bleibe ich auch jetzt dabei, einen Zeitpunkt zu<br />

bestimmen, wo es auf einmal mit mir anders<br />

geworden wäre, kenne ich nicht, aber das weiß<br />

ich fest u[nd] glaub’s auch ohne Scheu, daß der<br />

Herr mein Heiland ist u[nd] daß ich in Seinem<br />

Blute die Vergebung meiner Sünden gef<strong>und</strong>en<br />

habe. – Doch zurück zum Missionsdienste. Ich<br />

bat den Herrn von meinem 19 Jahre an oft <strong>und</strong><br />

viel: Er möge mir doch in dieser wichtigen Sache<br />

Seinen heiligen Willen zu erkennen geben:<br />

ob ich zum Missionsdienste bestimmt sei oder<br />

nicht. Einige male war ich schon im Begriffe<br />

mich zu melden, aber aus Furcht schob’s ich<br />

noch immer auf, wie denn die Furcht d[er] Befangenheit<br />

überhaupt eine ziemlich große<br />

Rolle bei mir spielte. Doch endlich im Mai<br />

1853 reifte in mir der Entschluß, mich dem<br />

Missiondienste zu widmen u[nd] meldete mich<br />

zu dem Ende eines Abends beim H[errn] In -<br />

spector 102 an. Nach einer beinahe 11monatlichen<br />

Wartezeit wurde ich ins liebe Missionshaus<br />

aufgenommen. Die überschwenglichen<br />

Ideen u[nd] Hoffnungen, die ich vom Missionsleben<br />

hatte, mußten erst abgekühlt werden.<br />

– Wenn ich nun so auf die hier im Missionshaus<br />

verlebten 2 Jahre zurückblicke, u[nd] der<br />

Heilswege u[nd] Führungen meines Gottes gedenkend,<br />

Seiner Langmuth u[nd] Geduld, so<br />

muß ich unwillkührlich ausrufen: Herr ich bin<br />

viel zu gering aller Barmherzigkeit u[nd] Treue<br />

die du an mir Armen erwiesen hast. 103 Meinen<br />

lieben theuren Lehrern bin ich zu großem Dank<br />

verpflich tet für ihre Liebe u[nd] Nachsicht, die<br />

sie mit mir gehabt haben. – Der Herr vergelte<br />

es ihnen!<br />

So will ich denn fröhlich u[nd] getrost<br />

meine Straße ziehen u[nd] gerne Alles daran<br />

geben um des Herrn Willen, um zu dienen Seiner<br />

armen Welt.<br />

In Jesu Namen – Amen!<br />

Missionshaus in Barmen<br />

56<br />

Friedrich Wilhelm Weber<br />

geschrieben in der frühen Morgenst<strong>und</strong>e<br />

des Tages der Abreise nach Süd. Africa<br />

den 15. Mai 1856.<br />

Friedrich Wilhelm Weber wurde im Jahre<br />

1856 nach Südwestafrika ausgesandt <strong>und</strong><br />

wirkte dort bis zu seinem Tod auf verschiedenen<br />

Stationen. Bis 1860 war er auf der Station<br />

Berseba tätig, im gleichen Jahr wurde er ordiniert.<br />

Von 1860–65 war er Missionar in Gobabis,<br />

von 1867–80 in Warmbad, dann in der<br />

Kapkolonie in Tulbagh <strong>und</strong> Saron bis 1898, am<br />

Ende in Sarepta. Weber war seit dem 7. Mai<br />

1860 mit Julie Schäfer (1827–1904) aus Barmen<br />

verheiratet. Das Paar hatte sieben Kinder:<br />

Fritz (* 1861, Arzt), Maria (* 1862), Ferdinand<br />

(*1864), Johanne (* 1866), Julie (*<br />

1868), Caroline (* 1869) <strong>und</strong> Johann Georg (*<br />

1872). Friedrich Wilhelm Weber starb am 11.<br />

März 1904 in Sarepta an einem Herzschlag,<br />

kaum einen Monat nach dem Tod seiner Frau<br />

Julie am 14. Februar.<br />

Elisabeth Ködding, geb. von Rohden


(1847–1878)<br />

Elisabeth von Rohden. [verheiratet am 14.<br />

Januar 1874 mit Missionar Ködding]<br />

Geboren am 7. März 1847 in Barmen, wo<br />

mein 1[ieber] Vater Missionsinspector 104 ist,<br />

als die älteste von 7 Geschwistern. In meinem<br />

fünften Lebensjahr starb meine Mutter, so daß<br />

mein Vater mich auf einige Zeit nach Lübeck in<br />

das Haus seines Bruders brachte, wo mir von<br />

Seiten der Tanten viel herzliche Liebe zu Theil<br />

wurde. Dort besuchte ich eine Privatschule, trat<br />

alsdann, nach Barmen zuruckgekehrt, in die<br />

höhere Töchterschule zu Unterbarmen ein, die<br />

ich vom 7. bis zum 14. Jahre besuchte. Die<br />

häusliche Erziehung wurde durch eine zweite<br />

Mutter <strong>und</strong> den Vater geleitet, doch blieb ich<br />

bis zu meinem 15. Jahre ein unartiges, widerwilliges<br />

Mädchen, das den liebenden, theuren<br />

Eltern viel Noth <strong>und</strong> Herzweh bereitete. In der<br />

Schule dagegen erntete ich viel Lob von dem<br />

vortrefflichen Lehrer Herrn Holthausen, dem<br />

ich die Gr<strong>und</strong>lage meiner Bildung verdanke.<br />

Den Konfirmations unterricht ertheilte mir Herr<br />

Pastor Taube 105 , nachdem ich schon ein Jahr<br />

zuvor den Katechismusunterricht von Pastor<br />

Thümmel 106 genossen. Diese beiden Jahre sind<br />

mir zu großem Segen geworden, besonders da<br />

die häusliche Erziehung die aller beste zum<br />

Herrn <strong>und</strong> seinem Wort war. Außer der Eltern<br />

Vor bild zeigte sich mir das Christenthum in<br />

dem Wandel der beiden Hausgenossinnen, unserer<br />

gläubigen Magd Lenchen Rabanus aus<br />

Wichlinghausen <strong>und</strong> der 2. Tochter des<br />

Miss[ionars] Kleinschmidt 107 , Elisabeth, aus<br />

Afrika, die meiner Mutter im Haushalt eine<br />

gute Stütze war. Durch viel Zweifel <strong>und</strong> Widerstreben,<br />

durch Werke eigener Gerechtig keit<br />

wurde mir endlich die eigene Sünde offenbar,<br />

im Konfirmationsjahr 61, welches mir ein Jahr<br />

des Suchens <strong>und</strong> Wollens gewesen ist,<br />

schenkte mir der Herr am 19. Nov[ember] den<br />

Trost der Sündenvergebung, so daß ich fröhlich<br />

rühmen konnte: Mir ist Erbarmung widerfahren<br />

108 , Erbarmung, deren ich nicht werth.<br />

Von da an gestaltete sich auch, mein Ver hältniß<br />

als älteste Tochter besser. Nachdem ich mit<br />

vieler Freude die Nähst<strong>und</strong>en der Fr[äu]l[ein]<br />

Beierlein besucht, brachte mich der Papa ein<br />

Jahr zur Schwester meiner Mutter nach Celle,<br />

wo ich als jüngste unter 3 Cousinen <strong>und</strong> in dem<br />

geselligen Hause des Onkels w<strong>und</strong>erschöne<br />

Zeit verlebte, mich in häuslicher Arbeit sowie<br />

im Umgang mit Anderen etwas ausbildete. Der<br />

Tod meiner 2. Mutter fiel um diese schöne Zeit,<br />

doch durfte ich noch bis zur Abreise der 1[ieben]<br />

E. Kleinschmidt in Celle bleiben, die wieder<br />

zu ihren Eltern nach Afrika ging. Von<br />

Okt[o]b[e]r 62 bis jetzt fiel mir die Aufgabe zu,<br />

den Haushalt des Vaters zu führen, in Gemeinschaft<br />

mit der treuen vorgenannten Magd, die<br />

meine Herzensfre<strong>und</strong>in in Christo wurde. Nach<br />

ihrer Heirath half mir der Herr in Gnaden weiter,<br />

obwohl mir das Zusammenleben mit den<br />

beiden Töchtern des Miss[ionars] Zimmer 109<br />

aus Borneo zuerst viel Noth machte. Diese<br />

Jahre führten mich immer tiefer in die Erkenntniß<br />

meines bösen Herzens, so daß ich dem<br />

Herrn von Herzen danke für alles, was Er in<br />

Seiner Treue an mir gethan. Unser häusliches<br />

Leben gestaltete sich mit dem Heranwachsen<br />

der 1[ieben] Geschwister, durch die enge<br />

Verb<strong>und</strong>en heit mit dem Miss[ions]haus, durch<br />

die öfteren Besuche der Miss[ions]geschwister,<br />

durch die Pflege von Gemeinschaft <strong>und</strong><br />

Fre<strong>und</strong> schaft von Jahr zu Jahr schöner, das<br />

Haupt des Hauses der theure Papa, der warme<br />

Mittelpunkt die geistig frische Großmutter, die<br />

seit dem Tode ihrer Tochter bei uns wohnte <strong>und</strong><br />

die Pflege der jüngsten Geschwister übernommen<br />

hatte. Da nun die einzige Schwester auch<br />

herangewachsen ist, scheide ich um so leichteren<br />

Herzens von meinem theuern Vaterhause,<br />

da ich meinen Beruf nach Sumatra aus Gottes<br />

Hand annehmen darf. Schon[durchgestrichen?]<br />

im 16. Jahr sprach ich kindischer Weise<br />

den Wunsch aus, unter den Heiden wirken zu<br />

dürfen, ob wohl mir durchaus nichts vom Ernst<br />

dieses Berufs klar war. Der Herr hat mir<br />

während der 10 verflossenen Jahre alle<br />

falschen Ideale zerstört, bis ich gar nichts mehr<br />

vom Miss[ions]dienst wissen wollte, so offenbarte<br />

sich das Herz als trotziges <strong>und</strong> verzagtes<br />

Ding. Als Gottes Werk muß ich’s erkennen,<br />

daß ich mit voller Freude der Bitte des Br[uder]<br />

Ködding, seine Gehül fin zu werden, entsprechen<br />

kann. Der Herr wolle ferner mir helfen,<br />

wie Er bisher gethan <strong>und</strong> Gnade geben, daß ich<br />

57


Elisabeth Ködding, geb. von Rohden<br />

Ihn verherrliche in guten <strong>und</strong> bösen Tagen.<br />

Barmen, 15. Sept[ember] 1873.<br />

Elisabeth von Rohden heiratete am 14. Januar<br />

1874 den ehemaligen Fabrikarbeiter Wilhelm<br />

Ködding (1865–1897) aus H<strong>und</strong>shausen,<br />

der seit 1865 auf Nias als Missionar tätig war,<br />

zunächst in Gunung Sitoli <strong>und</strong> Fagulö. Von<br />

1870–1881 war er Missionar der Station Siboga<br />

auf Sumatra. Das Paar hatte drei Kinder:<br />

Heinrich (1874–1956, Pfarrer in Laubach,<br />

Oberhessen), Hans (* 1876) <strong>und</strong> Mathilde<br />

(1878–1951). Elisabeth Ködding, geb. von<br />

Rohden, starb am 5. Februar 1878 in Siborga<br />

(im Kindbett?). Wilhelm Ködding verließ Sumatra<br />

im Jahre 1881 <strong>und</strong> übernahm ein Pfarr -<br />

amt in Deutschland. Mathilde Ködding wurde<br />

1912 als Missionsschwester erneut nach Sumatra<br />

ausgesandt, wo sie bis 1918 in Simorangkir<br />

<strong>und</strong> Huta Barat tätig war.<br />

Laura Hendrich, geb. Böckmann<br />

58<br />

(1844–1903)<br />

[Laura Böckmann, am 10.3.1871 verheiratet<br />

mit Missionar Hendrich]<br />

Im Jahre 1844, den 9ten März wurde ich zu<br />

Barmen (Lichtenplatz) geboren. Mein Vater<br />

hieß Johann Abraham Böckmann meine Mutter<br />

Johanne Arrenberg. Vater war Bäcker u[nd]<br />

Landwirth. Von meinen 4 Geschwistern war<br />

ich die Älteste. In der h[ei]l[i]g[en] Taufe erhielt<br />

ich den Namen Laura.<br />

Meine Jugendjahre waren recht glückliche;<br />

da hier in unserer Nähe eine Kleinkinderschule<br />

errichtet ward, schickte meine liebe Mutter<br />

meinen Bruder Ernst <strong>und</strong> mich hin.<br />

Von meinem 5ten Lebensjahr an besuchte<br />

ich die Elementarschule. Lust zum Lernen <strong>und</strong><br />

Liebe zum Lehrer machten das mir die Schul -<br />

zeit die liebste war.<br />

Durch einen frühen Tod, verlor ich schon in<br />

meinem 8ten Lebensjahr meinen theuern Vater.<br />

Seidem wurde mir meine Liebe Mutter Alles,<br />

ja das Liebste das ich auf der Welt hatte. Die<br />

Bäckerei gab Mutter dran, <strong>und</strong> betrieb nur die<br />

Landwirthschaft. Da es nun an Arbeit nicht<br />

fehlte, so führte mich meine liebe Mutter zu aller<br />

Arbeit an, die meine Kräfte erlaubten. Unsere<br />

liebe Mutter ging uns mit einem guten<br />

Beispiel voran gegründet auf das Wort Gottes.<br />

„Alle eure Sorge lasset mit Bitte, Gebet u[nd]<br />

Danksagung vor Gott k<strong>und</strong> werden.“ 110 Wenn<br />

ich ausging, oder sonst etwas ver richtete, sagte<br />

Mutter vergiß nicht, den lieben Heiland zu bitten,<br />

das er mit dir ist, u[nd] dir Rath, Kraft,<br />

Weisheit gibt, ohne Ihn wird dir nichts gelingen.<br />

Von meinem 10ten Lebensjahr an besuchte<br />

ich den Unterricht bei dem sel[i]g[en] Herrn<br />

Pastor Banning 111 in Barmen. In mancher<br />

Unterrichts st<strong>und</strong>e ist der Herr mit seiner Gnade<br />

mächtig an mir gewesen. In meinem 14ten<br />

Jahre wurde ich von Herrn Pastor Taube 112 confirmirt.<br />

Am h[ei]l[i]g[en] Confirmatzions-Tage<br />

bekam ich den Denkspruch mit auf den künftigen<br />

Lebensweg Ps[a]lm 32, 2. Wohl dem Menschen<br />

dem der Herr die Missetat nicht zurechnet,<br />

in des Geist kein Falsch ist. Seid der Confirmatzion<br />

hatte ich tiefere Eindrücke über<br />

meinen inneren Herzenszustand, mußte sehr


fühlen, das mein Thun umsonst wär, auch in<br />

dem besten Leben. Was täglich mein Begleiter<br />

war, waren einige Verschen aus dem Liede<br />

welches wir in den letzten St<strong>und</strong>en der Confirmationszeit<br />

lernten:<br />

Drum so tödt’ u[nd] schlachte hin, meinen<br />

Willen meinen Sinn, Reiß mein Herz aus meinem<br />

Herzen; solls auch sein mit tausend<br />

Schmerzen Trage Holz auf den Altar u[nd] verbrenn<br />

mich ganz u[nd] gar. O! Du Allerliebste<br />

Liebe wenn doch nichts mehr von mir bliebe.<br />

Nach der Confirmation kam ich nach Ronsdorf<br />

in den Hand arbeitsunterricht. Durch<br />

Fre<strong>und</strong>innen kam mir der Tractat vom<br />

sel[i]g[en] Goßner 113 zur Hand. (der Titel) ,,Die<br />

Seligkeit eines Gläubigen in dessen Herzen Jesus<br />

wohnt. Durch Gottes Gnade kam ich dadurch<br />

zur Erkenntniß meiner Sünden, u[nd] erkannte<br />

das es doch bisher nur ein Flickwerk<br />

mit mir gewesen, wie Tersteegen 114 singt: Vermischtes<br />

Wesen u[nd] Gutmeinen vergnügt<br />

nicht mich, noch dich den Reinen, wie abgeschmackt<br />

ist Menschenwerk. Nun wurde ich<br />

von einem schweren Nervenfieber heimgesucht,<br />

nach längerer Zeit durfte ich das Bett<br />

verlassen, blieb aber seid der Zeit über ein Jahr<br />

sehr nervöß, doch war es eine große Segenszeit<br />

für mich, ich bekam Frieden in den W<strong>und</strong>en<br />

JEsu. Der Friede wurde mir fester durch den<br />

Spruch, der mir im Innern klar wurde. 2 Korinter<br />

4, 8, 10. Uns ist bange aber wir verzagen<br />

nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden<br />

nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber<br />

wir kommen nicht um. Und tragen nun allezeit<br />

das Sterben des HErrn JEsu an unserm Leibe,<br />

auf das auch das Leben des HErrn JEsu an unserm<br />

Leibe offenbar werde. Seidem war ich in<br />

einem ganz andern Licht wie bisher über mich<br />

selbst. Vieles sah ich an mir was vor Gottes Augen<br />

verwerflich war, nun hieß es: Kämpfe bis<br />

aufs Blut u[nd] Leben. Besonders war mir das<br />

wichtig. Niemand wird gekrönet, er kämpfe<br />

denn recht. 115 Nun mußte ich erfahren das daß<br />

Leben durchs Kämpfen u[nd] Ringen ginge.<br />

Doch durfte ich auch erfahren das es bei Allen<br />

Mängeln u[nd] Schwächen sich an mir bewahrheitete:<br />

Gott ist getreu, Er läßt euch nicht versuchen<br />

über euer[verbessert aus: über] Vermögen.<br />

116 In unserer Familie gings durch man-<br />

cherlei Krankheit u[nd] Leiden. Doch die ge -<br />

hörten auch mit in den Erziehungsplan unseres<br />

Gottes. In meinem 18ten Jahre erhielt ich von<br />

einem jungen Mann in Berlin einen Antrag.<br />

Mit der l[ieben] Mutter nahm ich Rücksprache,<br />

doch die rieth mich nicht dazu, sagte, ich möge<br />

den Herrn bitten, Er möge mir selbst Klahrheit<br />

geben, ich kam zur Gewißheit das es gegen des<br />

Herrn Wille sei, vielmehr das es eine Versuchung<br />

sei, wo es von hieß: Wachet u[nd] betet<br />

daß ihr nicht in Anfechtung fallet. Noch gewisser<br />

wurde es mir durch das Beispiel von Mose<br />

Ebräer 11,25;26. Und er erwählte viel lieber<br />

mit dem Volke Gottes Ungemach zu leiden,<br />

denn die zeitliche Ergötzung der Sünde zu haben,<br />

u[nd] achtete die Schmach Christi höher<br />

den die Schätze Egiptens denn er sahe an die<br />

Belohnung. Von je her hegte ich den Wunsch,<br />

Mutter möge mich zur Lehrerin ausbilden lassen<br />

doch meine 1[iebe] Mutter sagte, für meine<br />

Ges<strong>und</strong>heit sei es nicht zuträglich u[nd] weil<br />

ich keine Schwestern hätte wär es ihr lieber,<br />

wenn ich bei ihr bliebe. Der treue Herr u[nd]<br />

Heiland gab mir auch hierdrin Klahrheit u[nd]<br />

machte mich ruhig, das auch dieser Wunsch<br />

ganz aufgehoben ward.<br />

Nun führte es der Herr so, das ich im Anfang<br />

des Jahres 1867 aufgefordert wurde, hier<br />

eine Sonntagsschule anzu fangen. Wiewohl ich<br />

Anfangs sehr ängstlich war gab mir der Herr<br />

Kraft, Muth u[nd] Freudigkeit, wenn auch in<br />

großer Schwachheit darf ich doch dem Herrn<br />

zu Lob u[nd] Preis bekennen, Er war mit mir.<br />

Im Monat September 1867 bat Missionar<br />

Hendrich meine l[iebe] Mutter mich mit ziehen<br />

zu lassen nach Borneo. Mutter war dieses sehr<br />

schwer, doch abschlagen konnte sie es ihm<br />

auch nicht, weil es zu ihr hieß: Wer nicht absagt,<br />

Allem was er hat, kann nicht mein Jünger<br />

sein. Wo mir es Mutter sagte, war mir es auch<br />

schwer, doch der ewig treue B<strong>und</strong>es-Gott, gab<br />

mich auch hierin Seinen guten Willen zu erkennen,<br />

nach längerem Beten u[nd] Ringen<br />

hieß es zu mir: Geh aus deinem Vaterlande,<br />

u[nd] aus deiner Fre<strong>und</strong>schaft u[nd] aus deines<br />

Vatershause in ein Land das ich dir zeigen<br />

will. 117 Doch mir war es noch immer schwer,<br />

der Herr war auch da so fre<strong>und</strong>lich u[nd] tröstete<br />

mich wie einst den Josua: Sei getrost<br />

59


u[nd] unverzagt, sei getrost u[nd] sehr freudig.<br />

118 So darf ich den gewiß sein der Herr wird<br />

durch Alles helfen. Ja wie JEsus Christus gestern<br />

u[nd] heute war, so wird Er auch bleiben<br />

bis in alle Ewigkeit. Ihm sei Lob, Preis u[nd]<br />

Ehre von nun an bis in Ewigkeit.<br />

Barmen Lichtenplatz d[en] 18. 29/8. W. [?]<br />

Laura Böckmann<br />

Laura Böckmann heiratete am 10. März<br />

1871 den ehemaligen Böttcher Christian Carl<br />

Hendrich (1837–1894) aus Wiehe/Thüringen.<br />

Hendrich war seit 1868 als Missionar auf Borneo<br />

tätig, bis 1870 in Kuala Kapuas <strong>und</strong> 1870–<br />

1894 in Mandomai am Kapuas-Fluß. Das Paar<br />

hatte acht Kinder: Johanna (* 1872), Johannes<br />

(* 1873), Laura (* 1875), Sophie<br />

(* 1876), Karl (* 1878, später Missionar der<br />

Rheinischen Mission), Hulda (* 1880), Adelheid<br />

(* 1881) <strong>und</strong> Stephan (* 1884). Hendrichs<br />

Aufgabe war es, die im Massaker von 1859 untergegangene<br />

christliche Gemeinde in Tanggohan119<br />

wiederzubeleben. Hendrich wirkte nicht<br />

nur als Seelsorger, er initiierte auch die Anpflanzung<br />

von Kokospalmen <strong>und</strong> anderen<br />

Nutzpflanzen, deren Erträge jedoch gering<br />

blieben. Als erster Rheinischer Missionar erforschte<br />

er den Katingan-Fluß120 . Laura Hendrich<br />

leitete in Mandomai Kleinkinderschule,<br />

Sonntagsschule <strong>und</strong> Frauenverein. Ihr Mann,<br />

schon längere Zeit lungenkrank, starb am 12.<br />

April 1894, nachdem noch eine schwere Wassersucht<br />

hinzugekommen war.<br />

Im Nachruf auf Laura Hendrich, geb.<br />

Böckmann, wird vermerkt, sie sei „wie wenige<br />

Missionarsfrauen121 eine Dajakkin<br />

geworden.“ 122 Als sie nach dem Tod ihres Mannes<br />

nach Deutschland zurückkehrte, habe sie<br />

sich „kaum noch in die heimischen Verhältnisse<br />

zurecht finden“ 123 können. 1897 kehrte sie<br />

als Missionschwester nach Borneo zurück, wo<br />

sie in Pulau Kaladan bis zu ihrem Tod wirkte.<br />

„Nach ihrer ganzen Eigenart konnte man ihr<br />

nur eine ziemlich selbstständige Arbeit zuweisen<br />

[…] Kurz sie hat die Arbeit eines Missionars<br />

getan <strong>und</strong> manchem mag sie zu ‘männlich’<br />

gewesen sein.“ Anfang 1903 erkrankte sie<br />

– möglicherweise durch Überarbeitung – <strong>und</strong><br />

mußte nach Bandjermasin gebracht werden,<br />

60<br />

wo sie am 10. März starb. „[…] sie wird weder<br />

in der Heimat noch vor allem in Borneo vergessen<br />

bleiben als die selbstlose, sich selbst<br />

aufopfernde Dajakkenmutter, ein Name, den<br />

sie wie keine andere verdient.“ 124<br />

Johanna Heider, geb. Werbeck (1843–1921)<br />

[Notiz:] Johanna Werbeck, Braut von<br />

E[duard] Heider<br />

Lebenslauf<br />

Am 31ten August 1843 wurde ich an der<br />

Schimmelsburg in der Nähe von Wichlinghausen,<br />

geboren. Die Jahre meiner Kindheit verlebte<br />

ich im [Hause] meiner l[ieben] gottesfürchtigen<br />

Eltern <strong>und</strong> meiner l[ieben] Geschwister<br />

froh <strong>und</strong> glücklich. im Alter von 5<br />

Jahren wurde ich in die Elementarschule zu<br />

Wichlinghausen geschickt, [die] ich bis zum<br />

14ten Lebens jahre regelmäßig besuchte. Mein<br />

l[ieber] Lehrer, Herr Griese, ist mir recht zum<br />

Segen geworden. In den freien St<strong>und</strong>en mußte<br />

ich als ältestes der Kinder der lieben Mutter in<br />

den häuslichen Arbeiten fleißig zur Hand gehen.<br />

Außer mir [hatten?] meine lieben Eltern<br />

noch 4 Kinder, 3 Söhne <strong>und</strong> 1 Tochter. Letzere<br />

ist die jüngste meiner Geschwister. Mein lieber<br />

Vater war Bandwirker. Waren meine l[ieben]<br />

Eltern auch [nicht] vermögend, so hatten sie<br />

doch reichlich ihr Auskommen. Als Hauptsache<br />

galt es ihnen ihre Kinder in der Zucht <strong>und</strong><br />

Vermahnung zum Herrn zu erziehen, <strong>und</strong> habe<br />

ich im Hause meiner l[ieben] Eltern das theure<br />

Wort Gottes kennen <strong>und</strong> lieben gelernt. Da<br />

[die?] Eltern auch das Barmer Missionsblatt,<br />

sowie später den kl[einen] Missionsfre<strong>und</strong> 125<br />

erhielten, so wurde schon frühe das Missionsinteresse<br />

in mir geweckt, da es mir jedesmal<br />

eine Freude war, wenn der liebe Vater aus denselben<br />

vorlas. Und so durfte ich manchen<br />

[Tag?] im elterlichen Hause genießen. Doch<br />

bald wurden die lieben Eltern so recht vom<br />

Herrn in die Kreuzesschule geführt. Der liebe<br />

Vater erkrankte an einer heftigen [Unter]leibs -<br />

entzündung, so daß Alle um sein Leben be sorgt<br />

waren. Jedoch gefiel es dem Herrn, ihm die<br />

Ges<strong>und</strong>heit wieder zu schenken. Doch kaum<br />

genesen, erkrankte meine liebe Mutter an der


Brustkrankheit. Die Ärzte zweifelten an ihrem<br />

Aufkommen[?] <strong>und</strong> weiß ich mich noch sehr<br />

gut zu erinnern, wie mein theurer Vater zum<br />

Herrn flehte um [das] Leben meiner lieben<br />

Mutter. Endlich nach 1 1 /2 Jahren genaß<br />

sie zu unser aller Freude. Dann folgten noch einige<br />

Jahre des glücklichsten Familienlebens.<br />

Doch wieder zogen [?] Wolken über unserm<br />

Haupte zusammen. Mein 1[ieber] Vater erkrankte<br />

heftig an [einer?] Lungenentzündung.<br />

Die Krankheit nahm von Tage zu Tage zu. Eine<br />

dunkle Ahnung [?] unsere Herzen, es könne<br />

wohl dem Herrn gefallen, den th[euren] Gatten<br />

<strong>und</strong> Vater abzurufen. Wie haben da die 1[ieben]<br />

Eltern zum Herrn gefleht sie doch willenlos<br />

<strong>und</strong> stille zu machen. (Und so?] schwer es<br />

dem l[ieben] Vater wurde sich von der l[ieben]<br />

Mutter <strong>und</strong> 5 unmündigen Kindern zu [trennen],<br />

so konnte er doch ruhig dem Tode ins<br />

Auge schauen, weil er wußte daß sein Erlöser<br />

[lebe?]. Nie werde ich vergessen als ich ihm<br />

mal Ev[angelium] Joh[anni] Kap[itel] 15,16<br />

u[nd] 17 vorlesen mußte <strong>und</strong> ich [zu dem?]<br />

Vers kam: ,,In der Welt habt ihr Angst<br />

u.s.w.“ 126 , er zu mir sagte: ,,Ja Kind dieses Wort<br />

des Heilandes ent hält eine solche Fülle des<br />

Trostes für mich, daß ich ruhig sterben <strong>und</strong><br />

euch alle [den?] treuen Vaterhänden anvertrauen<br />

kann. Noch hatte die Krankheit nicht<br />

ganz drei Wochen [gedauert?], da fühlte er sein<br />

Ende herannahen. Auf seinen Wunsch sangen<br />

wir noch am Abende vor [seinem] Tode das<br />

schöne Lied: ,,Es ist noch eine Ruhe vorhanden<br />

127 u.s.w. Dann ließ er uns Kinder [jedes?]<br />

Einzelne an sein Bett kommen <strong>und</strong> ermahnte<br />

uns, doch Jesu nachzufolgen. Daß sich die<br />

Worte meines sterbenden Vaters tief in mein<br />

junges Herz eingruben, brauche [ich] nicht zu<br />

sagen. Ich war damals noch keine 13 Jahre alt.<br />

Am folgenden Morgen des [?] Mai 1856 durfte<br />

mein l[ieber] Vater eingehen zur ewigen Ruhe.<br />

Von jetzt an mußte [meine] l[iebe] Mutter einsam<br />

ihre Straße ziehen <strong>und</strong> ist ihr das sicher<br />

nicht leicht geworden. [Den?] Catechumenen<br />

<strong>und</strong> Confirmanden Unterricht ertheilte mir der<br />

theure Herr Pastor Voswinkel 128 . Es war mir<br />

vergönnt, 4 Jahre am Unterricht theilnehmen<br />

zu dürfen. Viel Segen durfte [ich aus] der Catechesierstube<br />

mit nach Hause <strong>und</strong> mit ins Leben<br />

nehmen. Um die Zeit war es [?], als mich der<br />

treue Herr ganz zu sich zog <strong>und</strong> ich ganz gewiß<br />

wußte: ich hatte Vergebung [meiner] Sünden<br />

im Blute Jesu gef<strong>und</strong>en. Der Tag meiner Confirmation<br />

war ein Freudentag <strong>und</strong> von ganzer<br />

Seele war es mein fester Ent schluß, mit des<br />

Herrn Gnade <strong>und</strong> Hülfe treu zu bleiben. Einige<br />

Zeit vorher fand eine Erweckung unter den<br />

Kindern [?] statt, <strong>und</strong> sonntäglich kamen wir<br />

zusammen um uns durch Gebet <strong>und</strong> Wort<br />

Gottes [?]. Die Versammlungen gereichten<br />

Vielen von uns zum Segen. Bis zum 21ten<br />

Jahre blieb [ich bei] meiner l[ieben] Mutter. Im<br />

Frühjahr 1867 erkrankte ein l7jähriger Bruder<br />

von [mir an?] Nervenfieber. Die l[iebe] Mutter<br />

pflegte denselben mit aller Liebe <strong>und</strong> Treue.<br />

[Mehrere Male?] schwebte das Leben des l[ieben]<br />

Bruders in Gefahr. Doch end lich war die<br />

Krankheit [?] besonderen Freude der Mutter.<br />

Während dem der Bruder langsam genaß [?]<br />

liebe Mutter legen. Das Nervenfieber war in<br />

vollem Anzuge. Noch bei vollem Bewußtsein<br />

fühlte sie ihr Ende nahen. Nach einigen Tagen<br />

jedoch wurde sie bewußtlos. Nach einer kaum<br />

8 tägigen Krankheit entschlief sie am ersten<br />

Pfingstmorgen des Jahres 1864 am 15ten Mai<br />

sanft <strong>und</strong> selig. Das war ein schwerer Schlag<br />

für meine l[ieben] Geschwister <strong>und</strong> mich als<br />

auch das treue Mutterherz aufgehört hatte zu<br />

schlagen. Meine l[iebe] Schwester zählte erst 9<br />

Jahre. Dazu war der kranke Bruder noch lange<br />

nicht wieder hergestellt. Wie es mir damals an<br />

der Bahre meiner sel[i]g[en] Mutter zu Muthe<br />

war, läßt sich nicht beschreiben. Nach 6 Wochen<br />

wurde alles was den 1[ieben] Eltern zugehört<br />

hatte, verkauft, da noch alle Kinder<br />

minderjährig waren. Inzwischen hatte sich der<br />

kranke Bruder ziemlich erholt. Wir Geschwister.wurden<br />

nun alle zerstreut. Die kleine<br />

Schwester nahm die liebe Tante Bernsmann in<br />

Wichlingh[ausen] zu sich, wie es die sel[i]g[e]<br />

Mutter vorher gewünscht. Der jüngste der Brüder<br />

war schon seit seinem 4ten Lebensjahre als<br />

Pflegesohn bei einem 1[ieben] Fre<strong>und</strong>e meines<br />

sel[i]g[en] Vaters Herrn Busch in Wichlinghausen.<br />

Der krank gewesene Bruder ging wieder<br />

zu seinem früheren Lehrherrn in die Lehre. Der<br />

älteste der Brüder fand eine gute Stelle bei einem<br />

christlichen Meister. Nur wußte ich noch<br />

61


nicht wo meines Bleibens sein werde. Die<br />

1[iebe] Frau Westkott in Wichlingh[ausen] war<br />

so fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> nahm mich in ihr Haus bis<br />

sich eine passende Stelle für mich fand. Ich<br />

wurde dort als Kind im Hause behandelt, welches<br />

mir nach dem herben Verluste um so<br />

wohler that. In Wupperfeld fand sich dann nach<br />

5 Wochen eine passende Stelle bei einer l[ieben]<br />

christlichen Familie. Dort war ich 2 Jahre.<br />

Nachdem veränderte ich meine Stellung <strong>und</strong><br />

war noch 5 Jahre bei Frau C. Barthels in Wupperfeld.<br />

Doch noch ein schwerer Verlust stand<br />

mir bevor. Der l[iebe] Bruder, welcher vor 6<br />

Jahren von der gefährlichen Krankheit genesen<br />

war, starb am 16ten August 1870 bei Mars La<br />

Tour 129 den Heldentod im Alter von 23 Jahren.<br />

Wie mich u[nd] meine lieben Geschwister die<br />

K<strong>und</strong>e von seinem Tode erschütterte, vermag<br />

ich nicht zu sagen. Sein liebster Fre<strong>und</strong> fiel mit<br />

ihm an demselben Tage. Kurz vorher hatte er<br />

mir noch von seiner baldigen Heimkehr nach<br />

Hause geschrieben, da er seine dreijährige<br />

Dienstzeit bald beendet hatte. Doch waren wir<br />

nicht wie die, die keine Hoffnung haben. Der<br />

sel[i]g[e] Bruder hatte seinen Heiland lieb gehabt<br />

<strong>und</strong> waren ihm die Dienstjahre zu einem<br />

rechten Segen geworden, wie es wohl selten<br />

der Fall ist. Die Gewißheit, ihn beim Herrn zu<br />

wissen, milderte unsern herben Schmerz. Im<br />

Jahre 1871 zog ich nach Bonn. Dort traten mir<br />

besonders mancherlei Versuchungen entgegen.<br />

Doch wurde ich durch des Herrn Gnade bewahrt,<br />

wofür ich ihm von Herzen danke. Ein<br />

Jahr später hielt mein 1[ieber] Bräutigam,<br />

Ed[uard] Heider, um meine Hand an, welche<br />

ich ihm auch gerne gab. Die letzten 2 1 /2 Jahre<br />

brachte ich im 1[ieben] Wichlinghausen zu,<br />

woselbst sich eine passende Stelle als Haushälterin<br />

für mich fand. Am 14ten Ockt[ober] trat<br />

ich meine Reise nach Süd-Afrika mit den Missionsgeschwistern<br />

an, aufschauend zu dem der<br />

mich gerufen. Ihm, meinem lieben Herrn <strong>und</strong><br />

Heiland als eine geringe Mit arbeiterin in der<br />

großen Missionssache zu dienen, ist mein<br />

sehnlichster Wunsch <strong>und</strong> Gebet. – Nach einer<br />

glücklichen Reise, auf welcher wir in besonderem<br />

Maaße die treue Aus hülfe unseres Gottes<br />

erfahren durften, kam ich gestern den 18ten<br />

Dec[em]b[e]r mit den lieben Geschwistern hier<br />

62<br />

Johanna Heider, geb. Werbeck<br />

an, <strong>und</strong> wurden wir, Schwestern Paschen <strong>und</strong><br />

ich, zum Dank gegen den Herrn gestimmt, als<br />

wir unsere Lieben ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> wohlbehalten<br />

hier antrafen. Der treue Herr aber geleite uns<br />

auch ferner wie Er verheißen.<br />

Walfischbay, d[en] 19ten Dec[em]b[e]r<br />

1874.<br />

Maria Johanna Werbeck.<br />

Johanna Werbeck heiratete am 20. Dezember<br />

1874 den ehemaligen Tischler Eduard<br />

Heider (1846–1881), der seit 1873 in Berseba/Südwestafrika<br />

als Missionar tätig war.<br />

Von 1874–1881 war Heider in Hoachanas stationiert,<br />

nachdem man eine Zeitlang gezögert<br />

hatte, ihn als „Reformierten“ mit dieser Aufgabe<br />

zu betrauen130 . Das Ehepaar hatte vier<br />

Kinder: Eduard (* 1876), Johanne (1877–<br />

1966, verheiratet mit Missionar Karl August<br />

Hanke, in Neu-Guinea tätig), Maria (* 1879)<br />

<strong>und</strong> August (* 1880). In diesem Jahr geriet die<br />

Station in die Kämpfe zwischen Namas131 <strong>und</strong><br />

Herero132 , so daß ein Teil der umliegenden


Nama-Bevölkerung zerstreut wurde. Am 16.<br />

Juni 1881 starb Heider unerwartet an einer<br />

Fieberkrankheit. Johanna Heider, geb. Werbeck,<br />

kehrte nach Deutschland zurück, wo sie<br />

am 29. März 1921 in Bremen an den Folgen eines<br />

Treppensturzes starb. „Sie war bis zuletzt<br />

von erstaunlicher geistiger Frische […]“. 133<br />

Peter Friedrich Bernsmann (1845–1920)<br />

Peter Friedrich Bernsmann. [Notiz:] Bandwirker<br />

Jünglingsverein<br />

Ich bin geboren am 23. Juni 1845 zu Wichlinghausen.<br />

Die Taufe empfing ich durch Pastor<br />

Dr. R. Stier. Geschwister habe ich vier,<br />

zwei ältere u[nd] zwei jüngere.<br />

Mein Vater, jetzt wegen eines Lungenleidens<br />

arbeitsunfähig, war früher Arbeiter in einer<br />

Bandfabrik, hatte aber nebenbei Bandstühle<br />

im Betrieb. Vater <strong>und</strong> Mutter sind gläubig,<br />

u[nd] deßwegen war es ihr Bestreben,<br />

mich u[nd] meine Geschwister in der Zucht<br />

u[nd] Vermahnung zum Herrn zu erziehen. Der<br />

Herr hat sich denn auch zu ihrer Zucht u[nd] zu<br />

ihren Gebeten bekannt, denn alle ihre Kinder<br />

haben den schmalen Weg zu gehen erwählt.<br />

Ihre Zucht unterstützte auch wesentlich meine<br />

Schul-Bildung <strong>und</strong> -Erziehung die ich vom 4.<br />

Jahre an in der Kleinkinderschule u[nd] vom 6.<br />

an in der Elementarschule genoß, so daß ich<br />

meinen Lehrern wenig Anlaß zur Klage gegeben<br />

habe.<br />

Gegen Ende meines 14. Lebensjahrs verließ<br />

ich die Schule u[nd] kam in den Confirmandenunterricht<br />

bei Herrn Pastor Vos -<br />

winkel 134 . Den Katechumenenunterricht hatte<br />

ich schon seit meinem 8. Jahre genossen. Die<br />

Lehre meines treuen Seelsorgers war das Mittel,<br />

durch welches mir der Herr das Herz auf -<br />

that, daß ich mich <strong>und</strong> meinen Heiland erkannte.<br />

In freudiger Glaubenszuversicht<br />

konnte ich am Tage meiner Confirmation, den<br />

29. April 1860, dem Herrn Treue geloben, <strong>und</strong><br />

seine Barmherzigkeit hat mich denn auch gehalten<br />

bis auf diesen Tag.<br />

Nachdem mir Barmherzigkeit widerfahren<br />

war, stieg bald der Wunsch in mir auf, Missionar<br />

zu werden. Mit der rheinischen Mission<br />

war ich seit meinem 10. Lebensjahre besonders<br />

durch den „kleinen Missionsfre<strong>und</strong>“ 135 ziemlich<br />

bekannt geworden. Um der Erfüllung meines<br />

Wunsches näherzukommen, wollte ich<br />

Lehrer werden. Allein da mein Vater eine Abneigung<br />

gegen diese Berufswahl zeigte, fügte<br />

ich mich seinen Wunschen u[nd] wurde Bandwirker,<br />

obwohl mir die Bandwirkerei nicht zusagte.<br />

Den Wunsch, Missionar zu werden, hielt<br />

ich zuerst noch zurück, weil ich noch zu jung<br />

war. Als ich in der Folge damit herausrückte,<br />

meinte mein Vater, derselbe würde wohl nicht<br />

eher erfüllt werden, als bis ich Soldat gewesen<br />

wäre. So war ich also aufs Warten gewiesen.<br />

Diese Wartenszeit war eine Zeit schwerer innerer<br />

Kämpfe, unter welchen ich tiefe Blicke<br />

thun konnte in mein von den Lüsten des Fleisches<br />

noch sehr hingenommenes Herz. Doch<br />

die starke Hand des Herrn hielt mich, daß ich<br />

auf dem schmalen Pfade des Lebens ausharrte.<br />

Zudem fand ich viel Trost, Stärke u[nd] Erquickung<br />

in der Gemeinschaft lieber Fre<strong>und</strong>e,<br />

deren ich besonders manche im Jünglingsverein<br />

gef<strong>und</strong>en hatte. Eine Krankheit, in die ich<br />

Anfang des Jahres 65 verfiel, bestimmte meine<br />

Eltern, mir die Erlaubniß zur Meldung für<br />

den Missionsdienst zu ertheilen. W<strong>und</strong>erbare<br />

Winke des Herrn, die noch hinzukamen, gaben<br />

mir die feste Gewißheit, daß mich der Herr berufen<br />

habe, diesen Weg zu gehen. Zuerst hieß<br />

es aber auch dann wieder: Warten. Nach einjähriger<br />

Probezeit mußte ich Anfang August<br />

1866 Soldat werden. – Auch eine Schule –. Der<br />

Herr half mir, daß ich seinem. Namen unter einem<br />

ungeschlachten Geschlecht keine Schande<br />

bereitet habe, sondern daß ich in der Achtung,<br />

sowohl der Vorgesetzten als der Kameraden<br />

stand. Gegen Ende Sept[ember] 1868 wurde<br />

ich auf Disposition beurlaubt, u[nd] trat 8 Wochen<br />

später am 21. Nov[ember] in die Vorschule<br />

im Kinderhause ein. Im folgenden Jahre<br />

vertrat ich auf 10 Wochen einen alten Lehrer in<br />

der Schule auf dem Dohr bei Kronenberg.<br />

Weihnachten 69 trat ich ins Missionshaus ein,<br />

<strong>und</strong> Mitte 70 wurde ich mit einberufen u[nd]<br />

machte dann den ganzen Feldzug als Gefreiter<br />

im 57. Reg[iment] mit. Ganz besonders habe<br />

ich da in den tausend Gefahren, Beschwerden<br />

u[nd] Strapatzen, in 14 Schlachten u[nd] Ge-<br />

63


fechten u[nd] auf Märschen bis über Tours hinaus<br />

die schützende u[nd] erhaltende Hand<br />

Gottes über mir erfahren dürfen, so daß ich<br />

ganz unversehrt geblieben bin. – Ende Juni 71<br />

konnte ich mit dankerfülltem Herzen die unterbrochenen<br />

Studien im Missionshause wiederaufnehmen<br />

u[nd] nachdem Er mich nun zubereitet<br />

u[nd] verordnet hat, ein Bote des Friedens<br />

unter den Heiden zu sein, gehe ich hinaus<br />

mit der festen Gewiß heit, daß er mich berufen<br />

hat, aber auch mit dem freudigen Vertrauen,<br />

daß er mir in allen ferneren Wegen beistehen<br />

wird nach seiner Verheißung.<br />

Barmen, den 18. August 1873.<br />

Peter Friedrich Bernsmann wurde 1873<br />

nach Südwestafrika ausgesandt, wo er, von einem<br />

Aufenthalt in Deutschland 1896–98 abgesehen,<br />

47 Jahre als Lehrer <strong>und</strong> Missionar auf<br />

den Stationen Otjimbingue (1874–1888 <strong>und</strong><br />

1905–1920), Otjikango (1888–1890) <strong>und</strong> Omburo<br />

(1890–1904) tätig war. Am 26. Dezember<br />

1875 heiratete er Emilie Westkott (1842–<br />

1880), die wie er aus Wichlinghausen stammte.<br />

Das Paar hatte fünf Kinder: Emilie (* 1877),<br />

Fried rich (* 1877), Pauline (* 1879) <strong>und</strong> die<br />

Zwillinge Auguste <strong>und</strong> Johanne (* 1880).<br />

Bernsmann litt in seiner Jugend an schwerem<br />

Asthma, außerdem, wie Missionspräses Olpp<br />

in seinem Nachruf vermerkt, an einem „oft unerträglich<br />

werdende[n] Hautleiden“ 136 <strong>und</strong> einer<br />

chronischen Dysenterie. Olpp schildert den<br />

verstorbenen Missionar als selbstdisziplinierten<br />

<strong>und</strong> peniblen Mann (“Ich habe ihn gesehen,<br />

wie er st<strong>und</strong>enlang vor dem Ochsenwagen<br />

wanderte, jeden größeren Stein mit einem<br />

Fußtritt aus dem Wege befördernd, – wie er an<br />

der Raststelle mitten in der afrikanischen Wildnis<br />

abgepellte Eierschalen sorgsam mit Sand<br />

zudeckte: ‘Ich kann die Unordnung nicht leiden!’“)<br />

137 Auch Bernsmanns Bruder August<br />

war nach Südwestafrika gegangen <strong>und</strong> als Verwalter<br />

des Hälbischen Geschäftes in Otjimbingue<br />

tätig.<br />

Bernsmanns Tätigkeit als Missionar wurde<br />

immer wieder durch kriegerische Unruhen beeinträchtigt,<br />

die ihn unter anderem zwangen,<br />

die Station Omburo während des Hereroaufstandes<br />

von 1904138 aufzugeben. Drei Jahre<br />

64<br />

nach dem Tod seiner ersten Frau (28. Dezember<br />

1880) heiratete er am 7. Juni 1883 Charlotte<br />

Neumann (1847–1901) aus dem brandenburgischen<br />

Pasewalk. Das Paar hatte drei Kinder:<br />

Ernst (geb. 1884), Bertha (geb. 1886) <strong>und</strong><br />

Helene (1889–1973). Helene heiratete 1913<br />

den Missionar Herrmann Gehlmann (1881–<br />

1952), der von 1918–24 in Tsumeb/Südwestafrika<br />

stationiert war, wohin Bernsmann nach<br />

seiner Pensionierung 1919 zog. Auf einer Reise<br />

zu seinem Schwiegersohn Irle, der in Otjimbojo<br />

lebte, erkrankte er <strong>und</strong> starb am 23. November<br />

1920 in seiner alten Station Otjimbingue.<br />

Emilie Bernsmann, geb. Westkott<br />

(1842–1880)<br />

Emilie Westkott [Notiz:] Frau Bernsmann<br />

wurde geboren zu Wichlinghausen in Barmen<br />

den 11. Juli 1842. Mein Vater, welcher<br />

Kaufmann war, starb schon als ich 6 Jahre alt<br />

Emilie Bernsmann, geb. Westkott


war plötzlich. Nun stand meine Mutter mit fünf<br />

Kindern allein. Aber sie erzog uns in der Furcht<br />

Gottes <strong>und</strong> hielt uns fleißig an zur Kirche, Kinderlehre<br />

u[nd] Schule. Daher kam es, daß ich<br />

früh Gottes Wort liebgewann, <strong>und</strong> als eines Tages<br />

das Wort: Laßet uns Ihn lieben denn Er hat<br />

uns zuerst geliebt139 , mir durchs Herz ging,<br />

konnte ich nicht anders, als mich dem Herrn<br />

ganz zu ergeben. In meinem fünfzehnten Jahr<br />

wurde ich Confirmirt von Herrn Pastor Voswinkel.<br />

140 Nach der Confir mation half ich meiner<br />

Mutter im Hauswesen u[nd] um dasselbe<br />

noch etwas besser zu lernen, kam ich ein Jahr<br />

in eine Familie nach Solingen. Von da zurück<br />

gekehrt unterstützte ich wieder meine Mutter,<br />

da eine ältere Schwester heirathete. Unterdeßen<br />

aber war meine größte Sorge dem Herrn<br />

treu zu bleiben u[nd] wenn es Ihm gefallen,<br />

Ihm auch zu dienen im Reich Gottes. Als nun<br />

der Beruf zur Mission an mich kam, kostete es<br />

mir viel Kampf, aber der Herr hat durchgeholfen<br />

u[nd] mir gewiß gemacht daß es Sein Wille<br />

ist. Bin deßhalb auch getrost, da ich nun hinaus<br />

ziehen darf nach Afrika u[nd] glaube der Herr<br />

werde auch weiter helfen. Möge Er mich denn<br />

mehr u[nd] mehr zu dem Dienst tüchtig machen<br />

u[nd] meine ganze[?] Arbeit, an der Seite<br />

meines zukünftigen Gatten des Missionars<br />

Bernsmann, auch segnen.<br />

Wichlinghausen, den 20. October 1875.<br />

Zu Emilie Bernsmanns weiterer Biographie<br />

siehe Peter Friedrich Bernsmann.<br />

Missionare <strong>und</strong> Missionarsfrauen aus dem<br />

übrigen Bergischen Land<br />

Johann Heinrich Külpmann (1806–1887)<br />

Joh[ann] Heinr[ich] Külpmann [Notiz]:<br />

Rietmacher, früher Katholik<br />

geb[oren] zu Lennep 1806 am 27ten<br />

Feb[ruar] von den Eheleuten Heinr[ich] Külpmann<br />

u[nd] Mar[ia] Elisabeth Büchler, welche<br />

der Röm[isch]-Kathol[ischen] Kirche zugethan<br />

waren. Meine Mutter verlor ich bald im 3ten<br />

Jahre meines Lebens; mein Vater erzog mich<br />

jedoch in der Furcht des Herrn, welches Gott<br />

auch segnete, wie mir das aus mehreren guten<br />

Herzenseindrücken aus meiner Kindheit noch<br />

bekannt ist. In meinen Knabenjahren gerieth<br />

ich jedoch in Verbindung mit anderen Jugendgenossen<br />

in manchen Leichtsinn u[nd] Sünde,<br />

die mich noch oft mit David Ps[alm] 25,7 141<br />

seufzen machen. Aus diesen Verbindungen<br />

heraus brachte mich der Herr in das Haus u[nd]<br />

die Gemeinschaft der lieb[en] christl[ichen]<br />

Familie Haasen in Elberfeld, wo ich das Riethmacher-Handwerk<br />

erlernte, u[nd] wo der Herr<br />

Jesus durch den Umgang dieser Leute, so wie<br />

durch das Lesen seines h[ei]l[igen] Wortes mit<br />

seiner mächtigen Gnade zum Leben sich an<br />

mir bewieß. Ich wurde vor u[nd] nach erweckt,<br />

von der Wahrheit u[nd] Heiligkeit des Gesetzes,<br />

u[nd] dadurch von meiner Sündigkeit<br />

überhaupt, u[nd] fing so an Vergebung meiner<br />

Sünden u[nd] Gnade zu suchen; Vor <strong>und</strong> nach<br />

offenbarte sich mir der Herr Jesus auch als<br />

mein Heiland, durch sein köstliches[?] Evangelium,<br />

u[nd] durch verschiedene kräftige Versicherungen<br />

derselben in meiner Seele, wodurch<br />

der Friede Gottes zuerst in mein bekümmertes<br />

Herz kam. Zu dieser Zeit erwachte auch<br />

zuerst der Missions trieb in mir, der sich jedoch<br />

jetzt bloß auf Drängen zur Bekehrung an meine<br />

Anverwandten beschränkte, welches diese jedoch<br />

nicht gut aufnahmen, besonders, da ich<br />

brieflich manches über das Schriftwidrige in<br />

der Römischen Kirche u[nd] das Unzulängliche<br />

ihrer Anweisungen, um die Seligkeit, Vergebung<br />

der Sünden u[nd] G[otte]s Gnade zu<br />

erlangen, mit hatte einfließen lassen. Sie fingen<br />

bald an, öffentlich gegen mich in Opposition<br />

zu treten, suchten mich mit List von Elberfeld<br />

wegzuholen, mir schwer zu drohen, oder mich<br />

durch Hinführen zur Darlegung u[nd] Beweisung<br />

meiner aus Gottes Wort erwachsenen Gesinnung<br />

vor katholischen Priestern, u[nd]<br />

durch Vorstellungen u[nd] Bitten bewegen, den<br />

Weg aller Welt u[nd] meiner Väter wieder einzuschlagen,<br />

wobei ich dann ja glauben könnte,<br />

was ich wollte, wie sie sagten. Doch der Herr<br />

bewahrte mich, befestigte mich durch alles dieses,<br />

was mir geschah, nur desto mehr in Seiner<br />

Wahr heit u[nd] ich wurde recht zum Gebet<br />

u[nd] zur völligen entschiedenen Uebergabe an<br />

meinen Herrn <strong>und</strong> Heiland gebracht. Dadurch,<br />

65


daß sich endlich meine Verwandten ganz von<br />

mir abwandten <strong>und</strong> mich als einen unheilbaren<br />

Ketzer eine Zeitlang verließen, erhielt ich nun<br />

völlige Freiheit, das lautere u[nd] reine Wort<br />

Gottes in den evan gelischen Kirchen des Wupperthals<br />

nach Herzenslust predigen hören zu<br />

können, was mir zum unaussprechlichen Segen<br />

reichte. Als mein Vater einige Jahre nach diesem<br />

gestorben, u[nd] kein Hinderniß mehr für<br />

mich im Wege stand, trat ich endlich im Jahr<br />

1825 mit innigster Herzensüberzeugung öffentlich<br />

zur evangelisch-reformirten Kirche<br />

über, welcher Schritt, da er schon jahrelang<br />

überlegt u[nd] durch alleinigen Besuch des<br />

protestantischen Gottesdienstes eigentlich<br />

schon[?] faktisch geschehen war, mich auch<br />

später keinen Augenblick gereut, sondern mich<br />

im Gegenteil mit Dank gegen Gott für diese<br />

empfangene Gnadenwohlthat erfüllt hat. Um<br />

diese Zeit offenbarte ich auch den Trieb <strong>und</strong><br />

[Wort nicht mehr erkennbar] meines Herzens<br />

zum Missionsdienste einigen Gliedern der<br />

Elber felder Missions-Gesellschaft 142 , welche<br />

[mich?] jedoch auf rechte Selbstprüfung u[nd]<br />

ruhiger Erwartung des Willens u[nd] Winkes<br />

Gottes zu diesem Berufe [ermahnten?]. Dieser<br />

Trieb wurde zwar in den Jahren 1826 bis 1831<br />

durch manche Untreue meines Herzens gegen<br />

den Herrn, durch heimliches Hangen u[nd]<br />

Nachgehen der Lüste meines bösen Herzens,<br />

durch heimliches Gleichstellen mit der Welt<br />

u[nd] durch Stricke u[nd] Netze der Sünde,<br />

worin ich mich verflechten ließ, wodurch ich<br />

auch eine Zeitlang in Dürre, Gebetslauigkeit,<br />

Trägheit etc. gerieth, sehr geschwächt, doch<br />

ging er nie unter, sondern wurde mir immer<br />

mehr ein Stachel in der Seite, u[nd] als ich endlich<br />

im Jahr 1831 aufs neue kräftig zum Herrn<br />

gezogen wurde, u[nd] nach langem schweren<br />

Kampf mit Unglauben u[nd] halber Ver -<br />

zweiflung, als sei für mich, vom Herrn Jesu<br />

Abtrünnigen keine Gnade mehr übrig, unter<br />

aufrichtigem Bekenntnis aller meiner Sünde<br />

der völligen Vergebung u[nd] Gnade, ja Liebe<br />

meines Gottes u[nd] Vaters in [?] u[nd] um seinetwillen,<br />

versichert wurde, hatte ich nun<br />

keine Ruhe mehr, bis ich der Miss[ions]-<br />

Gesellsch[aft] meinen Wunsch, als Missions-<br />

Zögling auf genommen zu werden, schriftlich<br />

66<br />

überreicht hatte. Doch fand es der Herr für gut,<br />

mir noch längere Zeit zur reiferen Prüfung<br />

u[nd] Geduldsübung, so wie zur völligen Uebergabe<br />

meines Willens an Ihn zu schenken.<br />

Die Deputation hatte nämlich auf meine<br />

schriftliche Erklärung hin allein nicht Freudig -<br />

keit, mich so bald aufzunehmen, welches wohl<br />

theils daher kam, daß ich mich, in allzugroßer<br />

Aengstlichkeit nicht gehorig überzeugend klar<br />

in Bezug auf meinen wahren Herzenstrieb ausgesprochen<br />

hatte, u[nd] dann auch, um mich,<br />

da ich gerade für die Zeit ohne Condition<br />

stand, noch näher zu prüfen. Endlich nach<br />

1jährigem Harren geschah meine Auf nahme<br />

im Sommer 1832 als Zögling im Missionshaus.<br />

Auch hier wurde ich nach einiger Zeit wieder<br />

über meinen Beruf ins Dunkel gestellt, u[nd]<br />

bei mehrerer Erkenntnis meines großen Sündenelends<br />

auch selbst mir mein Aufenthalt im<br />

Missionshause als Zögling unter den Brüdern<br />

(die ich Alle tüchtig u[nd] vom Herrn berufen<br />

mich aber untüchtig, unwürdig u[nd] nicht<br />

vom Herrn zu diesem h[ei]l[igen] Werke berufen<br />

ansah) zur Sünde, so daß ich dachte, um<br />

Ruhe des Gewissens zu bekommen, wieder<br />

austreten zu müssen, damit nicht der Fluch, um<br />

der Scherflein der Armen willen, die zur Mission<br />

auf den Altar des Herrn gelegt wurden,<br />

u[nd] an mich unwürdig angewandt würden,<br />

über mich käme. Hierdurch wurde ich dann<br />

wieder recht ins demüthige Gebet, um Aufschluß<br />

u[nd] gewisse Mit theilung des Willens<br />

Gottes über mir getrieben, u[nd] der Herr erhörte<br />

mich auch bald nachher, als ich durch<br />

uns[eren] lieb[en] H[er]rn Inspector 143 hören<br />

durfte, daß der Herr auf diese Weise zerschlüge<br />

u[nd] demüthige, u[nd] nur durch wahrhaft<br />

zerschlagene u[nd] wirklich demüthige Werkzeuge<br />

u[nd] Gefäße etwas zum Heil Anderer<br />

thäte. Meine große Herzensangst verlor sich<br />

dadurch etwas, u[nd] mein Herzensunglaube<br />

bekam bald, als ich, da die erste Classe so gering<br />

an Anzahl war, u[nd] ich darin aus der 2ten<br />

versetzt wurde, u[nd] bei meiner wieder neuen<br />

Angst, als würde ichs nicht ausführen können<br />

etc., dadurch einen gewaltigen Segensstoß, daß<br />

der treue Heiland kräftig, so daß ich auch nicht<br />

anders konnte noch wollte, mir in die Seele<br />

sprach: ,,Und setzet eure Hoffnung ganz auf


die Gnade etc.“ 144 , welche Worte mir das allersüßeste<br />

Evangelium wurden. Von dieser Zeit<br />

an gings besser, obschon die Angstlichkeit<br />

u[nd] Verzagtheit noch oft versucht, wieder unter<br />

dem Schutz des Unglaubens die Herrschaft<br />

in meiner Seele zu gewinnen… Durch die<br />

theuren Unterweisungen uns[eres] lieb[en]<br />

H[er]r[n] In spectors habe ich unaussprechlich<br />

viel Segen<br />

in Bezug auf das rechte Theilen des<br />

göttl[ichen] Wortes, so wie auf rechte Erkenntnis<br />

der Sünde u[nd] Gnade, des Gesetzes u[nd]<br />

Evangeliums, u[nd] besonders über die Rechtfertigung<br />

durch [Christus?] in ihren beiden<br />

vollen Theilen erlangt u[nd] empfangen. Durch<br />

die Art u[nd] Weise, wie der Ruf, um jetzt in<br />

die Heidenwelt mit aus zugehen durch das Zusammentreten<br />

u[nd] freudige Verlangen, daß<br />

noch Einer mehr mit ausgehen möchte, so wie<br />

durch den völlig einstimmigen u[nd] freudigen<br />

Beschluß der Deputation am 9ten Juny, daß ich<br />

dieser sein sollte, vom Herrn an mich gekommen<br />

ist, hat Er sich aufs neue zu meiner<br />

Schwachheit bekannt, u[nd] mein Vertrauen<br />

auch nicht beschämt, sondern mir im Examen<br />

glücklich durchgeholfen, u[nd] mich nun unter<br />

feierlicher Auflegung der Hände in das Amt,<br />

das die Ver söhnung predigt, eingesetzt. So<br />

gehe ich dann nun in Deinem Namen u[nd] auf<br />

Dein Geheiß, Herr Jesu, wohin Du mich sendest.<br />

Gehe Du mir voran, leite u[nd] bewahre<br />

mich an u[nd] unter Deiner starken Hand, laß<br />

deine Verheißung Matt[häus] 28,18–20 mich<br />

erfahren, u[nd] folge mir nach, damit ich so in<br />

deinem Dienste Dir zur Ehre, den Heiden zum<br />

Segen u[nd] meinen lieb[en] Lehrern der Deputation<br />

u[nd] allen deinen Miss[ions]-Fre<strong>und</strong>en<br />

zur Freude, so wie auch selbst treu u[nd]<br />

allezeit selig erf<strong>und</strong>en werde. Darauf spreche<br />

ich Amen, Herr Jesu, laß auch mich Dein Amen<br />

alle Tage meines Lebens reichlich u[nd] selig<br />

erfahren Amen.<br />

Geschrieben in der letzten Nacht vor unserer<br />

Abreise nach Africa.<br />

Miss[ions]-Haus am 24ten July, 1834.<br />

Joh[ann] Heinr[ich] Külpmann.<br />

Johann Heinrich Külpmann wurde im August<br />

1834 nach der Kapregion ausgesandt, wo<br />

er zunächst zwei Jahre in Stellenbosch verbrachte<br />

<strong>und</strong> später auf den Stationen Worcester<br />

(1836–45), Ebenezer (1845–46) <strong>und</strong> Saron<br />

(1846–52) tätig war. Am 15. Januar 1835 hatte<br />

er Christine Vos aus Tulbagh geheiratet, die<br />

nach nur fünf Ehejahren, am 11. Oktober 1840,<br />

starb. Am 30. Januar 1843 heiratete Külpmann<br />

Henriette von der Brake (1814–1852) aus Altena,<br />

mit der er die Kinder Christine (* 1844),<br />

Johannes (*1848), Marie (* 1850, verheiratet<br />

mit Stadtmissionar Schmidt, Elberfeld) <strong>und</strong><br />

Wilhelm (* 1851) hatte. Kurz vor der Rückkehr<br />

des Paares nach Deutschland erkrankte Henriette<br />

Külpmann an Brustkrebs <strong>und</strong> starb am<br />

11. Juni 1852 in Worcester. Külpmann war bis<br />

1859 im Heimatdienst der Rheinischen Mission<br />

tätig, bevor er ein Pfarramt übernahm.<br />

1871 ging er in den Ruhestand. 145 Er starb am<br />

9. Januar 1887 in Barmen.<br />

Ferdinand Juffernbruch (1819–1893)<br />

Lebenslauf v. F[erdinand] Juffernbruch<br />

[Notiz:] Schreiner<br />

Ich wurde im Jahr 1819 d[en] 15ten März<br />

auf der Beugers[?] in der Gemeinde Ratingen<br />

geboren, <strong>und</strong> am 20sten dieses M[onats] von<br />

dem Herrn Pastor Petersen 146 getauft. Mein Vater,<br />

Joh[ann] Wilh[elm] im Jahr 1766 den 27ten<br />

October auf dem Juffernbruch in Erkrath geboren,<br />

lebt noch; meine Mutter aber, geborene<br />

Vosbein, ist schon seit 8 Jahren entschlafen.<br />

Weil meine lieben Eltern verarmten, so mußten<br />

sie mich frühe in Arbeit stellen, <strong>und</strong> ich konnte<br />

nur kurze Zeit den Schul-Unterricht genießen.<br />

Und weil ich meinen Eltern oft sehr un -<br />

gehorsam war, ihnen manches Herzeleid verursachte,<br />

so daß sie oft mit betrübtem Herzen, namentlich<br />

meine liebe Mutter, zu mir sagte:<br />

„Kind! Kind! Was soll noch aus dir werden!<br />

Du artest ganz aus! so sahen sie sich genöthigt,<br />

mich bei andere Leute zu thun was dann auch<br />

geschah. Erst vermie theten sie mich 1 Jahr<br />

nach Brunnenhaus[?], in der Nähe von Mettmann.<br />

Da mußte ich, außer dem Kühehüten,<br />

tüchtig arbeiten, so daß ich wenige Augenblicke<br />

frei hatte. Auch war ich da abge schnitten<br />

von allem Umgang mit leichtfertigen Knaben;<br />

67


<strong>und</strong> dieses alles war mir eben recht heilsam.<br />

Oft fielen mir die oft mit Tränen begleiteten<br />

Worte meiner lieben Eltern ein, ich mußte über<br />

meinen Ungehorsam gegen meine lieben <strong>und</strong><br />

so gutmeinenden Eltern weinen; aber dies waren<br />

noch nicht die rechten Thränen; die noch<br />

nicht göttliche Traurigkeit, welche zur Seligkeit<br />

eine Reue gewinnt, die niemand gereut.<br />

Diese trat erst nach 1 /2 Jahr ein. Vom Herbste an<br />

mußte ich bei Herrn Pastor Müller 147 in die<br />

Kinderlehre gehen, <strong>und</strong> der Herr segnete diesen<br />

Catechisationsunterricht so an meinem<br />

Herzen, so daß ich mein verdorbenes Herz,<br />

meinen verdammungs würdigenden Zustand<br />

allmählich kennen lernte [<strong>und</strong>?] oft schmerz -<br />

lich fühlte. Aber zu einem Durchbruch kam es<br />

mit mir noch nicht. Dies geschah erst im März.<br />

Herr Pastor Müller predigte nämlich über die<br />

Schächer am Kreuz, <strong>und</strong> durch diese Predigt<br />

wurde ich so ergriffen, so daß ich vor Angst<br />

über meine Sünde nicht zu bleiben wußte. Sobald<br />

die Kirche aus war, eilte ich mit über<br />

meine Sünde tief betrübtem <strong>und</strong> nach Gnade<br />

<strong>und</strong> Rettung schreiendem Herzen nach Hause,<br />

um da ein verborgenes Plätzchen zu suchen,<br />

wo ich meine Knie vor dem Herrn beugen <strong>und</strong><br />

ihm meine Noth klagen konnte. Diese Noth,<br />

diese Sünden-Angst, dieses Schreien nach Erbarmung<br />

<strong>und</strong> Rettung dauerte mehrere Tage, so<br />

daß ich weder essen noch trinken konnte, <strong>und</strong><br />

die Leute im Hause nicht wußten, was mir war,<br />

bis ich’s ihnen endlich sagen mußte. Endlich<br />

aber erhörte der Herr mein Flehen, <strong>und</strong> verwandelte<br />

die Traurigkeit in Freude <strong>und</strong> Jauchzen.<br />

Ich war gerade am Vormittag in der Stube<br />

um Kartoffeln zu schälen, als auf einmal das<br />

Wort des Herrn wie ein Blitz in mein verw<strong>und</strong>etes<br />

Herz fuhr: „Sei getrost mein Sohn, dir<br />

sind deine Sünden vergeben!“ 148 Was ich da<br />

empfand, ist mir unmöglich niederzuschreiben.<br />

Ich mußte mit dem[?] Dichter jauchzend sagen:<br />

„Ach, was hör’ ich? Gnade! Gnade!<br />

Gnade schallet in mein Ohr: Ach, mich Sündenwurm,<br />

mich Made hebt ein sanfter Zug empor.<br />

Gott spricht: Sünder, du sollst leben, deine<br />

Schuld ist dir vergeben; Sei getrost, mein lieber<br />

Sohn! Komm zu meinem Gnaden -Thron!“<br />

u.s.w.<br />

Gern hätte ich nun einen jeden so glücklich<br />

68<br />

gesehen, wie ich war durch die freie Gnade<br />

[des?] treuen Herrn, <strong>und</strong> als ich aus den Missions-Blättern<br />

ersah, daß noch so viele tausende<br />

von armen Heiden in den Zorn dahin gingen,<br />

ohne etwas von diesem alleinigen Retter <strong>und</strong><br />

Seligmacher hören zu können: so bekam ich<br />

den heißen Wunsch, das herzliche <strong>und</strong> sehnliche<br />

Verlangen, diesen armen Seelen dasselbe<br />

Heil anzupreisen, das mir wider fahren. Wenn<br />

ich aber den Blick auf mich, den armen Jungen,<br />

auf meine Unwürdigkeit richtete: so suchte ich<br />

dieses Ver langen zu unterdrücken.<br />

Am 1. Mai, als ich mein Jahr ausgedient<br />

hatte, zog ich vom Armenhaus nach Groß-<br />

Menninghof, auch in der Nähe von Mett mann,<br />

wohin meine Eltern mich wieder ein Jahr vermiethet<br />

hatten, <strong>und</strong> dieselben Dienste tun<br />

mußte, wie zu Brunnenhaus[?]. Hier wohnte<br />

ich nun bei wahrhaft frommen Leuten, die sich<br />

meiner leiblich <strong>und</strong> geistlich recht liebreich annahmen.<br />

Auch ließen sie mich bei Herrn Pastor<br />

Müller confirmiren, was mir viel werth <strong>und</strong><br />

große Freude war. Als ich nun zu Groß-Menninghofen<br />

mein Jahr ausgedient hatte, <strong>und</strong> confirmirt<br />

war, da thaten mich meine Eltern bei<br />

Herrn Beikerhoff, Schreinermeister in Mettmann,<br />

auf drei Jahre in die Lehre, um die<br />

Schreinerei zu erlernen. Sooft ich auch das<br />

eben erwehnte Verlangen, oder richtiger, den<br />

Missionstrieb zu unterdrücken suchte, weil ich<br />

mich für zu unfähig ansah: so war es mir doch<br />

un möglich, diesen Trieb zu unterdrücken, ja, er<br />

wurde immer sterker <strong>und</strong> ich beim Unterdrücken<br />

desselben immer unruhiger, so daß ich<br />

zuletzt in meinem letzten Lehrjahre den Herrn<br />

Pastor Müller hierüber in Kenntnis setzte, der<br />

mir sagte, es könne[?] vielleicht geschehen,<br />

daß die Deputation mich als Kolonist, oder<br />

höchstens als Schullehrer der armen Heiden-<br />

Kinder aussenden könnte, <strong>und</strong> so theilte Herr<br />

Pastor Müller dies[?] der ehrw[ürdigen] Deputation<br />

mit. Vorläufig mußte ich, wie alle Missions-Aspiranten,<br />

im Wupperthale arbeiten, <strong>und</strong><br />

zwar 1 1 /2 Jahre, auf daß die ehrwürdige Deputation<br />

mich näher kennen lernte. Dann wurde<br />

ich aufgenommen, um im Missions -Hause zum<br />

Missionsdienste vorbereitet zu werden. Meine<br />

Vor bereitungszeit im Missions-Hause währte 2<br />

1/2 Jahre, welche Zeit mir zum großen Segen


Ferdinand Juffernbruch<br />

gereichte. Namentlich hat sich mein Herz oft in<br />

den mir unvergeßlichen Bibelst<strong>und</strong>en geweitet[?],<br />

welche unser lieber Herr Inspector Dr.<br />

Richter149 ertheilte. Dann wurde mir der Ruf<br />

von[?] der General-Versammlung nach Borneo<br />

zu gehen, <strong>und</strong> den armen Bornesen das süße<br />

Evangelium, die theure Botschaft von Christo<br />

zu bringen. Am 1. Juni wurde ich mit den anderen<br />

Brüdern in der luth[e rischen] Kirche zu<br />

Elberfeld abgeordnet, <strong>und</strong> am 25ten Juni traten<br />

wir die Reise zu den armen Verlorenen an. Der<br />

Herr wolle mit uns sein <strong>und</strong> bleiben; uns recht<br />

in die Niedrig keit <strong>und</strong> Einfalt des Herzens hineinführen,<br />

darin erhalten <strong>und</strong> uns zu seinen<br />

treuen Friedens-Boten machen! Ihm, dem ewig<br />

Treuen, sei Dank für Alles!<br />

Atlantischer-Ocean den 14ten September<br />

1842<br />

Ferdinand Juffernbruch wurde im Juni<br />

1842 nach Borneo ausgesandt, wo er auf der<br />

Station Kahajan als Missionar tätig war. Wegen<br />

Erkrankung seiner Frau, Adelheid von Ha-<br />

gen aus Lennep, die er am 21. Juni 1842 geheiratet<br />

hatte, mußte das Paar die Station 1844<br />

verlassen. Ab 1845 war Juffernbruch auf der<br />

Station Ebenezer/Kapregion tätig. Wegen erneuter<br />

schwerer Krankheit seiner Frau kehrte<br />

die Familie 1856 nach Deutschland zurück. In<br />

den nächsten sieben Jahren war Juffernbruch<br />

als Reiseprediger der Rheinischen Mission in<br />

ganz Deuschland unterwegs, bevor er 1863<br />

Gefängnisprediger in Elberfeld wurde. Erst<br />

nach dem Tod von Adelheid Juffernbruch<br />

(7.März 1873), die „19 Jahre fast beständig<br />

krank zu Bett gelegen hatte“ 150 , sah sich Juffernbruch<br />

in der Lage, seine Arbeit als Missionar<br />

wieder aufzunehmen. Seit 1874 war er zur<br />

Unterstützung von Paulus Daniel Lückhoff auf<br />

der Station Stellenbosch tätig.<br />

Mit seiner ersten Frau hatte Juffernbruch<br />

acht Kinder gehabt, von denen nur zwei ein<br />

höheres Alter erreichten: Carl (* 1846, Prediger<br />

am Kap) <strong>und</strong> Maria (* 1857). Am 9. Juni<br />

1875 heiratete Juffernbruch Friederike Schröder<br />

(1842–1913) verw. Kupferbürger, aus<br />

Wupper thal, mit der er drei Kinder hatte: Johanne<br />

(* 1876), Ferdinand (* 1878) <strong>und</strong> Lucie<br />

(* 1879). Durch ein „schmerzvolles Fußleiden“<br />

151 sah Juffernbruch sich im Jahre 1888<br />

gezwungen, in den Ruhestand zu treten. Er<br />

starb am 26. September 1893 in Stellenbosch.<br />

Anna Rath, geb. Jörris (1822–1859)<br />

Anna Jörris geb[oren] den 2 Juni 1822.<br />

Mein Vater Gerhard Jörris <strong>und</strong> meine Mutter<br />

Chatharina Jörris geb. Banert[?] nebst 8 Geschwistern<br />

leben noch jetzt in meinem<br />

Geburts ort in Eversael Gemeinde Budberg bei<br />

Rheinberg woselbst sie sich vom Ackerbau<br />

ernähren. In meinem 5 Jahre zogen meine Eltern<br />

in der nähe von Mettmann auf einem<br />

Ackergut u[nd] ich blieb zurück bei der<br />

Großmutter <strong>und</strong> besuchte den dortigen Schulunterricht<br />

von Herr [?] in meinem 9 lebensjahre<br />

folgte ich meinen Eltern nach Mettmann<br />

wo ich den ferneren Schul-Unterricht vom<br />

Lehrer Kaulen[?] in der Herrschaft[?] Diepensiepen<br />

genoß <strong>und</strong> im 12 Jahre die Catechisation<br />

von Herr Kandidat Ball besuchte. Nach-<br />

69


dem ich nun auch noch 2 Jahre den Confirmanden<br />

Unter richt von Herr Pastor Müller 152 besucht<br />

hatte wurde ich vom Letzteren in Mettmann<br />

Confirmirt. Während dem Con fir man -<br />

den Unterricht wurde ich erweckt <strong>und</strong> die liebevollen<br />

mit großem Ernst verb<strong>und</strong>enen Ermahnungen<br />

des Herrn Pastors waren die Mittel<br />

welche der Herr an meinem Herzen segnete.<br />

Nun war es zwar mein ernstlicher Vorsatz mich<br />

ganz dem Herrn hin zugeben u[nd] ihn zu leben,<br />

<strong>und</strong> mein inniger Wunsch dem Herrn in<br />

der Heidenwelt zu dienen, aber es war leider<br />

dies Alles auf eigene Kraft gegründet <strong>und</strong><br />

konnte deshalb nicht bestehen. Zwei Monate<br />

vor meiner Confirmation zogen meine Eltern<br />

auf ihren jetzigen Eigenthum nach Eversael<br />

<strong>und</strong> gleich nach der selben folgte ich dorthin<br />

wo ich von mehreren Verwandten u[nd] Fre<strong>und</strong>en<br />

fre<strong>und</strong>lich aufgenommen <strong>und</strong> zu ihren<br />

weltlichen Treiben <strong>und</strong> Vergnügungen hingerissen<br />

wurde, denn auch im Elterlichen Hause<br />

hörte ich wenig Christliches weil die Eltern damals<br />

auch noch ungläubig waren. Ruhe hatte<br />

ich seitdem ich erweckt war aber nie mehr;<br />

auch in den größten weltlichen Vergnügen,<br />

denn der treue Herr der immerdar die verlorenen<br />

Schafe nachgeht, konnte auch mich nicht<br />

lassen <strong>und</strong> verfolgte mich bis ich nicht weiter<br />

mehr konnte. Von meinem 17 Jahre an war ich<br />

1 1 /2 Jahr in Mettmann bei mein Ohm u[nd]<br />

Tante um denen im Laden u[nd] in der Haushaltung<br />

behülflich zu sein, diese Zeit lebte ich<br />

ganz einsam u[nd] zurückgezogen nur im<br />

Kreise der Familie, ich hatte keine einzige<br />

Fre<strong>und</strong>in u[nd] glaubte nun so mir selbst u[nd]<br />

den gesetzlichen Forderungen die an mir ergingen<br />

in meinem Innern genug zu thun doch auch<br />

hier fand ich keine Beru higung <strong>und</strong> erst im<br />

Jahre 1842 als ich wieder nach Eversael<br />

zurückkam <strong>und</strong> es sich dort während meiner<br />

Abwesenheit sehr lieblich gestaltet hatte, denn<br />

es war dort reges Christliches Leben unter<br />

mehreren Dorfbewohnern u[nd] auch bei meinen<br />

lieben Eltern u[nd] meiner Schwester gekommen,<br />

dies erschütterte mich heftig <strong>und</strong> erst<br />

da fühlte ich wie weit ich vom Herrn entfernt<br />

war. Centnerschwer fiel mir besonders auf die<br />

Seele, daß ich meinen Vorsatz bei der Confirmation<br />

so untreu geworden war u[nd] ich<br />

70<br />

glaubte es sei jetzt mit mir gar aus u[nd] keine<br />

Gnade mehr für mich, bis es dann endlich nach<br />

manchen schweren Kämpfen die fast ein<br />

ganzes Jahr währten dem Herrn gefiel mir der<br />

Vergebung der Sünden gewiß zu machen wozu<br />

nächst Gotteswort die Predigten von Krumacher153<br />

über’s Hohelied Salomo u[nd] Missionars<br />

Empfindungen[?] auf dem Himmelswege<br />

mir geseg nete Mittel waren in des Herrn Hand.<br />

Jetzt erwachte aber auch wieder ganz lebendig<br />

der Trieb in mir dem Herrn in der Heidenwelt<br />

zu dienen, doch wie sollte ich dazu gelangen;<br />

ich war zu wenig mit der h[ei]l[igen] Missionssache<br />

bekannt, u[nd] hatte auch keine Freiheit<br />

mich zu melden, ja nicht einmal mich anders<br />

als vor dem Herrn u[nd] einer mir sehr vertrauten<br />

Fre<strong>und</strong>in auszusprechen. Ich mußte nur immer<br />

den Herrn bitten mir doch, wenn es sein<br />

Wille wäre den Weg zu bahnen um mich als ein<br />

geringes Werkzeug in seiner Hand zu gebrauchen<br />

wo es ihm wohlgefiele, doch zu seiner<br />

Ehre u[nd] zum Preise seines h[ei]l[igen] Namens.<br />

Vor beinah zwei Jahre wurde ich durch ein<br />

besonderes Verhältnis veranlaßt meinen Trieb<br />

zur Mission gegen meine Eltern u[nd] einigen<br />

Missionsfre<strong>und</strong>en auszusprechen u[nd] vor<br />

stark 6 Monate von der Frau Inspektorin Richter154<br />

gebeten sie als Missionsfre<strong>und</strong>in einmal<br />

zu besuchen woher der Geehrte Herr Inspector<br />

u[nd] seine liebe Frau meine Nei gung zum<br />

Missionsdienst wußten ist mir unbekannt, das<br />

aber weiß ich <strong>und</strong> bins gewiß daß der Herr es<br />

so geführt hat; Er ist es ja auch nur allein der<br />

jetzt der geehrten Rheinischen Missionsgesellschaft<br />

oder doch den geehrten Herren Deputirten<br />

Freudigkeit gegeben hat mich in ihren<br />

Dienst zu nehmen um mich nach Stellenbosch<br />

in Südafrika zu schicken. Und so schließe ich<br />

mich denn so der Herr will morgen getrost den<br />

andern 5 Missions-Geschwister an <strong>und</strong> wir treten<br />

mit Gottes Hülfe gemeinschaftlich die<br />

Reise an. Ich bin ganz gewiß daß der Herr der<br />

das Werk angefangen es auch vollführen wird<br />

zu seines Namens Ehre<br />

Barmen den 3ten September 1846<br />

Anna Jörris wurde 1846 nach Stellenbosch<br />

entsandt, wo sie zunächst als Gehilfin der


„Witwe Kähler“ tätig war. 1848 reiste sie nach<br />

Südwestafrika, wo sie am 21. März 1848 den<br />

ehemaligen Seidenweber Johannes Rath<br />

(1816–1903) aus Wien heiratete, der seit 1844<br />

als Missionar bei den Herero tätig war,<br />

zunächst auf den Stationen Otjikango (1845–<br />

49) <strong>und</strong> Otjimbingue (1849–61). Im Oktober<br />

1858 brach die inzwischen achtköpfige Familie<br />

auf, um die beiden ältesten Kinder, Catharine<br />

(* 1849, verheiratet am Kap) <strong>und</strong> Anna (*<br />

1851, Lehrerin am Kap), zur Erziehung in die<br />

Kapregion zu bringen. Auf der Rückreise lief<br />

das Schiff am 1. April 1859 in der Walfischbai<br />

auf Felsen auf. Anna Jörris <strong>und</strong> ihre vier Kinder<br />

ertranken, nur der Familienvater überlebte<br />

das Unglück. 155 Von 1862–93 war Rath Missionar<br />

der Station Sarepta in der Kapregion, danach<br />

lebte er als Emeritus in Stellenbosch, wo<br />

er am 6. Juni 1903 starb.<br />

Wilhelm Lobscheid (1822–1898)<br />

[Notiz:] Schumacher<br />

W[ilhelm] Lobscheid wurde 1822 d[en] 19.<br />

März zu Lobscheid, Gemeinde Gummersbach,<br />

Bürgermeisterei Gimborn von J[?] W[?] Lobscheid,<br />

Branntweinbrenner u[nd] Ackersmann<br />

daselbst u[nd] Wilhelmine Mohrenstecher, geboren.<br />

Nach dem frühen Tode meiner Mutter<br />

[am Rand: + 1829] war ich mehr mir selbst<br />

u[nd] der Willkür unseres Gesindes überlassen,<br />

bis 1831 mein Vater in eine zweite Ehe mit einer<br />

Wittwe auf dem Hülsenbusch einging, welche<br />

aber durch den Leichtsinn meines Vaters<br />

nicht glück lich geführt wurde. 1830–17<br />

Sep[ember]. wurde er ein Opfer des Grames<br />

u[nd] Schmerzes, nachdem er vorher durch<br />

Reue u[nd] Schmerz sich auf seinen Tod vorbereitet<br />

hatte. Ich kam zu meinem Ver wandten<br />

in Bernberg[?] wo ich bei meinem Vetter Viebahn<br />

3 Jahre zubrachte, bis mancherlei Verhältnisse<br />

mich dem Kaufmanns tande [am Rand: zu<br />

dem ich bestimmt war] entsagen u[nd] das<br />

Schuhmacherhandwerk erlernen hießen. 1837<br />

trat ich in der Letmathe[?] in die Lehre, zog mit<br />

meinem Meister nach Freudenberg, von wo aus<br />

ich 1839 wieder nach Gummersbach reiste, daselbst<br />

in Derschlag 11 M[ona]t[e] arbeitete<br />

u[nd] 1840 im Sept[ember] nach Lennep reiste.<br />

Bis dahin hatte ich keinen christl[ichen] Umgang<br />

gehabt, nur war mir durch das Lesen von<br />

Stillings Schriften (u[nd] später auch Missions-Blättern)<br />

mancher Lichtstrahl in mein<br />

Herz gekommen, der aber erst da durch die<br />

Finsternis brach, da ich 1841 das Wupperthal<br />

betrat, u[nd] durch eine lebendige Gemeinschaft<br />

geweckt u[nd] genährt wurde. Hier sah<br />

ich zum ersten Mal Missionare abordnen, welches<br />

mich auch zum ersten Mal veranlaßte,<br />

meine Knie vor dem Herren zu beugen, damit<br />

er auch mich in seinen Dienst nehmen möchte.<br />

Die mir entgegentretenden Schwierigkeiten<br />

veranlaßten mich, mich vorher durch kleine<br />

Reisen zu prüfen, ob dieser Ruf auch wirklich<br />

von Gott sei. Daher machte ich 1842 eine Reise<br />

nach Neuwied, Koblenz, St. Goar etc. von da<br />

nach Detmold, Osnabrück, kehrte 1843 im<br />

Febr[uar] wieder zurück nach Elberfeld, wo<br />

ich 1843 den 12. November als Rekrut nach<br />

Saarlouis eingefordert wurde. Auf diesem<br />

Wege dachte ich meinen Missionberuf lösen zu<br />

können – aber – schon nach 2 Monaten konnte<br />

ich wieder umkehren; u[nd] die Erfahrungen<br />

während dieser Zeit gaben mir die Versicherung,<br />

daß auch mich der Herr in seinen Dienst<br />

nehmen wollte, u[nd] zugleich die Freudig keit,<br />

mich im Okt[ober] 1844 bei der geehrten Deputation<br />

der Rh[einischen] Missions-Gesellschaft<br />

(zunächst bei dem Insp[ektor] der -<br />

selben) zu melden, u[nd] nach Verlauf von acht<br />

Tagen wurde meine Freudigkeit zu diesem Berufe<br />

durch das mir ge schenkte Vertrauen seitens<br />

der geehrten Deputation ge stärkt, indem<br />

mir die Versicherung zur Aufnahme gegeben<br />

wurde. Nach beinah l4tägigen Aufenthalten in<br />

der Schule bei Herrn Peters in Gemarke konnte<br />

ich durch Gottes Gnade in das mir unvergeßliche<br />

Missionshaus treten um unter der Leitung<br />

der jetzt schon entschlafenen Brüder, Herrn W.<br />

Richter u[nd] Insp[ektor] Dr. Heinr[ich] Richter<br />

156 mich zu dem wichtigen Amte: den Heiden<br />

das Ev[angelium] zu verkündigen, vorzubereiten.<br />

So schwer mir auch das Scheiden aus<br />

diesem Hause wird, da ich den Mann nicht<br />

mehr darin finde, zu dessen Füßen ich mich zuerst<br />

setzen durfte: so freudig gehe ich aber<br />

auch, da ich weiß, daß uns der Herr noch Einen<br />

71


Mann gelassen, den er mit Kraft, Gaben u[nd]<br />

vor allem mit tragender Liebe ausgerüstet hat.<br />

Möge der Herr ihn u[nd] alle Vertreter unserer<br />

Gesellschaft noch lange erhalten u[nd] immer<br />

reichlicher segnen, damit sie auch mir in dem<br />

mir anvertrauten Amte ferner (wie bisher) mit<br />

väterlichem Rathe beistehen können.<br />

Mein Ziel u[nd] Wunsch: „Die Erkenntniß<br />

des Herrn soll die Erde bedecken, wie das Wasser<br />

den Gr<strong>und</strong> des Meeres“ 157 ; Das[?] mein<br />

Streben, mein Gebet.<br />

W[ilhelm] Lobscheid<br />

Wilhelm Lobscheid wurde 1847 nach China<br />

ausgesandt, wo er nach einem Aufenthalt in<br />

Hongkong von 1849–51 in Saiheong als Missionar<br />

tätig war. 1851 kehrte er nach Deutschland<br />

zurück. Im Jahre 1852 schied er aus der<br />

Rheinischen Missionsgesellschaft aus <strong>und</strong><br />

schloß sich der britischen „Medico-Missionsgesellschaft“<br />

für China an. Warum Lobscheid<br />

den Dienst quittierte, hat er in einem Brief aus<br />

Hongkong an Ludwig von Rohden vom 10.<br />

März 1872 geschildert. Rohden hatte in seiner<br />

Geschichte der Rheinischen Mission mehrere<br />

kritische Bemerkungen über Lobscheid eingeflochten,<br />

auf die dieser mit einer ungeschminkten<br />

Schilderung der damaligen Umstände reagierte.<br />

Auch Entstellungen seiner späteren Arbeit<br />

in Rohdens Geschichte kritisierte er<br />

scharf. (Siehe Personalakte, B/h 3). Lobscheids<br />

späterer Lebenslauf ist noch nicht zu<br />

Ende recherchiert.<br />

Wilhelm Kind (1830–1859)<br />

W[ilhelm] Kind. [Notiz:] Anstreicher Tapezierer<br />

Jünglingsverein Wupperfeld<br />

1830 d[en] 7 Juni wurde ich zu Elbach in<br />

der Gemeinde Hülsenbusch geboren. Mein Vater<br />

war Gerber, starb aber schon in meinem<br />

zehnten Jahre, März 1840. Das Sterbebett meines<br />

sel[igen] Vaters, indem er wenige Tage vor<br />

seinem Ende zu einer gründlichen Erkenntniß<br />

seiner Sünden, aber auch bald zu der freudigen<br />

Gewißheit der Vergebung derselben gelangte,<br />

machte auf mich einen tiefgreifenden unvergeßlichen<br />

Eindruck. Im Frühjahr 1844 hei-<br />

72<br />

rathete meine Mutter meinen jetzt noch lebenden<br />

Stiefvater Chr[istian?] Brüning, welcher<br />

mir bald behülflich war, daß ich nach meiner<br />

Confirmation bei Herrn Pastor v[on] Scheven<br />

158 , zu einem Tapezierer u. Anstreicher-<br />

Meister in Gummersbach auf 3 Jahre, von 1845–<br />

1848 in die Lehre kam. Die guten Eindrücke,<br />

welche ich theils im elterlichen Hause, (meine<br />

1[iebe] Mutter hielt mich immer zum Gebet<br />

u[nd] zu Gottes Wort an,) theils am Sterbebett<br />

des Vaters, theils im Unterricht u[nd] der Confirmation<br />

bekommen hatte, begleiteten mich<br />

auch durch meine Lehrjahre hindurch, so daß<br />

ich vor groben Sünden bewahrt blieb, was ich<br />

gern als die vorlaufende Gnade ansehe. Uebrigens<br />

ging ich bis zu Ende meiner Lehrzeit immer<br />

noch ohne den Herrn u[nd] seinen Frieden<br />

dahin. Erst als ich im März 1848 in Nümbrecht<br />

auf einige Wochen arbeitete u[nd] dort am<br />

Bußtage eine Predigt von H[errn] Pastor<br />

Thümmel 159 über die liebliche ernste Geschichte<br />

vom verlorenen Sohn hörte, so gebrauchte<br />

der Herr den theuren Mann als ein<br />

Werkzeug, um mich zu sich zu ziehen. Von<br />

Nümbrecht kehrte ich dann bald wieder nach<br />

Gummersbach zurück, wo ich nun bald um<br />

Jesu u[nd] seines Namens willen Schmach<br />

u[nd] Spott tragen mußte, weil man merkte,<br />

daß ich anders von N[ümbrecht] zurück -<br />

gekommen als hingegangen war. Von Frühjahr<br />

1849 bis Herbst 1850 arbeitete ich als Geselle<br />

in Wupperfeld, wo ich bei einem alten treuen<br />

Christen im Logis war, u[nd] manche gesegnete<br />

St<strong>und</strong>e bei demselben verlebte. Auch war<br />

ich in den 2 Jahren Mitglied des Wupperf[elder]<br />

Jünglings-Vereins, was auch nicht ohne<br />

Segen für mein inneres Leben blieb. Auch<br />

wurde ich nach u[nd] nach mit der lieben Missionssache<br />

bekannt, jedoch den ersten bereitwilligen<br />

Entschluß, mich selbst in eigener Person<br />

dem Herrn zum Dienst unter den armen<br />

Heiden hinzugeben, erregte in mir eine Missionsst<strong>und</strong>e,<br />

welche unser lieber Herr Insp[ektor]<br />

Wallmann 160 eines Abends in Wupperfeld<br />

hielt, wo er über den Mangel an Arbeitern im<br />

Weinberg des Herrn unter den Heiden sprach.<br />

Ich theilte H[errn] Insp[ektor] eines Tages<br />

meine Gedanken mit, u[nd] nach Verlauf von<br />

8 –10 Wochen, d[en] 18 Nov[em]b[e]r 1850


trat ich als Zögling ins liebe Missionshaus ein.<br />

Nachdem ich ungefähr 1 Jahr im Hause war,<br />

mußte ich Soldat werden, u[nd] diente also in<br />

Wesel beim 13 Inf[ante]r[ie] Reg[iment] von<br />

Oct[o]b[e]r 1851 – Oct[o]b[e]r 1853. – Als ich<br />

erst einberufen wurde, wußte u[nd] verstand<br />

ich nicht, warum ich nun noch Soldat werden<br />

sollte; später habe ich’s eingesehen u[nd] dem<br />

Herrn dafür gedankt. Von Oct[o]b[e]r 1853 bis<br />

heute bin ich dann wieder als Zögling hier im<br />

lieben unvergeßlichen Missionshaus gewesen.<br />

Stehe ich nun heute bei diesem Scheidewege<br />

still u[nd] überdenke so Alles, u[nd] namentlich<br />

den schönen gesegneten Aufenthalt<br />

hier im Hause so muß ich in tiefer Demuth<br />

u[nd] Beschämung vor dem Herr niedersinken<br />

u[nd] ausrufen: Herr! Herr! Ich bin nicht werth<br />

aller Barmherzigkeit u[nd] großen Treue, die<br />

du an mir gethan hast! 161 Und wenn ich nun<br />

meinen mir gestellten Beruf ansehe, so rufe ich<br />

auf Gr<strong>und</strong> der vielen herrlichen Beweise der<br />

großen Treue meines Gottes u[nd] Heilandes<br />

getrost aus: Getreu ist Er, der auch mich rufet,<br />

Er wird es auch thun! 162 Amen.<br />

Missionshaus<br />

d[en] 13. Febr[uar] 1857<br />

geschrieben den Morgen vor meiner Abreise<br />

von hier nach Borneo<br />

Wilhelm Friedrich Kind wurde 1857 nach<br />

Borneo ausgesandt, wo er auf der Station<br />

Behtabara tätig war. Kinds Plan, eine neue<br />

Station „am oberen Kapuas“, nördlich von<br />

Tanggohan, zu errichten, wird Anfang 1859 in<br />

den „Berichten der Rh. Mission“ erwähnt. 163<br />

Am 7. Mai 1859 fiel Kind dem Blutbad von<br />

Tanggohan zum Opfer, bei dem die meisten<br />

Rheinischen Missionare im Gebiet ermordet<br />

wurden (siehe Emma Hofmeister). Ebenfalls an<br />

diesem Tag getötet wurde Sybilla Wilhelmina<br />

Margarete Steinfarz (* 1830) aus Jüchen bei<br />

Grevenbroich, die nur einen Monat zuvor, am<br />

2. April, Kinds Frau geworden war.<br />

Friedrich Ernst Braches (1844–1922)<br />

Fr[iedrich] E[rnst] Braches. [Notiz:] Pa-<br />

pierfabrik Kaufmann Jünglingsverein<br />

Ich wurde geboren am 10 Aug[ust] 1844 in<br />

Gräfrath, im Kreis Solingen, wo meine Eltern<br />

ein kleines Ackergütchen besaßen. Meine Erziehung<br />

lag vorzugsweise meiner theuren Mutter<br />

Carol[ine?] L[ui]s[e?], geborene Ramus ob;<br />

doch überwachte mein Vater Friedr[ich]<br />

[Paul?] dieselbe stets. Namentlich war er darauf<br />

bedacht, mich durch Schulunterricht für<br />

mein späteres Leben vorzu bilden. Diesem<br />

Zweck widmete er gern die stillen Winter -<br />

abende, in welchen er mir selber Unterricht<br />

gab; auch ließ er mir durch den Lehrer Hager<br />

Privatst<strong>und</strong>en geben. Meine Jugend bis zum<br />

11. Jahre verlief ziemlich still; doch fehlte es<br />

nicht an tiefen Eindrücken, welche die Wahrheit<br />

des Evang[eliums] auf mein Gemüth<br />

machte. Dieser mit Zweifel entgegenzutreten<br />

galt mir stets für die größte Sünde. So waren<br />

mir gottlose Leute ein Greuel, während ich vor<br />

Frommen große Achtung hatte. Die Versuchungen<br />

u[nd] Schleichgänge des Argen<br />

kannte ich aber nicht. Als nun in meinem 12<br />

Jahre meine Eltern ihr Eigenthum verkauften<br />

u[nd] in der Nähe von Elberfeld ein größeres<br />

Bauerngut mietheten, kam ich in Berührung<br />

mit vielen Jungens, meines Alters, denen ich<br />

ohne Weiteres traute u[nd] weil ich den Warnungen<br />

meiner sorgsamen Mutter kein Gehör<br />

schenkte, war ich bald ein Verführter. Eine<br />

schwere Zeit begann für mich, welche den<br />

festen Entschluß ein wahrhaft frommer<br />

Mensch zu werden, bei mir zur Reife brachte.<br />

Mit dem Entschluß ists aber nicht viel geworden.<br />

Es kann Niemand sein eigener Heiland<br />

sein, oder durch Gesetzes Werk gerettet werden.<br />

Die Schulzeit ging zu Ende, ebenso die Zeit<br />

meines Religions unterrichtes, welchen ich bei<br />

Herrn Pastor Lichtenstein 164 erhielt, ohne daß<br />

etwas Wesentliches vorgefallen sei. Das Ziel<br />

meines Strebens war etwas zu finden, worinnen<br />

ein Menschenherz Frieden u[nd] Genügen<br />

hat. Das Gut der Güter aber lernte ich erst nach<br />

meiner Confirmation ernstlicher suchen. Durch<br />

schwere Schläge welche meine Familie trafen,<br />

war mir nachgerade unmöglich geworden, was<br />

ich bis dahin stets verschmäht hatte, entweder<br />

ein Handwerk zu erlernen, oder mich fur ir-<br />

73


gend einen anderen Lebensberuf vor zubilden.<br />

Eine zeitlang that ich gewöhnliche Handarbeit<br />

in einer Papierfabrik. Später schloß mein Vater,<br />

da er auf keine andere Weise etwas thun konnte<br />

für meine Zukunft, einen Contrakt mit meinem<br />

bisherigen Principal165 in welchem derselbe[?]<br />

sich verpflichtete mich die Papierfabrikation<br />

zu lehren. In jener Zeit fallen die stärksten<br />

Züge der Gnade, durch welche ich befähigt<br />

wurde ernstlicher wie je, Gnade Friede u[nd]<br />

ewiges Leben zu suchen. Damals kam auch<br />

zum ersten Male, soviel ich weiß, der Gedanke<br />

in mir auf, u[nd] sprach ich ihn als Bitte vor<br />

dem Herrn aus, [?] er mich doch als einen Boten<br />

seines herrlichen Evangeliums zu den Heiden<br />

senden wolle. – Im März des Jahres 1862<br />

erkrankte ich am Nervenfieber, u[nd] es schien,<br />

um nicht wieder zu genesen. In dieser Krankheit<br />

gab mir der Herr die Gewißheit, daß ich selig<br />

werden solle. Aber ich hatte keine Früchte<br />

gebracht; deshalb begehrte ich, im Falle der<br />

Herr mir dazu Gnade geben wolle, wieder ges<strong>und</strong><br />

zu werden, was auch geschah. Meine<br />

frühere Stellung konnte ich nicht wieder einnehmen,<br />

wegen meiner Ges<strong>und</strong> heit. Durch<br />

Vermittlung eines theuern väterlichen Fre<strong>und</strong>es<br />

in Elberfeld fand ich Stelle in einem Fabrikgeschäft,<br />

wo ich mit einem Zeugkammerposten[?]<br />

betraut wurde, welchen ich etwa 31 /4<br />

Jahr versah, nach welcher Zeit ich meine Aufnahme<br />

ins Kinderhaus in Barmen erhielt. Im<br />

Jahre 1866 im Oktober wurde ich ins Seminar<br />

aufgenommen. Der Durchgang durch dasselbe<br />

hat mir verhältnismäßig wenig Schweres, aber<br />

viele, viele Segnungen gebracht, so daß ich mit<br />

Freuden u[nd] dankbarem Herzen auf die Jahre<br />

meiner Vorbereitung zum Dienst am ,,Evangelium<br />

der Herr lichkeit“ zurücksehe.<br />

Der Barmherzige, Gnädige u[nd] Treue<br />

wolle wie bisher so ferner mit mir sein, u[nd]<br />

meinen Gang ordnen nach den Gedanken[?]<br />

seiner Barmherzigkeit!<br />

Barmen d[en] 16 Aug[ust] 1870.<br />

Friedrich Ernst Braches wurde 1870 nach<br />

Borneo ausgesandt, wo nach dem Blutbad im<br />

Jahre 1859 die Mission wieder Fuß zu fassen<br />

versuchte. Ab 1871 war Braches in Kuala Kapuas<br />

stationiert, wo er bei Missionar Georg<br />

74<br />

Friedrich Ernst Braches<br />

Zimmer 166 in seine Arbeit <strong>und</strong> in die Dajak-<br />

Sprache eingeführt wurde. Als Zimmer Borneo<br />

im Jahre 1882 verließ, wurde Braches Leiter<br />

der Station <strong>und</strong> gleichzeitig Präses der Rheinischen<br />

Mission in Borneo, ein Amt, das er 30<br />

Jahre innehaben sollte. 1885 wurde er nach<br />

Bandjermasin versetzt, wo er, unterbrochen<br />

von einem Aufenthalt in Deutschland (1889–<br />

91), bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1914<br />

tätig war. Trotz Braches’ <strong>und</strong> anderer Missionare<br />

Bemühungen blieben die Erfolge der Mission<br />

in Borneo gering. Neben seiner Missionstätigkeit<br />

war Braches auch als Seelsorger<br />

für die holländische Gemeinde in Bandjermasin<br />

tätig. Er engagierte sich besonders auf dem<br />

Gebiet der Militärseelsorge. 1896 gründete er<br />

das Soldatenheim „Militair te huis“ sowie einen<br />

Enthaltsamkeitsverein.<br />

Braches hatte am 25. März 1873 Hulda Buchenau<br />

(1843–1897) aus Elberfeld geheiratet.<br />

Das Paar hatte acht Kinder: Johanna (* 1874,<br />

verheiratet mit Miss. A. Kuhlmann), Johannes<br />

(* 1875), Caroline (*1876, verheiratet mit


Pfarrer Johannsen, Essen), Emma (* 1878),<br />

Auguste (* 1879, verheiratet mit Miss. Wilkening),<br />

Friedrich (* 1882), Gottfried (* 1884),<br />

Maria (*1887). Hulda Braches, geb. Huldenau,<br />

starb am 17. August 1897 in Bandjermasin.<br />

Am 12. Oktober 1898 heiratet Braches<br />

die Holländerin Henriette van der Eyck (1872–<br />

1944) aus Pontianak/Indien, mit der er sechs<br />

Kinder hatte, von denen die meisten schon<br />

im Säuglingsalter starben: Hulda Henriette<br />

(* 1901), Gottfried (* 1903), Christine (* 1904),<br />

Karl Theodor (* 1906), Paul (* 1908) <strong>und</strong> Johannes<br />

(* 1912).<br />

Seine letzten Lebensjahre verbrachte Braches<br />

auf Java, wo er zunächst als Leiter des Seminars<br />

in Depok einsprang. Später lebte er in<br />

Meester Cornils bei Batavia, wo er sich weiter<br />

der Militärseelsorge <strong>und</strong> der holländischen<br />

Gemeinde widmete. Außerdem revidierte er im<br />

Auftrag der holländischen Bibelgesellschaft<br />

die „Dajakbibel“. Friedrich Ernst Braches<br />

starb am 12. November 1922 in Meester Cornils.<br />

Eduard Heider (1846–1881)<br />

Eduard Heider [Notiz:] Kaufmann Jünglingsverein<br />

Ich bin geb[oren] d[en] 4ten Oct[o]b[e]r<br />

1846 im Langensiepen bei Düssel<br />

Sohn des Joh[ann] Carl Heider. Schon in<br />

meinem 4ten Lebensjahre zogen meine Eltern<br />

von hier nach Elberfeld, wo ich in der Zucht<br />

u[nd] Vermahnung zum Herrn erzogen wurde.<br />

In meinem 7ten Jahre wurde ich in die Schule<br />

geschickt. In dieser Zeit betrieb mein Vater<br />

Ackerbau. Als ich 8 Jahre alt war, starb meine<br />

1[iebe] Mutter Wilhelmine Halfmann. Nach einigen<br />

Jahren vermählte sich mein Vater wieder<br />

mit Scharlotte Velz[?]. Diese uns vom Herrn<br />

geschenkte Mutter, sowie auch mein Vater versäumten<br />

es nicht, uns 4 Kindern den Weg des<br />

Lebens zu zeigen. In dieser Zeit verkaufte mein<br />

Vater sein Ackergut u[nd] etablirte ein kl[eines]<br />

Fabrikgeschäft, welches ich auch später<br />

gründlich gelernt habe. In meinem 14ten Jahr<br />

kam ich aus der Schule, wurde ich ba1d darauf<br />

confirmirt von H[errn] Pastor Krafft 167 . In mei-<br />

Eduard Heider<br />

ner frühesten Jugend hatte ich bereits ein Verlangen,<br />

ein Eigenthum des Herrn Jesu zu werden,<br />

weshalb ich mich auch nach meiner Confirmation<br />

in einen christl[ichen] Jünglings Verein<br />

168 begab. Nach langem hin u[nd] her<br />

schwanken, <strong>und</strong> nach vielen Kämpfen u[nd]<br />

Nöthen, durfte ich mich endlich meines Heilandes<br />

freuen, weshalb ich auch getrieben<br />

wurde, den wieder zu lieben, der mich zuerst<br />

geliebt. 169 – Da mir nun meine l[iebe]. Mutter<br />

früher Vieles von der Heiden-Mission erzählt<br />

hatte, so erwachte in mir das Verlangen auch<br />

Missionar zu werden, weil ich aber noch keine<br />

Klarheit über solches Verlangen hatte, ob es<br />

der Herr sei, oder nicht, bewegte ich dasselbe<br />

im Stillen vor ihm. Der Herr, der ein Gott des<br />

Lichtes ist, ließ mich nicht im Dunkeln über<br />

dasselbe, u[nd] über diesen schweren u[nd]<br />

verläugnungsvollen Weg, weshalb ich mich<br />

auch zum Missionsdienst meldete. Bis zu meinem<br />

21 Lebensjahr arbeitete ich in dem Geschäft<br />

meines Vaters; vom Militairdienst wurde<br />

ich in dieser Zeit frei, weshalb ich auch am 23<br />

75


Oct[o]b[e]r 1867 in die Vorschule des Missionshauses<br />

aufgenommen wurde. Nach einjährigem<br />

Studium hierselbst trat ich ins Missionshaus.<br />

Die vergangenen 4 Jahre in demselben,<br />

sind für mich von Innen u[nd] Außen, was<br />

ich zum Preise des Herrn bekennen darf, von<br />

großem Segen gewesen. Möge der Herr mich<br />

ferner segnen, u[nd] zum Segen Vieler setzen!<br />

Missionshaus 31/11[?] 72<br />

Zur weiteren Biographie Eduard Heiders<br />

siehe Johanne Heider.<br />

Pauline Kramer, geb. Garschagen (1849–<br />

1888)<br />

Pauline Garschagen.<br />

Am 23. Mai 1849 bin ich zu Radevormwald<br />

geboren. Schon frühe wurde ich von meinen<br />

1[ieben] Eltern auf den Herrn Jesus hingewiesen,<br />

weil sie Beide aus Erfahrung wußten,<br />

wie gut man es bei Ihm hat. Von meinem 4t[en]<br />

bis zum 14ten Jahre besuchte ich die Elementarschule<br />

u[nd] ein Jahr lang die Rektoratsschule.<br />

Die letzten 4 Jahre auch den Confirmanden<br />

Unterricht. Aus dieser Zeit ist mir nur<br />

noch in Erinnerung daß ich im 12ten Jahre sehr<br />

an den Augen litt u[nd] mehrere Monate die<br />

Schule nicht besuchen konnte. Meine liebe<br />

Mutter war zu der Zeit auch sehr leidend, u[nd]<br />

saß ich bei ihr in einem dunklen Zimmer. Um<br />

mir nun die Zeit zu vertreiben kam meine Mutter<br />

auf den Gedanken, mir Lieder vorzusagen<br />

die ich lernen mußte. Unter andern lernte ich<br />

auch das Verschen: Alles was mein Thun u[nd]<br />

Anfang ist, das gescheh’ in Namen Jesu Christ<br />

u.s.w. Meine Mutter bat mich dies täglich zu<br />

beten u[nd] in der ersten Freude über die Bessurung<br />

meiner Augen hielt ich dies Versprechen,<br />

aber nachher vergaß ich es wieder. Der<br />

14te Mai 1863 war der Tag meiner Confirmation.<br />

Herr Pastor Müller gab mir bei der Einsegnung<br />

den Denkspruch Joh[annes] 21,17:<br />

Herr du weißt alle Dinge, du weißt daß ich dich<br />

lieb habe!<br />

Ich war an dem Tage sehr bewegt, beantwortete<br />

mit schwerem Herzen die mir vorgelegten<br />

fragen u[nd] bat Gott mir Kraft zu geben<br />

76<br />

mein Versprechen zu halten. Ein Jahr später<br />

kam ich zu einer Tante um den Haushalt u[nd]<br />

das sonst Nöthige zu lernen u[nd] kehrte 1865<br />

zu meinen Eltern zurück. Es war deren<br />

herzl[icher] Wunsch u[nd] tägliches Gebet, daß<br />

ich ein Eigenthum des Heilandes würde. Der<br />

Herr erhörte ihr Gebet. Zu Ostern in Jahr 1867<br />

hörte ich eine Predigt von Herrn Pastor Voswinkel<br />

170 , die mich sehr ergriff. Er bat wir<br />

möchten uns dem Herrn Jesu an den Hals hängen<br />

u[nd] ihn nicht eher lassen, bis er uns gesegnet<br />

hätte. Ich fing nun an ernstlich um Vergebung<br />

meiner Sünden zu beten. Der Herr<br />

deckte mir die Tiefe meiner Sünde auf u[nd]<br />

schenkte mir bald Frieden. Ist es nun auch oft<br />

wieder dunkel in meiner Seele geworden u[nd]<br />

hat der Feind mir den Frieden wieder rauben<br />

wollen, so hat der Herr doch den Sieg behalten.<br />

Im Aug[ust] 1869 verlobte ich mich mit<br />

Missionar Aug[ust] Götsch 171 . Es wurde mir<br />

nicht leicht, doch erkannte ich nach genauer<br />

Prüfung den Willen des Herrn darin u[nd] ging<br />

darauf ein. Am 4t[en] Sept[ember] fand die Abreise<br />

nach Indien statt. Am 6t[en] März erhielt<br />

ich den ersten Brief von dort daß alles gut gegangen.<br />

Aber am 19t[en] April bekam ich die<br />

Nachricht daß mein Bräutigam am 15<br />

Feb[ruar] selig heimgegangen sei.<br />

So erschütternd die Nachricht nun auch<br />

war, so durfte ich doch nach einiger Zeit erkennen,<br />

daß es Liebe vom Herrn war, der mich dadurch<br />

nur noch fester an sein Herz ziehen<br />

wollte. Im Anfang drängte sich oft die Frage in<br />

meinem Herzen auf: Herr warum? Hättest du<br />

mir diesen Schmerz nicht ersparen können?<br />

Aber ich mußte mir die Antwort genügen lassen:<br />

Des Herrn Rath ist w<strong>und</strong>erbar aber er führt<br />

es herrlich hinaus. Allmählich wurde ich dankbar<br />

daß ich bei den 1[ieben] Meinigen bleiben<br />

durfte. Indessen des Herrn Wille war anders!<br />

Im Jahre 1872 bekam ich einen Antrag von<br />

Miss[ionar] F[riedrich] Kramer. Ich bat den<br />

Herrn, er möge mir die Gnade schenken Seinen<br />

Willen zu thun. Er gab mir abermals Freudigkeit.<br />

Anfangs Mai 1875 wurde ich sehr krank.<br />

Diese Zeit war mir von großem Segen. Ich<br />

lernte die Größe meines Gottes kennen. Er wird<br />

mich auch ferner[?] führen. – Den 20t[en] [11?]


Pauline Kramer, geb. Garschagen<br />

werde ich so Gott will nach Nias abreisen.<br />

Missionshaus Barmen d[en] 15/11 1875.<br />

Pauline Garschagen heiratete am 29. Januar<br />

1876 den Missionar Friedrich Kramer<br />

(1844–1920) aus Oerlinghausen bei Detmold,<br />

der seit 1873 auf der Station Gunung Sitoli auf<br />

Nias tätig war. Das Paar hatte fünf (laut dem<br />

Nachruf, Berichte 1888, 306, sechs) Kinder:<br />

Maria (* 1877), Fritz (* 1879), Walter (* 1886)<br />

<strong>und</strong> die Zwillinge Luise (1888–1958) <strong>und</strong><br />

Charlotte. An den Folgen dieser letzten Geburt<br />

starb Pauline Kramer, geb. Garschagen, am<br />

23. April 1888 in Gunung Sitoli. Friedrich<br />

Kramer heiratete am 4. April 1891 Lina Krönlein<br />

aus Windsheim/Bayern, mit der er drei<br />

weitere Kinder hatte. Bis 1908 war er in Gunung<br />

Sitoli tätig, seit 1902 als Präses der Nias-<br />

Mission. Seine letzten Lebensjahre verbrachte<br />

er in Gütersloh, wo er am 24. April 1920 starb.<br />

Louise Simoneit, geb. Kraus (1853–1936)<br />

Louise Kraus<br />

Am 23 Januar 1853 wurde ich als viertes<br />

Kind zu Hübender[?] Gemeinde Wiehl geboren.<br />

Meine Kindheit habe ich mit meinen lieben<br />

Eltern <strong>und</strong> fünf Geschwistern verlebt. Ich<br />

hatte die große Gnade von meinen gläubigen<br />

Eltern mit vieler Liebe <strong>und</strong> Sorgfalt erzogen zu<br />

werden. Besonders wichtig war es meinen Eltern,<br />

uns schon früh das Wort Gottes lieb <strong>und</strong><br />

theuer zu machen; wodurch ich zu der Ueberzeugung<br />

kam, daß es auch mit mir anders werden<br />

müßte, aber zu einer Entscheidung kam es<br />

noch nicht. Die Schule besuchte ich vom 6. bis<br />

14. Lebensjahre in Driesch Gemeinde Nüm -<br />

brecht. Vom 12. bis 14. Jahre erhielt ich den<br />

Unterricht in der Religion von Herrn Pfarrer<br />

Falk 172 in Wiehl, bei welchem ich im Jahr 1867<br />

konfirmirt wurde <strong>und</strong> dadurch[?] das heilige<br />

Abendmahl empfing. Die Zeit vom 14. bis 17.<br />

Jahre habe ich zu Hause theils in häuslicher<br />

<strong>und</strong> ländlicher Thätigkeit zugebracht. In den<br />

Jahren besuchte ich häufig die Gottesdienste<br />

<strong>und</strong> Bibelst<strong>und</strong>en des Herrn Pfarrer Engels 173<br />

in Nümbrecht. Ich wurde nun durch den Geist<br />

Gottes dahin geführt, daß es mir klar wurde,<br />

daß nur das Blut Jesu Christi mich ganz frei<br />

machen könne <strong>und</strong> fand Frieden in meinem<br />

Heilande. Im 19. Jahr ging ich nach Ronsdorf<br />

zur Erlernung der Küche <strong>und</strong> Haushaltung. Der<br />

Aufenthalt war mir in der Familie worin ich<br />

kam recht zum Segen auch für mein inneres<br />

Leben. In Ronsdorf wurde ich mit einer Kleinkinder<br />

so wie Sonntagsschule bekannt, <strong>und</strong><br />

auf[?] Wunsch eines christlichen Fre<strong>und</strong>es be -<br />

theiligte [ich?] mich an dem Unter richt der<br />

Sonntagsschule. Die Arbeit gereichte mir zum<br />

Segen <strong>und</strong> zur Freude so, daß ich mich entschloß<br />

mich ganz den Kindern zu widmen <strong>und</strong><br />

mich als Kleinkinder-Lehrerin ausbilden zu<br />

lassen. Ich kam dann ein Jahr nach Kaiserswerth<br />

ins Seminar, wo ich in jeder Beziehung<br />

eine gute Vorbildung erhielt für den Kleinkinderschul-Beruf.<br />

Meine erste Stelle trat ich im<br />

Jahr 1875 in Neuwied an, woselbst ich eine<br />

Kleinkinderlehrstelle 2 Jahre bekleidete. Da<br />

die Zahl der Kinder in meiner Klasse über 80<br />

betrug, <strong>und</strong> ich dauernd halsleidend war<br />

bemühte ich mich um eine leichte Stelle <strong>und</strong><br />

erhielt eine solche im Jahre 1877, in der Familie<br />

Vopelius[?] in Sulzbach, wo ich 2 Kinder zu<br />

77


unterrichten <strong>und</strong> zu erziehen hatte. Durch eine<br />

schwere Krankheit war ich genöthigt auch<br />

diese Stelle zu verlassen <strong>und</strong> wieder zu meinen<br />

Eltern zu ziehen. Nachdem sich mein Leiden<br />

wieder gehoben trat ich anfangs 1879 hier in<br />

Barmen eine neue Schulstelle an. Beinahe zwei<br />

Jahre bin ich hier thätig gewesen. In meinem<br />

Berufe habe ich manches Schwere erlebt, aber<br />

auch viel Segen <strong>und</strong> Freude ist mir in demselben<br />

zutheil geworden, daß ich sagen muß: „Ich<br />

bin viel zu geringe aller Barmherzigkeit <strong>und</strong><br />

Treue die der treue Gott mir hat zu theil werden<br />

lassen! 174 Ende August habe ich meinen Beruf<br />

niedergelegt um dem Ruf des Missionar August<br />

Simoneit auf Sumatra zu folgen. Mein<br />

ernster Wunsch <strong>und</strong> Gebet ist, daß der treue<br />

Herr mich für den wichtigen <strong>und</strong> schweren Beruf<br />

als Missionarin ausrüsten wolle mit Sanftmuth,<br />

Demuth u[nd] Geduld; er gebe Gnade,<br />

daß ich meinem Bräutigam eine rechte Gehülfin<br />

werden möge im Hause <strong>und</strong> in der Gemeinde.<br />

Es ist mir schwer geworden mich für<br />

diesen Beruf zu entschließen, der Herr aber hat<br />

mir gezeigt, daß es sein Weg ist den er mich gehen<br />

heißt, <strong>und</strong> mich tröstet das Wort: Laß dir an<br />

meiner Gnade genügen denn meine Kraft ist in<br />

den Schwachen mächtig! 2. K[ori]nt[her] 12.<br />

Barmen 2. Nov[em]b[er] 1881<br />

Luise (oder: Louise) Kraus heiratete am<br />

13. Januar 1882 (im Nachruf steht: 1881) den<br />

ehemaligen Schreiner August Simoneit (1842–<br />

1886) aus Kirchsteinen/Ostpreußen, der 1873<br />

zusammen mit Friedrich Wilhelm Staudte<br />

nach Sumatra ausgesandt worden war. Das<br />

Paar hatte drei Kinder: Fritz (* 1882), Paula<br />

(* 1883) <strong>und</strong> Agnes (* 1884). Seit 1875 war Simoneit<br />

Leiter der Station Simorangkir, wo er<br />

zehn Jahre lang wirkte, bis eine sich rapide<br />

verschlimmernde Tuberkulose ihn zur Aufgabe<br />

zwang. Er konnte noch mit der Familie nach<br />

Deutschland zurückkehren, wo er am 26. April<br />

1886 starb. Luise Kraus starb am 31. März<br />

1936 in Barmen.<br />

Amalie Meyer, geb. Schoel (1845–1914)<br />

78<br />

Amalie Schoel. Braut von Missionar<br />

Meyer.<br />

Im Jahre 1845 den 11 März wurde ich in<br />

Drevenack bei Wesel geboren. Meine 1[ieben]<br />

Eltern die den Herrn Jesus lieb haben, weiheten<br />

mich ihm von frühester Kindheit an, u[nd] ihr<br />

tägliches Gebet war, daß wir Geschwister alle<br />

möchten, nützliche Erdenbürger <strong>und</strong> einst selige<br />

Himmelserben werden. Um uns nun dazu<br />

auch zu erziehen mit Gottes Hülfe, verließen<br />

sie ihr Gut, wie einst Moses den Hof Pharaos<br />

175 , mit äußerlich schwerem Verlust u[nd]<br />

zogen nach Gruiten im Jahre 1849. Der<br />

Großvater war nämlich, den Christen nicht<br />

hold, u[nd] haßte besonders die Missionare, die<br />

theure Großmutter hingegen liebte den Herrn<br />

u[nd] Seine Sache von Herzen. Nachdem ich in<br />

Gruiten die Schule besucht wurde ich zur weiteren<br />

Ausbildung nach Radevormwald gebracht,<br />

<strong>und</strong> dort im Jahre 1859 von Herrn Pastor<br />

Krummacher konfirmirt. Leider blieb<br />

mein Herz ohne Rührung, u[nd] nie stieg ein<br />

Gebet aus meinem Herzen auf. Im Herbst besuchte<br />

uns die 1[iebe] Großmutter, u[nd] bat<br />

mich, vor dem Abschied doch Jesus zu suchen,<br />

u[nd] ihren letzten Wunsch zu erfüllen: eine<br />

Missionsfre<strong>und</strong>in zu werden. Aus Liebe versprach<br />

ich es ihr, mit vielen Thränen u[nd]<br />

wurde dann feierlich gesegnet. Bald darauf<br />

ging sie selig heim u[nd] ich vergaß Alles. Da<br />

gefiel es dem guten Hirten der das Verlorene<br />

sucht, durch einen Tractat mir die Größe meiner<br />

Sünden zu zeigen, u[nd] fand ich dann nach<br />

langem Bitten u[nd] Forschen in der Bibel,<br />

endlich Frieden in Jesu Blut. Eine Predigt von<br />

H[er]r Pastor Rink 176 über die Wirkungen u[nd]<br />

Kennzeichen des Geistes Gottes bestätigten es<br />

in meinem Herzen, daß ich angenommen sei.<br />

Von nun an mein Alles für Ihn hinzugeben, der<br />

sich für uns zu Tode geliebt, war nun Hauptsache.<br />

So durfte ich denn die 1[ieben] Kinder in<br />

der Sonntagsschule, u[nd] später die Jungfrauen<br />

im Verein bitten u[nd] ermahnen, sich<br />

auch so glücklich <strong>und</strong> selig machen zu lassen,<br />

u[nd] der Herr gab Gnade dazu. Öfters auch<br />

durfte ich meine armen Gebete hinaufschicken<br />

zum Gnadenthron für die armen Heiden, die<br />

mir auch ungesehen immer vor der Seele standen.<br />

Aber meine 1[ieben] Eltern sahen dies lieber<br />

nicht, u[nd] weigerten sich, auf eine An-


frage aus der Mission einzugehen. Als ich darauf<br />

an den Pocken erkrankte, versprachen sie<br />

dem Herrn, wenn Er mich genesen lasse; fortan<br />

zu Allem bereit zu sein. Am 13ten Okt[o]b[e]r<br />

1876 fragte mein 1[ieber] Bräutigam um mich<br />

an, u[nd] erhielt alsbald die Antwort: Um Jesu<br />

willen, <strong>und</strong> zu Seinem Dienst geben wir sie mit<br />

Freuden. So soll denn meine Losung sein: Alles<br />

für meinen Heiland! Der Herr erhöre es in<br />

Gnaden.<br />

Geschrieben am Abend vor der Abreise<br />

nach Neu-Barmen in Afrika<br />

Missionshaus d[en] 12. Sept[ember] 1878.<br />

Amalie Schoel heiratete am 10. Dezember<br />

1878 den ehemaligen Schreiner Freerk Meyer<br />

(1847–1923) aus Emden, der seit 1877 als<br />

Herero-Missionar auf der Station Otjikango<br />

(Neu-Barmen) tätig war. Von 1888–1900 war<br />

Meyer dann Missionar der Station Otjimbingue.<br />

Seine Missionstätigkeit wurde immer wieder<br />

durch die Kämpfe zwischen Namas <strong>und</strong><br />

Herero schwer beeinträchtigt. 177 Das Ehepaar<br />

hatte drei Kinder: Maria (* 1880, verheiratet<br />

mit Missionar Meisel), Albert (* 1881) <strong>und</strong><br />

Ella (* 1887, verheiratet mit Missionar Werner).<br />

1899 überließ Meyer die Station seinem<br />

Gehilfen <strong>und</strong> Nachfolger Johannes Olpp <strong>und</strong><br />

kehrte mit seiner schwer gichtleidenden Frau<br />

nach Deutschland zurück. Bis 1913 war er<br />

Hausvater des Barmer Missionshauses (der<br />

Name „Hausvater Meyer“ war geläufig).<br />

Amalie Meyer, geb. Schoel, starb am 14. September<br />

1914 im Barmer Missionshaus. Freerk<br />

Meyer starb am 16. März 1923.<br />

Gustav Stursberg (1853–1916)<br />

Gustav Stursberg. [Notiz:] Schreiner Jünglingsverein<br />

Am 7. Nov[ember] 1853 wurde ich den<br />

Eheleuten Friedrich Stursberg u[nd] Caroline<br />

Beck in Garschagen, einem Bauernhofe in der<br />

Gemeinde Lüttringhausen geboren. Meine Eltern,<br />

die schon länger gläubige Christen waren,<br />

sahen es als ihre höchste Pflicht an, ihre Kinder<br />

zu erziehen in der Zucht u[nd] Ver mahnung<br />

zum Herrn. Besonders war es die Mutter, da<br />

der Vater seinen täglichen Arbeiten als Bandwirker<br />

nachgehen mußte, die meine beiden<br />

jüngeren Geschwister u[nd] mich beten lehrte<br />

zu Jesus u[nd] die uns die Geschichten von<br />

Jesu erzählte. Ruhig u[nd] ohne Störung vergingen<br />

die ersten Jahre meiner Kind heit. Noch<br />

war ich nicht 6 Jahre alt, als mich meine Eltern<br />

in eine Elementarschule der Nachbarschaft<br />

schickten, die ich bis zu meinem 14. Lebensjahre<br />

besucht habe. Den Bitten u[nd] Gebeten<br />

u[nd] den täglichen Ermahnungen meiner Eltern,<br />

allezeit Gott vor Augen u[nd] im Herzen<br />

zu haben, verdanke ich es, daß ich vor manchem<br />

Bösen u[nd] vor manchen Gefahren bewahrt<br />

geblieben bin. Oft, wenn ich von den<br />

Schulkameraden aufgefordert wurde, mit ihnen<br />

böswillige Thaten auszuführen, hat mich eine<br />

Stimme in meinem Innern ermahnt, nicht auf<br />

die lockenden Ver suchungen zu achten. Und<br />

wenn auch nicht immer dieser Mahnruf von<br />

mir beachtet wurde, so fühlte ich doch meistens<br />

nach geschehener That, wie mein Gewissen<br />

mich strafte, u[nd] ich fand erst dann wieder<br />

Ruhe, wenn ich mein Vergehen geklagt<br />

u[nd] Verzeihung erhalten hatte.<br />

Als ich 12 Jahre alt war, wurde ich bei<br />

Herrn Pfarrer Kleinschmidt 178 in Lüttringhausen<br />

in den Katechumenenunterricht auf -<br />

genommen, bei dem ich auch im folgenden<br />

Jahre den Confirmanden unterricht besuchte.<br />

Obgleich ich nun in diesen letzten Jahren besonders<br />

in Gottes Wort unterwiesen u[nd] zu<br />

einem Gott wohl gefälligen Leben ermahnt<br />

wurde, so traten doch auch die Ver suchungen<br />

des Bösen immer stärker an mich heran, denen<br />

ich zuletzt nicht mehr zu widerstehen vermochte;<br />

ich wurde lässig im Gebet u[nd] achtete<br />

immer weniger auf die Ermahnungen der<br />

Eltern. Als ich aber im April 1868 in der Kirche<br />

zu Lüttring hausen confirmirt wurde u[nd] noch<br />

mehr an dem darauffolgenden Sonntage, als<br />

ich mit meinen Eltern zum ersten mal das heilige<br />

Abendmahl feierte, da wurde wieder die<br />

Stimme in meinem Innern lebendig u[nd] ich<br />

empfand es tief, daß ich ein anderer Mensch<br />

werden müsse, wenn ich selig werden wolle,<br />

u[nd] ich gelobte es auch vor dem Herrn, von<br />

nun an mein sündliches Leben zu bessern u[nd]<br />

in seinen Geboten zu wandeln. Doch diese<br />

79


guten Vorsätze waren bald wieder vergessen,<br />

ich verfiel wieder in das frühere Leben u[nd]<br />

unterschied mich in nichts von meinen Jugendgenossen.<br />

Aber der Herr nahm sich jetzt meiner<br />

an u[nd] führte mich aus jenen Versuchungen,<br />

denen ich nicht hatte widerstehen können, heraus.<br />

Es war für mich die Zeit gekommen, daß<br />

ich mich entscheiden mußte, welch einen Lebensberuf<br />

ich erwählen wollte. In die Arbeit<br />

meines Vaters einzutreten, fühlte ich keine Neigung,<br />

wohl aber hatte ich schon lange den<br />

Wunsch gehegt, ich möchte das Schreinerhandwerk<br />

erlernen. So kam ich denn zu einem<br />

christlichen Onkel, der eine St<strong>und</strong>e von dem<br />

elterlichen Hause entfernt wohnte, in die<br />

Lehre, wo der Geist der Liebe u[nd] des Friedens,<br />

der hier im Hause u[nd] in der Umgebung<br />

wehte, sehr wohlthuend auf mich wirkte.<br />

Während meiner dreijährigen Lehrzeit geschah<br />

es nun, daß ich durch die Predigten u[nd] Bibelst<strong>und</strong>en<br />

des Herrn Pastor C[?] in der Nachbargemeinde<br />

R[?] 179 , wohin ich oft mit meinen<br />

Verwandten zur Kirche ging, erweckt u[nd]<br />

durch den persönlichen Umgang mit demselben<br />

u[nd] anderen Christen zum Glauben an<br />

Christum Jesum geführt wurde. Von da an besuchte<br />

ich auch den Jünglingsverein zu K[?] in<br />

der Gemeinde R[emscheid?], dem ich 5 Jahre<br />

als Mitglied angehört habe. Auch durfte ich<br />

eine Zeit lang bei dem Herrn Pastor C. an dessen<br />

Sonntagsschule mit thätig sein, bis mein<br />

Onkel in seinem Hause eine solche einrichtete,<br />

die ich bis zu meinem Fortgange von dort nach<br />

dem Tode meines Onkels 1873 gehalten habe.<br />

Noch einmal, nachdem ich ein halbes Jahr in<br />

Barmen gearbeitet hatte, kam ich für eine kurze<br />

Zeit wieder zurück in das Haus meines seligen<br />

Onkels, um in Abwesenheit eines kranken Vetters<br />

das Geschäft zu leiten. Dann arbeitete ich<br />

im Sommer 1875 wieder in Barmen, während<br />

welcher Zeit ich die Aspirantenst<strong>und</strong>en besuchte.<br />

Schon damals, als ich noch dem Jünglingsverein<br />

in K[?] ange hörte, war durch Pastor<br />

C[?] in mir die Liebe zur Mission erwacht<br />

u[nd] angeregt worden, u[nd] ich hatte mich<br />

schon bereits im 18. Jahre zur Aufnahme ins<br />

Missionshaus gemeldet, hatte aber, da ich noch<br />

80<br />

zu jung war, nicht aufgenommen werden können.<br />

Anfangs waren auch meine Eltern mit<br />

meinem Vorhaben, mich dem Missionsdienst<br />

zu widmen, nicht einverstanden. Besonders<br />

war es mein Vater, der mir einmal scharf ent -<br />

gegentrat, so daß ich es für meine schuldige<br />

Pflicht hielt, mich des Gedankens, in die Mission<br />

einzutreten, zu entschlagen. Es verging<br />

nun eine längere Zeit, daß ich keine weiteren<br />

Schritte that, obwohl in meinem Innern der<br />

Trieb zum Dienst in der Mission keineswegs<br />

erloschen war. Da geschah es eines Sonntages,<br />

daß mich mein Vater, mit dem ich seit einem<br />

Jahr nichts wieder über Mission gesprochen<br />

hatte, fragte, ob ich denn noch Freudigkeit<br />

hätte, in die Mission einzutreten u[nd] ob ich<br />

glaube, daß solches des Herrn Wille sei. Als ich<br />

darauf erwiderte, daß ich noch immer dieselbe<br />

Freudigkeit u[nd] denselben Trieb zur Mission<br />

verspüre, wie vor einem Jahre u[nd] früher, da<br />

gab er denn auch seine Einwilligung indem er<br />

sagte, daß er nichts gegen den Willen Gottes<br />

thun könne u. wolle. Darauf hin entschloß ich<br />

mich denn, aufs neue mein Gesuch zur Aufnahme<br />

ins Missionshaus zu erneuern, in der<br />

Gewißheit, wenn mich der Herr in seinem<br />

Dienst gebrauchen wolle, so werde er auch die<br />

Wege bahnen.<br />

Doch ich mußte auch jetzt noch ein Jahr<br />

warten, ehe ich aufgenommen wurde. Wenn<br />

ich auch oft ungeduldig werden wollte, daß<br />

mich der Herr aufs warten u[nd] stille sein ver -<br />

wies, so war doch diese Zeit auch eine Segenszeit<br />

für mich; ich lernte mich fragen u[nd] prüfen,<br />

ob ich meine eigenen Wege gegangen sei<br />

oder ob mich der Herr gerufen habe. Im Jahre<br />

1875 wurde ich dann in die Vorschule des Missionshauses<br />

aufgenommen, nachdem ich bereits<br />

in dem vergangenen Frühjahr vom Militairdienst<br />

freigesprochen u[nd] in die Ersatz-<br />

Reserve 2. Klasse 180 eingetragen worden war.<br />

Die 2 Jahre, die ich in der Vorschule verlebt<br />

habe, sind mir zum großen Segen geworden,<br />

u[nd] ich habe viel Liebe von den theuren<br />

Haus eltern, wie im Kreise der Brüder erfahren<br />

dürfen. Nicht weniger gesegnet sind mir dann<br />

aber auch die 4 Jahre gewesen, die ich im Missionshause<br />

wohnen durfte. Ich bin zu einer tieferen<br />

Erkenntniß meiner selbst u[nd] des für


Gustav Stursberg<br />

den Menschen in Christo erschienenen Heiles<br />

gekommen, ich habe die Treue u[nd] Barmherzigkeit<br />

Gottes u[nd] seine gnädige Durchhülfe<br />

in diesen Jahren reichlich erfahren dürfen;<br />

auch erkenne u[nd] rühme ich es als eine<br />

Gnade Gottes, daß ich mich, abgerechnet ein<br />

halbes Jahr, das ich beinah ohne jegliche Arbeit<br />

zubringen mußte, in den verflossenen 6 Jahren<br />

einer beständigen Ges<strong>und</strong>heit u[nd] Frische<br />

habe erfreuen dürfen.<br />

Wenn ich zum Schluß auf mein bisheriges<br />

Leben zurückblicke, so kann ich es nicht anders<br />

als mit Dank gegen den Herrn für seine<br />

Fre<strong>und</strong>lichkeit u[nd] Liebe, womit er mich bis<br />

auf diese St<strong>und</strong>e getragen u[nd] geführet hat.<br />

Ihm vertraue ich auch meinen weiteren Lebensweg<br />

an. Er wolle, das ist meine Bitte, wie<br />

er mich aus Gnaden angenommen hat zu seinem<br />

Eigen thum, mich auch in seiner Gnade bewahren,<br />

befestigen u[nd] gründen.<br />

Missionshaus Barmen, den 13ten Oktober<br />

1881<br />

[Notiz:] + 9. Oktober 1916 in Moers a/Rh.<br />

Gustav Stursberg (1853–1916) wurde Ende<br />

1881 nach Borneo ausgesandt, wo er gemeinsam<br />

mit Missionar Michel auf der Station Sampit<br />

tätig war. Die chronische Erfolglosigkeit<br />

der Borneo-Mission führte dazu, daß diese Station<br />

1884 aufgegeben wurde. Stursberg war<br />

anschließend – von einem Heimataufenthalt<br />

1894–96 abgesehen – bis 1900 auf Kuala Kapuas<br />

stationiert. Eine Erkrankung während eines<br />

Heimaturlaubes machte eine Rückkehr<br />

nach Borneo unmöglich, so daß Stursberg<br />

fortan im Heimatdienst tätig war, besonders<br />

bei der Gestaltung von Missionsfesten. Seit<br />

dem 13. Mai 1884 war er mit Emilie Beck<br />

(1854–1945) verheiratet, die wie er aus Lütt -<br />

ringhausen stammte. Das Paar hatte fünf<br />

Kinder: Friedrich Ernst (1885–1887), Emilie<br />

(* 1887), Friedrich Wilhelm (* 1889), Richard<br />

(* 1890) <strong>und</strong> Luise (* 1892). Seine letzten Lebensjahre<br />

verbrachte Stursberg in Moers, wo<br />

er am 9. Oktober 1916 starb.<br />

Literaturverzeichnis<br />

Archivalische Quellen<br />

Lebenslaufbuch der Rheinischen Missionsgesellschaft,<br />

Bd. 1, 1829–1881. Archiv d. Vereinten<br />

Evangelischen Mission – A/f 2.<br />

Personalakten <strong>und</strong> -karten der Mitarbeiter der Rheinischen<br />

Missionsgesellschaft, Archiv d. Vereinten<br />

Evangelischen Mission – Abt. B.<br />

Zeitschriften<br />

Allgemeine Missionszeitschrift, 1874–1923.<br />

Berichte der Rheinischen Mission, 1828–1965.<br />

Der Kleine Missionsfre<strong>und</strong>, 1855–1927.<br />

Kollekten-Blätter für die Rheinische Mission,<br />

1859–1922.<br />

Missionsblatt/Barmer Missionsblatt, 1826–1939.<br />

Nachschlagewerke<br />

Evangelisches Kirchenlexikon: Internationale theologische<br />

Enzyklopädie. Göttingen 1986 ff. 3 .<br />

Meyers Conversations-Lexikon, Leipzig 1904 6 .<br />

Realencyclopädie für protestantische Religion <strong>und</strong><br />

Kirche, Leipzig 1900 3 .<br />

Gedruckte Quellen, Literatur<br />

81


Robert Cribb, Historical Dictionary of Indonesia,<br />

London 1992 (Asian Historical Dictionaries<br />

No. 9).<br />

Bill Dalton, Indonesien-Handbuch, Bremen 1987 2 .<br />

(Originalausgabe: Indonesia Handbook,<br />

Chico/USA, o.J.)<br />

John J. Grotpeter, Historical Dictionary of Namibia,<br />

Metuchen N.J. & London 1994 (African Historical<br />

Dictionaries No. 57).<br />

Hans Helmich, Die Kirchengemeinde Wichlinghausen<br />

in Wuppertal 1744–1994. Wuppertal 1994.<br />

Peter Herkenrath, 140 Jahre Geschichte der Vereinigt-Evangelischen<br />

Gemeinde Unterbarmen<br />

1822–1962, Wuppertal 1963.<br />

H. Höhler, B. G. Locher u. U. Smidt (Hrsg.), Besinnung:<br />

Gemeindebuch der Evangelisch-reformierten<br />

Gemeinde Elberfeld.<br />

J. F. Knapp, Geschichte, Statistik <strong>und</strong> Topographie<br />

der Städte Elberfeld <strong>und</strong> Barmen im Wupper -<br />

thale, Iserlohn/Barmen 1835.<br />

Eduard Kriele, Geschichte der Rheinischen Mission,<br />

Bd 1: Die Rheinische Mission in der Heimat,<br />

Barmen 1928.<br />

John S. Malan, Die Völker Namibias, Göt tin gen/<br />

Winkhoek 1998. (Originalausgabe: Peoples of<br />

Namibia, o.O, o.J.)<br />

Gustav Menzel, Die Rheinische Mission, Wuppertal<br />

1978.<br />

Heinrich Niemöller, Zeugen aus der Geschichte der<br />

lutherischen Gemeinde Elberfeld, Wuppertal<br />

1932.<br />

Ernst Pfeifer, Leben <strong>und</strong> Sterben des Missionars<br />

Ernst Eduard Hofmeister, Barmen 1861.<br />

Albert Rosenkranz (Hrsg.), Das Evangelische<br />

Rheinland: ein rheinisches Gemeinde- <strong>und</strong> Pfar -<br />

rer buch. 2 Bd., Düsseldorf 1956.<br />

Tania Unlüdag (Hrsg.), Historische Texte aus dem<br />

Wupperthale: Quellen zur Sozialgeschichte des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts, Wuppertal 1989.<br />

August Witteborg, Geschichte der evangelisch-lutherischen<br />

Gemeinde Barmen-Wupperfeld von<br />

1777 bis 1927. Barmen 1927.<br />

Anmerkungen<br />

82<br />

1 Archiv der Vereinten Evangelischen Mission,<br />

Wuppertal, A/f 2.<br />

2 Zur Entstehungsgeschichte siehe Gustav Menzel,<br />

Die Rheinische Mission, Wuppertal 1978.<br />

3 Siehe den von ihm verfaßten Lebenslauf.<br />

4 Sammelbegriff für Erneuerungsbemühungen<br />

in den Kirchen des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

besonders im Protestantismus. Ausgehend von<br />

England, konnte sich die Erweckungsbewegung<br />

vor allem in der Form des Pietismus in<br />

Deutschland verbreiten, besonders im rheinisch-westfälischen<br />

Raum <strong>und</strong> in Württemberg.<br />

Die Erweckungsbewegung führte zu einer<br />

Blüte des christlichen Vereinswesens.<br />

Siehe: Evangelisches Kirchenlexikon, Göttingen<br />

1986 3 , Bd. 1, S. 1082 ff.<br />

5 Sander (1797–1859) war Pfarrer in Wichlinghausen<br />

(1822–38) <strong>und</strong> Elberfeld (1838–54).<br />

Seit 1828 gehörte er zur Deputation der Rheinischen<br />

Missionsgesellschaft <strong>und</strong> fungierte bis<br />

1842 als ihr erster Präsident. Von 1854 bis zu<br />

seinem Tod war Sander Superintendent in Wittenberg.<br />

Siehe: Heinrich Niemöller, Zeugen<br />

aus der Geschichte der lutherischen Gemeinde<br />

Elberfeld, Wuppertal 1932, S. 92ff.<br />

6 Zum Lehrplan <strong>und</strong> den verwendeten Büchern<br />

siehe: Eduard Kriele, Geschichte der Rheinischen<br />

Mission, Barmen 1928, Bd. 1, S. 66ff.<br />

7 „Ein ernstes Wort der Deputation für die ordinierten<br />

Brüder“. Archiv der Vereinten Evangelischen<br />

Mission, A/f 33. Zitiert nach Menzel,<br />

Mission, S. 132. Man merkt, daß zu dieser Zeit<br />

bereits eine größere Freiheit in der Wahl der<br />

Lebenspartnerin herrschte.<br />

8 Bei diesen Schriftstellern fällt wieder der biographische<br />

Bezug zur Region auf.<br />

9 Hintergr<strong>und</strong> des Briefes war, daß Lobscheid<br />

sich durch bestimmte Stellen in Rohdens Missionsgeschichte<br />

verunglimpft fühlte. Der Brief<br />

trägt die Angaben „Hongkong, März 10.,<br />

1872“. Archiv der Vereinten Evangelischen<br />

Mission, B/h 3.<br />

10 Ebd.<br />

11 Die Jahre 1816 <strong>und</strong> 1817 waren durch Fehlernten<br />

gekennzeichnet, denen schwere Hungers -<br />

nöte folgten. Im Wuppertal kam noch die Bedrohung<br />

durch die Pocken hinzu, die ein durchziehendes<br />

Hannoveraner Regiment in die Stadt<br />

getragen hatte. Vom 13. Januar bis zum 3. August<br />

1816 erkrankten 89 Personen, von denen<br />

23 starben. Als sich die Mangelernte Mitte<br />

1816 abzeichnete, gründeten Bürger unter der<br />

Leitung des Kaufmanns Jakob Aders einen<br />

„Kornverein“, der durch den Großaufkauf von<br />

Getreide aus Holland <strong>und</strong> Norddeutschland die<br />

Brotpreise in der Stadt auf einem erträglichen<br />

Niveau halten konnte. Siehe: J. F. Knapp, Geschichte,<br />

Statistik <strong>und</strong> Topographie der Städte<br />

Elberfeld <strong>und</strong> Barmen im Wupperthale, Iser-


lohn/Barmen 1835, S. 79ff.<br />

12 Bezeichnung für Läden, in denen Gewürze <strong>und</strong><br />

Kolonialwaren verkauft wurden.<br />

13 Psalm 72, 19<br />

14 Mit Lückhoff ausgesandt wurden Gottlieb Leipoldt,<br />

Gustav Adolf Zahn <strong>und</strong> Theobald von<br />

Wurmb mit seiner Frau Johanne, die eine<br />

Schwester Zahns war. Lückhoffs Aussendung<br />

erscheint umso erstaunlicher, als er noch kein<br />

Jahr im Seminar war. Siehe: Menzel, Mission,<br />

S. 95.<br />

15 Offenbarung 3, 16.<br />

16 Vergleichbar den Bibelst<strong>und</strong>en.<br />

17 Siehe Anmerkung 5.<br />

18 Matthäus 11, 12.<br />

19 Gemeint ist offenbar die zweite Frau Heinrich<br />

Richters. Richter (1799–1847) war der erste Inspektor<br />

des Seminars der Rheinischen Missionsgesellschaft.<br />

Aufgabe der Inspektoren war<br />

vor allem „die specielle Beaufsichtigung der<br />

Zöglinge, ein vertrauliches Verhältnis mit denselben,<br />

<strong>und</strong> eine väterliche Seelsorge über sie<br />

[…]“, wie es in Richters Berufungsurk<strong>und</strong>e<br />

heißt. Siehe: Menzel, Mission, S. 46.<br />

20 „Deine Ohren werden hinter dir das Wort<br />

hören: ‘Dies ist der Weg; den geht! Sonst weder<br />

zur Rechten noch zur Linken!’“ (Luthertext)<br />

21 Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft,<br />

Barmen 1859, S. 366.<br />

22 Ludwig von Rohden (1815–1889) war seit<br />

1846 für die Rheinische Missionsgesellschaft<br />

tätig, zuerst als theologischer Lehrer, seit 1857<br />

als 2. Inspektor des Seminars. Seine theologische<br />

Ausbildung hatte er unter anderem in Berlin<br />

bei Schleiermacher erhalten. Für v. Rohden<br />

war die Heirat mit Agathe Schumacher die<br />

zweite Ehe; seine erste Frau, Luise Wachsmuth,<br />

war zwei Jahre zuvor gestorben. Obwohl<br />

fast 70jährig, wurde v. Rohden 1884 noch mit<br />

dem Posten des 1. Inspektors betraut, den er bis<br />

zu seinem Tod bekleidete. Siehe: Menzel, Mission,<br />

S. 209ff.<br />

23 Gefeiert wurde nicht das 25jährige Bestehen<br />

der Missionsgesellschaft, die bereits 1828 gegründet<br />

worden war, sondern der 25. Jahrestag<br />

der Einweihung des Missionshauses im Jahre<br />

1832.<br />

24 Carl Krafft (1814–1898) war von 1856–85<br />

Pfarrer der reformierten Gemeinde zu Elberfeld.<br />

Neben seiner Tätigkeit als Seelsorger<br />

machte er sich einen Namen als Kirchenhistoriker<br />

(u. a. Quelleneditionen zur Reformations-<br />

zeit). Krafft gehörte außerdem zu den Initiatoren<br />

des Bergischen Geschichtsvereins. Siehe:<br />

Realencyclopädie für protestantische Theologie<br />

<strong>und</strong> Kirche, Leipzig 19003, Bd. 11, S. 60.<br />

25 Johan S. Malan, Die Völker Namibias, Göttingen/Windhoek<br />

1998, S. 144. (Originalausgabe:<br />

Peoples of Namibia, o.O., o.J.)<br />

26 Siehe Anmerkung 5.<br />

27 Beim Choleraausbruch 1859 in Elberfeld starben<br />

fast 1000 Menschen (Tania Ünlüdag, Historische<br />

Texte aus dem Wupperthale, Quellen<br />

zur Sozialgeschichte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

Wup pertal 1989, S. 297). Seit Mitte des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts kam es in Elberfeld mehrmals zu<br />

Choleraepidemien, die durch die unhygienischen<br />

Wohnverhältnisse der unteren Schichten<br />

begünstigt wurden. Über die Seuche im Jahre<br />

1849 schrieb der Arzt Pagenstecher sen.: „[…]<br />

E[ine] Stadt von 50000 Einwohnern, welche<br />

mit einem zahllosen Fabrikproletariat in den<br />

unges<strong>und</strong>esten Wohnungen bevölkert ist, wo<br />

außerdem enge, winklige Straßen, stationäre<br />

Feuchtigkeit <strong>und</strong> des Climas <strong>und</strong> Bodens, <strong>und</strong><br />

andere üble Localverhältnisse vorwalten,<br />

mußte als besonders empfänglich für die Ausbildung<br />

der Seuche erachtet werden.“ (K. Pagenstecher,<br />

Die asiatische Cholera in Elberfeld<br />

vom Herbst 1849 bis zum Frühling 1850, Elberfeld<br />

1851, S. 5/6 <strong>und</strong> 41/42.) Im Jahr 1859<br />

wurde Elberfeld neben der Cholera auch von<br />

den Pocken heimgesucht, ebenso in den Cholerajahren<br />

1866/67, in denen über tausend Menschen<br />

starben. Siehe: Ünlüdag, S. 223–25.<br />

28 Nathanael Köllner (1821–1873) wurde 1859<br />

Pfarrer der lutherischen Gemeinde zu Elberfeld.<br />

„Er kam in die Schrecken der Cholerazeit<br />

hinein. Den ganzen Tag, so erzählt eine, die das<br />

miterlebt hat, fuhren die Totenwagen <strong>und</strong> oft<br />

kehrte Köllner erst in später Nachtst<strong>und</strong>e von<br />

seinen Amtsgängen zurück.“ (Niemöller,<br />

S. 140). Köllner hatte ursprünglich selber Missionar<br />

auf Borneo werden wollen, doch mußte<br />

er sein Vorhaben aus ges<strong>und</strong>heitlichen Gründen<br />

aufgeben. Er blieb jedoch in engem Kontakt<br />

zu Missionskreisen. 1866 verließ er die Elberfelder<br />

Gemeinde, um einem Ruf nach Berlin<br />

zu folgen.<br />

29 Matthäus 28, 20.<br />

30 Nachruf Anna Mohri, Berichte der Rheinischen<br />

Missions-Gesellschaft 1893, S. 133.<br />

31 Albert Sigism<strong>und</strong> Jaspis (1809–1885) war<br />

1845–55 Pfarrer der lutherischen Gemeinde zu<br />

Elberfeld. Von 1855 bis zu seinem Tod wirkte<br />

83


er als Generalsuperintendent von Pommern in<br />

Stettin. In zeitgenössischen Werken wird Jaspis<br />

besonders als charismatischer Prediger beschrieben.<br />

Siehe: Realencyclopädie für protestantische<br />

Theologie <strong>und</strong> Kirche, Leipzig<br />

1900 3 , Bd. 8, S. 608.<br />

32 Siehe Anmerkung 28.<br />

33 Galater 5, 24.<br />

34 Diese Zeit beschrieb Thomas in: Drei Jahre in<br />

Südnias: Erlebnisse, Barmen 1892 (Rheinische<br />

Missions-Traktate 46).<br />

35 Nachruf J. W. Thomas, Berichte 1900, S. 102.<br />

36 1848 hatten sich die Jünglingsvereine von Elberfeld,<br />

Barmen, Ronsdorf, Remscheid, Düsseldorf,<br />

Cronenberg, Schwelm, Ruhrort <strong>und</strong><br />

Mülheim/Ruhr zum „Rheinisch-Westphälischen<br />

Jünglings-B<strong>und</strong>“ zusammengeschlossen.<br />

Vorläufer waren die Bibelst<strong>und</strong>en für<br />

Jünglinge des lutherischen Pastors Karl August<br />

Döring gewesen. Beim oben genannten Jünglingsverein<br />

handelt es sich offenbar um den<br />

Barmer Missionsjünglingsverein, den der<br />

Blechschläger <strong>und</strong> spätere Missionar Carl Wilhelm<br />

Isenberg im Jahre 1823 gegründet hatte.<br />

Siehe Ünlüdag, S. 471/472.<br />

37 Offenbar ist Staudte ein Flüchtigkeitsfehler unterlaufen.<br />

Laut Personalkarte wurde er im Jahre<br />

1845 geboren.<br />

38 Heinrich Wilhelm Rinck (1822–1881) war<br />

1855–1881 Pfarrer der lutherischen Gemeinde<br />

zu Elberfeld.<br />

39 2. Korinther 12, 9.<br />

40 Nachruf Staudte, Berichte 1884, S. 201. Dort<br />

findet sich eine ausführliche Schilderung von<br />

Staudtes Tod <strong>und</strong> Begräbnis.<br />

41 Siehe Anmerkung 12.<br />

42 Friedrich Wilhelm Paul Ludwig Feldner (1805–<br />

1890) wurde 1847 Pfarrer der lutherischen Gemeinde<br />

zu Elberfeld. Weil er sich gegen die von<br />

der preußischen Regierung verfügte Union der<br />

lutherischen <strong>und</strong> reformierten Kirchen wandte,<br />

mußte er 1858 auf Druck des Presbyteriums<br />

von seinem Amt zurücktreten. Feldner wurde<br />

daraufhin Pfarrer einer separiert-lutherischen<br />

Gemeinde. Siehe: Niemöller, S. 110–116.<br />

43 Die Herero gehören zur Bantu-Völkerfamilie<br />

<strong>und</strong> sind traditionell Rinderzüchter. Ihre Wohngebiete<br />

liegen im nördlichen Bereich der Kalahari.<br />

Siehe John J. Grotpeter, Historical Dictionary<br />

of Namibia, London 1994, S. 192ff. (African<br />

Historical Dictionaries 57).<br />

44 Eduard Müller (1879–1942) war von 1907 bis<br />

1940 als Missionar in Sumatra tätig. 1940<br />

84<br />

wurde er zusammen mit anderen Missionaren<br />

von den Niederländern interniert. Er starb am<br />

19. Januar 1942 beim Untergang des von Japanern<br />

angegriffenen Schiffes „Imhoff“.<br />

45 Nachruf Emilie Irle, Berichte 1888, S. 342–45.<br />

46 Ebd.<br />

47 Ebd.<br />

48 Ebd.<br />

49 Siehe Anmerkung 22.<br />

50 Erschienen Gütersloh 1909.<br />

51 Im Januar 1904 erhoben sich die Herero unter<br />

der Führung von Samuel Maharero gegen die<br />

deutsche Kolonialmacht, über h<strong>und</strong>ert Deutsche<br />

wurden ermordet. In der Schlacht am Waterberg<br />

(August 1905) wurden die Herero vernichtend<br />

geschlagen, die anschließenden Vergeltungsmaßnahmen<br />

der Deutschen führten nahezu<br />

zur Ausrottung des Volkes (Von 80.000<br />

Herero vor dem Krieg blieben 15.000 übrig).<br />

Die Rheinische Mission richtete drei Lager ein,<br />

in denen Flüchtlinge versorgt wurden. Im Oktober<br />

1905 wurde das gesamte Land der Herero<br />

von deutschen Behörden beschlagnahmt, die<br />

Rinderzucht verboten. Die meisten Herero<br />

mußten sich von da an ihren Lebensunterhalt<br />

als Tagelöhner auf Farmen verdienen. Siehe:<br />

Grotpeter, S. 194 <strong>und</strong> Malan, S. 76.<br />

52 Ora et labora, Ordensregel der Benediktiner.<br />

53 August Lichtenstein (1820–1891) wurde 1854<br />

Pfarrer der lutherischen Gemeinde zu Elberfeld,<br />

als Nachfolger von Immanuel Friedrich<br />

Sander, der als Superintendent nach Wittenberg<br />

ging. Lichtenstein blieb Pfarrer bis 1888, als<br />

ges<strong>und</strong>heitliche Gründe ihn zwangen, das Amt<br />

niederzulegen.<br />

54 Siehe Lebenslauf Ida Eick u. Anmerkung 25.<br />

55 Die Notiz im Lebenslaufbuch ist nicht korrekt.<br />

56 Siehe Anmerkung 12.<br />

57 Siehe Anmerkung 53.<br />

58 Macubae cornae, Trübung der Augenhornhaut<br />

durch Flecken (leukomae) als Folge von Hornhautentzündungen.<br />

Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert behandelbar<br />

durch Massage, Dampfbäder, Salben, in<br />

schweren Fällen auch operativ. Siehe Meyers<br />

Conversations-Lexikon, Leipzig 1904 6 , Bd. 9,<br />

S. 563.<br />

59 „Die Ersatzreservisten werden im Frieden nur<br />

für besondere Zwecke <strong>und</strong> in kurzen Übungen<br />

zum Dienst ohne Waffe eingezogen <strong>und</strong> z. B.<br />

im ersten Jahrgang 10, im zweiten 6 <strong>und</strong> im<br />

dritten 4 Wochen lang als Krankenträger ausgebildet.<br />

Im Kriege dient die Ersatzreserve zur<br />

Ergänzung des Heeres, zunächst in Ersatztrup-


penteilen. Nach zwölfjähriger Ersatzreservezeit<br />

treten die Ersatzreservisten, die geübt haben,<br />

bis 31. März des Kalenderjahres, in dem<br />

sie 39 Jahre alt werden, zur Landwehr zweiten<br />

Aufgebots, die übrigen zum Landsturm.“ Meyers<br />

Conversations-Lexikon, Leipzig 1904 6 , Bd.<br />

6, S. 75.<br />

60 Siehe Anmerkung 38.<br />

61 Siehe Anmerkung 36.<br />

62 Psalm 23, 1.<br />

63 Nachruf Heine, Berichte 1884, S. 375.<br />

64 Ebd.<br />

65 Zu Rohden siehe Anmerkung 22. Die Korrespondenz<br />

mit den Missionsgebieten im Fernen<br />

Osten lag in Rohdens Händen, während Inspektor<br />

Wallmann für die afrikanischen Missionen<br />

zuständig war. Menzel, Mission,<br />

S. 211/12.<br />

66 Franz Friedrich Gräber (1784–1857) war von<br />

1820 bis 1847 Pfarrer der reformierten Gemeinde<br />

Gemarke (heute Barmen-Gemarke).<br />

Von 1835 bis 1847 war Gräber zudem Präses<br />

der rheinischen Provinzialsynode, danach bis<br />

1856 Generalsuperintendent der westfälischen<br />

Kirchenprovinz.<br />

67 Siehe Anmerkung 36.<br />

68 Gerhard Wachtendonk (1805–1834) wurde<br />

1832 als Missionar zum Kap ausgesandt, wo er<br />

bereits nach einjährigem Aufenthalt in Stellenbosch<br />

starb.<br />

69 Gerhard Terlinden (1807–1872) wurde 1831<br />

als Missionar zum Kap gesandt, wo er auf den<br />

Stationen Worcester (1832–35, 1844–48),<br />

Eben ezer (1836–42) <strong>und</strong> Stellenbosch (1848–<br />

1872) tätig war.<br />

70 Konfessionelle Unterschiede <strong>und</strong> die Frage<br />

nach einer Union mit Abendmahlsgemeinschaften<br />

führten mehrmals zu Spannungen innerhalb<br />

der Missionsgesellschaft, so im Falle<br />

von Carl Hugo Hahn (1818–1895), der als Missionar<br />

in Südwestafrika wirkte <strong>und</strong> auf einem<br />

dezidiert lutherischen Bekenntnis bestand. Infolge<br />

dieses Streits kam man 1860 zu einem<br />

Kompromiß: Die Union wurde gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

bestätigt, doch den Missionaren vor Ort ein gewisser<br />

Freiraum gelassen. Siehe Menzel, Mission,<br />

S. 100ff.<br />

71 Der Ärmelkanal.<br />

72 2. Mose 4, 13.<br />

73 Apostelgeschichte 27, 40 (?).<br />

74 Djakarta, die heutige Hauptstadt Indonesiens.<br />

Die holländische Bezeichnung rührt vom<br />

Stamm der Batavier, der „Vorfahren“ der Nie-<br />

derländer, her.<br />

75 2. Korinther, 11, 26.<br />

76 Ureinwohner von Borneo, die sich in mehrere<br />

Stämme aufteilen: Im Norden die Dusun <strong>und</strong><br />

Murut, die Ngaju im Süden <strong>und</strong> die Kenyah<br />

<strong>und</strong> Iban im Zentrum. Viele Dajaks bekennen<br />

sich zum Islam, doch scheint ihre ursprüngliche<br />

Religion (Kaharingan) ein Zweig des Hinduismus<br />

zu sein. Siehe Stichwort „Dayaks“ in:<br />

Robert Cribb, Historical Dictionary of Indonesia<br />

(Asian Historical Dictionaries No. 9), London<br />

1992, S. 155/156.<br />

77 Dorf, Dorfgemeinschaft, Gr<strong>und</strong>stück einer Familie.<br />

Siehe Bill Dalton, Indonesien-Handbuch,<br />

Bremen 1987 (2. Auflage), S. 793. (Originalausgabe:<br />

Indonesia Handbook, Chico/<br />

USA, o.J.)<br />

78 Eduard Kriele, „75 Jahre Dajakmission“, Allgemeine<br />

Missions-Zeitschrift 1912, S. 165,<br />

Anm. 1.<br />

79 Ebd. S. 167. Die Einführung des Sonntags<br />

wurde durch die Regierungsverordnung „seltsam<br />

genug“ (Kriele) begründet: „Wir haben<br />

das Wesen <strong>und</strong> die Sitten der Dajaks untersucht<br />

<strong>und</strong> gef<strong>und</strong>en, daß alles verkehrt <strong>und</strong> unverständig<br />

ist <strong>und</strong> auch kein Tag unter ihnen besteht,<br />

an dem sie an Gott denken <strong>und</strong> ihn verehren,<br />

weshalb wir für gut bef<strong>und</strong>en haben, den<br />

Dajak selbst einen solchen Tag festzusetzen,<br />

<strong>und</strong> zwar nach unserer eigenen Ordnung den<br />

Sonntag.“<br />

80 Beamter in Java, Sohn des Missionars Carl von<br />

Hoefen (1817–1890), der von 1843–90 in Borneo<br />

stationiert war.<br />

81 Laut Personalkarte bereits am 23. September.<br />

82 Nachruf Becker, Berichte 1860, S. 6.<br />

83 Wilhelm Heuser (1790–1868) wurde 1820 zum<br />

Hilfsprediger der Gemeinde Wupperfeld gewählt<br />

<strong>und</strong> rückte nach dem Tod von Pfarrer Johann<br />

Burchard Bartels 1827 in die erste Pfarrstelle<br />

auf. Heuser wurde zweimal zum Super -<br />

intendenten der Elberfelder Kreissynode gewählt.<br />

Aus Ges<strong>und</strong>heitsgründen legte er 1860<br />

sein Amt nieder. Seine letzten Lebensjahre verbrachte<br />

er in Neuwied, Wiesbaden <strong>und</strong> Düsseldorf.<br />

Siehe: August Witteborg, Geschichte der<br />

evangelisch-lutherischen Gemeinde Barmen-<br />

Wupperfeld von 1777–1927, Barmen 1927,<br />

S.152ff.<br />

84 Siehe Anmerkung 12.<br />

85 Siehe Anmerkung 5.<br />

86 Kirchenlied von Johann Heinrich Schröder<br />

(166–1699) nach Lukas 10, 41.<br />

85


87 Jesaja 1, 18.<br />

88 1. Mose 32, 27.<br />

89 Matthäus 9, 2.<br />

90 Johannes 13, 7.<br />

91 1. Könige 19, 7.<br />

92 Matthäus 14, 22–32.<br />

93 Siehe Lebenslauf Caroline Seringhaus.<br />

94 Jeremias 31, 3.<br />

95 Gerhard Heinrich Wilhelm Balke (1807–1848)<br />

wurde 1842 zum Pfarrer der evangelischen Gemeinde<br />

Unterbarmen gewählt. Balke war zu<br />

diesem Zeitpunkt bereits kränkelnd <strong>und</strong> mußte<br />

seinen Dienst wegen „Entkräftung“ mehrmals<br />

unterbrechen. Nach kaum sechs Jahren im Amt<br />

starb er, gerade 40 Jahre alt. Siehe: Peter Herkenrath,<br />

140 Jahre Geschichte der Vereinigt-<br />

Evangelischen Gemeinde Unterbarmen 1822–<br />

1962, 1963, S. 52ff.<br />

96 Ein ausführlicher Bericht über diese Ereignisse<br />

in: Berichte 1859, S. 191–234.<br />

97 Die Todesumstände des Paares werden geschildert<br />

in: Ernst Pfeifer, Leben <strong>und</strong> Sterben des<br />

Missionars Ernst Eduard Hofmeister, 1861.<br />

98 Ebd., S. 29.<br />

99 Siehe Anmerkung 5.<br />

100 Siehe Anmerkung 83.<br />

101 August Feldhoff (1800–1844), gebürtiger Elberfelder,<br />

betreute die deutsche Gemeinde im<br />

niederländischen Nimwegen, als er 1828 zum<br />

zweiten Prediger der Gemeinde Wichlinghausen<br />

gewählt wurde, der er bis zu seinem frühen<br />

Tod blieb. Witteborg, Geschichte Gemeinde<br />

Barmen-Wupperfeld, S. 155–57.<br />

102 Es ist nicht ganz klar, wer gemeint ist, möglicherweise<br />

Ludwig v. Rohden (Siehe Ida Eick,<br />

Anm. 1). Rohden war damals allerdings noch<br />

nicht „offiziell“ zum Inspektor ernannt worden,<br />

dies folgte erst 1857. Gemeint sein könnte<br />

auch Johann Christian Wallmann (1811–1865),<br />

der von 1848–1857 Inspektor der Rheinischen<br />

Missions-Gesellschaft war. Siehe: Menzel,<br />

Mission, S. 47–52 u. 209–214.<br />

103 1. Moses 32, 11.<br />

104 Ludwig von Rohden. Siehe Anmerkung 22.<br />

105 Heinrich Emil Taube (1819–1892) war von<br />

1849–64 Pfarrer der evangelischen Gemeinde<br />

Unterbarmen. Siehe Herkenrath, S. 58/59.<br />

106 Ernst Hermann Thümmel (1815–1887) war<br />

von 1851–84 Pfarrer der evangelischen Gemeinde<br />

Unterbarmen. Thümmel publizierte<br />

eine Reihe religiöser Schriften, auch eine „Geschichte<br />

der Vereinigt-Evangelischen Gemeinde<br />

Unterbarmen vom Jahre 1822 bis zum<br />

86<br />

Jahre 1872“. Siehe Herkenrath, S. 59/60.<br />

107 Franz Heinrich Kleinschmidt (1812–1864) war<br />

seit 1840 Missionar der Rheinischen Mission<br />

in Südwestafrika, so in Windhoek, Rehoboth<br />

<strong>und</strong> Otimbingue. Seine Tochter Elisabeth<br />

wurde am 13. September 1844 geboren.<br />

108 1. Timotheus 1, 13.<br />

109 Georg Zimmer (1826–1901) war seit 1855<br />

Missionar der Rheinischen Mission in Borneo.<br />

Er war unter anderem auf den Stationen Palingkau<br />

<strong>und</strong> Kuala Kapuas tätig. Zimmer hatte<br />

drei Töchter: Elisabeth (*1861, laut Personalkarte<br />

verheiratet mit „Dr. von Rohden“, vermutlich<br />

einem der beiden Söhne Ludwigs v.<br />

Rohden), Emilie (1855–1885) <strong>und</strong> Auguste<br />

(*1857).<br />

110 Philipper 4, 6.<br />

111 Hermann Moritz Banning (1799–1866) war<br />

seit 1843 Pfarrer der evangelischen Gemeinde<br />

Unterbarmen. Er galt als Verfechter der preußischen<br />

Union. Herkenrath, S. 55/56.<br />

112 Siehe Anmerkung 105.<br />

113 Johannes Evangelista Goßner (1773–1858)<br />

war katholischer Priester (Schüler Sailers), bevor<br />

er 1826 zur evangelischen Kirche übertrat.<br />

Seit 1827 war er Prediger an der Bethlehems -<br />

kirche in Berlin. Goßner war Förderer der Heidenmission<br />

(„Goßnerscher Missionsverein“,<br />

vor allem in Ostindien tätig) <strong>und</strong> schrieb erbauliche<br />

Schriften, die zu seiner Zeit viel gelesen<br />

wurden. Siehe Stichwort „Goßner“ in Meyers<br />

Conversations-Lexikon.<br />

114 Gerhard Tersteegen (1697–1769), Bandwirker<br />

in Mülheim/Ruhr, seit 1728 Prediger <strong>und</strong> religiöser<br />

Schriftsteller. Ein Hauptvertreter des<br />

Pietismus, der besonders als Liederdichter hervortrat<br />

(z. B. „Geistliches Blumengärtlein“,<br />

Frankfurt/Leipzig 1729). Siehe Stichwort „Tersteegen“<br />

in Meyers Conversations-Lexikon.<br />

115 2. Timotheus 2, 5.<br />

116 1. Korinther 10, 13.<br />

117 1. Mose 12, 1.<br />

118 Josua 10, 25.<br />

119 Siehe Emma Hofmeister.<br />

120 Berichte 1885, S. 364–380.<br />

121 Siehe Anmerkung 76.<br />

122 Nachruf Laura Hendrich, Berichte 1903,<br />

S. 179.<br />

123 Ebd.<br />

124 Ebd. S.180.<br />

125 Der „Kleine Missionsfre<strong>und</strong>“ war die Kinder<strong>und</strong><br />

Jugendzeitschrift der Rheinischen Mission.


126 Johannes 16, 33.<br />

127 Kirchenlied von Johann Sigism<strong>und</strong> Kunth<br />

(1700–1779) nach Hebräer 4, 9.<br />

128 Friedrich Florenz Voswinckel (1818–1886)<br />

war von 1847–84 Pfarrer der Wichlinghauser<br />

Gemeinde. Siehe Hans Helmich, Die Gemeinde<br />

Wichlinghausen in Wuppertal 1744–<br />

1994, Wuppertal 1994.<br />

129 Dorf in Lothringen (Departement Meurthe-et-<br />

Moselle, Arrondissement Briey). Die Schlacht<br />

zwischen französischen <strong>und</strong> deutschen Truppen<br />

am 16. August 1870 forderte auf beiden<br />

Seiten hohe Verluste. Auch als „Schlacht von<br />

Voindville“ bezeichnet. Siehe Meyers Conversations-Lexikon,<br />

Stichwort „Mars-la-Tours“.<br />

130 Nachruf Heider, Berichte 1881, S. 330ff. Zu<br />

den konfessionellen Spannungen innerhalb der<br />

Rheinischen Mission siehe Menzel, Mission,<br />

S. 100ff.<br />

131 Bedeutender Stamm, der zur Völkerfamilie der<br />

Khoi-Khoin gehört (früher „Hottentotten“ genannt).<br />

Von den Herero, die zur Bantugruppe<br />

gehören, unterscheiden sie sich auch durch den<br />

helleren Hautton. Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert kam es zu<br />

insgesamt vier Kriegen zwischen beiden Völkern.<br />

Meist war Streit um Land der Auslöser.<br />

Die Kämpfe in den Jahren 1880–1802 waren<br />

besonders blutig. Interventionsversuche von<br />

Missionaren <strong>und</strong> deutschen Behörden blieben<br />

weitgehend vergeblich. Grotpeter, Historical<br />

Dictionary of Namibia, S. 195–197 u. 329.<br />

132 Siehe Anmerkung 43.<br />

133 Nachruf Johanna Heider, Berichte 1921, S. 112.<br />

134 Siehe Anmerkung 128.<br />

135 Siehe Anmerkung 125.<br />

136 Nachruf Bernsmann, Berichte 1921, S. 60.<br />

137 Ebd.<br />

138 Siehe Anmerkung 51.<br />

139 1. Johannesbrief 4, 19.<br />

140 Siehe Anmerkung 128.<br />

141 „Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend <strong>und</strong><br />

meiner Übertretungen, gedenke aber meiner<br />

nach deiner Barmherzigkeit, Herr, um deiner<br />

Güte willen!“ (Luthertext).<br />

142 Die Elberfelder Missionsgesellschaft wurde<br />

am Pfingstmontag 1799 gegründet <strong>und</strong> gilt als<br />

erster Vorläufer der späteren Rheinischen Mission.<br />

Ihre stärkste Wirkung enfaltete die Gesellschaft<br />

in den Jahren 1818–1828. Parallel<br />

mit der Elberfelder begann ab 1818 die Barmer<br />

Missionsgesellschaft zu wirken, die ebenfalls<br />

1828 in der Rheinischen Missionsgesellschaft<br />

aufgehen sollte. Siehe Menzel, Mission, S. 18ff.<br />

143 Wahrscheinlich Heinrich Richter. Siehe Anmerkung<br />

19 <strong>und</strong> die Einleitung.<br />

144 1. Petrus 1, 13.<br />

145 Die Personalkarte Külpmanns vermerkt zum<br />

Schluß: Anstaltsgeistlicher im Diakonissenhaus<br />

Carlsruhe. Es ist nicht klar, ob er diese<br />

Funktion während des Pfarrdienstes oder nach<br />

seiner Pensionierung ausgeübt hat.<br />

146 Gottfried Heinrich Petersen war seit 1809 Pfarrer<br />

der lutherischen, von 1817–53 der unierten<br />

evangelischen Gemeinde in Ratingen. Evangelisches<br />

Rheinland, S. 214.<br />

147 Johann Ludwig Müller war von 1828–73 Pfarrer<br />

der unierten Gemeinde Mettmann. Evangelisches<br />

Rheinland, Bd. 1, S. 211ff.<br />

148 Matthäus 9, 2.<br />

149 Siehe Caroline Seringhaus Anm. 5<br />

150 Nachruf Juffernbruch, Berichte 1894, S. 14.<br />

151 Ebd.<br />

152 Siehe Anmerkung 147.<br />

153 Friedrich Wilhelm Krummacher (1796–1868),<br />

Sohn des Theologen Friedrich Adolf Krummacher<br />

(1767–1845), war von 1825–35 Pfarrer<br />

der reformierten Gemeinde Gemarke <strong>und</strong> von<br />

1835–47 der reformierten Gemeinde Elberfeld.<br />

Krummacher, der 1817 am Wartburgfest teilgenommen<br />

hatte, war auch als religiöser Schriftsteller<br />

tätig, sein Werk „Blicke in das Reich der<br />

Gnade“ (1828) wurde unter anderem von<br />

Goethe rezensiert. 1847 folgte er einem Ruf an<br />

die Dreifaltigkeitskirche in Potsdam, 1853<br />

wurde er zum Hofprediger ernannt. Bei den<br />

von Anna Jörris genannten „Predigten“ handelt<br />

es sich vermutlich um Krummachers Schrift<br />

„Salomo <strong>und</strong> Sulamith“ (1827). Realencyclopädie<br />

für protestantische Theologie <strong>und</strong><br />

Kirche, Bd. 11, S. 152ff.<br />

154 Siehe Anmerkung 19.<br />

155 Nachruf Anna Rath geb. Jörris, Kollektenblatt<br />

1859, Nr. 4.<br />

156 Siehe Caroline Seringhaus, Anm. 5. Heinrich<br />

Richters Bruder Wilhelm (1804–1845) war<br />

Lehrer am Missionsseminar.<br />

157 Jesaja 11, 9<br />

158 Johann Peter von Scheven war von 1832–88<br />

Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Hülsenbusch.<br />

Evangelisches Rheinland, S. 52ff.<br />

159 Siehe Anmerkung 106. Bevor er Pfarrer in<br />

Unterbarmen wurde, war Thümmel 1846–51<br />

Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Nüm -<br />

brecht. Evangelisches Rheinland, S. 56ff.<br />

160 Joh. Chr. Wallmann (1811–1865), Inspektor<br />

der rheinischen Mission von 1848 bis 1857<br />

87


161 1. Mose 32, 11.<br />

162 1. Thessalonicher 5, 24<br />

163 Berichte 1859, S. 71.<br />

164 Siehe Anmerkung 53.<br />

165 Geschäftsführer, Lehrherr<br />

166 Siehe Anmerkung 109.<br />

167 Siehe Anmerkung 24.<br />

168 Siehe Anmerkung 37.<br />

169 Siehe 1. Johannesbrief 4, 19.<br />

170 Siehe Anmerkung 128.<br />

171 August Götsch (1844–1870) aus Benz in Pommern<br />

wurde 1869 nach Sumatra ausgesandt. Er<br />

starb am 15. Februar 1870 in Sigonpulan.<br />

172 Wilhelm Falk war 1864–76 Pfarrer der evangelischen<br />

Gemeinde in Wiehl. Evangelisches<br />

88<br />

Rheinland, S. 62ff.<br />

173 Jakob Engels war von 1851–97 Pfarrer der<br />

evangelischen Gemeinde in Nümbrecht. Evangelisches<br />

Rheinland, S. 56ff.<br />

174 1. Mose 32, 11<br />

175 2. Moses 2, 15<br />

176 Siehe Anmerkung 38.<br />

177 Siehe Anmerkung 131.<br />

178 Eduard Kleinschmidt war 1840–89 Pfarrer der<br />

evangelischen Gemeinde in Lüttringhausen<br />

(heute Remscheid-Lüttringhausen). Evangelisches<br />

Rheinland, S. 417ff.<br />

179 Vermutlich handelt es sich um Johannes Conrad,<br />

der von 1866–77 Pfarrer in Remlingrade<br />

war. Die ebenfalls benachbarten Gemeinden<br />

August von Wille: Ansicht von Barmen, 1870 (Aus: H. Pogt: Historische Ansichten aus dem<br />

Wuppertal, 2. Aufl. 1998).


Werner Schmitz<br />

Zum 80. Todestag Ingwer Ludwig Nommensens<br />

In Unterbarmen an der Gronaustraße, dem<br />

alten Arbeitsamt gegenüber, führt ein Weg zur<br />

Hardt, der Nommensenweg. Viele Wuppertaler<br />

gehen tagaus, tagein dort vorbei, aber wohl nur<br />

die wenigsten werden mit diesem Namen noch<br />

etwas anzufangen wissen. Wer war dieser<br />

Mann, den unsere Stadt auf diese Weise geehrt<br />

hat?<br />

Ingwer Ludwig Nommensen ist in die Geschichte,<br />

speziell in die Kirchengeschichte eingegangen<br />

als der „Apostel der Batak“, als der<br />

Verkünder der biblischen Heilsbotschaft an<br />

dieses früher den Kannibalismus prakti zie -<br />

rende Volk auf der südostasiatischen Insel Sumatra.<br />

Den Anstoß zu dieser Tätigkeit gab ein<br />

Gelübde, das er im Alter von zwölf oder dreizehn<br />

Jahren, nachdem er infolge eines Unfalls<br />

längere Zeit krank gewesen war, ablegte. Liest<br />

man den Bericht über die ersten beiden Jahrzehnte<br />

seines Lebens, so muß man sich w<strong>und</strong>ern,<br />

daß es Nommensen trotz denkbar ungünstiger<br />

Voraussetzungen geschafft hat, das geleistete<br />

Versprechen zu erfüllen.<br />

Geboren wurde er am 6. Februar 1834 als<br />

Sohn eines armen Ehepaares auf der Insel<br />

Nordstrand, nicht weit von Husum, der Heimat<br />

Theodor Storms. Über die Zeit seiner Kindheit<br />

<strong>und</strong> Jugend lassen wir ihn am besten selbst zu<br />

Wort kommen. Er schreibt:<br />

„Ich war ein Junge wenig bemittelter,<br />

kränklicher Eltern, der bei trockenem Brot <strong>und</strong><br />

Salz, Pferdebohnen <strong>und</strong> trockenen Kartoffeln<br />

groß geworden ist, der oft des Abends beim<br />

Deichgrafen an der übriggebliebenen Grütze,<br />

nachdem die Knechte gegessen hatten, seinen<br />

Hunger stillte, (…) der 13jährig krank zu<br />

Hause liegen mußte, fast ohne Hoffnung, jemals<br />

wieder seine Beine gebrauchen zu können;<br />

14jährig, eben wieder genesen, seinen Vater<br />

durch den Tod verlor <strong>und</strong> als Großjunge im<br />

Kooge (durch Deiche geschütztes Land, d.Vf.)<br />

beim Bauern diente, 15jährig konfirmiert, dann<br />

als Unterknecht <strong>und</strong> Knecht auf einer kleinen<br />

Hallig arbeitete, dort krank <strong>und</strong> als wahnsinnig<br />

zur Mutter zurückgebracht wurde, darauf nach<br />

der Genesung Eisenbahnarbeiter war <strong>und</strong> die<br />

erste Eisenbahn in Schleswig (von Husum<br />

nach Rendsburg) anlegen half, dann wieder als<br />

Knecht bei einem Bauern diente“. 1<br />

Der Vater Peter Nommensen war von Beruf<br />

Schleusenwärter. Seine Vorfahren stammten<br />

von der Hallig Nordstrandischmoor. Die Ahnen<br />

der Mutter, sie hieß Antje geborene Carstens,<br />

waren in Fahretoft <strong>und</strong> Ockholn zu<br />

Hause 2 . Während der junge Nommensen nach<br />

seiner Schilderung von einem Arbeitgeber zum<br />

anderen buchstäblich herumgestoßen wurde<br />

<strong>und</strong> dabei oft Tätigkeiten verrichten mußte, die<br />

die Kräfte seines Alters bei weitem überstiegen,<br />

wurde er unmerklich auf seinen spä teren<br />

Beruf vorbereitet. „Hier gewann er den praktischen<br />

Blick, den genügsamen Sinn, der sich in<br />

Ingwer Ludwig Nommensen(Archiv- <strong>und</strong> Museumsstiftung<br />

Wuppertal der VEM)<br />

89


alle Lebenslagen zu schicken wußte, die geschickten<br />

Hände, die es verstanden, überall,<br />

wo es galt, anzugreifen“. 3<br />

Um ihm die Zeit seines Krankenlagers zu<br />

erleichtern, gab ihm die Mutter das einzige im<br />

Haus befindliche Buch zu lesen, eine Bibel.<br />

Nommensen las <strong>und</strong> klammerte sich an das<br />

Gotteswort. Er genas <strong>und</strong> erhielt im Alter von<br />

20 Jahren die mütterliche Erlaubnis, Missionar<br />

zu werden. Er kaufte sich Bibel, Gesangbuch<br />

<strong>und</strong> Katechismus <strong>und</strong> begab sich nach Föhr,<br />

um dort auf einem Schiff anzuheuern <strong>und</strong> in<br />

Afrika oder Asien an Land gehen zu können.<br />

Aber er hatte Pech. Kein Kapitän wollte ihn haben.<br />

Niedergeschlagen kehrte er nach Hause<br />

zurück <strong>und</strong> suchte sich eine Stelle als Schulgehilfe<br />

bei einem Lehrer in Risum. Nachdem er<br />

vor dem Propst in Tondern eine kleine Prüfung<br />

abgelegt hatte, konnte er diese bescheidene<br />

Stelle antreten.<br />

Einige Zeit später übernahm man ihn als<br />

Lehrer an einer bäuerlichen Privatschule in<br />

Gotteskoog. Dort wiesen ihn der zuständige<br />

Schulinspektor, der Pfarrer von Niebüll, sowie<br />

der Propst Versmann in Itzehoe auf die Rheinische<br />

Mission hin. An dieser Stelle begann die<br />

Beziehung zum Wuppertal 4 .<br />

Nommensen machte sich auf den Weg nach<br />

Barmen, ohne einen Aufnahmebescheid ab zu -<br />

warten. Aber dort konnte er nicht sofort auf -<br />

genommen werden, man verwies ihn vorerst an<br />

den Lehrer Kamphausen am Neuenteich, der<br />

ihn eineinhalb Jahre als Hilfslehrer be schäf -<br />

tigte. Während dieser Zeit erhielt Nommensen<br />

– zusammen mit anderen Missionsaspiranten –<br />

abends Unterricht bei Elberfelder Lehrern, um<br />

sein Allgemeinwissen zu fördern <strong>und</strong> auszubauen.<br />

Zusätzlich erteilte Missionsinspektor<br />

Wallmann ihm noch Privatst<strong>und</strong>en in Latein. In<br />

dieser Zeit sammelte Nommensen auch erste<br />

Erfahrungen im Dienst der Verkündigung, er<br />

hielt Bibelst<strong>und</strong>en <strong>und</strong> gewann dadurch die<br />

Gewißheit des eigenen Glaubens 5 .<br />

Im Sommer 1857 konnte Nommensen in<br />

das Barmer Missionshaus eintreten. Daneben<br />

betätigte er sich in der evangelischen Vereinsarbeit<br />

<strong>und</strong> gründete am Ostersbaum einen<br />

„Jünglingsverein“, den Vorläufer des heutigen<br />

CVJM 6 .<br />

90<br />

Aus der Zeit auf dem Seminar ist wenig<br />

überliefert. Doch scheint festzustehen, daß<br />

Nommensen weniger durch große Begabung<br />

als vielmehr durch Beharrlichkeit <strong>und</strong> Zähigkeit<br />

glänzte. Im Jahre 1861 wurde er in der Unterbarmer<br />

Hauptkirche ordiniert. Kurz vor seiner<br />

Aussendung nach Südostasien besuchte<br />

Nommensen noch einmal seine Heimat <strong>und</strong><br />

hielt erbauliche Versammlungen auf Nordstrand,<br />

in Husum <strong>und</strong> Schleswig. Sein schlichtes<br />

biblisches Zeugnis wurde dort Anlaß zu einer<br />

Erweckungsbewegung, obwohl man sich in<br />

Norddeutschland mit solchen Dingen in der<br />

Regel etwas schwer tut. Doch es fehlte auch<br />

nicht an Widerspruch. So konnte man in Husum<br />

hören: „Dat is man good, dat de Keerl weg<br />

is; denn he hat jo man all Lüd dösig makt,<br />

wenn he wat länger blewen war“. 7<br />

Im Dezember 1861 ging Nommensen in<br />

Amsterdam an Bord des Seglers „Pertinax“.<br />

Der Suezkanal war zu der Zeit noch nicht gebaut,<br />

<strong>und</strong> so brauchte das Schiff 142 Tage, bis<br />

es schließlich am 14. Mai 1862 in Padang, einer<br />

Hafenstadt an Sumatras Westküste, anlegte.<br />

Auf hoher See hatte Nommensen sein<br />

Gelöbnis noch einmal in der Form eines Gebetes<br />

bekräftigt. Ob die Schiffsbesatzung dabei<br />

Zeuge war, ist strittig 8 .<br />

Schon in Holland hatte Nommensen kurz<br />

vor seiner Abreise bei dem Sprachgelehrten<br />

van der Tuuk die Anfangsgründe der batakschen<br />

<strong>und</strong> der malaiischen Sprache gelernt. 9<br />

Um seine Kenntnisse zu erweitern, nahm er<br />

nach seiner Ankunft auf Sumatra zwei bataksche<br />

Jungen zu sich <strong>und</strong> ließ sich mit ihnen in<br />

dem Hafenort Barus nieder, anstatt sich an<br />

seine Missionarskollegen zu wenden <strong>und</strong> mit<br />

ihnen seinen Einsatz zu besprechen. Nommensen<br />

ging dabei von der Erwartung aus, auf<br />

diese Weise rasch die sprachlichen Kenntnisse<br />

zu erwerben, die für eine erfolgversprechende<br />

Arbeit mit den Einwohnern notwendig waren.<br />

In dieser Zeit wollte er keinen Weißen sehen,<br />

um sich ganz auf die fremde Sprache zu konzentrieren.<br />

Ein derartige Art der Sprachdidaktik mutet<br />

uns heute sehr modern an. Auch in anderer<br />

Hinsicht nahm Nommensen Erkenntnisse unserer<br />

zeitgenössischen Pädagogik vorweg. So


trug er sich etwa mit dem Plan, Batak als Lehrer<br />

auszubilden, denn „die batakschen Christen<br />

finden viel leichter Glauben als wir“. 10<br />

Aus der sechs<strong>und</strong>fünfzigjährigen Tätigkeit<br />

Nommensens auf Sumatra bei den Batak sind<br />

zahlreiche Anekdoten überliefert, darunter Ereignisse,<br />

die an die Mission etwa iroschottischer<br />

Mönche in Mitteleuropa im frühen Mittelalter<br />

erinnern <strong>und</strong> die manchmal für den<br />

Missionar auch einen tödlichen Verlauf hätten<br />

nehmen können. So zum Beispiel jenes Opferfest<br />

1864, bei dem ein wild stampfender Büffel<br />

dem Geist der Ahnen geopfert werden sollte.<br />

Der heidnische Opferpriester tötete das Tier<br />

nach ekstatischem Tanz, aus dem Gestammel<br />

des Mannes vernahm die Menschenmenge, daß<br />

der Ahnengeist die Rückkehr des Stammes zu<br />

den alten Sitten <strong>und</strong> Gebräuchen verlange <strong>und</strong><br />

das Opfer des Missionars fordere. Nommensen<br />

war in hoher Gefahr. Er rief in die Menge: „Ein<br />

Geist, der nur will, daß ihr euch gegenseitig<br />

totschlagt, kann doch nicht der Geist eurer Ahnen<br />

sein. Ein Großvater ist doch stolz auf seine<br />

Enkel <strong>und</strong> hat sie lieb“. Die Versammelten<br />

wurden unsicher, ein aus der Ferne heranziehendes<br />

schweres Gewitter tat das Seine, <strong>und</strong><br />

als die Widersacher Nommensens kurz darauf<br />

von Stammesfeinden überfallen <strong>und</strong> verw<strong>und</strong>et<br />

wurden, hatte der christliche Missionar gesiegt.<br />

Wenn wir heute das Wort „Mission“ hören,<br />

reagieren viele Zeitgenossen allergisch, <strong>und</strong><br />

das nicht zu Unrecht. Denn europäische Überheblichkeit,<br />

Geschäftemachrei <strong>und</strong> Skrupellosigkeit<br />

waren immer Begleiterscheinungen der<br />

europäischen Kolonisation; Umweltzerstö -<br />

rung, Zivilisationskrankheiten <strong>und</strong> Alkoholismus<br />

waren es auch. Wie nun nimmt sich vor<br />

diesem Hintergr<strong>und</strong> Nommensen aus?<br />

In einem bedeutenden theologischen Nachschlagewerk<br />

ist zu lesen: „Alle seine Verkündigung<br />

war frei von verletzender Polemik“. 11 Allerdings<br />

ist dies eine Stimme aus dem eigenen<br />

Lager. Wie sehen es heute die unmittelbar Betroffenen,<br />

die Batak selbst? Was haben sie zu<br />

Nommensen <strong>und</strong> seiner Tätigkeit zu sagen?<br />

Der bataksche Pfarrer Songti H. Siregar<br />

drückte seine Auffassung mit folgenden Worten<br />

aus: „Nommensen hat sein Heimatland ver-<br />

lassen, um unter den Batak zu leben. Er hat in<br />

batakschen Hütten gewohnt. Er ist zu Fuß gegangen,<br />

um das Evangelium zu verkünden <strong>und</strong><br />

er hat viele Leiden dort, wo er lebte, erfahren.<br />

Er hat eine Welt verlassen, in der er verhältnismäßig<br />

gut leben konnte, <strong>und</strong> ist in die Welt des<br />

Heidentums gegangen. Seine Absicht war<br />

nicht, bei den Batak Geld zu machen, sondern<br />

die Heilsbotschaft zu bringen in der Bereitschaft,<br />

sein Gefühl, sein Geld <strong>und</strong> seine Zeit zu<br />

investieren. Er hat sein Leben für die Batak geopfert<br />

<strong>und</strong> ist bei ihnen gestorben.“ 12<br />

Ich glaube, für Nommensens Erfolge war<br />

wesentlich, daß er mitten unter den Eingeborenen,<br />

als Gleicher unter Gleichen, lebte, <strong>und</strong> daß<br />

er früh einheimische Mitarbeiter gewann <strong>und</strong><br />

sie einsetzte, was durchaus nicht den Ansichten<br />

mancher seiner Missionarskollegen entsprach.<br />

Hier sei er noch einmal zitiert: „Ich bin dafür,<br />

daß man die europäischen Missionare reduziert<br />

<strong>und</strong> durch Inländer ersetzt. In der Verantwortung<br />

wachsen die batakschen Mitarbeiter hinein<br />

zu neuen, hohen Aufgaben. Wenn tüchtige<br />

Leute da sind, dann können sie wahrlich mehr<br />

ausrichten als wir.“ 13<br />

Welche Früchte aus einer derartigen Einstellung<br />

erwuchsen, zeigt die Tatsache, daß<br />

man auf der Weltmissionskonferenz 1938 die<br />

Batakkirche als mustergültiges Beispiel einer<br />

Kirche entdeckte, „die sich selbst erhielt, selbst<br />

verwaltete <strong>und</strong> selbst ausbreitete. Daß es dazu<br />

kam, liegt in den ges<strong>und</strong>en Prinzipien des Aufbaus,<br />

die Nommensen verfolgte“. 14 Auch im<br />

Wirtschaftsleben Indonesiens spielen die<br />

christlichen Batak eine nicht zu unterschätzende<br />

Rolle, obwohl sie eine ethnische Minderheit<br />

sind. Die Batakkirche leistet hier Entwicklungshilfe<br />

für das eigene Volk, was ohne<br />

den Gr<strong>und</strong>, den Nommensen legte, kaum denkbar<br />

ist.<br />

Ein weiterer wichtiger Gr<strong>und</strong> für den Erfolg<br />

Nommensens war die Art seiner Frömmigkeit.<br />

Nommensen war kein Rationalist, er vertrat<br />

<strong>und</strong> predigte ein schlichtes, von exegetischen<br />

Problemen wenig berührtes Christentum.<br />

Weiter nahm er die Glaubensvorstellungen<br />

der Batak ernst <strong>und</strong> bemühte sich, auf dieser<br />

Ebene eine Brücke zum christlichen Glauben<br />

zu schlagen. Man wird unwillkürlich an<br />

91


den Apostel Paulus erinnert, der auf ähnliche<br />

Weise versuchte, den Athenern den christlichen<br />

Glauben nahezubringen (Apg. 17, 22 ff.).<br />

Als Vertreter der Batakkirche einmal darauf<br />

aufmerksam gemacht wurden, daß Nommensen<br />

eigentlich kein Deutscher, sondern ein<br />

Däne sei, weil die Insel Nordstrand, als Nommensen<br />

dort lebte, zu Dänemark gehörte, war<br />

ihre Antwort: „Für uns war er ein Batak“. 15<br />

Auf bataksche Initiative geht die Errichtung<br />

von zwei Gedenksteinen auf Nommensens<br />

Heimatinsel zurück. Ein Findling steht<br />

vor der Odenbüller St.-Vinzenz-Kirche <strong>und</strong><br />

trägt die Aufschrift:<br />

„Ingwer Ludwig Nommensen<br />

1834 – 1918<br />

Missionar der Batak<br />

Nordstrand – Sumatra“<br />

Der andere schmückt den Ort, wo einst<br />

Nommensens Elternhaus stand, das vor Jahren<br />

Deichbaumaßnahmen weichen mußte. Nommensen<br />

starb hochgeehrt, unter anderem mit<br />

dem theologischen Ehrendoktor der Universität<br />

Bonn, am 23. Mai 1918 auf Sumatra. Sein<br />

Grab ist heute noch das Ziel vieler Besucher<br />

aus dem Batakland.<br />

Anmerkungen<br />

1 Vgl. Johannes Warneck: D. Ludwig I. Nommensen<br />

– Ein Lebensbild. Wuppertal-Barmen 1934,<br />

S. 9; zit. nach G. Menzel: Ein Reiskorn auf der<br />

Straße – Ludwig I. Nommensen, „Apostel der<br />

Batak“. Wuppertal 1984, S. 9 u. 10<br />

2 Vgl. Hauke Heuck: Der Apostel der Batak. Zum<br />

92<br />

❊ ❊<br />

❊<br />

150. Geburtstag von Ingwer Ludwig Nommensen.<br />

In: Nordfriesland. 18. Bd., Heft 1 (März<br />

1984), S. 11<br />

3 Gottlob M<strong>und</strong>le: Der Gänsejunge von Nordstrand.<br />

Wuppertal 1952, S. 4 f. (Neuauflage einer<br />

bereits vor dem 2. Weltkrieg erschienenen<br />

Schrift)<br />

4 Ebd, S. 7f., vgl. auch wie Anm. 1, S. 10 ff.; E.<br />

Hellmann: Ein Mann kann warten – Aus dem<br />

Leben Ludwig Ingwer Nommensens. Wuppertal<br />

1968, S. 7<br />

5 Vgl. M<strong>und</strong>le (wie Anm. 3), S. 8; Warneck (wie<br />

Anm. 1), S. 6<br />

6 Vgl. J. Müller-Späth: Die Anfänge des CVJM in<br />

Rheinland <strong>und</strong> Westfalen. Köln 1988 (Schriftenreihe<br />

des Vereins für Rhein. Kirchengeschichte,<br />

Bd. 90)<br />

7 Vgl. Menzel (wie Anm 1), S. 10 u. 13; W. Landgrebe:<br />

Ludwig Nommensen – Kampf <strong>und</strong> Sieg<br />

eines Sumatra-Missionars. Gießen u. Basel<br />

1954, S. 16<br />

8 Daß vor allem der Kapitän <strong>und</strong> der Steuermann<br />

von Nommensen beeindruckt waren, berichtet<br />

J. H. Hemmers: L. I. Nommensen, de Apostel de<br />

Batakkers. Den Haag 1935, S. 19; das Gegenteil<br />

bei A.Pagel (Hg.): Er bricht die Bahn. Marburg<br />

1979, S. 11 f.<br />

9 Zit. nach M<strong>und</strong>le (wie Anm. 3), S. 10<br />

10 Vgl. W. Landgrebe (wie Anm. 7), S. 17<br />

11 Vgl. Religion in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart<br />

(RGG), Bd. 4, 3. Aufl., Tübingen 1960, Sp. 1508<br />

12 Vgl. Songti H. Siregar: Ein Leben unter Batak. In:<br />

In die Welt – für die Welt. Berichte der Vereinigten<br />

evangelischen Mission. 20. Jg., Nr. 2/84, S. 47<br />

13 Nach Heuck (wie Anm. 2), S. 12<br />

14 Vgl. G.Menzel: Der Menschenfischer vom Tobasee.<br />

In: In die Welt – für die Welt. 20. Jg.,<br />

2/84, S. 42<br />

15 Vgl. Hauke Heuck: Nordstrand gehört zum<br />

Batak land. In: In die Welt – für die Welt. 20. Jg.,


Reiner Rhefus<br />

Hugo Hillmann (1823–1898)<br />

Die Anfänge der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Wuppertal<br />

Nachtrag <strong>und</strong> Korrekturen<br />

Nach Erscheinen des Artikels über Hugo<br />

Hillmann in „Geschichte im Wuppertal“, Heft<br />

7, 1998, sind dem Autor einige biographische<br />

Hinweise <strong>und</strong> Korrekturen, unter anderem von<br />

einem Nachfahren, zugekommen, die der Erwähnung<br />

wert sind. Darüber hinaus enthält der<br />

Begleitband zur Ausstellung „Michels Erwachen<br />

– Emanzipation durch Aufstand?“ ebenfalls<br />

einige bisher nicht ausgewertete Dokumente.<br />

1 Vor allem die dort abgedruckten Zeitungsberichte<br />

über die „Prozeßverhandlungen<br />

der Maiangeklagten von Elberfeld“, die im<br />

April <strong>und</strong> Mai 1850 im „Täglichen Anzeiger“<br />

in Elberfeld erschienen, bieten eine Fülle von<br />

Hinweisen auf Hugo <strong>und</strong> Otto Hillmann.<br />

Carl Hugo Hillmann wurde als sechstes<br />

von neun Kindern der Eheleute Johann Friedrich<br />

Christian Hillmann <strong>und</strong> seiner Frau Maria<br />

Helena Angerm<strong>und</strong> geboren. Sein Bruder<br />

<strong>und</strong> Kampfgefährte Adolph Otto (12.9.1826 –<br />

3.3.1916) wurde drei Jahre später als nächstes<br />

Geschwisterkind geboren. Der Vater Friedrich<br />

Hillmann war 1811 aus Unna nach Elberfeld<br />

gekommen, um hier die Tochter von Heinrich<br />

Angerm<strong>und</strong>, dem Inhaber einer Metzgerei, zu<br />

heiraten. 2 Der Vater kam aus durchaus wohlhabenden<br />

Verhältnissen. Seine Familie besaß in<br />

Unna eine Brauerei <strong>und</strong> Schnapsbrennerei, <strong>und</strong><br />

eine Reihe Familienmitglieder übte die Berufe<br />

des Brauers, des Wirts oder Schnapsbrenners<br />

aus. 3<br />

Zur Zeit der Geburt seines Sohnes Hugo<br />

war der Vater Friedrich Christian Hillmann als<br />

Gendarm tätig. Später betrieb er ein Unternehmen<br />

als Pferdeverleiher <strong>und</strong> „Hauderer“<br />

(Lohnkutscher). Die Toreinfahrt des damals errichteten<br />

Elternhauses in der Untergrünewalder<br />

Straße 10 ist sicherlich ein Hinweis auf<br />

dieses Unternehmen. 4 Hugo Hillmann setzte<br />

die Familientradition fort <strong>und</strong> wurde Brauer.<br />

Sein Bruder Otto Hillmann erlernte zunächst<br />

das Handwerk des Kupferschlägers. Nach seiner<br />

Rückkehr aus dem Exil betrieb er in Unterbarmen<br />

eine Schnapsbrennerei.<br />

Der Begleitband zur Ausstellung „Michels<br />

Erwachen – Emanzipation durch Aufstand?“<br />

enthält einen Brief des Landrates Melbeck an<br />

die Königliche Regierung in Düsseldorf, datiert<br />

vom 7./8. Mai, 3:00 Uhr. Der Landrat<br />

schreibt: „Die Ordre zur Verhaftung des Hillmann<br />

habe ich an diesem Abend spät erhalten;<br />

will ich aber nicht die größte Gefahr heraufbeschwören,<br />

so muß ich Anstand (soll heißen Abstand)<br />

nehmen, der Requisition zu folgen, solange<br />

nicht militärische Hilfe ansteht“. 5 Weiter<br />

heißt es, die „Aufregung würde sonst zum<br />

höchsten Aufruhr gesteigert werden <strong>und</strong> die<br />

wenigen Gendarmen der bewaffneten Übermacht<br />

erliegen“. 6<br />

Hillmann war zu diesem Zeitpunkt der einzige<br />

der oppositionellen Landwehrmänner, der<br />

als Einberufener unter Militärgesetz stand <strong>und</strong><br />

durch den Aufruf vom 3. Mai den Kriegsdienst<br />

verweigert hatte. Er setzte sich als erster der<br />

drohenden Strafe aus <strong>und</strong> kann somit als eine<br />

zentrale Person bei der Auslösung des Aufstandes<br />

angesehen werden. Auch sein Bruder Otto<br />

übernimmt zu Beginn des Aufstandes eine aktive<br />

Rolle. So gibt der Brauer Jakob Scharpenack<br />

an, daß Otto Hillmann bei der Versammlung<br />

der Landwehrmänner am 6. Mai<br />

zum Präsidenten der Versammlung gewählt<br />

wurde. Hier wurde beschlossen: „Wir wollen<br />

der Nationalversammlung, nicht unserem Ministerium<br />

folgen“. 7<br />

Die oben angesprochenen Zeitungsberichte<br />

über die Prozeßverhandlungen gegen die 242<br />

„Maiangeklagten“ enthalten viele Hinweise<br />

auf die beiden Brüder. Sowohl Zeugen als auch<br />

Angeklagte berichten über Ereignisse <strong>und</strong> Vorfälle,<br />

in denen Hugo <strong>und</strong> Otto Hillmann als<br />

verantwortliche Personen in Erscheinung tre-<br />

93


ten. Da die beiden Beschuldigten auf der<br />

Flucht waren <strong>und</strong> zu den Vorwürfen nicht Stellung<br />

nehmen konnten, ist natürlich vorstellbar,<br />

daß sie auch zur Entlastung anderer beschuldigt<br />

wurden. Trotzdem wird aus den Berichten<br />

ihre aktive <strong>und</strong> tragende Rolle bei der militärischen<br />

Verteidigung der Stadt deutlich.<br />

Von einigen Angeklagten <strong>und</strong> Zeugen wurden<br />

die beiden Brüder beschuldigt, am 9. Mai,<br />

dem Tag, als das preußische Militär anrückte,<br />

als Anführer einer 40 Mann starken Einheit den<br />

Barrikadenbau <strong>und</strong> militärischen Widerstand<br />

am Engelnberg , auf dem das Quartier des<br />

Landwehrkomitees lag, organisiert zu haben.<br />

In den Verteidigungsreden der Angeklagten,<br />

die uns als Quellen hierzu zur Verfügung stehen,<br />

heißt es verständlicherweise, die Gebrüder<br />

Hillmann hätten diese Maßnahmen erzwungen.<br />

So forderte Hugo Hillmann bei der<br />

Gaststätte „Finger“ den Chef der Schützen J.<br />

A. Thiel unter Drohungen auf, sich am Kampf<br />

gegen das Militär zu beteiligen. 8 Hillmann<br />

hätte gerufen: „Schützen heraus! Zeigt daß ihr<br />

noch Schützen seid!“. 9 Einem weiteren Gefährten<br />

wurden die Worte „Wollt ihr zusehen,<br />

wie unsere Nachbarjungen auf dem Engelnberg<br />

totgeschossen werden?“ in den M<strong>und</strong> gelegt.<br />

10<br />

Der Angeklagte Wilhelm Krükert aus Velbert<br />

gab an, im Auftrag von Hillmann 20 Pf<strong>und</strong><br />

Pulver in Velbert gekauft zu haben. 11 Die<br />

Gruppe um Hillmann wurde beschuldigt, fünf<br />

der acht Kanonen in der Gesellschaft „Genügsamkeit“<br />

beschlagnahmt zu haben. 12 Zwei der<br />

erbeuteten Kanonen wurden auf Anweisung<br />

des Barrikadeninspektors Friedrich Engels an<br />

der Haspeler Brücke zur Verstärkung der Barrikade<br />

gegen das königstreue Barmen aufgestellt.<br />

13 Der preußische Unteroffizier Gustav<br />

Wessel berichtet, wie Hillmann mit dem Major<br />

an der Barrikade am Jägerhof verhandelte. 14<br />

Friedrich Herring, der Kutscher der Familie<br />

Daniel von der Heydt, sagt aus, daß Hillmann<br />

Kommandant der Wache war, die den Bankier<br />

Daniel von der Heydt in seinem Haus am<br />

Laurentiusplatz als Geisel des Sicherheits -<br />

ausschußes zu bewachen hatte. Als der Gefangene<br />

auf das Rathaus gebracht werden sollte,<br />

weigerte sich Hillmann zunächst, dies zuzulas-<br />

94<br />

sen.<br />

Später, so berichtet der Kaufmann Rudolf<br />

Jung, war Hillmann maßgeblich an den Verhandlungen<br />

um die Freilassung des Bankiers<br />

beteiligt <strong>und</strong> nach einigen Verhandlungen mit<br />

der reichen Kaufmannschaft bereit, Daniel von<br />

der Heydt gegen eine Summe von 1000 Talern<br />

frei zu lassen. 15<br />

Am 17. Mai, als der Zusammenbruch des<br />

Aufstandes abzusehen war, kam es in der Gaststätte<br />

Hasenclever in Iserlohn zu einem Treffen<br />

der Abgeordneten aus den aufständischen<br />

Städten Iserlohn, Elberfeld, Hagen <strong>und</strong> Limburg.<br />

Es wurde vermutlich über einen geordneten<br />

Rückzug der Aufständischen, über Wege<br />

der Flucht <strong>und</strong> den Anschluß an die badischen<br />

Revolutionsarmee beraten. Hierbei ist möglicherweise<br />

erstmals der Kontakt zwischen Wilhelm<br />

Hasenclever, dem Führer des Aufstandes<br />

in Iserlohn, <strong>und</strong> Hugo Hillmann zustande gekommen.<br />

13 Jahre später, nachdem in Leipzig<br />

der allgemeine deutsche Arbeiterverein<br />

(ADAV) gegründet worden war, warb Hugo<br />

Hillmann seinen ehemaligen Kampfgenossen<br />

für diese neue Bewegung. 1871 sollte Hasenclever<br />

Präsident des Vereins <strong>und</strong> einer der ersten<br />

sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten<br />

werden.<br />

Für diesen 17. Mai ist auch die Vollmacht<br />

datiert, die Hugo Hillmann seinem Vater ausstellte<br />

<strong>und</strong> mit der er den Erhalt von 3000 Talern<br />

quittierte. 16 Diese nicht unbedeutende<br />

Summe war ihm von Elberfelder Bürgern, unter<br />

anderem von dem Friedensrichter <strong>und</strong> stellvertretenden<br />

Abgeordneten der preußischen<br />

Nationalversammlung, G. Brüning, zugesagt<br />

worden. Sein Vater mußte das Geld für seinen<br />

Sohn zu einem späteren Zeitpunkt in Empfang<br />

nehmen. Tausend Taler erhielt der Vater im November<br />

tatsächlich zurück. Es ist denkbar, daß<br />

die noch ausstehenden 2000 Taler vom Vater<br />

als Voraberbe berechnet wurden. Hugo Hillmann<br />

berichtet später, er habe für seine politische<br />

Überzeugung sein gesamtes Erbe verwendet.<br />

Am 19. Mai rückte das Militär in Elberfeld<br />

ein <strong>und</strong> der Belagerungszustand wurde verhängt.<br />

Zu diesem Zeitpunkt hatten Hugo <strong>und</strong><br />

Otto Hillmann schon ihre Heimatstadt verlas-


sen. Hugo Hillmann schrieb im April 1850<br />

in London zum Jahrestag der Elberfelder Ereignisse<br />

einen Aufruf an die Elberfelder Arbeiter.<br />

Dieser Aufruf gelangte auf illegalen Wegen<br />

nach Deutschland <strong>und</strong> wurde in der Zeitschrift<br />

„Der Volksmann“ von Hermann Püttmann in<br />

Elberfeld veröffentlicht. 17 Seine Hoffnung auf<br />

eine Fortsetzung der Revolution hatte Hillmann<br />

zu diesem Zeitpunkt nicht aufgegeben,<br />

wenn er schreibt: „Darum, Ihr Arbeiter, Ihr<br />

Proletarier, bereitet Euch vor zum nächsten<br />

Kampf, der wahrscheinlich nicht lange mehr<br />

auf sich warten lassen wird; laßt Euch nicht beschwatzen<br />

<strong>und</strong> einlullen von Euren sogenannten<br />

Herren, stellt Euch zusammengeschart unter<br />

die Fahne der Gleichheit <strong>und</strong> Brüderlichkeit<br />

– <strong>und</strong> der Sieg wird Euer sein. Es lebe das Proletariat,<br />

es lebe die soziale Republik!“ 18<br />

Hier wurden die Hoffnung auf die revolutionäre<br />

Kraft der Arbeiter <strong>und</strong> das Ziel einer sozialen<br />

Republik zum erstenmal deutlich von<br />

Hugo Hillmann formuliert. Als dieser Aufruf in<br />

Elberfeld erschien, löste er einiges Aufsehen<br />

aus. „Der Volksmann“ geriet durch diese Veröffentlichung<br />

in Bedrängnis, wurde jedoch erst<br />

zwei Monate später endgültig verboten. In dieser<br />

Zeit fand gerade der oben erwähnte Prozeß<br />

wegen der Elberfelder „Mai-Ereignisse“ statt.<br />

Vor den Gefängnissen standen die Leute <strong>und</strong><br />

bek<strong>und</strong>eten lautstark ihre Sympathien für die<br />

Insassen, die verhafteten Angeklagten. Dies<br />

zeigt, daß die Unruhe in Elberfeld zu diesem<br />

Zeitpunkt noch nicht endgültig besiegt war,<br />

doch zu der von Hillmann erhofften sozialen<br />

Revolution kam es nicht.<br />

Was wurde aus Otto Hillmann?<br />

Auch er war einer der 242 „Maiangeklagten“<br />

in Elberfeld. Doch er <strong>und</strong> sein Bruder waren<br />

zu diesem Zeitpunkt flüchtig <strong>und</strong> konnten<br />

nicht verurteilt werden. Doch während auf einer<br />

Liste der preußischen Polizei in Koblenz<br />

Hugo Hillmann neben anderen Elberfeldern als<br />

politischer Flüchtling aufgeführt wurde, ist<br />

dort der Name Otto Hillmann nicht zu finden. 19<br />

Während Hugo bis zur Amnestie 1861 in<br />

London im Exil blieb, war sein Bruder Otto<br />

schon 1858 wieder im Adressbuch seiner Heimatstadt<br />

aufgeführt.<br />

Otto Hillmann heiratete 1867 Augusta Paul -<br />

sen, mit der er drei Kinder hatte. In Barmen<br />

übernahm er, sicherlich mit Unterstützung der<br />

Familie oder seines Erbteils, eine alteingesessene<br />

Schnapsbrennerei an der Straße „In der<br />

Mauer“, der heutigen Bendahler Straße. Aus<br />

dem einstigen Revolutionär von 1849 wurde<br />

nun ein erfolgreicher Unternehmer.<br />

In dem Artikel der „Freien Presse“ über die<br />

Beerdigung Hugo Hillmanns im Januar 1898<br />

findet sich auch ein Hinweis auf seinen Bruder.<br />

Hier heißt es: „Mehrere Wagen, in denen<br />

Angehörige der Familie, sowie Vertreter der<br />

Firma des Bruders des Verstorbenen Platz genommen<br />

hatten, bildeten den Schluß. Der<br />

ebenfalls schon hochbetagte Bruder unseres<br />

Hillmanns hatte sich entschuldigen lassen, da<br />

er wegen hartnäckigen Leidens am Begräbnisse<br />

nicht Theil nehmen konnte“. 20<br />

Seinen demokratischen Idealen hielt Otto<br />

Hillmann im Gegensatz zu seinem verstorbenen<br />

Bruder zu diesem Zeitpunkt vermutlich<br />

nicht mehr die Treue. Eine familiäre Anekdote<br />

erzählt: Als im Jahr 1900 das Kaiserpaar die<br />

Stadt Elberfeld besuchte, durfte Otto Hillmann<br />

seine Pferde, angeblich die schönsten der<br />

Stadt, für die Kutsche der hohen Gäste zur<br />

Verfügung stellen. Da die Kinder andere Berufe<br />

gewählt hatten, verkaufte Otto Hillmann<br />

1910 seinen Besitz am Bendahl an die<br />

Wicküler Brauerei <strong>und</strong> seine Brennrechte an<br />

die bekannte Elberfelder Schnapsbrennerei<br />

Knappertsbusch. 21 Deshalb wird dort heute<br />

noch die Marke „Hillmann’s Wacholder“ vertrieben.<br />

22<br />

Drei Korrekturen:<br />

Über die von mir erwähnte Gaststätte in<br />

Ronsdorf, in der Ferdinand Lassalle seine bekannte<br />

„Ronsdorfer Rede“ hielt, liegen unterschiedliche<br />

Angaben vor. Manche Autoren gehen<br />

von der Gaststätte „Kimpel“, andere von<br />

der Gaststätte „Wesenholl“ auf der Remscheider<br />

Straße aus. Der in dem Artikel fälschlicherweise<br />

angegebene „Rheinische Hof“ wurde in<br />

späteren Jahren für die in Ronsdorf abgehaltenen<br />

„Lassalle-Feiern“ genutzt.<br />

Der von mir erwähnte Begründer der katholischen<br />

Gesellenvereine „Georg“ Breuer<br />

95


hieß tatsächlich Johann Gregor Breuer.<br />

In dem Artikel ist als das Elternhaus der<br />

Gebrüder Hillmann irrtümlich das Haus auf der<br />

Untergrünewalder Straße 12 bezeichnet. Tat -<br />

sächlich ist es die Hausnummer 10. Diese Haus<br />

ist ebenfalls erhalten.<br />

Anmerkungen<br />

1 Knieriem, Michael, Hg, Michels Erwachen –<br />

Emanzipation durch Aufstand ? Studien <strong>und</strong> Dokumente<br />

zur Ausstellung, Wuppertal 1998.<br />

2 Eine Metzgerei gleichen Namens bestand bis<br />

1993 noch in Elberfeld.<br />

3 Nach Angaben von Dr. Joachim Hillmann, Wuppertal,<br />

einem Urenkel von Otto Hillmann.<br />

4 In dem Aufsatz „Hugo Hillmann – die Anfänge<br />

der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im<br />

Wuppertal“, in: Geschichte im Wuppertal, Heft<br />

7, 1998, ist irrtümlicherweise die Hausnummer<br />

12 angegeben.<br />

5 Geheimes Staatsarchiv PK., Berlin Rep 77, Tit.<br />

505 Nr. 3, Bd. 4, S. 128, in: Knieriem (wie Anm.<br />

1), S. 46<br />

6 Geheimes Staatsarchiv PK., Berlin Rep 77, Tit.<br />

505 Nr. 3, Bd. 4, S. 128, in: Knieriem (wie Anm.<br />

1), S. 46<br />

7 Prozeßverhandlungen der Maiangeklagten von<br />

Elberfeld dargestellt im Täglichen Anzeiger Nr.<br />

97 – III; Elberfeld 26. April – 12. Mai 1850; in:<br />

Knieriem (wie Anm. 1), S. 79<br />

8 Ebd., S. 89<br />

9 Ebd., S. 95<br />

10 Ebd., S. 88<br />

11 Ebd., S. 76<br />

96<br />

❊ ❊<br />

❊<br />

12 Ebd., S. 83<br />

13 Knieriem, Michael, Der Prozeß gegen die Mai-<br />

Angeklagten in Elberfeld, in: Knieriem, Michels<br />

Erwachen – Emanzipation durch Aufstand,<br />

Wuppertal 1998, S. 47, vgl. Prozeßverhandlungen,<br />

Knieriem (wie Anm. 7), S. 88<br />

14 Prozeßverhandlungen, Knieriem (wie Anm. 7),<br />

S. 83; Gustav Wessel, Unteroffizier des 16. Regiments<br />

15 Prozeßverhandlungen, Knieriem (wie Anm. 7),<br />

S. 86; Daniel von der Heydt war als Bruder des<br />

preußischen Handels- <strong>und</strong> Finanzministers für<br />

die Aufständischen von besonderem Interesse.<br />

16 Der vollständige Text lautet:<br />

Ich bevollmächtige meinen Vatter Friedrich<br />

Hillmann, meine Verhältniße in Elberfeld zu<br />

ordnen <strong>und</strong> namentlich die mir von einigen Einwohnern<br />

in Elberfeld zugesagten in dem von<br />

meinem Vatter am 17. Mai 1849 über 3 000 Thaler<br />

von ihm ausgestellten Scheinen mit verbürgten<br />

1 000 Thalern zu empfangen. Elberfeld, den<br />

17. Mai 1849<br />

Unterschrieben als Vollmacht, Hugo Hillmann<br />

Vorstehende 1 000 Thaler in Auftrag meines<br />

Sohnes Hugo Hillmann von dem Herrn Richter<br />

Brüning erhalten.<br />

Elberfeld, den 22.11.1849 Friedrich Hillmann<br />

17 Hermann Püttmann (1811–1874) Publizist,<br />

Dichter, Teilnehmer der Revolution 1848/49.<br />

18 Der Volksmann, sozial-demokratisches Volksblatt<br />

für Rheinland <strong>und</strong> Westfalen, Nr. 50 vom<br />

26. April 1850, abgedruckt in: Knieriem (wie<br />

Anm. 7), S. 43<br />

19 Polizeiliste in: Petitionen <strong>und</strong> Barrikaden –<br />

Rheinische Revolutionen 1848/49, Münster<br />

1998, S. 420<br />

20 Freie Presse, 19.1.1898<br />

21 Heute in dem alten Gebäude der Funkstraße


Winfried Herbers<br />

Jagd auf Flugblätter<br />

Die Polizei <strong>und</strong> der Richtungskampf in der SPD 1916/17 im Wuppertal<br />

I.<br />

Im Sommer dieses Jahres, am 13.6.1999,<br />

wurde in Wuppertal-Elberfeld eine Treppe<br />

nach dem sozialistischen Politiker Oskar Hoffmann<br />

(1877–1953) benannt <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

eine Ausstellung in der Zentralbibliothek Elberfeld<br />

über sein Leben <strong>und</strong> sein politisches<br />

Wirken eröffnet. Dort bezeichnete sein Sohn,<br />

Prof. Ernst Hoffmann, bei einer Rede die genaueren<br />

Umstände der Verhaftung <strong>und</strong> Verurteilung<br />

seines Vaters 1916/17 als weitgehend<br />

ungeklärt, wenn man von den drei in der Ausstellung<br />

gezeigten kargen Notizen vom 24. <strong>und</strong><br />

25.7.1916 <strong>und</strong> vom 10.2.1917 in der Freien<br />

Presse, dem Parteiorgan der Wuppertaler SPD,<br />

einmal absieht.<br />

Bisher in der lokalen Forschung unbeachtet<br />

blieb eine Akte im Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf.<br />

Der Titel dieser Akte lautet: „Strafverfahren<br />

gegen Dattan <strong>und</strong> Genossen in Elberfeld<br />

wegen versuchten Landesverrats (Verbreitung<br />

verbotener Flugblätter)“: Sie befaßt sich auch<br />

mit Oskar Hoffmanns Verhaftung <strong>und</strong> Ver ur -<br />

teilung 1916/1917. 1<br />

Abgesehen von der Bedeutung für O. Hoffmanns<br />

Biographie bietet das in der Akte teilweise<br />

dokumentierte Verfahren aber auch einen<br />

interessanten Einblick in die Praxis der polizeilichen<br />

Bespitzelung während des Belagerungszustands<br />

im 1. Weltkrieg. Die Polizeiverwaltung<br />

Elberfelds berichtet dem Regierungspräsidenten<br />

in Düsseldorf über diese Angelegenheit.<br />

Es gibt vor allem genaue Berichte über<br />

die Arbeit von Elberfelder Polizisten, die<br />

nachts Verdächtigen nachschleichen <strong>und</strong> Verhörprotokolle<br />

von Festgenommenen anfertigen.<br />

Das außerhalb Wuppertals stattfindende<br />

Gerichtsverfahren wird dagegen nur recht<br />

summarisch dokumentiert. Rückschlüsse auf<br />

die Richtungskämpfe zwischen der so genannten<br />

gemäßigten Mehrheit <strong>und</strong> der radikalen<br />

Minderheit in der Wuppertaler SPD ergeben<br />

sich ebenfalls aus dem Material.<br />

Hintergr<strong>und</strong> des Falls ist die Weitergabe<br />

<strong>und</strong> Verteilung von Flugblättern. In ihnen ging<br />

es vor allem um die Person <strong>und</strong> die Politik von<br />

Karl Liebknecht (1871–1919), dem späteren<br />

Parteiführer der KPD/Spartakusb<strong>und</strong>. Er protestierte<br />

als erster parlamentarisch <strong>und</strong> außerparlamentarisch<br />

gegen die Politik der Mehrheit<br />

der SPD im 1.Weltkrieg.<br />

Einige Tage nach Kriegsbeginn, am 4. August<br />

1914, hatte die SPD nach interner kontroverser<br />

Diskussion einstimmig den Kriegskrediten<br />

zugestimmt. Das entsprach zwar nicht der<br />

traditionellen Haltung der Partei zum Krieg,<br />

wohl aber der damals vorherrschenden nationalen<br />

Hochstimmung. Gestützt wurde die Zustimmung<br />

auch durch die Meinung, durch das<br />

reaktionäre Rußland zum Krieg gezwungen<br />

worden zu sein, <strong>und</strong> die Hoffnung, aus der<br />

Stellung eines Parias in der Gesellschaft herauszufinden.<br />

Damit war die SPD in die gemeinsame<br />

Burgfriedenspolitik aller deutschen<br />

Parteien einbezogen. Die Gemeinsamkeit in<br />

der SPD dauerte aber nicht lange an; als erster<br />

stimmte Liebknecht bereits am 2.12.1914 im<br />

Reichstag gegen die Kriegskredite. Eine<br />

Gruppe um den Reichstagsabgeordneten Hugo<br />

Haase wandte sich ebenfalls zunehmend gegen<br />

die Bewilligung der Kriegskredite, obwohl sie<br />

ideologisch <strong>und</strong> programmatisch gemäßigter<br />

war als Liebknecht <strong>und</strong> seine Anhänger.<br />

Bei einer öffentlichen Protestaktion am<br />

1. Mai 1916 auf dem Potsdamer Platz in Berlin<br />

verhaftete die Polizei Liebknecht. 2 Ein Hochverratsprozeß<br />

folgte am 28. Juni 1916 vor dem<br />

Kommandanturgericht von Berlin: Urteil: zwei<br />

Jahre, sechs Monate Zuchthaus. Der Revisionsprozeß<br />

am 23. August 1916 verschärfte<br />

das Strafmaß: Vier Jahre <strong>und</strong> einen Monat<br />

Zuchthaus <strong>und</strong> der Verlust der bürgerlichen<br />

Ehrenrechte für sechs Jahre. 3 Am 4. November<br />

97


1916 bestätigte das Reichsmilitärgericht endgültig<br />

das Urteil. 4 Auf den ersten Prozeß bezogen<br />

sich die in Wuppertal auftauchenden Flugblätter,<br />

denn die Anhänger Liebknechts wollten<br />

dieses Urteil natürlich nicht akzeptieren.<br />

II.<br />

Auf Gr<strong>und</strong> der Ausrufung des Belagerungszustandes<br />

zu Beginn des Krieges hatten die<br />

stellvertretenden Generalkommandos die vollziehende<br />

Gewalt <strong>und</strong> machten die Zivilbehörden<br />

zu ihren Erfüllungsgehilfen. Da auch die<br />

Meinungsfreiheit durch den Belagerungszustand<br />

eingeschränkt war, konnten die Militärs<br />

Presse <strong>und</strong> Post zensieren.<br />

Am 17. Juli 1916 5 erhielt die Polizeibehörde<br />

in Elberfeld vom stellvertretenden Generalkommando<br />

des VII. Armeekorps in Münster,<br />

in dessen Bereich die Stadt lag, folgenden<br />

Hinweis. Eine gewisse „Frau oder ein Frl.“<br />

Gertrud Kretschmer solle ein Paket mit illegalen<br />

Flugschriften, herausgegeben vom radikalen<br />

Flügel der Sozialdemokratie, durch die<br />

Post bekommen. Als eigentlicher Empfänger<br />

wurde in dem Schreiben der Stadtverordnete<br />

<strong>und</strong> Redakteur der Freien Presse Oskar Hoffmann<br />

6 angesehen.<br />

Gertrud Kretschmer gehörte zweifellos<br />

dem sozialistischen Milieu an, denn ihr Mann,<br />

Otto Kretschmer, zur Zeit Soldat, war Vorstandsmitglied<br />

der Produktionsgenossenschaft<br />

Solidarität, sie reinigte die Räume der Freien<br />

Presse. Über Gertrud Kretschmer wurde daraufhin<br />

von der Polizei die Postüberwachung<br />

angeordnet; auch O. Hoffmann wurde mit dem<br />

Ziel, ihn der Verbreitung der Flugblätter zu<br />

überführen, überwacht.<br />

Aus den Berichten der Polizeibehörde geht<br />

hervor, daß G. Kretschmer tatsächlich am<br />

20.7.1916 ein Paket aus Berlin bekam <strong>und</strong> es<br />

gegen zwei Uhr nachmittags mit zum Geschäftslokal<br />

der Freien Presse nahm, wo sie als<br />

Putzfrau beschäftigt war. Gegen neun Uhr verließ<br />

dann der Redakteur Oskar Hoffmann die<br />

Räume der Freien Presse mit, wie der Berichterstatter<br />

vermutet, dem Paket unter seiner Pelerine<br />

<strong>und</strong> ging zur Berliner Str. 20. 7 Dort, wo<br />

98<br />

auch ein Gewerkschaftsbüro <strong>und</strong> eine von Sozialisten<br />

besuchte Wirtschaft („Stöcker“) untergebracht<br />

waren, erschienen im Verlauf des<br />

Abends mehrere Unbekannte, die sich, so<br />

scheint es dem berichtenden Polizisten, auffällig<br />

benahmen; schließlich verschwand einer<br />

der Männer mit dem Paket <strong>und</strong> begab sich zur<br />

Hardt, wo er zwei weitere Männer traf. Aus den<br />

späteren Verhören stellte sich die Identität von<br />

zwei der drei Männer heraus: Karl Drescher<br />

<strong>und</strong> Paul Sandweg. Die verfolgenden Polizisten<br />

wurden allerdings von ihnen bemerkt, die<br />

drei Männer konnten fliehen, wobei sie aber<br />

das Paket zurückließen, das die Polizisten fanden<br />

<strong>und</strong> beschlagnahmten.<br />

In dem Paket waren folgende Schriften <strong>und</strong><br />

Flugblätter enthalten:<br />

90 Exemplare „Unsere Blätter“ 8<br />

90 Exemplare der Broschüre „Die Herbeiführung<br />

des Friedens“, gedruckt <strong>und</strong> verlegt<br />

von der Schweizerischen Genossenschaftsdruckerei.<br />

9<br />

200 Flugblätter: „Zuchthaus für Friedensarbeit“.<br />

In dieser Nacht bekam die Polizei aber<br />

noch mehr Arbeit. Am gleichen Abend verfolgten<br />

zwei andere Polizisten gegen zehn Uhr eine<br />

weitere Gruppe von Verdächtigen, die sich von<br />

der Berliner Str. 20 auf den Weg nach Barmen<br />

machten.<br />

Die Polizei konnte beobachten, wie die drei<br />

verdächtigen Personen an drei verschiedenen<br />

Stellen Flugblätter anklebten, die für die Ziele<br />

der radikalen Richtung der Sozialdemokratie<br />

warben. Die drei Männer wurden festgenommen<br />

<strong>und</strong> in militärische Sicherheitsverwahrung<br />

genommen. Es handelte sich um den Drogisten<br />

Otto Dattan 10 , den Klempner <strong>und</strong><br />

Schriftsteller Werner Möller 11 <strong>und</strong> den Kaufmann<br />

Max Löwenstein. 12 Plakatiert wurde das<br />

bekannte Flugblatt: „2 1 /2 Jahre Zuchthaus“ mit<br />

dem Schlußsatz: „Hoch Liebknecht! Nieder<br />

mit dem Kriege!“ 13 Das Flugblatt nimmt Bezug<br />

auf Liebknechts Friedensdemonstration am<br />

1. Mai 1916, seine Verhaftung <strong>und</strong> seine Verurteilung<br />

<strong>und</strong>, was die staatlichen Autoritäten<br />

vermutlich am meisten beunruhigte, es wird<br />

von dem Proteststreik Berliner Arbeiter am 28.<br />

Juni 1916 berichtet. Zur Unterstreichung der


Flugblatt gegen die Verurteilung Karl Liebknechts, 1916 (Aus: Udo Achten: Illustrierte Geschichte<br />

des 1. Mai, 1979, S. 181)<br />

99


Glaubwürdigkeit werden sogar die einzelnen<br />

streikenden Betriebe aufgeführt <strong>und</strong> eine Gesamtzahl<br />

von 55.000 Streikenden der „Muni -<br />

tionsindustrie“ gemeldet. Daneben erwähnt<br />

man auch noch entsprechende Streiks in<br />

Braunschweig <strong>und</strong> Stuttgart. Die Arbeiter werden<br />

aufgerufen, sich „zum neuen Handeln“ bereitzuhalten:<br />

„Heraus zum Proteststreik“.<br />

Am nächsten Tag, am 21.7.1916, durchsuchte<br />

die Polizei die Wohnungen von Dattan<br />

<strong>und</strong> von Hoffmann, allerdings fand man kein<br />

weiteres Belastungsmaterial. Dattan, Hoffmann,<br />

Möller, Löwenstein – letzterer wurde<br />

bald allerdings wieder freigelassen – <strong>und</strong> später<br />

weitere Genossen (Jacob Koch, Paul Sauerbrey<br />

14 ) wurden in militärische Sicherheitsverwahrung<br />

genommen. Zusätzlich verhörte man<br />

noch weitere SPD-Mitglieder (Paul Sandweg 15 ,<br />

Karl Drescher 16 ).<br />

In den verschiedenen Verhören gaben am<br />

21.7. (bzw. Verhör Karl Drescher erst am<br />

22.7.1916) die Beschuldigten alles zu, was sie<br />

nicht abstreiten konnten. Sie distanzierten sich<br />

aber z.T. von einzelnen Inhalten der Flugblättern<br />

(Dattan kritisiert die Verwendung von Gewalt<br />

bei Liebknecht), sie bestritten die Mittäterschaft<br />

(Dattan <strong>und</strong> Löwenstein wollen nur<br />

beim Ankleben zugeguckt haben) oder sie gaben<br />

an, nichts vom Inhalt des Pakets gewußt zu<br />

haben (Sandweg <strong>und</strong> Drescher).<br />

Einerseits gibt es Widersprüche in den Verhören,<br />

die zeigen, daß die Verhörten sich vorher<br />

nicht hatten absprechen können. Andererseits<br />

zeigen ihre Aussagen aber auch, daß sie<br />

mit Polizeiverhören umzugehen verstanden.<br />

Die Erfahrungen aus der Zeit der Verfolgung<br />

unter dem Sozialistengesetz waren wohl noch<br />

sehr präsent: an entscheidenden Stellen die<br />

Aussage verweigern bzw. die Hintermänner<br />

nicht nennen. So wurden die Flugblätter anonym<br />

zugeschickt, den Absender <strong>und</strong> den Inhalt<br />

kannte man nicht. Auch hatte man sich in der<br />

Regel zufällig getroffen <strong>und</strong> nicht etwa verabredet,<br />

um etwas Bestimmtes zu tun.<br />

Die meisten Verhörten (Dattan, Möller, allerdings<br />

Löwenstein mit Einschränkung) bekannten<br />

sich zur Minderheitsrichtung in der<br />

SPD (gemeint: Hugo Haase/Karl Liebknecht).<br />

Löwenstein gab auch an, daß sich Dattan „un-<br />

100<br />

umw<strong>und</strong>en zu der Minderheitspartei bekennt,<br />

gleich wie die meisten Genossen des Tales“.<br />

Dagegen fühlte sich Paul Sandweg der Mehrheit<br />

in der SPD zugehörig <strong>und</strong> Hoffmann <strong>und</strong><br />

Karl Drescher machten darüber keine Aussagen<br />

vor der Polizei, tatsächlich wurden sie aber<br />

1918/19 beide für die USPD im Wuppertal<br />

aktiv.<br />

Eine intelligente Verteidigungsstrategie<br />

stammte von Oskar Hoffmann: Bei den Flugblättern<br />

im Paket handle es sich um internes<br />

Material für Funktionäre, die sich über die Ansichten<br />

der Radikalen informieren müßten.<br />

Keineswegs seien sie für die Öffentlichkeit bestimmt<br />

gewesen. Die Information der Funktionäre<br />

sei vor allem deshalb nötig, weil in<br />

Kürze eine Parteikonferenz in Wuppertal mit<br />

dem Führer des rechten Parteiflügels, Ebert,<br />

geplant sei. Außerdem ersuchte er die Polizei<br />

um baldige Freilassung, da sonst das Erscheinen<br />

der Parteizeitung Freie Presse nicht gewährleistet<br />

sei. Der zweite Redakteur, Otto<br />

Niebuhr, müsse eine Gefängnisstrafe antreten.<br />

Wenn er – Hoffmann – auch noch ausfalle,<br />

müsse man das Erscheinen der Zeitung einstellen<br />

<strong>und</strong> das Personal würde der „Armenpflege<br />

zur Last fallen.“<br />

Haft war allerdings nichts Unbekanntes für<br />

Oskar Hoffmann, denn als Redakteur der<br />

Freien Presse hatte er schon öfter Gefängnis<strong>und</strong><br />

Geldstrafen erlitten. 17<br />

Hoffmann blieb in Haft <strong>und</strong> am 24. Juli<br />

1916 berichtete die Freie Presse unter den Parteinachrichten<br />

mit der Überschrift „Ein denkwürdiger<br />

Tag in der Parteigeschichte von Elberfeld-Barmen“<br />

knapp über die Ereignisse:<br />

„In der Nacht zum 21. Juli wurden plötzlich die<br />

Genossen Werner Möller, Otto Dattan <strong>und</strong> Max<br />

Löwenstein, der sich von der russischen Front<br />

den 1. Tag auf Urlaub in der Heimat befand,<br />

verhaftet. Im Laufe des Vormittags wurde Genosse<br />

Hoffmann in militärische Schutzhaft genommen,<br />

in dem Moment, wo der leitende Redakteur<br />

Genosse Otto Niebuhr seine dreimonatige<br />

Gefängnisstrafe wegen Preßvergehens antreten<br />

mußte.“ 18 Die Meldung erschien ohne<br />

Wertung, Kommentar <strong>und</strong> nähere Einzelheiten,<br />

was auf die strenge Zensur der Polizei zurückzuführen<br />

ist.


Indirekt bezog man allerdings schon Stellung.<br />

Am 25.7.1916 berichtete die Freie Presse<br />

von einer Bezirksversammlung des Sozialdemokratischen<br />

Vereines Elberfeld-Barmen, wo<br />

der später ebenfalls verhaftete Paul Sauerbrey<br />

vor 34 Genossen <strong>und</strong> 10 Genossinnen einen<br />

Vortrag vom „Standpunkt der Minderheit“ aus<br />

hielt. Danach verabschiedete die Versammlung<br />

einstimmig eine Sympathieerklärung für die<br />

vier verhafteten Genossen, was natürlich eine<br />

deutliche Kritik an den Behörden war.<br />

Am gleichen Tage wies die Freie Presse auf<br />

die am 30. Juli, nachmittags um drei Uhr im<br />

Saale der „Olympia“ in Barmen stattfindende<br />

Mitgliederversammlung hin, auf der auch, wie<br />

bei Hoffmann im Verhör angegeben, der Parteivorsitzende<br />

Ebert sprechen sollte. Ebert<br />

hatte bei den letzten Reichstagswahlen 1912<br />

den Wahlkreis Elberfeld-Barmen in der Stichwahl<br />

gewonnen <strong>und</strong> wollte verhindern, daß die<br />

radikale Richtung im Wuppertal das Übergewicht<br />

bekam.<br />

Als letztes wurde am 25. Juli in der Freien<br />

Presse gemeldet, daß Niebuhr für einige Zeit<br />

aus dem Gefängnis entlassen worden sei. Da<br />

Hoffmann noch in Haft war, brauchte so das<br />

Erscheinen der Freien Presse nicht eingestellt<br />

zu werden. Offensichtlich erschien den Behörden<br />

das Preßvergehen weniger bedeutsam als<br />

die Liebknecht-Agitation.<br />

Am 31. Juli wurde dann über die am Vortag<br />

abgehaltene angekündigte Parteiversammlung<br />

mit 600 Teilnehmern <strong>und</strong> Ebert berichtet. Eine<br />

2 /3-Mehrheit nahm eine Resolution Karl Dreschers<br />

19 gegen Ebert <strong>und</strong> die Bewilligung der<br />

Kriegskredite an. Dies zeigt, daß im Wuppertal<br />

die von sich selbst so bezeichnete „Minderheit“<br />

der SPD eigentlich die Mehrheit war.<br />

III.<br />

Für die Inhaftierten begannen dann die<br />

Mühlen der Justiz zu mahlen.<br />

Gertrud Kretschmer, die Empfängerin des<br />

Paketes, wurde in einem getrennten <strong>und</strong><br />

nichtöffentlichen Verfahren vor dem Amtsgericht<br />

Elberfeld im August 1916 freigesprochen.<br />

20 Laut Zeitungsbericht war auch sie zuvor<br />

in Schutzhaft.<br />

Am 18.8.1916 wurde das Strafverfahren<br />

gegen „Dattan <strong>und</strong> Genossen“, die am 17. 8.<br />

1916 von der Militär-Sicherungsverwahrung<br />

auf Gr<strong>und</strong> eines Haftbefehls vom 16. 8. 1916 in<br />

das königliche Gefängnis in Elberfeld zur Untersuchungshaft<br />

überführt wurden, eröffnet.<br />

Dattan, Möller, Koch, Sauerbrey 21 <strong>und</strong> Hoffmann<br />

wurden beschuldigt, den „Entschluß<br />

betätigt zu haben“ … „der Kriegsmacht des<br />

Deutschen Reiches Nachteil zuzufügen“. Ihnen<br />

wurde die Verbreitung von Flugblättern, Hoffmann<br />

speziell die Übergabe zur Verbreitung<br />

vorgeworfen. Als Zweck unterstellte man ihnen,<br />

die in Rüstungsbetrieben arbeitenden Arbeiter<br />

zum Streik zu motivieren. Das spielt auf<br />

die Streiks der 55.000 Berliner Metallarbeiter<br />

an, die am 28. Juni zugunsten der Freilassung<br />

von Liebknecht in den Ausstand getreten waren.<br />

22 Dieser erste unmittelbar politische Massenstreik<br />

in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung<br />

war für die Reichsführung beunruhigend,<br />

weil seine Quantität <strong>und</strong> Qualität<br />

weit über die gelegentlichen Streiks der Jahre<br />

1914 <strong>und</strong> 1915 hinausgingen.<br />

Gegen die 4 Beklagten außer Hoffmann<br />

wurde noch ein weiterer Vorwurf erhoben,<br />

nämlich verschiedene Klassen der Bevölkerung<br />

zu Gewalttaten gegeneinander aufgehetzt<br />

zu haben. Der Vorwurf lief auf Landesverrat<br />

<strong>und</strong> Anreizung zum Klassenhaß hinaus.<br />

Gr<strong>und</strong>lage war hier auch noch ein weiteres, in<br />

den oben erwähnten Verhören nicht thematisiertes<br />

Flugblatt „Was ist mit Liebknecht?“.<br />

Aus den Berichten der Elberfelder Polizeiverwaltung<br />

an die Regierung in Düsseldorf ergibt<br />

sich der weitere Verlauf des Verfahrens:<br />

– Das Verfahren wurde vor dem Reichsgericht<br />

in Leipzig durchgeführt.<br />

– Am 1.9.1916 wurde der Angeklagte Sauerbrey<br />

freigelassen, aber sofort danach in militärische<br />

Sicherheitshaft genommen, bis er<br />

am 5.9. zum Heeresdienst eingezogen<br />

wurde. 23<br />

– Am 8.11. war die Voruntersuchung abgeschlossen,<br />

Anfang Dezember erhob die<br />

Staatsanwaltschaft Anklage.<br />

– Am 5. <strong>und</strong> 6. 2. 1917 kam es zur Hauptverhandlung.<br />

Oskar Hoffmann wurde, obwohl<br />

ihn der prominente sozialdemokratische<br />

101


(Minderheit) Reichstagsabgeordnete <strong>und</strong><br />

Anwalt Hugo Haase verteidigte, zu 3 Monaten<br />

Gefängnis verurteilt 24 , die aber bereits<br />

durch die Untersuchungshaft als verbüßt<br />

galten. Dattan, Koch <strong>und</strong> Möller erhielten<br />

je 9 Monaten Gefängnis. Landesverrat<br />

konnte keinem der Angeklagten<br />

nachgewiesen werden, so daß nur der Verstoß<br />

gegen Verfügungen des Generalkommandos<br />

geahndet werden konnte.<br />

Hoffmann mußte ab März 1917 Militärdienst<br />

leisten <strong>und</strong> kam zur Ostfront, Dattan<br />

ebenfalls 25 .<br />

IV.<br />

Auffällig ist, daß Strafverfahren nur gegen<br />

die Anhänger der Minderheit geführt wurden,<br />

drei der vier (außer Hoffmann) waren auch<br />

später Anhänger des Spartakusb<strong>und</strong>es. Die<br />

beiden Männer, die das Paket auf der Hardt abgelegt<br />

hatten (Drescher <strong>und</strong> Sandweg), die<br />

sich nicht zur Minderheit bekannten, hatte<br />

man zwar verhört, nicht aber bestraft, so daß<br />

der politische Zweck des Verfahrens klar auf<br />

der Hand liegt. Die führenden Kriegsgegner in<br />

der SPD sollten isoliert <strong>und</strong> mögliche Gefolgsleute<br />

durch harte Strafen abgeschreckt werden.<br />

Im Gerichtsverfahren ging es um die Flugblätter,<br />

die im Paket waren (200 Flugblätter:<br />

„Zuchthaus für Friedensarbeit“), um das Flugblatt,<br />

das plakatiert wurde: „2 1 /2 Jahre Zuchthaus“<br />

mit dem Schlußsatz: „Hoch Liebknecht.<br />

Nieder mit dem Kriege“ <strong>und</strong> um das nur kurz<br />

erwähnte Flugblatt: „Was ist mit Liebknecht?“.<br />

Alle drei bezogen sich auf die Person <strong>und</strong> die<br />

politische Position von Liebknecht, darüber<br />

hinaus aber vor allem auf den Streit innerhalb<br />

der Sozialdemokraten.<br />

Die Wuppertaler Aktion ist deshalb auf<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> des Zielkonflikts <strong>und</strong> des<br />

Machtkampfes in der SPD zu sehen. Seit der<br />

Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD<br />

am 4. August 1914 im Reichstag wurde die innerparteiliche<br />

Diskussion über die Friedenspolitik<br />

<strong>und</strong> den Burgfrieden mit zunehmender<br />

Heftigkeit weitergeführt. Der sich in die Länge<br />

102<br />

ziehende Krieg, die schlechte Versorgungslage<br />

<strong>und</strong> auch die Aktivität von Reichstagsabgeordneten<br />

wie Karl Liebknecht führten dazu, daß<br />

ein wachsender Teil der sozialdemokratischen<br />

Fraktion die Entscheidung für die Kriegskredite<br />

immer kritischer sah. Am 24. März 1916,<br />

anläßlich einer Abstimmung im Reichstag über<br />

einen Notetat, zerbrach zunächst die einheitliche<br />

sozialdemokratische Fraktion, der bald<br />

darauf die Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen<br />

Partei Deutschlands (USPD)<br />

am 6.–8. April 1917 in Gotha folgte. 26 Zum<br />

Parteivorsitzenden wurde Hoffmanns Verteidiger,<br />

Hugo Haase, gewählt.<br />

Die Militärbehörden, die in der inneren Politik<br />

Deutschlands durch Verhängung des Belagerungszustandes<br />

1914 das entscheidende Gewicht<br />

hatten, wollten die innere Geschlossenheit<br />

des Volkes. Deshalb waren sie daran interessiert,<br />

die Kräfte in der SPD, die gegen die<br />

Kriegsführung der Reichsleitung, für einen sofortigen<br />

Frieden ohne Annexionen <strong>und</strong> für eine<br />

radikale sozialistische Umgestaltung Deutschlands<br />

waren, möglichst klein zu halten. Deshalb<br />

war die Aktion gegen die Wuppertaler Sozialdemokraten<br />

aus Sicht der Militärs <strong>und</strong> der<br />

zivilen Behörden von großer Wichtigkeit, um<br />

mögliche Unterstützung für Liebknecht <strong>und</strong><br />

alle Befürworter eines Friedens über die Köpfe<br />

der Herrschenden hinweg im Keim zu ersticken.<br />

Militärische Sicherheitsverwahrung,<br />

Strafprozesse <strong>und</strong> Einziehung zum Heer waren<br />

in diesem Kampf übliche Mittel. Ob hinter einzelnen<br />

dieser Maßnahmen auch „rechte“ Sozialdemokraten<br />

als Mithelfer steckten, geht für<br />

diesen Fall aus den Akten nicht hervor, ist aber<br />

auch nicht völlig unmöglich. 27 Vor allem die<br />

Streiks in der Rüstungsindustrie waren in den<br />

Augen der Militärs gefährliche Anzeichen des<br />

bröckelnden Burgfriedens.<br />

Die „Speerspitze“ der Opposition, Liebknecht,<br />

saß zwar im Gefängnis, aber seine Politik<br />

<strong>und</strong> auch die der etwas gemäßigteren späteren<br />

USPD hatte viele Anhänger, auch im<br />

Wuppertal. Dabei waren die Grenzen zwischen<br />

USPD <strong>und</strong> der Gruppe Internationale um Liebknecht<br />

<strong>und</strong> Rosa Luxemburg trotz unterschiedlicher<br />

Positionen noch nicht verfestigt, wie der<br />

Sprachgebrauch der Verhörten zeigt. Sie be-


zeichneten sich als Anhänger der Mehrheit<br />

oder der Minderheit.<br />

Die Linkstendenz im Wuppertal deutete<br />

sich schon vor dem Krieg so an. Der Bezirk<br />

Niederrhein, zu dem auch Wuppertal gehörte,<br />

hatte auf dem letzten Parteitag in Jena 1913 bezüglich<br />

des politischen Massenstreiks <strong>und</strong> in<br />

der Steuerfrage gegen den Parteivorstand <strong>und</strong><br />

die reformistische Linie gestimmt. Später<br />

schloß sich deshalb auch der größte Teil des<br />

Bezirks der USPD an. 28 Im Wuppertal zeigte<br />

das Parteiorgan der Sozialdemokratie, die<br />

Freie Presse, deutliche Sympathie für die Opposition<br />

gegen den Krieg. Bei der Budgetdebatte<br />

vom 20.3.1915 hatten vor der Abstimmung<br />

30 Abgeordnete der SPD das Plenum des<br />

Reichstags verlassen. Die Freie Presse stellte<br />

dazu fest: „Wir wollen nicht verhehlen, heute<br />

schon zu erklären, daß wir ... auf der Seite derjenigen<br />

stehen, die durch das Verlassen des<br />

Saals ihr Festhalten an den Parteitagsbeschlüssen<br />

(gemeint: gegen den Krieg) dokumentierten.“<br />

29 Diese Haltung lag zunächst in der Einstellung<br />

der verbliebenen Redakteuren Niebuhr<br />

30 <strong>und</strong> Hoffmann begründet, die später zur<br />

USPD gingen, während die eher „rechten“ Redakteure<br />

Quietzau <strong>und</strong> Molkenbuhr bereits<br />

eingezogen waren. Ebert <strong>und</strong> Haase erschienen<br />

mehrfach im Wuppertal, um für ihre jeweilige<br />

Position zu werben. Haase-Anhänger überwogen<br />

1916 erheblich 31 . Die Reichstagswahlkreisorganisation<br />

Elberfeld-Barmen ging nach<br />

Eberts Bericht auf dem Parteitag im Oktober<br />

1917 an die USPD über. 32 Bei der offiziellen<br />

Spaltung 1917 entschieden sich die Mitglieder<br />

4:1 für die Opposition, während bei den Funktionären<br />

nur 2 von 9 SPD-Stadträten zur USPD<br />

wechselten. 33<br />

Die Wähler entschieden sich im Wuppertal<br />

bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919<br />

allerdings anders. Die SPD wurde mit 38%<br />

stärkste Partei, die USPD erreichte nur 11%. 34<br />

Die Verurteilung von vier SPD-Mitgliedern,<br />

die der Minderheit zugerechnet wurden,<br />

hielt im Krieg das Erstarken der Anhänger von<br />

Liebknecht <strong>und</strong> Haase im Wuppertal nicht auf,<br />

denn politische Einstellungen <strong>und</strong> Mentalitäten<br />

sind nicht durch Staatsanwalt <strong>und</strong> Gerichtsverfahren<br />

zu ändern, sondern allenfalls durch indi-<br />

viduelle oder gesellschaftliche Konstruktion<br />

von Wirklichkeit mit Hilfe von Erlebnissen,<br />

Erfahrungen <strong>und</strong> Normen.<br />

Anmerkungen<br />

1 HStAD Bestand 14940; zur Zeit allgemein vgl.<br />

Volker Wittmütz: Der Erste Weltkrieg – zwischen<br />

Siegestaumel <strong>und</strong> Verzweiflung. In: Goe -<br />

bel, Knieriem, Schnöring, Wittmütz (Hrsg.):<br />

Geschichte der Stadt Wuppertal. Wuppertal<br />

1977, S. 122 ff.<br />

2 Ein Bericht von Martha Globig über die Demonstration<br />

<strong>und</strong> die Verhaftung ist abgedruckt in:<br />

Ulrich Cartarius (Hrsg.): Deutschland im Ersten<br />

Weltkrieg. Texte <strong>und</strong> Dokumente 1914–1918.<br />

München 1982 (= dtv dokumente 2931), S. 266.<br />

3 Vgl. Trotnow. Helmut: Karl Liebknecht. Eine<br />

politische Biographie. Köln 1980; TB-Ausgabe<br />

1982, S. 215 ff.<br />

4 Cartarius: Deutschland, S. 167 ff.<br />

5 Knies, Hans-Ulrich: Arbeiterbewegung <strong>und</strong> Revolution<br />

in Wuppertal. Entwicklung <strong>und</strong> Tätigkeit<br />

der Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenräte in Elberfeld<br />

<strong>und</strong> Barmen. In: Rürup (Hrsg.): Arbeiter- <strong>und</strong><br />

Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet.<br />

Studien zur Geschichte der Revolution<br />

1918/1919. Wuppertal 1975, S. 83–153,<br />

hier S. 86, datiert den Vorgang fälschlicherweise<br />

auf Juni.<br />

6 Vgl. dazu Kurt Schnöring: Oskar Hoffmann. In:<br />

Wuppertaler Biographien. 14. Folge. Wuppertal<br />

1984, S. 31–39.<br />

7 Teil der heutigen Straße „Hofkamp“ vom Neuenteich<br />

bis zum Landgericht, fre<strong>und</strong>licher Hinweis<br />

von Dr. U. Eckardt.<br />

8 Nach Susanne Miller: Burgfrieden <strong>und</strong> Klassenkampf.<br />

Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten<br />

Weltkrieg. Düsseldorf 1974, S. 412 waren<br />

das USPD-Flugschriften.<br />

9 In einem Schreiben des Kriegsministeriums<br />

vom 10.8.1916 wies dieses die Generalkommandos<br />

ausdrücklich auf die Möglichkeit hin,<br />

daß die radikale sozialdemokratische Partei<br />

durch Vermittlung des Auslands „die Verbreitung<br />

ihrer hetzerischen Flugblätter <strong>und</strong> Schriften<br />

betreibt.“ Vgl. Ulrich Cartarius (Hrsg.):<br />

Deutschland, S. 164.<br />

10 Der Drogist Dattan, geboren 1875, war nach dem<br />

Polizeiprotokoll dauernd untauglich, wurde aber<br />

nach Verbüßung seiner Strafe zum Militär eingezogen;<br />

nach Kriegsende wurde er Vorsitzender<br />

103


der Wuppertaler Spartakusgruppe <strong>und</strong> später der<br />

KPD. Vgl. H. Weber (Hrsg.): Der Gründungsparteitag<br />

der KPD. Frankfurt 1969, S. 313.<br />

11 W. Möller, geboren 1888, blieb nach der Haft in<br />

Berlin <strong>und</strong> kam beim Spartakusaufstand im Januar<br />

1919 ums Leben (vgl. Knies, S. 140, Anm.<br />

19). Zu Möller vgl. Uwe Eckardt: Werner Möller<br />

(1888–1919). In: Geschichte im Wuppertal<br />

1996, S. 67–76.<br />

12 Löwenstein, geboren 1872. Die im Protokoll angegebene<br />

Firma Hermann Seligmann deutet<br />

darauf hin, daß Max L. mit dem bei Hermann<br />

Herberts: Geschichte der SPD in Wuppertal.<br />

Wuppertal o. J. (1963), S. 123 genannten Gabriel<br />

Löwenstein, der in der Zeit des Sozialistengesetzes<br />

für die SPD eintrat, verwandt ist. 1918<br />

war Max Löwenstein Spitzenfunktionär bei der<br />

USPD in einer „radikalen Position“, vgl. Knies,<br />

S. 113 <strong>und</strong> 123.<br />

13 Abgebildet bei Achten, U. / Krupke, S.: An alle!<br />

Lesen! Weitergeben! Flugblätter der Arbeiterbewegung<br />

von 1848 bis 1933. Berlin 1982, S. 56.<br />

14 Der Zeitpunkt ist nicht zu klären. Für Koch, geboren<br />

1881, Schriftsetzer von Beruf, <strong>und</strong> Sauerbrey,<br />

geboren 1876 <strong>und</strong> Gewerkschaftssekretär,<br />

gibt es in der Akte keine Verhörprotokolle, sie<br />

tauchen erst im Haftbefehl v. 16.8.1916 auf;<br />

Sauerbrey hält am 25. Juli noch eine Rede in<br />

Barmen (s.u.), in der er sich auch als Anhänger<br />

der Minderheit bekennt (später ist er in der Novemberrevolution<br />

einer der Aktivisten der<br />

USPD in politisch „mittlerer Position“, vgl.<br />

Knies, S. 123). Ähnliches trifft auch für Koch,<br />

zu, der 1918/19 bei der USPD im Wuppertal<br />

mitarbeitete, aber dem Spartakusb<strong>und</strong> zuneigte,<br />

vgl. Knies, S. 114 <strong>und</strong> D. Fricke: Handbuch zur<br />

Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung.<br />

Berlin 1982, S. 489.<br />

15 Paul Sandweg, geboren 1875, Kassierer des<br />

Deutschen Metall-Arbeiter-Verbandes, wurde<br />

auch am 21. 7. verhört, er war einer der drei<br />

Männer, die auf der Hardt zunächst der Polizei<br />

entkamen.<br />

16 Karl Drescher, geboren 1880, war Sekretär der<br />

Konsumgenossenschaft Vorwärts <strong>und</strong> wurde<br />

erst am 22.7.1916 verhört. Er war der zweite<br />

Mann auf der Hardt. Er verweigerte die Aussage,<br />

ob er zur Mehrheit oder Minderheit in der<br />

Partei gehöre, tatsächlich schloß er sich der<br />

USPD an <strong>und</strong> verfocht dort eine gemäßigte Position,<br />

vgl. Knies, S. 123.<br />

17 Vgl. die Erinnerungen seiner Söhne Fritz <strong>und</strong><br />

Oskar jun. von 1952 <strong>und</strong> 1953, fre<strong>und</strong>licher<br />

104<br />

Hinweis von Prof. E. Hoffmann.<br />

18 Freie Presse v. 24. Juli 1916, die folgenden Angaben<br />

beziehen sich auf die Berichterstattung<br />

dieser Zeitung.<br />

19 Drescher sprang für den am Morgen des Versammlungstages<br />

wieder verhafteten Otto Niebuhr<br />

ein, vgl. H. Herberts: Zur Geschichte,<br />

S. 159, wo auch der Bericht Dreschers über die<br />

Versammlung abgedruckt ist.<br />

20 Vgl. dazu auch den Bericht der Polizei-Verwaltung<br />

Elberfeld an die Regierung am 4.9.1916 in<br />

HStAD 14940.<br />

21 Die Verhöre von Koch <strong>und</strong> Sauerbrey befinden<br />

sich nicht in der Akte, so daß nicht genau bestimmt<br />

werden kann, was ihnen konkret vorgeworfen<br />

wurde. Möglicherweise haben sie ein<br />

weiteres Flugblatt, das im Haftbefehl erwähnt<br />

wurde, verteilt. Nach Aussagen anderer im Verhör<br />

tauchte Sauerbrey auch am fraglichen<br />

Abend in der Berliner Str. 20 auf.<br />

22 Arno Klönne: Die deutsche Arbeiterbewegung.<br />

Geschichte, Ziele, Wirkungen. 2. Aufl. Düsseldorf<br />

1981, S.144.<br />

23 Im November 1918 kehrte er nach Barmen<br />

zurück <strong>und</strong> wurde im Soldatenrat aktiv. 1920<br />

wurde er für die USPD in den Reichstag gewählt,<br />

wie Oskar Hoffmann schloß er sich 1922<br />

wieder der SPD an, vgl. Kurzbiographie Paul<br />

Sauerbrey in: Der Kapp-Putsch im März 1920<br />

<strong>und</strong> die Geschichte der Gräber auf dem Ehrenfriedhof<br />

Wuppertal Barmen. Wuppertal 1999,<br />

S. 19 ff.<br />

24 Vgl. dazu Kurt Schnöring: Oskar Hoffmann,<br />

S. 33, der von einem Freispruch spricht, was allerdings<br />

nach der Aktenlage nicht richtig ist.<br />

25 Vgl. Knies, S.86 (Anm).<br />

26 Vgl. Miller, S. 133 ff.<br />

27 Ein Beispiel dafür gibt Jürgen Reulecke: Der erste<br />

Weltkrieg <strong>und</strong> die Arbeiterbewegung im<br />

rheinisch-westfälischen Industriegebiet. In: J.<br />

Reulecke (Hrsg.): Arbeiterbewegung an Rhein<br />

<strong>und</strong> Ruhr. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung<br />

im Rheinland-Westfalen. Wuppertal<br />

1974, S. 226.<br />

28 Vgl. Dowe, Dieter: Politische Traditionen der<br />

rheinischen <strong>und</strong> westfälischen Arbeiterbewegung<br />

vor dem Ersten Weltkrieg. In: Niethammer,<br />

Lutz u. a. (Hrsg.): „Die Menschen machen ihre<br />

Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen<br />

sie selbst“. Einladung zu einer Geschichte<br />

des Volkes in NRW. Berlin/Bonn 1984, S. 61–64.<br />

29 Freie Presse Nr. 68 v. 22.3.1915.<br />

30 Niebuhr wurde im Februar 1917 als Redakteur


entlassen <strong>und</strong> zum Militär eingezogen. Kurze<br />

Zeit später starb er (Vgl. H. Herberts: Zur Geschichte,<br />

S. 159).<br />

31 Vgl. Knies: Arbeiterbewegung , S. 86.<br />

32 Vgl. Miller: Burgfrieden, S. 167.<br />

Michael Okroy<br />

„… kann nicht bezweifelt werden, daß er beim Aufbau<br />

eines freien Deutschlands seine Kraft einsetzen wird.“<br />

NS-Täter aus Wuppertal: Auf Umwegen zurück in die ,Normalität‘. 1<br />

Ausgangspunkt der Recherchen über NS-<br />

Täter, deren Biographie mit Wuppertal <strong>und</strong> der<br />

bergischen Region eng verb<strong>und</strong>en ist, war ein<br />

Ausstellungsprojekt der Begegnungsstätte Alte<br />

Synagoge zur Geschichte der Juden im Bergischen<br />

Land. Diese Wanderausstellung mit dem<br />

Titel „Hier wohnte Frau Antonie Giese“ wurde<br />

im November 1996 erstmalig in Wuppertal gezeigt<br />

<strong>und</strong> war seitdem an elf Orten im Bergischen<br />

zu sehen. In diese Ausstellung ist als eine<br />

Art Nebenthema die Biographie eines NS-Täters<br />

integriert: die des früheren Solinger Architekten<br />

<strong>und</strong> SS-Standartenführers Paul Blobel.<br />

Blobel, der an der Kgl. Baugewerkschule Barmen-Elberfeld<br />

am Haspel studiert hatte <strong>und</strong><br />

dessen SS-Laufbahn im bergischen Städtedreieck<br />

begann, führte von Juni 1941 bis Januar<br />

1942 ein Einsatzkommando der Sicherheitspolizei<br />

<strong>und</strong> des SD, das für die Ermordung von<br />

r<strong>und</strong> 60.000 ukrainischen Juden verantwortlich<br />

war. Ab Mitte 1942 organisierte <strong>und</strong> beaufsichtigte<br />

Blobel dann die Enterdungs- <strong>und</strong> Leichenverbrennungskommandos,<br />

die die von den<br />

Einsatzgruppen hinterlassenen Massengräber<br />

im Osten beseitigen sollten <strong>und</strong> deren Tätigkeit<br />

die letzte <strong>und</strong> zugleich abgründigste Variante<br />

der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik<br />

darstellte. 2<br />

Diese in das Hauptthema der Ausstellung<br />

eingeflochtene <strong>und</strong> chronologisch entwickelte<br />

Täterbiographie verfolgte das Ziel, die abstrakte<br />

Dimension des millionenfachen Juden-<br />

33 Vgl. Knies: Arbeiterbewegung, S. 87 Die Mitgliederzahlen<br />

werden dort mit 2575 (Sommer<br />

1917) USPD gegen 739 (Frühjahr 1918) SPD<br />

angegeben. Zum Problem vgl. auch Jürgen<br />

Reulecke: Der erste Weltkrieg, S. 223 ff.<br />

mords über eine unmittelbare Konfrontation<br />

mit einem aus unserer Region stammenden Täter<br />

,begreiflicher‘ zu machen <strong>und</strong> den Ausstellungsbesuchern<br />

näher zu rücken. Einerseits<br />

sollte damit deutlich werden, daß die zahlreichen<br />

Mordaktionen an Juden <strong>und</strong> nichtjüdischen<br />

Zivilisten in den besetzten Ostgebieten<br />

nicht von gesichtslosen <strong>und</strong> anonymen Täterkollektiven<br />

wie z.B. SS oder Gestapo, sondern<br />

von konkreten Individuen ausgeführt wurden:<br />

Paul Blobel (1894–1951), 1935 (B<strong>und</strong>esarchiv<br />

Berlin)<br />

105


Von Menschen aus der Mitte der deutschen Gesellschaft,<br />

Nachbarn oft, mit einer Lebensgeschichte,<br />

die jenseits ihres vom Mord an wehrlosen<br />

Männern, Frauen <strong>und</strong> Kindern geprägten<br />

Alltags lag. Zum anderen sollte eine dichte<br />

Beschreibung der von Blobel <strong>und</strong> seinen Männern<br />

begangenen Verbrechen die historischzeitliche<br />

<strong>und</strong> räumliche Distanz zu einem<br />

fernab, „irgendwo im Osten“ ablaufenden Geschehen<br />

verringern <strong>und</strong> darüber hinaus andere,<br />

weniger bekannte Tat-Orte in den Blickpunkt<br />

rücken. 3<br />

Der Ausstellungskonzeption lag der Gedanke<br />

zugr<strong>und</strong>e, daß mit der Erinnerung an die<br />

Opfer <strong>und</strong> Überlebenden der Shoa zugleich<br />

Fragen nach den Tätern gestellt werden müssen:<br />

Nach deren Herkunft, ihren Motiven <strong>und</strong><br />

nicht zuletzt nach den mentalen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Bedingungen, die es möglich<br />

machten, daß sich „ganz normale“ Deutsche in<br />

Mörder <strong>und</strong> Mordgehilfen verwandelten. Fragen<br />

aber auch danach, was mit ihnen nach<br />

1945 geschehen <strong>und</strong> wie die deutsche Nachkriegsgesellschaft<br />

mit ihnen umgegangen ist.<br />

Paul Blobel wurde nach dem Krieg von den<br />

Alliierten im Nürnberger Einsatzgruppenprozeß<br />

angeklagt, zum Tode verurteilt <strong>und</strong> 1951 in<br />

Landsberg hingerichtet. Neben Blobel gab es<br />

aber noch eine ganze Reihe anderer Personen<br />

aus unserer Region, die im Rahmen des nationalsozialistischen<br />

Vernichtungsprogramms –<br />

sei es bei der logistischen Vorbereitung oder<br />

der praktischen Umsetzung – eine verantwortliche<br />

<strong>und</strong> aktive Rolle gespielt haben. Von den<br />

Bekannteren seien hier nur genannt: Adolf<br />

Eichmann aus Solingen, der frühere Gauleiter<br />

<strong>und</strong> Reichskommissar für die Ukraine Erich<br />

Koch aus Elberfeld, die beiden in Auschwitz-<br />

Birkenau tätigen SS-Ärzte Dr. Heinz Thilo <strong>und</strong><br />

Prof. Carl Clauberg sowie Julius Dorpmüller,<br />

als Chef der Deutschen Reichsbahn mitverantwortlich<br />

für die Deportationen in die Ghettos<br />

<strong>und</strong> Vernichtungslager. Hinzu kommen alle<br />

diejenigen, die gleichsam am unteren Ende der<br />

Befehlskette, z.B. als Angehörige der KZ-<br />

Wachmannschaften, Polizeieinheiten oder Leichenverbrennungskommandos,<br />

in das Mordgeschehen<br />

einbezogen waren – häufig aus eigener<br />

Initiative <strong>und</strong> sogar ohne ausdrücklichen<br />

106<br />

Julius Dorpmüller (1869-1945), ca. 1935<br />

(Sammlung Kurt Schnöring)<br />

Befehl. 4 Viele von ihnen kehrten nach 1945 unbehelligt<br />

von Strafverfolgung in unsere Region<br />

zurück. Erst lange nach Kriegsende mußten<br />

sich einige, zum Teil hier in Wuppertal, vor<br />

Gericht für ihre Verbrechen verantworten. 5<br />

Für den vorliegenden Beitrag habe ich aus<br />

einem insgesamt überraschend großen Personenkreis<br />

drei Täter aus Wuppertal ausgewählt,<br />

da diese im Hinblick auf Biographie <strong>und</strong> Werdegang<br />

einige interessante Gemeinsamkeiten<br />

aufweisen <strong>und</strong> das populäre Klischee des typischen<br />

NS-Verbrechers als eines dumpfen Befehlsempfängers<br />

oder sadistischen Exzeßtäters<br />

widerlegen. Im Mittelpunkt stehen vielmehr<br />

solche Personen, die in der SS, im Reichssicherheitshauptamt<br />

oder bei Sicherheitspolizei<br />

<strong>und</strong> Einsatzgruppen leitende Funktionen innehatten<br />

<strong>und</strong> die im Rahmen von Deportations<strong>und</strong><br />

Vernichtungsmaßnahmen über ein hohes<br />

Maß an Verantwortung <strong>und</strong> über individuelle<br />

Entscheidungsspielräume verfügten.


I. „Vergangenheitspolitik“ in der jungen<br />

B<strong>und</strong>esrepublik …<br />

Vorab soll ein kurzer Rückblick auf die<br />

Gründungsphase der B<strong>und</strong>esrepublik zeigen,<br />

wie Politik <strong>und</strong> Gesellschaft seinerzeit mit dem<br />

Erbe der NS-Verbrechen <strong>und</strong> mit den Tätern<br />

umgegangen sind. Der Bochumer Historiker<br />

Norbert Frei hat dieses insgesamt recht deprimierende<br />

Kapitel b<strong>und</strong>esrepublikanischer Geschichte<br />

1996 in seiner vorzüglichen Studie<br />

„Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

<strong>und</strong> die NS-Vergangenheit“ kritisch<br />

unter die Lupe genommen <strong>und</strong> kommentiert.<br />

Sein Bef<strong>und</strong> dieser ersten Phase b<strong>und</strong>esdeutscher<br />

„Vergangenheitsbewältigung“ ist<br />

ebenso knapp wie treffend:<br />

Mitte der fünfziger Jahre […] hatte sich<br />

aufgr<strong>und</strong> einer ebenso bedenkenlosen wie populären<br />

Vergangenheitspolitik ein öffentliches<br />

Bewußtsein durchgesetzt, das die Verantwortung<br />

für die Schandtaten des „Dritten Reiches“<br />

allein Hitler <strong>und</strong> einer kleinen Clique von<br />

„Hauptkriegsverbrechern“ zuschrieb, während<br />

es den Deutschen in ihrer Gesamtheit den Status<br />

von politisch „Verführten“ zubilligte, die<br />

der Krieg <strong>und</strong> seine Folgen schließlich selbst<br />

zu „Opfern“ gemacht hatte. 6<br />

Herangereift war dieses auf Schuldabwehr<br />

<strong>und</strong> kollektive Entlastung zielende Bewußtsein<br />

allerdings schon, bevor die ersten vergangenheitspolitischen<br />

Weichenstellungen der Ade -<br />

nauer-Regierung vorgenommen wurden <strong>und</strong><br />

dann als Gesetze zumeist einstimmig den B<strong>und</strong>estag<br />

passierten. Bereits 1946/47 hatte es von<br />

deutscher Seite – <strong>und</strong> hier vor allem von den<br />

beiden Kirchen – Ansätze gegeben, das von<br />

den Alliierten angeordnete Entnazifizierungsprogramm<br />

<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen Maßnahmen<br />

zur Ausschaltung <strong>und</strong> Strafverfolgung<br />

von NS-Eliten als falsch <strong>und</strong> schädlich zu kritisieren<br />

<strong>und</strong> deren schleunigste Beendigung zu<br />

fordern. 7 Dieses Programm, das zunächst<br />

durchaus erfolgreich angelaufen war, verfügte<br />

über unterschiedlichste Formen von Sanktionen:<br />

automatischer Arrest für Angehörige von<br />

SS, SD <strong>und</strong> Gestapo, Entlassungen aus dem öffentlichen<br />

Dienst, Internierungslager, Spruchkammern,<br />

zivile <strong>und</strong> militärische Strafpro-<br />

zesse. Der zuerst von den Besatzungsbehörden<br />

selbst durchgeführte <strong>und</strong> dann sukzessive den<br />

Deutschen übertragene Versuch, alle NS-Belasteten<br />

zu überprüfen <strong>und</strong> notfalls zu bestrafen,<br />

war jedoch angesichts der schieren Überforderung<br />

der zuständigen Instanzen kaum zu realisieren.<br />

Das Ergebnis waren vielfach recht<br />

zweifelhafte <strong>und</strong> widersprüchliche Entscheidungen:<br />

Während aus pragmatischen Gründen<br />

oft die „leichteren“ Fälle erledigt <strong>und</strong> häufig<br />

scharf geahndet wurden, kamen die zurückgestellten<br />

Fälle der Schwer- <strong>und</strong> Schwerstbelasteten<br />

entweder nicht mehr zur Verhandlung<br />

oder wurden mit lächerlich niedrigen Einstufungen<br />

versehen. 8 Dazu später ein besonders<br />

eklatantes Beispiel eines NS-Verbrechers aus<br />

Wuppertal.<br />

Die zweifellos unbefriedigende Praxis der<br />

alliierten Säuberungen diente vielen Deutschen<br />

als willkommener Anlaß, die Verfehltheit des<br />

gesamten Entnazifizierungsprogramms anzuprangern.<br />

Die Kritik daran gipfelte etwa in dem<br />

abstrusen Vorwurf, Internierung, Spruchkammern<br />

<strong>und</strong> Entnazifizierung seien nichts anderes<br />

als eine „grausame Verfolgung, die selbst<br />

naziähnliche Methoden anwende, indem sie<br />

Menschen den Prozeß mache <strong>und</strong> sie in ,Konzentrationslagern‘<br />

gefangenhalte.“ 9 Mit der<br />

Gründung der B<strong>und</strong>esrepublik im Mai 1949 erreichte<br />

diese von einem breiten gesellschaftlichen<br />

Konsens getragene Ablehnung der Entnazifizierungspolitik<br />

eine neue Stufe <strong>und</strong> weitete<br />

sich sogar auf den Bereich der juristischen<br />

Strafverfolgung von NS-Verbrechern aus. Prominente<br />

Unterstützung fanden diese Kampagnen<br />

u.a. durch den Kölner Kardinal Frings<br />

<strong>und</strong> den evangelischen Bischof <strong>und</strong> Bekenntnistheologen<br />

Otto Dibelius.<br />

Bereits unmittelbar nach Eröffnung des ersten<br />

B<strong>und</strong>estages im Herbst 1949 verabschiedete<br />

das neue Parlament als eines der ersten<br />

Gesetze der B<strong>und</strong>esrepublik einstimmig das<br />

sogenannte 1. Straffreiheitsgesetz. 10 Es sah die<br />

Amnestierung aller vor dem 15. September<br />

1949 begangenen Straftaten vor, die mit Gefängnis<br />

bis zu sechs Monaten geahndet werden<br />

konnten. Zwar waren davon in der Mehrzahl<br />

nichtpolitische Delikte aus der Schwarzmarktzeit<br />

betroffen; das Amnestiegesetz begünstigte<br />

107


ausdrücklich aber auch die sogenannten „Illegalen“,<br />

die sich nach 1945 durch Annahme einer<br />

falschen Identität der Internierung <strong>und</strong> Entnazifizierung<br />

entzogen hatten. Nach heutigen<br />

Erkenntnissen befanden sich darunter Zehntausende,<br />

zum Teil schwerbelastete NS-Täter.<br />

Ein weiteres vergangenheitspolitisches<br />

Signal mit weitreichenden Folgen setzte das im<br />

April 1951 im B<strong>und</strong>estag einstimmig verabschiedete<br />

sogenannte „131er Gesetz“. Durch<br />

den Gr<strong>und</strong>gesetzartikel 131 wurde nahezu allen<br />

Beamten, die nach 1945 von den Alliierten<br />

aus politischen Gründen aus dem öffentlichen<br />

Dienst entfernt worden waren, nicht nur die<br />

Möglichkeit, sondern sogar das Recht verliehen,<br />

in ihre einstigen Positionen zurückzukehren.<br />

Die Folge war, daß auch das Gros der ehemaligen<br />

Gestapo-Beamten ihren alten Status<br />

zurückerhielt <strong>und</strong> diesen notfalls einklagen<br />

konnte. Von dieser großzügigen Regelung profitierten<br />

auch zahlreiche Angehörige der<br />

Schutz- <strong>und</strong> Ordnungspolizei, die, wie wir seit<br />

längerem wissen, nicht nur die Deportationstransporte<br />

in die Ghettos <strong>und</strong> Vernichtungszentren<br />

begleitet hat, sondern selbst aktiv <strong>und</strong><br />

oft aus eigener Initiative Judenmordaktionen<br />

durchführte.<br />

Ein Beispiel dazu aus unserer Stadt: 1968<br />

wurde der damalige Wuppertaler Hauptkommissar<br />

Rolf-Joachim Buchs wegen seiner Mitwirkung<br />

an der Ermordung von mehr als 1000<br />

Juden in der Stadt Bialystok zu einer lebenslänglichen<br />

Haftstrafe verurteilt. Buchs <strong>und</strong><br />

noch einige andere der im Wuppertaler Bialystok-Prozeß<br />

Angeklagten – insgesamt waren es<br />

14 Personen – gehörten als Offiziere dem Bataillon<br />

309 der Ordnungspolizei an. Mit Hilfe<br />

des „131-Gesetzes“ wurden einige dieser Männer<br />

wieder in den öffentlichen Dienst übernommen<br />

<strong>und</strong> hatten so ungehindert ihre Laufbahn<br />

bei der Polizei fortsetzen können. Rolf-Joachim<br />

Buchs avancierte vom Polizeichef in Solingen<br />

zum Führer einer H<strong>und</strong>ertschaft der Wuppertaler<br />

Bereitschaftspolizei <strong>und</strong> anschließend zum<br />

Fachlehrer <strong>und</strong> Lehrgangsleiter an den Polizeiausbildungsschulen<br />

in Düsseldorf <strong>und</strong> Bork.<br />

Die bevorstehende Beförderung zum Polizeirat<br />

kam dann allerdings im Zuge der gegen ihn geführten<br />

Ermittlungen nicht mehr zustande. 11<br />

108<br />

Durch das sog. 2. Straffreiheitsgesetz von<br />

1954 erhielt das inzwischen immer selbstbewußter<br />

auftretende <strong>und</strong> populäre Schlußstrich-<br />

Denken eine weitere Gesetzeslegitimität. Dieses<br />

Gesetz sah die Amnestierung nun auch<br />

derjenigen Täter vor, deren Tötungsverbrechen<br />

in der Endphase des „Dritten Reichs“<br />

verübt wurden <strong>und</strong> die bei Anklage eine Strafe<br />

von bis zu drei Jahren zu erwarten hatten. Infolge<br />

dieses Gesetzes sank im Jahr 1954 die<br />

Zahl der neu eingeleiteten Ermittlungsverfahren<br />

wegen NS-Verbrechen auf ein Rekordtief:<br />

Auf knapp 200 gegenüber noch r<strong>und</strong> 2500 im<br />

Jahr 1950. Diesen dramatischen Rückgang<br />

hatte aber noch ein anderer Faktor entscheidend<br />

mitverursacht. Denn nicht nur der Justizapparat<br />

selbst, auch die Polizei war in hohem<br />

Maße mit ehemaligen Nationalsozialisten<br />

kontaminiert. Dazu ein Beispiel aus Nordrhein-Westfalen:<br />

Gegen Mitte der 50er Jahre<br />

waren von den 33 leitenden Stellen der Kriminalpolizei<br />

in NRW mehr als 20 von ehemaligen<br />

SS-Sturmbann- <strong>und</strong> Obersturmbannführern,<br />

also höheren SS-Offiziersrängen, besetzt.<br />

12 Kein W<strong>und</strong>er also, daß bei der Ermittlung<br />

<strong>und</strong> Strafverfolgung von NS-Verbrechern<br />

kein sonderlich großer Ehrgeiz entwickelt <strong>und</strong><br />

diese auch des öfteren vorsätzlich behindert<br />

oder verzögert wurde.<br />

Einen besonders deprimierenden Akzent<br />

im Hinblick auf den Umgang mit NS-Tätern<br />

setzten zu Beginn der 50er Jahre die von einem<br />

breiten gesellschaftlichen Konsens getragenen<br />

Bemühungen um die Freilassung der von den<br />

Alliierten verurteilten Kriegsverbrecher. Diese<br />

firmierten in der deutschen Öffentlichkeit in<br />

der Regel unter verharmlosenden Begriffen<br />

wie „Kriegsverurteilte“ oder „Internierte“. Zu<br />

diesem Personenkreis zählten etwa die in den<br />

Nürnberger Nachfolgeprozessen verurteilten<br />

Spitzenbeamten des Reichsaußenministeriums,<br />

führende Industrielle <strong>und</strong> Industriemanager,<br />

Mediziner, hohe Wehrmachtsoffiziere, aber<br />

auch zahlreiche Kommandeure der Einsatzgruppen-<br />

<strong>und</strong> -kommandos, die für millionenfachen<br />

Massenmord verantwortlich waren.<br />

Einflußreiche Exponenten dieser auf eine Generalamnestie<br />

hinwirkenden Kampagne waren<br />

der Essener Rechtsanwalt <strong>und</strong> F.D.P.-Land-


tagsabgeordnete Ernst Achenbach <strong>und</strong> dessen<br />

enger Mitarbeiter Dr. Werner Best, der bis<br />

1940 Heydrichs Stellvertreter im Reichssicherheitshauptamt<br />

war. 13 Anfang der 50er Jahre<br />

fungierte Best dann als Rechtsberater der nordrhein-westfälischen<br />

F.D.P. – nachgerade ein<br />

Sammelbecken ehemaliger NS-Eliten – <strong>und</strong><br />

wechselte anschließend als Justitiar zum Stinnes-Konzern<br />

nach Mühlheim. Dort war Best<br />

bis 1972 tätig. Aber auch führende Vertreter<br />

der evangelischen <strong>und</strong> katholischen Kirche arbeiteten<br />

zielstrebig <strong>und</strong> erfolgreich auf die<br />

Freilassung der in Landsberg, Werl <strong>und</strong> Wittlich<br />

einsitzenden NS-Verbrecher hin <strong>und</strong> übten<br />

gemeinsam mit hochrangigen Politikern massiven<br />

Druck auf die Alliierten aus. Mit Erfolg:<br />

Bereits Ende der 50er Jahre saß von den ursprünglich<br />

zum Tode oder zu lebenslanger oder<br />

langjähriger Haft verurteilten insgesamt 24<br />

Einsatzgruppenkommandeuren niemand mehr<br />

hinter Gittern. 14 Lediglich die Todesurteile der<br />

vier sogenannten „Landsberger Rotjacken“,<br />

darunter Paul Blobel, wurden 1951 unter<br />

großem öffentlichen Protest vollstreckt. Selbst<br />

vor Blobel, einem der fraglos ruchlosesten<br />

Massenmörder, machten diese Mitleids- <strong>und</strong><br />

Begnadigungskampagnen nicht halt. Ein Kommentar<br />

in der „Rheinischen Post“ vom Februar<br />

1951 bringt die damalige Stimmung auf den<br />

Punkt, denn er formulierte offen, was seinerzeit<br />

wohl viele dachten:<br />

Seit mehr als fünf Jahren warten die Verurteilten<br />

in der Festung Landsberg in ständiger<br />

Furcht, ob sie den kommenden Tag noch erleben,<br />

auf ihr Schicksal […] auch der Solinger<br />

Paul Blobel. Die Schuld Blobels ist ohne Zweifel<br />

ungeheuerlich – ebenso wahr ist aber auch<br />

die Tatsache, daß ein Mensch, der fünf Jahre in<br />

der bangen Ungewißheit ,Leben oder Tod‘ sein<br />

Dasein […] fristet, einen Teil dieser Schuld<br />

weitgehend abgetragen hat. 15<br />

… <strong>und</strong> im Wuppertal der 50er <strong>und</strong> 60er<br />

Jahre<br />

Immer wieder kamen derartige Sympathiebek<strong>und</strong>ungen<br />

<strong>und</strong> Initiativen zugunsten von<br />

NS-Tätern auch aus Wuppertal. Dazu zählen<br />

etwa die Aktivitäten des 1951 gegründeten <strong>und</strong><br />

als gemeinnützig eingetragenen Vereins mit<br />

dem harmlos klingenden Namen „Stille Hilfe<br />

für Kriegsgefangene <strong>und</strong> Internierte“. In ihm<br />

waren neben ehemaligen aktiven Nationalsozialisten<br />

<strong>und</strong> Angehörigen der Waffen-SS auch<br />

zahlreiche evangelische <strong>und</strong> katholische Geistliche<br />

aktiv tätig. 16 Die Tatsache, daß der angesehene<br />

Arzt, Theologe <strong>und</strong> Friedensnobelpreisträger<br />

Albert Schweitzer Ehrenpräsident<br />

der „Stillen Hilfe“ war, läßt auf die breite gesellschaftliche<br />

Akzeptanz <strong>und</strong> vermeintliche<br />

moralische Dignität dieses Vereins schließen.<br />

Anfang der 60er Jahre hatten dessen Vorstand<br />

<strong>und</strong> Geschäftsführung für längere Zeit ihren<br />

Sitz in Wuppertal (Lothringerstr. 43) <strong>und</strong> verschickten<br />

von dort aus ihren R<strong>und</strong>brief an<br />

Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Symphatisanten. Seit Sommer<br />

1994 ist die „Stille Hilfe“ erneut unter einer<br />

Wuppertaler Adresse eingetragen. Der Verein,<br />

an dessen Spitze heute die Tochter Heinrich<br />

Himmlers steht, sorgte erst kürzlich wieder für<br />

Schlagzeilen, als bekannt wurde, daß eine<br />

Wuppertalerin seit Jahren die Betreuung der<br />

aus lebenslanger Haft vorzeitig entlassenen<br />

KZ-Aufseherin Hermine Braunsteiner-Ryan<br />

übernommen hatte. 17<br />

Breite Resonanz fand auch ein 1952 im katholischen<br />

Wuppertaler Abendland-Verlag erschienenes<br />

Buch mit dem Titel: „Landsberg.<br />

Henker des Rechts?“ Darin wurden nicht nur<br />

die Kriegsverbrechen zweier zum Tode verurteilter<br />

Marineoffiziere aus Wuppertal in skandalöser<br />

Weise bagatellisiert; der Autor dieser<br />

Publikation, K. W. Hammerstein, verunglimpfte<br />

auch die alliierten Strafverfahren gegen<br />

NS-Verbrecher pauschal als unrechtmäßig<br />

<strong>und</strong> stilisierte die Verurteilten zu Märtyrern<br />

<strong>und</strong> zu Opfern der sog. alliierten „Siegerjustiz“.<br />

Das Vorwort zu diesem Buch schrieb<br />

bezeichnenderweise der Jurist Dr. Rudolf<br />

Aschenauer, der im Nürnberger Einsatzgruppenprozeß<br />

den SS-Führer Otto Ohlendorf verteidigt<br />

hatte. Ohlendorf war wegen seiner Verantwortung<br />

für die Ermordung von mehr als<br />

90.000 Juden zum Tode verurteilt <strong>und</strong> hingerichtet<br />

worden.<br />

Von ganz anderen, mehr an theologischethischen<br />

Paradigmen der Vergebung orientier-<br />

109


Die Angeklagten im Nürnberger Einsatzgruppenprozeß 1947/48. Paul Blobel (mit Vollbart):<br />

1. Reihe, 5. Person von rechts. (Ullstein Bilderdienst)<br />

ten Motiven geprägt waren dagegen die<br />

Bemühungen von Professor Hermann Schlingensiepen<br />

aus Wuppertal, ehemals Ordina -<br />

rius für Praktische Theologie in Bonn <strong>und</strong><br />

lang jähriger Ephorus der Kirchlichen Hochschule<br />

Wuppertal. Auslöser für dessen unmittelbar<br />

praktische <strong>und</strong> publizistische Aktivitäten<br />

war der 1960/61 in Jerusalem geführte <strong>und</strong><br />

weltweites Aufsehen erregende Prozeß gegen<br />

Adolf Eichmann. Mit diesem hatte Schlingensiepen<br />

mehrfach versucht, brieflich in Kontakt<br />

zu treten. 18 In Zeitungs- <strong>und</strong> Zeitschriftenbeiträgen<br />

sowie in etlichen Interviews warb er<br />

für Verständnis <strong>und</strong> Vergebung für einsitzende<br />

NS-Täter, besuchte diese im Gefängnis <strong>und</strong><br />

nahm Kontakt mit deren Familienangehörigen<br />

auf. Im Mai 1965 veröffentlichte Schlingensiepen<br />

aus Anlaß der Verjährungsdebatten im<br />

Deutschen B<strong>und</strong>estag einen Beitrag über die in<br />

110<br />

den deutschen Nachkriegsprozessen verurteilten<br />

NS-Verbrecher im evangelischen „Sonntagsblatt“.<br />

Darin forderte er auf, Frieden zu<br />

schließen mit denen, die „bösen Willens sind“<br />

<strong>und</strong> empfahl, NS-Täter „in der tiefsten Tiefe<br />

unseres Herzens <strong>und</strong> Gewissens als Opfer jener<br />

Tage zu beklagen“. 19 Durch sein gewiß aufrichtig<br />

empf<strong>und</strong>enes <strong>und</strong> theologisch motiviertes<br />

Engagement wurde Hermann Schlingensiepen<br />

nachgerade zu einer Leitfigur im Bereich der<br />

seelsorgerlichen Betreuung von inhaftierten<br />

NS-Verbrechern. Einen Niederschlag seiner<br />

Bemühungen um Vergebung läßt sich etwa<br />

auch in einer umstrittenen Stellungnahme der<br />

„Arbeitsgemeinschaft der Bergischen Gefängnisgemeinde“<br />

zu den NS-Prozessen vom September<br />

1963 finden. 20<br />

Aus alldem läßt sich für die Anfangsjahre<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik im Hinblick auf den Um-


gang mit NS-Tätern resümieren: Mitte der 50er<br />

Jahre mußte fast niemand mehr befürchten,<br />

wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit<br />

von Staat <strong>und</strong> Justiz behelligt zu werden.<br />

Innerhalb von nur wenigen Jahren waren<br />

nahezu sämtliche alliierten Säuberungsmaßnahmen<br />

aus den Nachkriegsjahren rückgängig<br />

gemacht <strong>und</strong> die Mehrzahl der nationalsozialistischen<br />

Funktionsträger amnestiert <strong>und</strong> weitgehend<br />

reintegriert worden. Nach Ansicht des<br />

Freiburger Historikers Ulrich Herbert war<br />

diese unverhoffte Gunst der St<strong>und</strong>e für die<br />

Mehrheit der Davongekommenen jedoch an<br />

ein bestimmtes soziales Verhaltensmuster gekoppelt,<br />

nämlich die eigene Vergangenheit<br />

möglichst ganz vergessen zu machen <strong>und</strong> sich<br />

jeder verdächtigen politischen Äußerung zu<br />

enthalten. Die Strategie eines angepaßten <strong>und</strong><br />

unauffälligen Lebens, die soziale Integration<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Aufstieg erst garantierte,<br />

führte – so Ulrich Herbert – „zu einer moralisch<br />

gewiß zweifelhaften, aber durchaus effektiven<br />

Einpassung von großen Teilen der<br />

ehemaligen NS-Eliten in den neuen deutschen<br />

Staat <strong>und</strong> seine Gesellschaft.“ 21<br />

Erste Risse bekam diese gleichermaßen auf<br />

Amnestie wie auf Amnesie zielende „Vergangenheitsbewältigung“<br />

mit der in den 60er <strong>und</strong><br />

70er Jahren einsetzenden Welle von NS-Prozessen.<br />

Möglich wurden diese Verfahren durch<br />

die Tätigkeit der Ende 1958 in Ludwigsburg<br />

eingerichteten „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen<br />

zur Aufklärung nationalsozialistischer<br />

Verbrechen“. Obwohl diese Verfahren<br />

nicht selten die Chance zu einer kritischen<br />

Selbstaufklärung boten, wurden sie in<br />

der breiten Öffentlichkeit – von wenigen Ausnahmen<br />

abgesehen – entweder kaum wahrgenommen<br />

oder sogar offen abgelehnt. Ein tieferliegendes<br />

Motiv für diese Haltung war gewiß<br />

auch, daß diese Prozesse schockierend unmittelbar<br />

vor Augen führten, wie schmal der Grat<br />

zwischen Normalität <strong>und</strong> Massenmord in<br />

Wirklichkeit gewesen ist <strong>und</strong> daß an den Verbrechen<br />

weit mehr ganz normale Deutsche beteiligt<br />

waren, als man sich eingestehen wollte.<br />

Anstelle prominenter <strong>und</strong> zumeist längst verstorbener<br />

Nazifunktionäre oder anonymer Tätergruppen<br />

gerieten nun konkret handelnde<br />

Personen ins Blickfeld: Personen mit Namen<br />

<strong>und</strong> Gesichtern, mit politischen Überzeugungen<br />

<strong>und</strong> mit Verantwortung. Die meisten dieser<br />

Personen galten bis zu diesem Zeitpunkt als<br />

angesehene Nachbarn <strong>und</strong> Kollegen, geliebte<br />

Familienväter, respektierte Vorgesetzte oder<br />

gute Bekannte, denen man diese Verbrechen<br />

nicht zugetraut hatte.<br />

II. Auf Umwegen nach Wuppertal: Die Täter<br />

kehren zurück<br />

Vor diesem gesellschaftspolitischen <strong>und</strong><br />

mentalen Hintergr<strong>und</strong> müssen die nun folgenden<br />

<strong>und</strong> in gewisser Hinsicht exemplarischen<br />

Täterbiographien wahrgenommen <strong>und</strong> eingeordnet<br />

werden. Vorab noch einige Informationen<br />

zu den historischen Quellen meiner Recherchen.<br />

Reichhaltiges Material bieten die<br />

zum Teil veröffentlichten Prozeßunterlagen der<br />

Justizbehörden aus den Verfahren der 60er <strong>und</strong><br />

70er Jahre. Dort finden sich detaillierte Beschreibungen<br />

der Verbrechenskomplexe, Aussagen<br />

<strong>und</strong> Verhörprotokolle, aber auch zahlreiche<br />

Angaben zur Person <strong>und</strong> zum Lebensweg<br />

vor <strong>und</strong> nach 1945, die wichtige Daten zur Rekonstruktion<br />

der Rückkehr <strong>und</strong> Integration in<br />

die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft liefern.<br />

22 Einen weitereren wichtigen Quellenbestand<br />

bilden die Unterlagen der Spruchgerichte<br />

<strong>und</strong> Entnazifizierungsbehörden im B<strong>und</strong>esarchiv<br />

Koblenz <strong>und</strong> im NRW-Hauptstaatsarchiv<br />

sowie die im Berliner B<strong>und</strong>esarchiv lagernden<br />

Personaldokumente von SS-Offizieren <strong>und</strong> die<br />

Personenakten des Rasse- <strong>und</strong> Siedlungshauptamtes.<br />

Von besonderem Interesse waren natürlich<br />

auch die mehr oder weniger zahlreichen<br />

Berichte über NS-Prozesse in diversen lokalen<br />

<strong>und</strong> überregionalen Zeitungen <strong>und</strong> Zeitschriften.<br />

1.) Kurt Hans: Zum Opfer alliierter „Siegerjustiz“<br />

verklärt.<br />

Der erste der im folgenden vorgestellten<br />

NS-Täter aus Wuppertal ist der frühere SS-<br />

Hauptsturmführer <strong>und</strong> Kriminalrat Kurt Hans,<br />

111


der als Offizier dem von Paul Blobel geführten<br />

Sondereinsatzkommando 4a der Einsatzgruppe<br />

C der Sicherheitspolizei <strong>und</strong> des SD angehörte.<br />

Dieses Kommando war u.a. an der Ermordung<br />

von mehr als 33.000 ukrainischen Juden in der<br />

Schlucht von Babi Jar bei Kiew Ende September<br />

1941 beteiligt. 23 Kurt Hans führte bei dieser<br />

größten geschlossenen Massenerschießungsaktion<br />

während des 2. Weltkriegs die Aufsicht<br />

über die Exekutionskommandos.<br />

Kurt Hans wurde am 14. April 1911 als<br />

siebter Sohn des Schreinermeisters Robert<br />

Hans in Wuppertal-Barmen geboren. Er besuchte<br />

dort zunächst die evangelische Volksschule,<br />

ab 1924 die Deutsche Oberschule in der<br />

Siegesstraße <strong>und</strong> absolvierte 1930 die Reifeprüfung.<br />

Anschließend studierte Kurt Hans einige<br />

Semester Bergwissenschaften in Tübingen<br />

<strong>und</strong> Köln, mußte aber das Studium im<br />

Frühjahr 1932 wegen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs<br />

des väterlichen Betriebes, der<br />

sich in der Schülkestraße befand, abbrechen<br />

<strong>und</strong> mit Gelegenheitsarbeiten zur Existenzsicherung<br />

der Familie beitragen. Infolge einer<br />

Verletzung, die sich der nationalsozialistische<br />

Aktivist bei einer Schießerei mit Regimegegnern<br />

im Februar 1933 – möglicherweise in der<br />

Elberfelder Nordstadt 24 – zugezogen hatte, war<br />

er zunächst eine zeitlang arbeitsunfähig. Nach<br />

seiner Genesung beschäftigte ihn dann die<br />

Stadtsparkasse Wuppertal für sechs Monate als<br />

Tarifangestellten. 25<br />

Vom 1. Juni 1931 bis zum 1. August 1933<br />

war Hans Mitglied der SA. Mitglied der<br />

NSDAP-Ortsgruppe Wuppertal wurde er im<br />

März 1932, zählte also zu den sog. „Alten<br />

Kämpfern“, die sich bereits vor der Machtübergabe<br />

an Hitler für den Nationalsozialismus<br />

engagierten. Ab Oktober 1932 avancierte er<br />

bereits zum Ortsgruppenamtsleiter der Partei<br />

<strong>und</strong> fungierte von März 1936 bis September<br />

1938 als Parteirichter beim Kreisgericht der<br />

NSDAP. Auf der Suche nach einer außerparteilichen<br />

Festanstellung bewarb sich Hans Anfang<br />

1934 bei der Wuppertaler Polizeibehörde<br />

<strong>und</strong> wurde als Kriminal-Assistenten-Anwärter<br />

zur Probe bei der Kriminalpolizei eingestellt.<br />

1937 erhielt er eine Kriminalkommissar-Anwärterstelle,<br />

<strong>und</strong> nach erfolgreichem Abschluß<br />

112<br />

Kurt Hans (1911–1997), ca. 1938 (B<strong>und</strong>esarchiv<br />

Berlin)<br />

eines Lehrgangs an der Führerschule der Sicherheitspolizei<br />

in Berlin-Charlottenburg erfolgte<br />

die Beförderung zum Kriminalkommissar<br />

<strong>und</strong> seine Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit.<br />

Das Dienststellenverzeichnis des<br />

Wuppertaler Polizeipräsidiums für das Jahr<br />

1940/41 führt Kurt Hans als Leiter des für<br />

Raub, Erpressung <strong>und</strong> Nötigung zuständigen 2.<br />

Kommissariats. 26<br />

In die SS, die 1936 mit der staatlichen Polizei<br />

verschmolzen wurde, trat Kurt Hans im Juli<br />

1938 ein: eigenen Angaben zufolge, um in seinem<br />

Beruf weiterzukommen <strong>und</strong> dort Karriere<br />

zu machen. Den im Zuge der Entkonfessionalisierung<br />

der SS obligatorischen Kirchenaustritt<br />

hatte er bereits 1936 vollzogen, obwohl sich<br />

der Protestant auf audrücklichen Wunsch seiner<br />

Frau noch ein Jahr zuvor katholisch hatte<br />

trauen lassen. Vermutlich tat er diesen Schritt<br />

nicht nur im Sinne einer demonstrativen Identifikation<br />

mit der nationalsozialistischen Ideologie,<br />

sondern auch, um seinen Karriereambi-


tionen auf Himmlers <strong>und</strong> Heydrichs Eliteformation<br />

wirkungsvoll Ausdruck zu verleihen.<br />

Ab 1938 war Hans neben seiner Kripotätigkeit<br />

dann auch verstärkt für den SD, den <strong>Nachrichten</strong>dienst<br />

der SS, tätig. Ihm oblagen in dieser<br />

Funktion im Vorfeld polizeilicher Exekutivmaßnahmen<br />

die Observierung der politischen<br />

Gegner der Nationalsozialisten sowie die Re -<br />

gistrierung <strong>und</strong> Überwachung jüdischer <strong>und</strong><br />

kirchlicher Organisationen in Wuppertal. 27<br />

Darüber hinaus war der SD für die Berichterstattung<br />

über die Stimmungslager in der Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> die Beurteilung der politischen Zuverlässigkeit<br />

einzelner „Volks- bzw. Parteigenossen“<br />

zuständig. Die enge personelle Verflechtung<br />

<strong>und</strong> fachliche Abhängigkeit von SD<br />

<strong>und</strong> der aus Gestapo <strong>und</strong> Kripo gebildeten Sicherheitspolizei<br />

führte im September 1939<br />

schließlich zur Zusammenfassung beider Institutionen<br />

im neugegründeten <strong>und</strong> von Reinhard<br />

Heydrich geleiteten Reichssicherheitshauptamt.<br />

Seit April 1940 bekleidete Kurt Hans den<br />

Rang eines SS-Obersturmführers <strong>und</strong> bereitete<br />

sich auf den leitenden Dienst in der Sicherheitspolizei<br />

vor. Als im Mai/Juni 1941 im Zuge<br />

der Vorbereitungen des Überfalls auf die Sowjetunion<br />

die Einsatzgruppen zusammengestellt<br />

wurden, kam Hans in das von Paul Blobel<br />

geführte Sonderkommando 4a, das die 6. Armee<br />

auf ihrem Weg durch Wolhynien <strong>und</strong> die<br />

Ukraine begleiten sollte. Es ist nicht auszu -<br />

schließen, daß die Überstellung von Kurt Hans<br />

in das Blobel-Kommando nicht zufällig, sondern<br />

über persönliche Beziehungen <strong>und</strong> vielleicht<br />

sogar auf ausdrücklichen Wunsch beider<br />

geschehen ist. Möglicherweise kannten sich<br />

beide schon länger, denn Blobel war von 1935<br />

bis 1941 als regionaler SD-Führer u.a. auch für<br />

das bergische Städtedreieck zuständig <strong>und</strong> daher<br />

mit dem Personal der lokalen Dienststellen<br />

von Kripo, SD <strong>und</strong> Gestapo vertraut. 28 Gleich<br />

zu Beginn des Einmarsches in die UdSSR hatten<br />

die Einsatzgruppen, teils in Kooperation<br />

mit Wehrmachts- <strong>und</strong> Polizeieinheiten, damit<br />

begonnen, zunächst alle männlichen Juden, sofern<br />

sie nicht zur Arbeit benötigt wurden, zu<br />

exekutieren. Daneben hatten sie den Auftrag,<br />

sämtliche politischen Kommissare, Funk-<br />

tionäre in Staatsstellungen sowie alle als rassisch<br />

minderwertig stigmatisierten Personen zu<br />

töten. Ab Spätsommer 1941 wurden die Mord -<br />

aktionen sukzessive auch auf jüdische Frauen<br />

<strong>und</strong> Kinder ausgedehnt. Kurt Hans war als befehlsbefugter<br />

Offizier an mehreren dieser Aktionen<br />

unmittelbar beteiligt, so z.B. in Luzk,<br />

Shitomir, Radomyschl <strong>und</strong> in der Schlucht von<br />

Babi Jar bei Kiew. Um deren Effektivität zu erhöhen<br />

<strong>und</strong> die psychische Belastung der Schützen<br />

zu vermindern, wurden in einigen Fällen<br />

auch mobile Gaskammern zur Tötung der Juden<br />

eingesetzt. Ferner war Hans an einer von<br />

Paul Blobel angeordneten <strong>und</strong> als Wirkungstest<br />

für Explosivmunition durchgeführten Exekution<br />

von sowjetischen Kriegsgefangenen in<br />

Shitomir beteiligt.<br />

Anfang Oktober 1941, nur wenige Tage<br />

also nach der Mordaktion von Kiew, wurde<br />

Kurt Hans mit anderen Anwärtern des leitenden<br />

Dienstes von seinem Einsatzort abberufen,<br />

um seine Ausbildung an der Führerschule der<br />

Sicherheitspolizei in Berlin fortzusetzen. Nach<br />

erfolgreichem Abschluß ging er zurück „in die<br />

Praxis“, wurde zunächst stellv. Leiter der<br />

Kripo in Mönchengladbach <strong>und</strong> Anfang 1944,<br />

inzwischen zum SS-Hauptsturmführer <strong>und</strong><br />

Kriminalrat ernannt, Chef der Kriminalpolizeileitstelle<br />

in Würzburg. Hier war er u.a. für die<br />

Aufstellung <strong>und</strong> Beaufsichtigung von sogenannten<br />

Jagdkommandos der Polizei zuständig.<br />

Deren Aufgabe war es, alle Feindflieger,<br />

die den aus Kripo- <strong>und</strong> Gestapoleuten bestehenden<br />

Kommandos in die Hände gefallen waren,<br />

als Vergeltung gegen die alliierten Luftangriffe<br />

unverzüglich zu erschießen. 29<br />

Für seine „Verdienste“ im sicherheitspolizeilichen<br />

Einsatz erhielt Kurt Hans 1944 von<br />

Reichsführer-SS Heinrich Himmler den sog.<br />

„Totenkopfring“, ein Ehrensymbol, das vornehmlich<br />

solchen SS-Angehörigen verliehen<br />

wurde, die der SS als Organisation <strong>und</strong> Träger<br />

einer Weltanschauung gegenüber größte Ergebenheit<br />

bezeugt hatten. Anfang April 1945,<br />

kurz vor der Eroberung Würzburgs durch die<br />

US-Truppen, gelang es Hans <strong>und</strong> seiner Familie,<br />

aus der Stadt zu entkommen <strong>und</strong> vorläufig<br />

unterzutauchen. Als er mit anderen Angehörigen<br />

der Würzburger Kripo weiter nach Öster-<br />

113


eich fliehen wollte, wurde er von den Amerikanern<br />

verhaftet <strong>und</strong> als Kriegsverbrecher angeklagt.<br />

Obwohl die die Mordaktionen der Sicherheitspolizei<br />

in der UdSSR zu diesem Zeitpunkt<br />

bereits Gegenstand des Nürnberger Einsatzgruppenprozesses<br />

waren, wurde Hans mit diesen<br />

nicht in Zusammenhang gebracht <strong>und</strong> ausschließlich<br />

wegen seiner Verantwortung für die<br />

Ermordung alliierter Jagdflieger angeklagt <strong>und</strong><br />

im Oktober 1947 zum Tode verurteilt. Man<br />

überführte ihn aus Dachau zur Hinrichtung in<br />

das eigens für NS-Verbrecher eingerichtete<br />

Gefängnis nach Landsberg/Lech, wo seinerzeit<br />

auch sein ehemaliger Vorgesetzter Paul Blobel<br />

einsaß. Zu dieser Zeit liefen auch bereits die ersten<br />

Kampagnen zur Begnadigung der verharmlosend<br />

als „Kriegsverurteilte“ bezeichneten<br />

Häftlinge. Nicht nur der bis 1946 in Wuppertal-Langerfeld<br />

tätige Pfarrer Johannes Sy,<br />

der Kurt Hans konfirmiert hatte, auch der Kölner<br />

Kardinal Frings setzte sich vehement für<br />

ihn <strong>und</strong> die anderen Delinquenten ein, galten<br />

doch die inhaftierten NS-Verbrecher in der Regel<br />

als bedauernswerte Opfer der alliierten<br />

„Siegerjustiz“. Mit Erfolg: Im Januar 1951<br />

wurde die Todesstrafe für Kurt Hans <strong>und</strong> andere<br />

Häftlinge in lebenslängliche Haft umgewandelt.<br />

Das im Anschluß daran eingeleitete obligatorische<br />

Prüfungsverfahren der Entnazifizierungskammer<br />

in Düsseldorf wurde im Februar<br />

1952 eingestellt, da man Kurt Hans lediglich<br />

als „Mitläufer“ einstufte. Ebenso erfolgreich<br />

verlief für ihn das 1953 geführte Spruchkammerverfahren,<br />

das ihm den Status „minderbelastet“<br />

zubilligte. Juristischen Beistand erhielt<br />

Kurt Hans u.a. von dem bereits erwähnten Essener<br />

Rechtsanwalt Achenbach. Aber auch die<br />

Intervention von höchsten kirchlichen Stellen<br />

machte offenbar Eindruck auf die Spruchkammerrichter.<br />

In diesem Verfahren war es Hans<br />

nämlich nicht nur gelungen, seine Zugehörigkeit<br />

zu den Einsatzgruppen <strong>und</strong> seine Mitwirkung<br />

an den Massenmorden erfolgreich zu vertuschen,<br />

sondern sich auch als aufrechten <strong>und</strong><br />

geläuterten Christen darzustellen <strong>und</strong> seine<br />

Mitgliedschaft in NSDAP <strong>und</strong> SA als seinen<br />

persönlichen Beitrag zur – „Eindämmung der<br />

114<br />

kommunistischen Gefahr“ zu rechtfertigen:<br />

Angesichts des beginnenden Kalten Krieges<br />

war dies eine gleichermaßen einleuchtende wie<br />

populäre Einlassung, die offensichtlich ihre<br />

Wirkung auch nicht verfehlte. Denn bereits<br />

1954 wurde die lebenslange Haftstrafe von<br />

Kurt Hans auf eine befristete reduziert. Und im<br />

Oktober desselben Jahres befand sich Hans gegen<br />

die Zusicherung, sich jeder politischen<br />

Betätigung zu enthalten, wieder auf freiem<br />

Fuß. Er kehrte zu seiner Familie nach Wuppertal<br />

zurück, ließ sich – er fühlte sich wohl vor<br />

weiterer Strafverfolgung sicher – ins Adreßbuch<br />

der Stadt mit seiner alten Funktion als<br />

„Kriminalrat“ eintragen <strong>und</strong> war zunächst in<br />

der Bauindustrie <strong>und</strong> im Handel, ab 1960 dann<br />

als Versicherungskaufmann eines Wuppertaler<br />

Unternehmens tätig.<br />

Seine Vergangenheit holte ihn ein, als Anfang<br />

der 60er Jahre die „Zentrale Stelle“ in<br />

Ludwigsburg systematisch Ermittlungen gegen<br />

ehemalige Angehörige des Sonderkommandos<br />

4a führte <strong>und</strong> in diesem Zusammenhang auch<br />

auf Kurt Hans aufmerksam wurde. Im Mai<br />

1965 wurde er schließlich in Wuppertal verhaftet<br />

<strong>und</strong> mit 10 weiteren Angehörigen seines<br />

Kommandos im Oktober 1967 in einem der<br />

größten b<strong>und</strong>esdeutschen Massenmordprozesse<br />

zur Verantwortung gezogen. 30 Bis zuletzt<br />

leugnete Hans jedoch, an diesen Massenmorden<br />

beteiligt gewesen zu sein. Nach Auswertung<br />

der einschlägigen Dokumente, umfangreichen<br />

Zeugenvernehmungen <strong>und</strong> Verhören<br />

konnte ihm jedoch die Mitwirkung an mindestens<br />

fünf größeren Erschießungsaktionen<br />

nachgewiesen werden. In Wirklichkeit dürften<br />

es vermutlich noch viel mehr gewesen sein.<br />

Die Richter charakterisierten Kurt Hans als einen<br />

ehemals „treu ergebenen“ Gefolgsmann<br />

des NS-Regimes, der aus Überzeugung <strong>und</strong> um<br />

seiner Karriere willen jeden Befehl willig ausführte,<br />

auch wenn ihm die Konsequenzen persönlich<br />

vielleicht „unangenehm <strong>und</strong> menschlich<br />

zuwider“ waren. In der Hauptverhandlung<br />

hatte Hans weder Reue noch Bedauern über<br />

das Schicksal der Ermordeten gezeigt, sondern<br />

nur Selbstmitleid mit sich <strong>und</strong> dem eigenen<br />

Schicksal. Gleichwohl verurteilte ihn das Gericht<br />

nicht als hauptverantwortlichen Täter,


sondern nur als Tatgehilfen, da er die Morde<br />

„nur“ aus Pflichtgefühl <strong>und</strong> Opportunitätsgründen<br />

<strong>und</strong> nicht aus persönlichen <strong>und</strong> „niedrigen<br />

Beweggründen“ mitausgeführt hatte.<br />

Diese fragwürdige <strong>und</strong> bis heute umstrittene<br />

Unterscheidung zwischen Tätern <strong>und</strong> Tatgehilfen<br />

beruhte auf einer juristischen Definition,<br />

derzufolge allein Hitler, Himmler, Göring,<br />

Heydrich <strong>und</strong> deren „nähere Umgebung“ als<br />

hauptverantwortliche Täter einzustufen waren.<br />

In der Konsequenz hatte dies in zahlreichen<br />

Prozessen lächerlich niedrige Haftstrafen für<br />

NS-Verbrecher zur Folge. So kamen etwa Leiter<br />

von Exekutionen, Einsatzkommandoführer<br />

<strong>und</strong> viele andere mitverantwortliche Akteure<br />

bei der „Endlösung“ in der Regel mit einem<br />

Strafmaß davon, das dem für Raub, Einbruch<br />

<strong>und</strong> Betrug entsprach. 31<br />

Die problematische Gehilfenrechtssprechung<br />

suggerierte letztlich das Bild eines Täters,<br />

der ohne eigenes Zutun, ohne eigenen<br />

Willen <strong>und</strong> ohne individuelle Tatmotivation –<br />

also gleichsam von außen ferngesteuert – zum<br />

Bestandteil einer Terror- <strong>und</strong> Vernichtungsmaschinerie<br />

geworden war. Diese auch heute<br />

noch weitverbreite Auffassung reduzierte nicht<br />

nur den moralischen Entscheidungsspielraum<br />

des Individuums auf Null, sie entsprach auch<br />

exakt dem Selbstbild, das die Täter vor Gericht<br />

von sich entworfen hatten <strong>und</strong> das von der<br />

deutschen Öffentlichkeit im Sinne kollektiver<br />

Entlastung <strong>und</strong> der Verweigerung, Verantwortung<br />

zu übernehmen, natürlich nur allzu gerne<br />

angenommen wurde. 32<br />

Zurück zu Kurt Hans. Im November 1968,<br />

nach gut einjähriger Verhandlungsdauer verurteilte<br />

das Schwurgericht Darmstadt den ehemaligen<br />

SS-Hauptsturmführer <strong>und</strong> Kriminalrat<br />

wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord<br />

<strong>und</strong> unter Anrechnung der Untersuchungshaft<br />

zu 11 Jahren Zuchthaus. Bereits im Dezember<br />

1969 wurde der Haftbefehl aber wegen angeblicher<br />

Haftunfähigkeit aufgehoben, trotz existierender<br />

Zweifel an der Ernsthaftigkeit seines<br />

Ges<strong>und</strong>heitszustands. Im September 1970<br />

wurde ihm gegen gewisse Auflagen <strong>und</strong> unabhängig<br />

von seinem Ges<strong>und</strong>heitszustand Haftverschonung<br />

zugebilligt. 1997 starb Kurt Hans<br />

86jährig in Wuppertal.<br />

2. Dr. Hans Schumacher: Bereitschaft zur<br />

Übernahme von persönlicher Verantwortung<br />

Der nun im folgenden beschriebene Fall eines<br />

Wuppertaler NS-Täters weicht hinsichtlich<br />

des sonst üblichen Verhaltens- <strong>und</strong> Rechtfertigungsmusters<br />

dieses Personenkreises merklich<br />

ab. Wer sich einmal näher mit Verfahren wegen<br />

nationalsozialistischer Verbrechen beschäftigt<br />

hat, weiß, daß der sogenannte „Befehlsnotstand“<br />

das mit Abstand am häufigsten vorgebrachte<br />

Argument zur Verteidigung <strong>und</strong> Entlastung<br />

von NS-Tätern gewesen ist. Eine der<br />

ganz seltenen Ausnahmen, bei der ein Angeklagter<br />

sich nicht darauf berief <strong>und</strong> darüber<br />

hinaus sogar Reue <strong>und</strong> Unrechtsbewußtsein<br />

zeigte, war der 1907 in Wuppertal-Barmen geborene<br />

(<strong>und</strong> 1992 verstorbene) Jurist Hans<br />

Schumacher. 33 Wegen seiner Tätigkeit als Leiter<br />

der Gestapo-Dienststelle beim Kommandeur<br />

der Sicherheitspolizei <strong>und</strong> des SD in Kiew<br />

wurde der ehemalige SS-Sturmbannführer <strong>und</strong><br />

Regierungsrat Ende 1963 vor dem Landgericht<br />

Karlsruhe zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.<br />

In seiner Funktion hatte Schumacher die Erschießung<br />

von h<strong>und</strong>erten von Juden <strong>und</strong> nichtjüdischen<br />

Zivilisten angeordnet <strong>und</strong> den Einsatz<br />

der bei den Tötungsaktionen teilweise verwendeten<br />

<strong>und</strong> eigens aus Berlin herbeigeschafften<br />

fahrbaren Gaskammern überwacht. 34<br />

Die Biographie <strong>und</strong> der intellektuelle Werdegang<br />

von Schumacher fügen sich nahtlos in<br />

ein Täterprofil, das nach Auffassung der Historiker<br />

Ulrich Herbert <strong>und</strong> Michael Wildt für die<br />

mehrheitlich aus Akademikern bestehende<br />

Führungsgruppe des Reichssicherheitshauptamtes<br />

insgesamt zutrifft. Diese Gruppe bestand<br />

zu Kriegsbeginn aus etwa 300 Männern: Amts<strong>und</strong><br />

Referatsleiter, Chefs von regionalen<br />

Staatspolizei- <strong>und</strong> Kripoleitstellen <strong>und</strong> ihre<br />

Vertreter. Aus diesem vergleichsweise engen<br />

Personalreservoir rekrutierte sich in den darauffolgenden<br />

Jahren ein Großteil der Leiter der<br />

Einsatzgruppen- <strong>und</strong> kommandos, die Inspekteure<br />

<strong>und</strong> Befehlshaber der Sicherheitspolizei<br />

<strong>und</strong> des SD in den von Deutschland besetzten<br />

Ländern sowie die Leiter der regionalen Gesta-<br />

115


postellen. Sie waren verantwortlich für beinahe<br />

alle Deportations-, Verfolgungs- <strong>und</strong> Vernichtungsmaßnahmen<br />

sowohl in Deutschland<br />

selbst als auch – <strong>und</strong> vor allem – in Osteuropa.<br />

Wollte man eine Kerngruppe der nationalsozialistischen<br />

Verfolgungs- <strong>und</strong> Genozidpolitik bestimmen,<br />

dann, so die beiden Historiker, muß<br />

sie aus den Reihen dieser Männer gebildet werden.<br />

35<br />

Hans Schumacher, der selbst nicht aus einem<br />

akademischen Milieu, wohl aber aus gutsituierten<br />

bürgerlichen Verhältnissen stammte,<br />

machte nach dem Besuch von Volks- <strong>und</strong><br />

Oberrealschule 1926 sein Abitur. Im Anschluß<br />

daran studierte er in Würzburg, Bonn <strong>und</strong> Erlangen<br />

Staats- <strong>und</strong> Rechtswissenschaften, promovierte<br />

während seiner Referendarausbildung<br />

zum Dr. jur. <strong>und</strong> legte 1934 beim Preußischen<br />

Justizministerium die große Juristische<br />

Staatsprüfung ab. Wegen des Überangebots an<br />

Juristen im preußischen Staatsdienst entschied<br />

sich Schumacher für eine Laufbahn bei der<br />

Kriminalpolizei <strong>und</strong> acancierte bereits im Oktober<br />

1936 zum Leiter der Personalstelle <strong>und</strong><br />

des Erkennungsdienstes bei der Kriminalpolizeileitstelle<br />

in Düsseldorf. Mitglied der<br />

NSDAP wurde Schumacher im Mai 1933, der<br />

– obligatorische – Kirchenaustritt erfolgte<br />

1938, sein Beitritt zur SS im Januar 1939. Das<br />

Angebot, auch für die Gestapo tätig zu werden,<br />

lehnte Schumacher erstaunlicherweise aber<br />

zunächst ab. In einer späteren Einlassung vor<br />

Gericht begründete er dies mit seiner ablehnenden<br />

Haltung gegenüber der Errichtung von<br />

Konzentrationslagern <strong>und</strong> der dort geübten<br />

Praxis. Auf die Beurteilung durch seinen Vorgesetzten<br />

<strong>und</strong> seine Laufbahn bei Kripo, SD<br />

<strong>und</strong> SS hat sich diese Kritik jedoch offenk<strong>und</strong>ig<br />

nicht nachteilig ausgewirkt. Sein für das<br />

SD-Hauptamt angefertigter Personal-Bericht<br />

aus dem Jahr 1939 vermerkt statt dessen: „Dr.<br />

Schumacher [ist] ein mit SS-Geist beseelter<br />

<strong>und</strong> gefestigter Nationalsozialist <strong>und</strong> für Füh -<br />

rungsaufgaben sehr geeignet.“<br />

Im Februar 1939 wechselte Schumacher<br />

von Düsseldorf zunächst nach Wien, dann als<br />

Kripo-Dienststellenleiter nach Prag <strong>und</strong><br />

schließlich Ende 1940 – inzwischen zum Kriminalrat<br />

<strong>und</strong> SS-Hauptsturmführer ernannt –<br />

116<br />

Hans Schumacher (1907–1992), ca. 1938<br />

(B<strong>und</strong>esarchiv Berlin)<br />

als Lehrer für Strafrecht an die Polizeischule<br />

nach Pretzsch an der Elbe, wo im Frühjahr<br />

1941 auch mit der Aufstellung der Einsatzgruppen<br />

begonnen wurde. Nach Kiew, wo er<br />

als stellv. Kommandeur der Sicherheitspolizei<br />

<strong>und</strong> des SD den Aufbau der Gestapo- <strong>und</strong> Kripodienststelle<br />

organisierte, kam Schumacher<br />

Ende Oktober 1941. Nachdem die von Paul<br />

Blobel <strong>und</strong> anderen angeführten Mordkommandos<br />

weiter nach Osten zogen, wurden die<br />

mobilen Einheiten der Sicherheitspolizei <strong>und</strong><br />

des SD durch stationäre Dienststellen ersetzt.<br />

Kein Zweifel also, daß Schumacher über die<br />

Ende September 1941 durchgeführte Mordaktion<br />

an über 33.000 Juden aus Kiew informiert<br />

war. Er blieb dort bis Juni 1942. Im August<br />

desselben Jahres erfolgte dann seine Rückversetzung<br />

ins Reichssicherheitshauptamt nach<br />

Berlin. Dort war er als Regierungsrat im Rang


eines SS-Sturmbannführers im Amt V für die<br />

sogenannte „Verbrechensbekämpfung“ <strong>und</strong><br />

gleichzeitig als Untersuchungsführer <strong>und</strong> Gerichtsoffizier<br />

sowie bei der Kripoleitstelle Berlin<br />

tätig. Das Kriegsende erlebte Schumacher<br />

in einem Lazarett in Nürnberg.<br />

Bemerkenswert ist, daß Schumacher vor<br />

Gericht bereitwillig seine Mitverantwortung an<br />

den Verbrechen einräumte <strong>und</strong> sich durch detaillierte<br />

Aussagen an der Rekonstruktion des<br />

Tatgeschehens beteiligte. So gab er nicht nur<br />

uneingeschränkt zu, die Tötung von Juden in<br />

mobilen Vergasungsanlagen persönlich angeordnet<br />

<strong>und</strong> überwacht, sondern auch zahlreiche<br />

Exekutionen befohlen, selbst geleitet <strong>und</strong> sogar<br />

eigenhändig getötet zu haben. Dabei konnte er<br />

dem Gericht offenbar glaubhaft vermitteln, daß<br />

er die Mordaktionen „nur mit großem Widerwillen“<br />

<strong>und</strong> mit „innerer Abscheu“ durchgeführt<br />

<strong>und</strong> ihren Unrechtscharakter von Anfang<br />

an erkannt hatte. Zudem konnte er vor den<br />

Nachweis erbringen, daß er sich mehrfach –<br />

<strong>und</strong> letztlich erfolgreich – bei seinem Vorgesetzten<br />

um eine Versetzung von seinem<br />

Einsatz ort in Kiew bemühte hatte. In der umfangreichen<br />

Urteilsbegründung erkannten die<br />

Richter u.a. auch deshalb nur auf „Beihilfe<br />

zum Mord“ <strong>und</strong> nicht auf Mittäterschaft. Schumacher<br />

begündete seine Mitwirkung an den<br />

Verbrechen mit einem Argument, das die Richter<br />

zwar strafmildernd berücksichtigten, aber<br />

zugleich auch als Beleg für seinen individuellen<br />

Tatbeitrag werteten: Schumacher gab an,<br />

wegen seiner zunächst stets abschlägig beschiedenen<br />

Versetzungsgesuche zunehmend in<br />

Resignation verfallen zu sein. Solange er aber<br />

sein Kommando führte, wollte er von seinen<br />

Untergebenen, also den Exekutionsschützen,<br />

nicht mehr verlangen, als er selbst zu tun bereit<br />

war. Außerdem habe er sich – auf baldige Ablösung<br />

von seinem Kommando hoffend – seinem<br />

Gehorsam als Beamter <strong>und</strong> seinem Soldateneid<br />

verpflichtet gefühlt. Einen „Befehlsnotstand“<br />

machte Schumacher deshalb nicht geltend,<br />

weil er bei einer Befehlsverweigerung<br />

sein Leben nicht als bedroht ansah. 36<br />

Für einige tausende der in Schumachers<br />

Verantwortungsbereich verhafteten <strong>und</strong> „sicherheitspolizeilich“<br />

behandelten Menschen<br />

hatte dieses so verstandene Pflichtgefühl allerdings<br />

tödliche Konsequenzen. Denn trotz aller<br />

persönlichen Skrupel <strong>und</strong> Hemmnisse entsprach<br />

Schumacher letztlich dennoch genau<br />

dem, was die nationalsozialistischen Führer<br />

von ihm als Beamten <strong>und</strong> Funktionär der sogenannten<br />

„Endlösung“ erwarteten. Obwohl der<br />

Jurist gewiß nicht den Typus des ideologischen<br />

Überzeugungstäters verkörperte <strong>und</strong> wohl<br />

auch kein willfähriger Parteigänger der Nazis<br />

war: Der von ihm <strong>und</strong> der Mehrheit seiner Generation<br />

verinnerlichte <strong>und</strong> verbindliche Kanon<br />

von Pflichterfüllung, Treue <strong>und</strong> Gehorsam,<br />

gepaart mit einem gefestigten, aber keineswegs<br />

zwangsläufig auf Mord programmierten<br />

Antisemitismus, haben das erschreckend<br />

reibungslose Funktionieren des nationalsozialistischen<br />

Vernichtungsapparates erst ermöglicht<br />

<strong>und</strong> ihn über mehrere Jahre in Gang gehalten.<br />

Ein exterminatorischer, d.h. auf Vernichtung<br />

zielender Antisemitismus, wie ihn der<br />

amerikanische Politologe Daniel J. Goldhagen<br />

für NS-Täter generell annimmt, war daher eine<br />

vielleicht erwünschte, aber keinesfalls die notwendige<br />

Voraussetzung einer aktiven Mitwirkung<br />

an der Ermordung von Juden.<br />

Mit seinem weitreichenden Schuldeingeständnis<br />

<strong>und</strong> der Bereitschaft, die Verantwortung<br />

für seine Verbrechen zu übernehmen,<br />

blieb Schumacher eine ganz seltene Ausnahme<br />

unter allen vor Gericht angeklagten NS-Tätern.<br />

Aber auch Schumachers Laufbahn nach 1945<br />

markiert in gewisser Hinsicht eine Abweichung<br />

von der Regel. Bevor der promovierte<br />

Jurist Anfang der 50er Jahre nach Wuppertal<br />

zurückkehrte <strong>und</strong> zum Rechtsberater <strong>und</strong> Personalchef<br />

eines hiesigen Unternehmens avancierte,<br />

war er zeitweilig für den US-Geheimdienst<br />

<strong>und</strong> ab 1948 auch für einige Jahre als<br />

Agent der sogenannten „Organisation Gehlen“,<br />

dem Vorläufer des B<strong>und</strong>esnachrichtendienstes,<br />

tätig. Wir wissen heute, daß diese Organisation,<br />

aber auch der US-Geheimdienst zahlreiche<br />

zum Teil schwerstbelastete NS-Verbrecher,<br />

vor allem aus dem Bereich ehemaliger Funktionseliten,<br />

nach 1945 übernommen <strong>und</strong> vermutlich<br />

auch gezielt vor strafrechtlicher Verfolgung<br />

geschützt hat. Reinhard Gehlen war von<br />

1942 bis zum Ende des Krieges im deutschen<br />

117


Generalstab Chef der Spionageabteilung<br />

„Fremde Heere Ost“ <strong>und</strong> als solcher bestens<br />

mit der Sowjetunion vertraut. Bereits im März<br />

1945 hatten Gehlen <strong>und</strong> seine engsten Mitarbeiter<br />

wichtige Dokumente über die UdSSR<br />

auf Mikrofilm aufgenommen <strong>und</strong> sicher versteckt.<br />

Nach der Kapitulation übergaben sie<br />

das Material an eine Abteilung der amerikanischen<br />

Gegenspionage – in kluger Voraussicht<br />

der künftigen Frontverläufe <strong>und</strong> natürlich in<br />

Erwartung einer entsprechenden Gegenleistung.<br />

Als Gehlen schließlich den Auftrag erhielt,<br />

in der amerikanischen Besatzungszone<br />

einen <strong>Nachrichten</strong>dienst aufzubauen <strong>und</strong> zu<br />

diesem Zweck ausgewiesene Fachleute rekrutierte,<br />

stellte sich auch Dr. Hans Schumacher<br />

zur Verfügung. 37 Auf die von Gehlen gewünschte<br />

Übernahme in den BND verzichtete<br />

er jedoch ebenso wie auf die ab 1951 wirksam<br />

werdenden Vergünstigungen des Artikels 131<br />

des Gr<strong>und</strong>gesetzes, der ihm die Rückkehr in<br />

den öffentlichen Dienst ermöglicht hätte. Vor<br />

Gericht begründete er seine Entscheidung damit,<br />

daß er sich wegen der ihm vorgeworfenen<br />

Handlungen nicht für würdig genug halte, dem<br />

Staat noch einmal als Beamter zu dienen.<br />

3. Friedrich Bosshammer: Eichmanns „Judenberater“<br />

in Italien bis 1968 Rechtsanwalt<br />

in Wuppertal<br />

Bei dem dritten <strong>und</strong> letzten der hier vorgestellten<br />

NS-Täter handelt es sich um den früheren<br />

Wuppertaler Rechtsanwalt Friedrich Boss -<br />

hammer, der 1972 u.a. wegen seiner Mitwirkung<br />

bei den Deportationen der italienischen<br />

Juden nach Auschwitz zu einer lebenslänglichen<br />

Haftstrafe verurteilt wurde. Er verdient in<br />

besonderer Weise Aufmerksamkeit, denn seine<br />

beharrlich forcierte, gleichwohl bescheidene<br />

Nachkriegskarriere belegt anschaulich, wie unproblematisch<br />

es offenbar für viele schwerstbelastete<br />

NS-Verbrecher war, nach 1945 gesellschaftlich<br />

<strong>und</strong> beruflich wieder Fuß zu fassen.<br />

Bosshammer gehört, im Unterschied etwa<br />

zu Hans Schumacher, in jene Kategorie der<br />

ideologischen Überzeugungstäter, die sich vorbehaltlos<br />

in den Dienst der nationalsozialisti-<br />

118<br />

schen Vernichtungspolitik stellten <strong>und</strong> diese in<br />

einem hohen Maße eigenverantwortlich <strong>und</strong><br />

willig in die Praxis umsetzten. Daß er nach<br />

1945 wieder gesellschaftlich reüssieren<br />

konnte, ist zum einen das Ergebnis einer nur<br />

sehr halbherzig <strong>und</strong> unter Zeitdruck durchgeführten<br />

Entnazifizierung, zum anderen aber<br />

auch das Resultat eines nahezu reibungslos <strong>und</strong><br />

ungemein selbstsicher ,durchgezogenen‘ Täuschungs-<br />

<strong>und</strong> Tarnmanövers, bei dem ihm –<br />

vor allem hier in Wuppertal – offenk<strong>und</strong>ig ein<br />

Netzwerk gut funktionierender Beziehungen<br />

behilflich war.<br />

Geboren wurde Friedrich Bosshammer am<br />

20.12.1906 in Opladen. Er enstammte einer<br />

traditionsbewußten Handerwerkerfamilie, die<br />

seit langem im Bergischen – in Remscheid, Solingen<br />

<strong>und</strong> Wermelskirchen – verwurzelt war. 38<br />

In Opladen machte Bosshammer 1926 das Abitur<br />

<strong>und</strong> studierte anschließend in Heidelberg<br />

<strong>und</strong> Köln Staats- <strong>und</strong> Rechtswissenschaften.<br />

1931 folgte das 1. Staatsexamen, 1935 nach<br />

einer praktischen Ausbildung als Referendar<br />

im Oberlandesgerichtsbezirk Düsseldorf die<br />

zweite große juristische Staatsprüfung.<br />

NSDAP-Mitglied wurde er im Mai 1933. Da<br />

Bosshammer das erst im zweiten Anlauf erreichte<br />

zweite Staatsexamen aber nur mit der<br />

Note „ausreichend“ bestanden hatte, war der<br />

von ihm ursprünglich angestrebte Richterberuf<br />

in weite Ferne gerückt. Auf der offensichtlich<br />

erfolglosen Suche nach einer seiner Ausbildung<br />

gemäßen Beschäftigung bot sich ihm die<br />

Gelegenheit, „hauptamtlich“ in die Dienste der<br />

Partei zu treten. 39 Dort fungierte er von Sommer<br />

1935 bis Herbst 1936 als Lager- <strong>und</strong> Kursusleiter<br />

der HJ <strong>und</strong> anschließend als Leiter eines<br />

„Kraft durch Freude-Jungarbeiterfreizeitlagers“<br />

der I.G.-Farben. Anfang 1937 wurde<br />

Bosshammer Angestellter beim Landesverband<br />

Rheinland für Deutsche Jugendherbergen<br />

in Düsseldorf.<br />

1936 trat Bosshammer aus der evangelischen<br />

Kirche aus. Im selben Jahr heiratete er<br />

auch seine erste Frau. Aus dieser Ehe sind insgesamt<br />

vier Kinder hervorgegangen. Mitglied<br />

der SS wurde er im September 1937, zu einer<br />

Zeit, als sich die auf rasseideologischen Prinzipien<br />

gründende Eliteformation zunehmend zu


einer Organisation entwickelte, die jungen <strong>und</strong><br />

ehrgeizigen Intellektuellen, vor allem Juristen,<br />

gute Aufstiegs- <strong>und</strong> Karrierechancen bot, aber<br />

auch gescheiterten akademischen Existenzen<br />

neue <strong>und</strong> vielversprechende Perspektiven<br />

eröffnete <strong>und</strong> diese allmählich an die Theorie<br />

<strong>und</strong> Praxis einer radikalen völkischen Neuordnung<br />

Deutschlands <strong>und</strong> Europas heranführte.<br />

Nach eigenen Aussagen wurde Bosshammer<br />

bereits kurz nach seinem SS-Beitritt auf Vermittlung<br />

eines früheren Schulkameraden<br />

hauptamtlicher Angestellter beim Sicherheitsdienst<br />

der SS <strong>und</strong> war von Ende 1937 bis 1940<br />

als sogenannter Referent für Judenfragen im<br />

SD-Abschnitt Aachen tätig. 40 Mit der Versetzung<br />

zum Inspekteur der Sicherheitspolizei<br />

<strong>und</strong> des SD nach Wiesbaden, wo er von 1940<br />

bis 1942 als Gerichtsoffizier <strong>und</strong> Untersuchungsführer<br />

für SS-interne Strafsachen zuständig<br />

war, hatte Bosshammer dann nicht nur<br />

eine seiner Qualifikation gemäße Funktion erlangt,<br />

sondern offensichtlich auch den Beweis<br />

seiner ideologischen <strong>und</strong> praktischen Zuverlässigkeit<br />

erbracht, zumal an diese Funktion besondere<br />

Anforderungen gestellt wurden. 41<br />

Erste Berührung mit dem engeren Kreis der<br />

nationalsozialistischen Funktionselite bekam<br />

Bosshammer im Zuge seiner Versetzung ins<br />

Berliner Reichssicherheitshauptamt im Januar<br />

1942, <strong>und</strong> zwar in das von Gestapo-Chef Heinrich<br />

Müller geleitete <strong>und</strong> für die sog. „Gegnerforschung-<br />

<strong>und</strong> Bekämpfung“ zuständige Amt<br />

IV, das u.a. sämtliche Deportations- <strong>und</strong> Vernichtungsmaßnahmen<br />

gegen Juden vorbereitete,<br />

organisierte <strong>und</strong> durchführte. Es ist anzunehmen,<br />

daß die Versetzung Bosshammers in<br />

die Berliner Zentrale unmittelbar mit der<br />

„Wannsee-Konferenz“ vom Januar 1942 zusammenhängt.<br />

Auf dieser Konferenz waren unter<br />

der Federführung Reinhard Heydrichs die<br />

Direktiven zur Deportation <strong>und</strong> Vernichtung<br />

von r<strong>und</strong> 11 Millionen Juden aus den von<br />

Deutschland besetzten oder mit ihm kollaborierenden<br />

Ländern Europas vereinbart <strong>und</strong> bereits<br />

erste organisatorische Vorbereitungen getroffen<br />

worden. Zur Realisierung dieses verbrecherischen<br />

Vorhabens be nötigte das Reichssicherheitshauptamt<br />

,fähiges‘ Personal, das bereits<br />

einschlägige – vor allem auch verwal-<br />

Friedrich Bosshammer (1906–1972), ca. 1936/<br />

38 (B<strong>und</strong>esarchiv Berlin)<br />

tungsjuristische – Erfahrungen in den regionalen<br />

Dienststellen des SD <strong>und</strong> der Gestapo gesammelt<br />

<strong>und</strong> sich dort bewährt hatte.<br />

Im berüchtigten Referat IV B 4 „Judenangelegenheiten“,<br />

das von Adolf Eichmann geleitet<br />

wurde, bearbeitete Bosshammer zunächst<br />

das Ressort „Vorbereitung der Lösung der europäischen<br />

Judenfrage in politischer Hinsicht“.<br />

Im Kontext des NS-Vokabulars war dies eine<br />

der zahlreichen Euphemismen, mit denen der<br />

wahre Charakter der bevorstehenden Vernichtungsoperationen<br />

verschleiert werden sollte.<br />

Konkret bestand die Aufgabe in der Beschaffung<br />

<strong>und</strong> Auswertung von Unterlagen, die für<br />

die Vorbereitung, Durchführung, aber auch für<br />

die Tarnung der geplanten Judendeportationen<br />

notwendig waren. So redigierte Bosshammer<br />

beispielsweise eine bebilderte Artikelserie, die<br />

auf Veranlassung des Eichmann-Referates<br />

Ende 1942 in zahlreichen slowakischen Zei-<br />

119


tungen <strong>und</strong> Zeitschriften erschienen war <strong>und</strong> in<br />

verharmlosender Weise über die Lage der bereits<br />

nach Auschwitz <strong>und</strong> in die Gegend von<br />

Lublin deportierten r<strong>und</strong> 58.000 Juden aus der<br />

Slowakei berichtete. 42 Die als sogenannte<br />

„Antigreuelpropaganda“ lancierte Artikelserie<br />

zielte darauf ab, auch die mit einem sogenannten<br />

„Schutzbrief“ ausgestatteten slowakischen<br />

Juden verhaften <strong>und</strong> nach Auschwitz-Birkenau<br />

deportieren zu können. 43 Darüber hinaus betreute<br />

Bosshammer in seinem Ressort die bei<br />

den Kollaborationsregierungen tätigen sog.<br />

„Judenberater“ des Reichssicherheitshauptamtes<br />

<strong>und</strong> gab deren Erfahrungsberichte an seinen<br />

unmittelbaren Vorgesetzten Eichmann weiter. 44<br />

Im Rahmen seiner Tätigkeit entfaltete<br />

Boss hammer anscheinend immer dann einen<br />

besonderen Ehrgeiz, wenn sich Schwierigkeiten<br />

bei den Deportationen in den von Deutschland<br />

besetzten oder unter seinem Machteinfluß<br />

stehenden Ländern einstellten. So etwa in Bulgarien,<br />

wo sich Teile der Bevölkerung schützend<br />

vor die Juden gestellt hatten <strong>und</strong> auch die<br />

Regierung massive Einwände gegen die geplanten<br />

Deportationsmaßnahmen erhob. Im<br />

Frühjahr 1943 waren die Verhandlungen über<br />

die Deportation der r<strong>und</strong> 51.000 auf altbulgarischem<br />

Gebiet ansässigen Juden erheblich ins<br />

Stocken geraten. Ein Zufall bot schließlich einen<br />

willkommenen Anlaß, mit Hilfe Bosshammers<br />

Druck auf die bulgarische Regierung auszuüben.<br />

Im Mai 1943 war ein deutscher R<strong>und</strong>funkingenieur<br />

bei einem Attentat in Sofia getötet<br />

<strong>und</strong> ein Jude als vermeintlicher Täter verhaftet<br />

worden. Gemeinsam mit dem im Außenministerium<br />

für „Judenangelegenheiten“ zuständigen<br />

Beamten regte Bosshammer an, diesen<br />

Vorfall gezielt auszunutzen:<br />

[…] Es liegt im Interesse der vom Reichsführer-SS<br />

angestrebten Endlösung, daß in den<br />

deutsch-bulgarischen Erörterungen über die<br />

Ostevakuierung sämtlicher Juden aus Bulgarien<br />

die derzeitige, für Evakuierungsaktionen<br />

besonders günstige Lage, wie sich insbesondere<br />

durch das letzte Attentat in Sofia eingetreten<br />

ist, mit allem Nachdruck ausgenutzt wird. 45<br />

In Italien, Bosshammers nächstem „Aufgabengebiet“,<br />

gingen seine Bemühungen um eine<br />

Beschleunigung der „Endlösung“ allerdings<br />

120<br />

Friedrich Bosshammer (1906–1972), ca. 1938<br />

(Landesarchiv Berlin)<br />

weit über bloß taktische Empfehlungen hinaus.<br />

Auch dort gab es Schwierigkeiten mit der Auslieferung<br />

von Juden an die Deutschen. Obwohl<br />

Deutschlands engster Verbündeter (bis 1943),<br />

<strong>und</strong> trotz der in Anlehnung an die „Nürnberger<br />

Gesetze“ geschaffenen antijüdischen Gesetzgebung<br />

weigerte sich Mussolini beharrlich, die<br />

in Italien lebenden Juden auszuliefern. In Italien<br />

<strong>und</strong> in den von Italien besetzten kroatischen<br />

<strong>und</strong> französischen Gebieten lebten damals<br />

r<strong>und</strong> 44.000 Juden. Als im September<br />

1943 der „Duce“ gestürzt <strong>und</strong> verhaftet wurde<br />

<strong>und</strong> seine Gegner einen Waffenstillstand mit<br />

den Alliierten herbeiführten, verschlimmerte<br />

sich die Lage der italienischen Juden dramatisch.<br />

Mit dem von einem SS-Kommando befreiten<br />

Mussolini an der Spitze, installierten<br />

die Deutschen in Nord italien nun eine von ihnen<br />

abhängige Marionettenregierung. Eine ihrer<br />

ersten Anordnungen sah die unverzügliche<br />

Einweisung aller im deutschen Einflußbereich<br />

lebenden italienischen Juden in Konzentrationslager<br />

vor. Von dort aus sollten sie dann<br />

anschließend in Sammeltransporten nach Aus-


chwitz-Birkenau deportiert werden. 46<br />

Als aber auch diese Maßnahmen nicht zu<br />

den gewünschten Ergebnissen führten, empfahl<br />

das Auswärtige Amt in Berlin im Dezember<br />

1943, deutsche Beamte nach Italien zu entsenden,<br />

die, als „Berater“ getarnt, die Konzentration<br />

<strong>und</strong> Deportation der italienischen Juden<br />

überwachen sollten. Im Januar 1944 war der<br />

mit den diesbezüglichen Vorbereitungen befaßte<br />

„Judenberater“ der Mussolini-Regierung,<br />

Theodor Dannecker, abberufen worden <strong>und</strong> auf<br />

seine Stelle der inzwischen zum Regierungsrat<br />

<strong>und</strong> SS-Sturmbannführer 47 ernannte Friedrich<br />

Bosshammer nachgerückt. Er bezog er seine<br />

Dienststelle beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei<br />

<strong>und</strong> des SD in Verona. Unverzüglich<br />

begann Bosshammer nun mit der Realisierung<br />

eines von ihm bereits im Dezember 1943<br />

vorgelegten Plans, der seinerzeit aber aus taktischen<br />

Gründen zunächst zurückgestellt worden<br />

war. Dieser Plan sah vor, von der italienischen<br />

Regierung die Auslieferung aller in Konzentrationslager<br />

eingesperrten Juden zu verlangen<br />

<strong>und</strong> diese dann unter deutscher Aufsicht umgehend<br />

nach Auschwitz-Birkenau zu deportieren.<br />

48<br />

Zur Schaffung der dafür nötigen Rahmenbedingungen<br />

organisierte Bosshammer den<br />

Neuaufbau eines Systems zur Erfassung, Konzentrierung<br />

<strong>und</strong> Deportation der italienischen<br />

Juden, führte regelmäßige Inspektionen des bei<br />

Modena gelegenen Sammellagers Fossoli di<br />

Carpi durch, kümmerte sich persönlich um die<br />

Beschaffung der notwendigen Transportmittel,<br />

stellte eigenhändig Transportlisten zusammen<br />

<strong>und</strong> überwachte sogar die Rekrutierung der<br />

Zugbegleitkommandos. 49 Bosshammers Radikalität<br />

übertraf sogar die Adolf Eichmanns.<br />

Unter seiner Federführung wurden auch die bis<br />

zur Jahreswende 1943/44 von der Deportation<br />

ausgenommenen sogenannten „Judenmischlinge“<br />

sowie die Partner aus „Misch ehen“ mit<br />

dem letzten aus Fossoli di Carpi abgehenden<br />

Transport nach Auschwitz deportiert. 50 Insgesamt<br />

sieben Transporte mit r<strong>und</strong> 4.700 Juden<br />

gingen unter Bosshammers Regie nach Auschwitz.<br />

Die Gesamtzahl der deportierten Juden<br />

aus Italien lag bei etwa 7.500. Nur ca. 800 von<br />

ihnen haben überlebt. Für seinen „Einsatz“ in<br />

Italien wurde Friedrich Bosshammer im April<br />

1944 für das „Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse<br />

mit Schwertern“ vorgeschlagen. In der Begründung<br />

zur Ordensverleihung heißt es:<br />

Bosshammer leitet seit Februar 1944 die<br />

Bekämpfung der Juden im italienischen Raum.<br />

Er hat sich dabei um die Endlösung der Judenfrage<br />

namhafte Verdienste erworben <strong>und</strong> sich<br />

bei zahlreichen Judenaktionen persönlich ausgezeichnet.<br />

51<br />

In Italien blieb Bosshammer bis Frühjahr<br />

1945, zuletzt als Leiter der Außenstelle des Befehlshabers<br />

der Sicherheitspolizei <strong>und</strong> des SD<br />

in Padua. Auf seiner Flucht nach Österreich geriet<br />

er im April 1945 – vermutlich getarnt als<br />

Wehrmachtsangehöriger – in amerikanische<br />

Gefangenschaft, wurde aber im September<br />

desselben Jahres bereits wieder entlassen.<br />

Unmittelbar nach seiner Entlassung kehrte<br />

Bosshammer – offensichtlich aus Gründen der<br />

Vorsicht <strong>und</strong> Tarnung – nicht zu seiner Familie<br />

nach Wiesbaden zurück, sondern zog nach<br />

Remscheid. 52 Dort, in der Nähe seiner Verwandten<br />

(die Eltern lebten in Wermelskirchen,<br />

seine Schwester in Wuppertal), wechselte er<br />

seine Identität. Mit den Wehrmachtspapieren<br />

seines Vetters ausgestattet, arbeitete er auf Vermittlung<br />

des Remscheider Arbeitsamtes unter<br />

dem falschen Namen Max Müller bis Januar<br />

1947 als Hilfsarbeiter in der Hobelfabrik E.C.<br />

Emmerich in Remscheid-Hasten, wo sich der<br />

ehemals hochrangige SS-Offizier <strong>und</strong> Regierungsrat<br />

Bosshammer „in bester Weise der Betriebsgemeinschaft<br />

eingeordnet [hatte] <strong>und</strong><br />

sich infolge seines einfachen, kameradschaftlichen<br />

Wesens […] der Wertschätzung der gesamten<br />

Betriebsangehörigen erfreute.“ 53 Vermutlich<br />

aufgr<strong>und</strong> einer anonymen Anzeige<br />

wurde seine falsche Identität jedoch bekannt<br />

<strong>und</strong> Bosshammer noch im selben Monat verhaftet<br />

<strong>und</strong> in ein Internierungslager der britischen<br />

Besatzungsbehörde nach Recklinghausen<br />

verbracht. Im anschließenden Spruchkammerverfahren<br />

– die Anklage lautete auf Mitgliedschaft<br />

in einer vom alliierten Militärtribunal<br />

in Nürnberg für verbrecherisch erklärten<br />

Organisation – trat Bosshammer die Flucht<br />

nach vorne an. Seine juristische Vertretung<br />

übernahm der – im übrigen auch als (turnus-<br />

121


mäßiger) Vorsitzender des Wuppertaler Ent -<br />

nazifizierungsberufungsausschusses tätige –<br />

Rechtsanwalt Dr. Lüdecke aus Elberfeld. 54 In<br />

diesem Verfahren gab Bosshammer zwar bereitwillig<br />

zu, als Beamter im Reichssicherheitshauptamt<br />

<strong>und</strong> in Italien tätig gewesen zu<br />

sein, aber niemals im Eichmann-Referat gearbeitet<br />

<strong>und</strong> nichts über den wahren Zweck der<br />

Deportationen italienischer Juden gewußt zu<br />

haben. Er erklärte, seine Hauptaufgabe habe lediglich<br />

darin bestanden, den Schwarzhandel<br />

<strong>und</strong> die Korruption in den italienischen Verwaltungen<br />

zu bekämpfen <strong>und</strong> die Widerstandsbewegung<br />

zu kontrollieren. Den „Abtransport<br />

<strong>und</strong> die Ansiedlung [der Juden] in unbevölkerte<br />

Gebiete des Reichs oder außerhalb des<br />

Reiches“ betrachtete er als einen „kriegsbedingten<br />

Staatsnotstand“, leugnete aber, an diesen<br />

Aktionen beteiligt gewesen zu sein. Bosshammer<br />

erklärte ferner, es sei ihm nicht bekannt<br />

gewesen, „dass Juden in Konzentrationslager<br />

festgehalten worden sind, wenn nicht<br />

staatspolizeiliche Gründe dazu vorlagen.“ 55<br />

Zur weiteren Entlastung führte er an, daß ein<br />

für ihn günstiges Leum<strong>und</strong>szeugnis des Bischofs<br />

von Padua eindeutig beweise, daß an<br />

seiner Tätigkeit in Italien „in dieser Hinsicht“<br />

nichts zu beanstanden sei. 56 Dieser Version<br />

folgte das Gericht weitgehend <strong>und</strong> verurteilte<br />

Friedrich Bosshammer im März 1948 lediglich<br />

wegen der Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen<br />

Organisation zu einer einjährigen<br />

Haftstrafe. Durch die Internierungshaft galt<br />

dieses Urteil bereits als verbüßt. Dieses skandalös<br />

niedrige Strafmaß dürfte zunächst mit<br />

zwei eher allgemeinen Faktoren zusammenhängen:<br />

Zum einen waren die in der Regel aus<br />

einem Vorsitzenden <strong>und</strong> zwei ehrenamtlichen<br />

Richtern zusammengesetzten <strong>und</strong> der alliierten<br />

Oberaufsicht unterstellten Spruchkammergerichte<br />

notorisch überlastet <strong>und</strong> unter Druck.<br />

Zum anderen gab es bei den alliierten Strafverfolgungsbehörden<br />

zu diesem Zeitpunkt nur<br />

wenig detaillierte Informationen hinsichtlich<br />

der Beteiligung der Sicherheitspolizei an Deportationen<br />

in den besetzten Ländern, erst<br />

recht in Italien. Gleichwohl bleibt es – nicht<br />

nur aus heutiger Sicht – unverständlich, daß<br />

trotz der den Richtern bekannten hochrangigen<br />

122<br />

Funktion des „Zivilinternierten“ dessen Angaben<br />

über seine Tätigkeit im RSHA <strong>und</strong> insbesondere<br />

in Italien nicht mit größerem Miß -<br />

trauen begegnet <strong>und</strong> diese sorgfältiger überprüft<br />

wurden.<br />

Ohne die vielen entlastenden Leum<strong>und</strong>szeugnisse,<br />

jene beliebten „Persilscheine“ also,<br />

die Bosshammers (erste) Frau <strong>und</strong> sein Rechtsanwalt<br />

herbeigeschaftt hatten, wäre das<br />

Spruchkammerurteil allerdings wohl kaum zu<br />

rechtfertigen gewesen. Unter den Leum<strong>und</strong>szeugnissen,<br />

die allesamt das Bild eines „charakterlich<br />

einwandfreien Menschen“ zeichnen,<br />

befand sich nicht nur das seines ehemaligen<br />

Pfarrers aus Opladen 57 , der u.a. zur Entlastung<br />

Bosshammers anführte, daß dieser einen Teil<br />

seiner Referendarausbildung bei einem jüdischen<br />

Rechtsanwalt in Opladen absolviert<br />

hatte <strong>und</strong> „nie politisch hervorgetreten oder aktiv<br />

im Sinne der Partei öffentlich tätig gewesen“<br />

war, sondern auch das des bereits erwähnten<br />

Bischofs von Padua 58 sowie das eines Pfarrers<br />

der Bekennenden Kirche, der Bosshammer<br />

als SS-Untersuchungsführer in Wiesbaden<br />

kennengelernt hatte. 59 Besonders aufschlußreich<br />

ist das Leum<strong>und</strong>szeugnis einer<br />

während der Internierungshaft Bosshammers<br />

im Höseler Bethesda-Krankenhaus tätigen<br />

Ärztin, einer guten Fre<strong>und</strong>in seiner Schwester,<br />

die mit dem späteren Chefarzt der Chirurgischen<br />

Abteilung der Bethesda-Klinik in Wuppertal<br />

verheiratet war. Im Haus seines Schwagers<br />

in der Platzhoffstraße 2 in Wuppertal-Elberfeld<br />

hatte Bosshammer Anfang der 50er<br />

Jahre einige Zeit gewohnt <strong>und</strong> dort auch seine<br />

erste Anwaltspraxis eröffnet. Bosshammer <strong>und</strong><br />

diese Ärztin waren sich 1942/43 in Berlin begegnet<br />

<strong>und</strong> hatten sich offenbar angefre<strong>und</strong>et.<br />

In ihrem Entlastungszeugnis beschrieb sie ihre<br />

Erinnerung an diese Zeit, in der Bosshammer<br />

bereits vollständig in den Prozeß der „Endlösung“<br />

involviert war:<br />

[…] Mit großer Offenheit sprach er zu mir<br />

über das, was ihn damals bewegte <strong>und</strong> bedrückte.<br />

Aus allem redete zu mir ein herzensguter,<br />

ehrlicher, gerecht empfindender Mensch,<br />

hilfsbereit <strong>und</strong> zuverlässig. […]<br />

Er [Bosshammer] habe sich damals zum<br />

Studium der Rechtswissenschaften aus einem


inneren Drang heraus, einmal wirkliches Recht<br />

zu sprechen, entschlossen. Nach Studienabschluß<br />

kam die erste Enttäuschung angesichts<br />

der äußerst schlechten Berufsaussichten. Später<br />

Übernahme in den S.D. <strong>und</strong> die Unmöglichkeit,<br />

davon wieder loszukommen. Das einzige,<br />

was er tun konnte, um sich <strong>und</strong> seiner Gr<strong>und</strong>einstellung<br />

zum Recht treu zu bleiben, war, innerhalb<br />

seines Wirkungsbereiches […] für<br />

Ordnung, Sauberkeit <strong>und</strong> Gerechtigkeit zu sorgen<br />

unter rückhaltlosem Einsatz seiner ganzen<br />

Person.<br />

Auf Gr<strong>und</strong> meiner Menschenkenntnis, die<br />

zu erwerben man im ärztlichen Beruf reichlich<br />

Gelegenheit hat, glaube ich sagen zu können,<br />

daß Herr Bosshammer bei seinen charakterlichen<br />

Qualitäten <strong>und</strong> bei seinem Wesenszug, im<br />

anderen Menschen stets das Gute zu wecken,<br />

keinem Wesen ein Unrecht zu tun überhaupt in<br />

der Lage ist. 60<br />

Aus heutiger Sicht ist es fast unmöglich,<br />

präzise zu bestimmen, ob diese Loyalitätsbezeugung<br />

ehrlicher Auffassung <strong>und</strong> tatsächlicher<br />

Ahnungslosigkeit entsprach, oder möglicherweise<br />

ein bewußt ,geschöntes‘ Bild, das der engen<br />

Beziehungen zur Person Bosshammers <strong>und</strong><br />

seiner Familie geschuldet war. Für die erste Annahme<br />

spricht, daß diese Eindrücke mit den in<br />

den anderen Leum<strong>und</strong>szeugnissen vorgebrachten<br />

<strong>und</strong> durchaus glaubhaft wirkenden Erinnerungen<br />

an Bosshammer korrespondieren. Das<br />

in diesen Dokumenten gezeichnete Persönlichkeitsprofil<br />

Bosshammers war gewiß nur schwer<br />

mit dessen aktiver Teilhabe an der „Endlösung“<br />

in Einklang zu bringen. Gleichwohl trifft diese<br />

fast eine Persönlichkeitsspaltung nahelegende<br />

Charakterisierung auf zahlreiche hochrangige<br />

NS-Täter zu; diese indiziert geradezu die erschreckende<br />

– <strong>und</strong> den schmalen Grat zwischen<br />

Normalität <strong>und</strong> Verbrechen markierende – Doppelgesichtigkeit<br />

der nationalsozialistischen<br />

Vernichtungspolitik. Die Charakterisierung<br />

Bosshammers als eines „zuverlässigen, ehrlichen<br />

<strong>und</strong> gerecht empfindenden Menschen“<br />

fügten sich in jedem Fall nahtlos in die von ihm<br />

<strong>und</strong> seinem Rechtsanwalt den Spruchkammerrichtern<br />

offerierte Version einer ,schuldlosen<br />

Verstrickung‘ <strong>und</strong> Nichtteilhabe an den NS-<br />

Verbrechen. Wie bereitwillig das Gericht dieser<br />

Version folgte, dokumentiert die Urteilsbegründung<br />

im Fall Bosshammer vom 13. April 1948:<br />

Das Gericht hat aufgr<strong>und</strong> der mündlichen<br />

Verhandlung vom Angeklagten einen recht<br />

guten Eindruck gewonnen. Er war geständig.<br />

Sein anständiges männliches Verhalten zeigt,<br />

dass ihn sein schweres persönliches Erleben<br />

nach dem Zusammenbruch des Reichs geläutert<br />

hat. Er sieht seine Vergangenheit jetzt in einem<br />

anderen Licht. Trotz seiner früheren<br />

Tätigkeit kann nicht bezweifelt werden, daß er<br />

beim Aufbau eines freien Deutschland seine<br />

Kraft einsetzen wird. 61<br />

Derartige Unbedenklichkeitsatteste waren<br />

– zumindest was den Großteil ehemaliger NS-<br />

Funktionseliten betraf – keineswegs die Ausnahme,<br />

sondern entsprachen der Regel. Sie ebneten<br />

Bosshammer <strong>und</strong> zahlreichen anderen<br />

Tätern den Weg zurück in die Gesellschaft <strong>und</strong><br />

legten das F<strong>und</strong>ament für den erfolgreichen sozialen<br />

<strong>und</strong> beruflichen Wiederaufstieg. Das<br />

sich unmittelbar an das Spruchkammerverfahren<br />

anschließende Entnazifizierungsverfahren<br />

vor dem Wuppertaler Entnazifizierungsausschuß<br />

war daher fast nur noch eine Formsache<br />

<strong>und</strong> endete für ihn – nachdem sein Wuppertaler<br />

Rechtsanwalt auch die Berufung erfolgreich<br />

durchgefochten hatte 62 – im November 1948<br />

mit einer Einstufung in die Kategorie IV – als<br />

Mitläufer. Zwei Jahre brauchte es allerdings<br />

noch, um wieder an die juristische Laufbahn<br />

anknüpfen zu können. Auch hier erwiesen sich<br />

einmal mehr die Politiker als äußerst entgegenkommend.<br />

Im Oktober 1950 empfahl nämlich<br />

der Deutsche B<strong>und</strong>estag den Ländern, die noch<br />

laufenden Entnazifizierungsverfahren einzustellen<br />

<strong>und</strong> die mit der Entnazifizierung verb<strong>und</strong>enen<br />

Berufsbeschränkungen aufzuheben.<br />

63 Offenbar noch im selben Monat beantragte<br />

Bosshammer deshalb beim Oberlandesgericht<br />

in Düsseldorf die Übernahme in den<br />

anwaltlichen Anwärterdienst. 64 Nachdem<br />

schließlich im Februar 1952 auch in Nordrhein-Westfalen<br />

das Gesetz zum Abschluß der<br />

Entnazifizierung wirksam wurde, erhielt Boss -<br />

hammer noch im August desselben Jahres beim<br />

Wuppertaler Amts- <strong>und</strong> Landgericht seine endgültige<br />

Zulassung als Rechtsanwalt. Seine Anwaltspraxis<br />

eröffnete er dann zunächst im Haus<br />

123


seines Schwagers in der Elberfelder Platzhoffstraße,<br />

<strong>und</strong> kurz darauf an seinem neuen<br />

Wohnsitz in der Kärtnerstraße 13 in Vohwinkel,<br />

wo Bosshammers zweite Ehefrau ein Haus<br />

<strong>und</strong> eine Metzgerei besaß.<br />

Die kleine Kanzlei, die zwar gut ausgelastet<br />

war, aber wohl nicht besonders ambitioniert geführt<br />

wurde, befaßte sich hauptsächlich mit zivilrechtlichen<br />

Angelegenheiten. Bosshammers<br />

Anwaltspraxis profitierte indes nachhaltig von<br />

den Anfang der 60er Jahre im Zusammenhang<br />

des Baus der Stadtautobahn A 46 angestrengten<br />

Enteigungs- <strong>und</strong> Entschädigungsverfahren betroffener<br />

Vohwinkler Hauseigentümer <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>stücksbesitzer. 65 In diesen Kreisen erwarb<br />

sich Bosshammer durch sein juristisches Engagement<br />

hohes Ansehen. 66 Zwar waren zahlreiche<br />

Gerüchte im Umlauf, er sei „ein hohes Tier“<br />

in der SS gewesen, genaueres wußte man darüber<br />

wohl aber nicht bzw. wollte man in seinem<br />

persönlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Umfeld<br />

möglicherweise auch nicht in Erfahrung bringen.<br />

67 Gesellschaftliche Aktivität entfaltete der<br />

als sehr gesellig geltende <strong>und</strong> regelmäßig bei<br />

kammermusikalischen Abenden seines Schwagers<br />

als Pianist auftretende Bosshammer u.a. als<br />

Vorstandsmitglied des Bürgervereins Vohwinkel-Nord.<br />

Eine gewisse lokale Prominenz erlangte<br />

er in seiner Funktion als juristischer Vertreter<br />

der seinerzeit zu einer Arbeitsgemeinschaft<br />

zusammengeschlossenen drei Vohwinkler<br />

Bürgervereine. Ende 1960 hatte diese Arbeitsgemeinschaft<br />

beim Innenminister des Landes<br />

Nordrhein-Westfalen einen lebhaft diskutierten<br />

<strong>und</strong> umstrittenen Antrag auf Ausgliederung<br />

des Stadtteils Vohwinkel aus dem Stadtgefüge<br />

Wuppertals gestellt <strong>und</strong> die Neubildung einer<br />

selbständigen Stadt angeregt. Beauftragter<br />

Unterzeichner dieses Antrags war Friedrich<br />

Boss hammer, unter dessen Vohwinkler Kanzleiadresse<br />

die ,AG‘ überdies firmierte. 68 Die<br />

Tatsache, daß sich der frühere „Judenberater“<br />

<strong>und</strong> enge Mitarbeiter Adolf Eichmanns derart<br />

öffentlich exponierte <strong>und</strong> damit immerhin riskierte,<br />

daß man auch außerhalb Wuppertals, ja<br />

sogar an höchsten Stellen auf ihn aufmerksam<br />

wurde, läßt vermuten, daß Bosshammer sich<br />

vor einer Strafverfolgung durch die deutschen<br />

Justizbehörden ziemlich sicher fühlte.<br />

124<br />

Als 1963 neue Aktenf<strong>und</strong>e aus dem Potsdamer<br />

Zentralarchiv auftauchten <strong>und</strong> an die<br />

„Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer<br />

Verbrechen“ in Ludwigsburg weitergeleitet<br />

wurden, setzen gegen ihn <strong>und</strong> andere<br />

ehemalige leitende Beamte des Reichsicherheitshauptamtes<br />

Ermittlungen ein, die schließlich<br />

am 11. Januar 1968 zur Verhaftung Boss -<br />

hammers in Wuppertal führten. 69 Mitte Mai<br />

1971 lag die 634 Seiten umfassende Anklageschrift<br />

vor, der Prozeß selbst begann Anfang<br />

Juni. Während dieses Prozesses wurden insgesamt<br />

150 Zeugen vernommen, über 120 NS-<br />

Dokumente als Beweise vorgelegt <strong>und</strong> mehrere<br />

Historiker aus Deutschland <strong>und</strong> Italien als Gutachter<br />

gehört. Nach knapp einjähriger Verhandlungsdauer<br />

sprachen die Richter Boss -<br />

hammer als eines „mit Hitler, Himmler <strong>und</strong><br />

Eichmann gemeinschaftlich handelnden Mittäters<br />

wegen vorsätzlichen Mordes schuldig“<br />

<strong>und</strong> verurteilten ihn zu lebenslänglicher Haft. 70<br />

Die Richter sahen es als zweifelsfrei erwiesen<br />

an, daß sich Bosshammer mit besonderem Eifer<br />

<strong>und</strong> „Radikalität in der Behandlung der Judenfrage“<br />

hervorgetan <strong>und</strong> „sich den der nationalsozialistischen<br />

Weltanschauung innewohnenden<br />

Rassenhaß“ zu eigen gemacht hatte. 71<br />

Während des Verfahrens hatte Bosshammer<br />

zwar eine Mitverantwortung an den Verbrechen<br />

eingeräumt, seine direkte Mitwirkung<br />

daran jedoch hartnäckig geleugnet <strong>und</strong> seine<br />

Unschuld beteuert. Der Versuch seiner Verteidiger,<br />

ihn nicht als aktiven Mittäter, sondern lediglich<br />

als „Tatgehilfen“ zu belangen, schlug<br />

angesichts der erdrückenden Beweislast fehl.<br />

Ein halbes Jahr nach der Urteilsverkündung<br />

verstarb Bosshammer in der Haft an den Folgen<br />

eines Gehirnschlags. Anläßlich seiner Beerdigung<br />

am 21. Dezember 1972 fand in der –<br />

vollbesetzten – Kapelle des Friedhofs Ehren -<br />

hainstraße ein Trauergottesdienst für den Verstorbenen<br />

statt. 72 Da offensichtlich die evangelischen<br />

Pfarrer in Vohwinkel die Durchführung<br />

einer solchen Zeremonie verweigert hatten,<br />

wurde Bosshammers Berliner Anstaltsseelsorger,<br />

der gute Beziehungen zum damaligen Vohwinkler<br />

Gemeindepfarrer unterhielt, damit beauftragt.<br />

73 Der Berliner Seelsorger würdigte in<br />

seiner Trauerrede, deren Text an die anwesen-


den Trauergäste verteilt wurde, Bosshammer<br />

als einen tiefgläubigen, künstlerischen <strong>und</strong><br />

sensiblen Menschen, der in ungerechtfertigter<br />

Weise das Opfer von Staatsanwälten geworden<br />

war, die ihres Alters wegen „das damalige Geschehen<br />

nicht verstehen <strong>und</strong> nachempfinden“<br />

können. Viel war in dieser Rede auch von<br />

Gottes Gnade, göttlichen Gleichnissen <strong>und</strong> den<br />

Bomben auf deutsche Städte zu hören. Wörter<br />

wie Schuld <strong>und</strong> Verantwortung, oder gar eine<br />

Geste des Mitgefühls für die von Bosshammer<br />

in den Tod geschickten Menschen sucht man in<br />

dieser Rede allerdings vergebens. 74<br />

III. Zusammenfassung <strong>und</strong> Perspektiven<br />

für weitere Nachforschungen<br />

Abschließend seien hier noch einmal einige<br />

signifikante Merkmale der in diesem Beitrag<br />

vorgestellten NS-Täter hervorgehoben, denn in<br />

vielerlei Hinsicht sind sie für den Kreis der<br />

ehemaligen nationalsozialistischen Funktionseliten<br />

der mittleren Ebene in SS, SD, Gestapo<br />

<strong>und</strong> im Reichssicherheitshauptamt insgesamt<br />

charakteristisch:<br />

Erstens: Diese Männer entsprechen in keiner<br />

Weise dem populären Klischee des intellektuell<br />

beschränkten, nur auf Befehl <strong>und</strong> Gehorsam<br />

gedrillten „Nazi-Schergen“, dem ein<br />

verbrecherisches Regime die Lizenz zu Terror<br />

<strong>und</strong> Mord erteilt hatte <strong>und</strong> von denen sich<br />

heute zu distanzieren nicht allzu schwer fallen<br />

dürfte.<br />

Zweitens: Diese Männer kamen nicht vom<br />

Rand, sondern aus der Mitte der deutschen Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> waren dort eng in soziale <strong>und</strong> familiäre<br />

Kontexte eingeb<strong>und</strong>en. Sie besaßen in<br />

der Regel eine über dem (deutschen) Durchschnitt<br />

liegende Bildung, hatten studiert, vielfach<br />

sogar promoviert <strong>und</strong> waren keineswegs<br />

von Beginn an auf eine Laufbahn im nationalsozialistischen<br />

Terror- <strong>und</strong> Vernichtungsapparat<br />

abonniert. Gleichwohl nutzten sie bewußt<br />

<strong>und</strong> zielstrebig die mit ihrem Eintritt in die SS<br />

verb<strong>und</strong>enen Karriere- <strong>und</strong> Aufstiegschancen.<br />

Drittens: Ihre verbrecherischen Handlungen<br />

resultieren aus einem Bündel sich ergänzender<br />

Motivzusammenhänge <strong>und</strong> Erklärungs-<br />

muster: Gehorsam <strong>und</strong> Pflichtbewußtsein,<br />

Karrierestreben, Männlichkeitsideale von<br />

Härte gegen sich <strong>und</strong> andere, Abschottung gegen<br />

Humanitätsideale. Dazu gehörte aber auch<br />

eine gefestigte völkisch-nationale <strong>und</strong> antisemitische<br />

Weltanschauung <strong>und</strong> ein Menschenbild,<br />

das auf biologisch-rassistischen<br />

Prinzipien beruhte.<br />

Viertens: Kurt Hans, Hans Schumacher <strong>und</strong><br />

Friedrich Bosshammer gehörten einer Generation<br />

an, deren Einstellungen, Überzeugungen<br />

<strong>und</strong> Verhaltensmuster bereits vor 1933 entscheidend<br />

geprägt wurden. Alle drei waren in<br />

einem protestantischen Milieu herangewachsen.<br />

Die F<strong>und</strong>amente ihres humanen, sozialen<br />

<strong>und</strong> moralischen Wertekanons wurden nicht<br />

erst im „Dritten Reich“ gelegt, sondern waren<br />

bereits bei Machtantritt Hitlers wesentlich vorgebildet.<br />

Fünftens: Nach 1945 sind diese Männer in<br />

der Regel wieder in die Normalität <strong>und</strong> Bürgerlichkeit<br />

zurückgekehrt <strong>und</strong> haben sich – mit<br />

Hilfe großzügiger Integrationsangebote aus<br />

Politik <strong>und</strong> Gesellschaft – überwiegend erfolgreich<br />

in der deutschen Nachkriegsgesellschaft<br />

etabliert. Die meisten, die im Reichssicherheitshauptamt<br />

als sog. „Schreibtischtäter“<br />

wirkten, wurden niemals von einem deutschen<br />

Gericht zur Verantwortung gezogen. 75<br />

Bei der Beantwortung der Frage nach den<br />

Voraussetzungen für die bewußte Komplizenschaft<br />

mit einem verbrecherischen Regime<br />

wird man diese Faktoren mit einbeziehen <strong>und</strong><br />

die Geschichte der Täter gleichsam als „Kollektivbiographie“<br />

einer spezifischen Generation<br />

untersuchen <strong>und</strong> in eine Gesellschaftsgeschichte<br />

Deutschlands nicht nur während der<br />

NS-Zeit, sondern auch <strong>und</strong> vor allem der Jahre<br />

vor 1933 <strong>und</strong> nach 1945 einordnen müssen. Einen<br />

solchen Ansatz vertreten vor allem die Historiker<br />

Michael Wildt <strong>und</strong> Ulrich Herbert im<br />

Rahmen ihrer Untersuchungen über das<br />

Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes<br />

<strong>und</strong> von Sicherheitspolizei <strong>und</strong> SD, das<br />

die eigentliche Kerngruppe der nationalsozialistischen<br />

Vernichtungspolitik bildete. 76<br />

Abschließend: Wünschenswert wäre es, im<br />

Rahmen lokaler <strong>und</strong> regionaler Untersuchungen<br />

zum Nationalsozialismus neben den Tätern<br />

125


verstärkt auch jene Institutionen in den Blick<br />

zu nehmen, die hier vor Ort an Entrechtung<br />

<strong>und</strong> Verfolgung von Juden, politischen Gegnern,<br />

Sinti <strong>und</strong> Roma <strong>und</strong> anderen „unerwünschten“<br />

Personen, an Terror, an Deportations-<br />

<strong>und</strong> Vernichtungsmaßnahmen mitgewirkt<br />

<strong>und</strong> von der Beraubung der Juden oder der<br />

Ausbeutung von Zwangsarbeitern profitiert haben.<br />

Zu diesen Institutionen zählen etwa die Finanz-<br />

<strong>und</strong> Arbeitsämter, Behörden der Stadtverwaltung,<br />

Justizeinrichtungen, zahlreiche<br />

Firmen, die Industrie- <strong>und</strong> Handelskammer,<br />

die Reichsbahn <strong>und</strong> die lokalen <strong>und</strong> regionalen<br />

Dienststellen von Polizei <strong>und</strong> Gestapo. Über<br />

die Tätigkeit dieser Institutionen <strong>und</strong> ihres Personals<br />

hier in Wuppertal wissen wir kaum etwas.<br />

Der 70. Geburtstag der Stadt Wuppertal<br />

wäre ein guter Anlaß, auch solche bisher vernachlässigten<br />

Themen mit auf die Agenda der<br />

Stadtgeschichte zu setzen.<br />

Anmerkungen<br />

1 Geringfügig veränderte Version eines Vortrags<br />

auf der Jahreshauptversammlung des Bergischen<br />

Geschichtsvereins, Abt. Wuppertal am<br />

4.3.1999.<br />

2 Michael Okroy: Paul Blobel – Architekt, Familienvater,<br />

Massenmörder. Eine regionale Täterskizze.<br />

In: Hier wohnte Frau Antonie Giese. Die<br />

Geschichte der Juden im Bergischen Land. Essays<br />

<strong>und</strong> Dokumente. Hrsg. vom Trägerverein<br />

der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal<br />

e.V., Wuppertal 1997 (2. Aufl.), S. 92–98.<br />

3 Ebd., S. 40–44: ,Durch die Enge geführt‘. Zur<br />

Entstehung <strong>und</strong> Konzeption des „Nebenthemas“.<br />

4 So etwa der als zeitweiliger Kommandant eines<br />

Arbeitslagers in Polen tätige Artur Gosberg aus<br />

Beyenburg, der u.a. in den Gaskammern des<br />

Vernichtungslagers Belzec eingesetzte SS-<br />

Scharführer Werner Dubois aus Langerfeld oder<br />

die beiden maßgeblich an der Judenmordaktion<br />

in Bialystok vom 27. Juni 1941 beteiligten Wuppertaler<br />

Polizeioffiziere Heinrich Schneider <strong>und</strong><br />

Rolf-Joachim Buchs.<br />

5 Vgl. Michael Okroy: Exzeßtäter, Fanatiker, Karrieristen.<br />

Prozesse wegen nationalsozialistischer<br />

Gewaltverbrechen vor Wuppertaler Gerichten.<br />

126<br />

In: Romerike Berge, Jg. 47, H. 3 (1997),<br />

S. 24–32.<br />

6 Zitiert nach: Norbert Frei: Vergangenheitspolitik<br />

in den fünfziger Jahren. In: Wilfried Loth, Bernd<br />

A. Rusinek (Hg.): Verwandlungspolitik. NS-Eliten<br />

in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft.<br />

Frankfurt/New York 1998, S. 79–93.<br />

7 Vgl. Cornelia Rauh-Kühne: Die Entnazifizierung<br />

<strong>und</strong> die deutsche Gesellschaft. In: Archiv<br />

für Zeitgeschichte 35 (1995), S. 35–70; Clemens<br />

Vollnhals: Evangelische Kirche <strong>und</strong> Entnazifizierung<br />

1945–1949. Die Last der nationalsozialistischen<br />

Vergangenheit. München 1989 sowie<br />

ders. (Hg.): Entnazifizierung. Politische Säuberung<br />

<strong>und</strong> Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen<br />

1945–1949. Münschen 1991.<br />

8 Ulrich Herbert: NS-Eliten in der B<strong>und</strong>esrepublik.<br />

In: W. Loth, B.A. Rusinek (Hg.): Verwandlungspolitik,<br />

a.a.O., S. 93–115, hier: S. 102.<br />

9 Office of Intelligence Research. Report Nr.<br />

4626, 15.4.1948: „Der gegenwärtige Stand der<br />

Entnazifizierung in Westdeutschland <strong>und</strong> Berlin“.<br />

Abgedr. in: Alfons Söllner (Hg.): Zur Archäologie<br />

der Demokratie in Deutschland. Bd.<br />

2. Frankfurt/M. 1986, S. 217–249.<br />

10 Siehe dazu detailliert Norbert Frei: Vergangenheitspolitik.<br />

Die Anfänge der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

<strong>und</strong> die NS-Vergangenheit. München 1996.<br />

11 HStAD (Nebenstelle Kalkum) Bestand Rep.<br />

247/1–67: Verfahrensakten des Bialystok-Prozesses<br />

vor dem LG Wuppertal.<br />

12 Joachim Perels: Vom Sturm auf die Stasi-Zentrale<br />

<strong>und</strong> der Kartei der Gestapo. In: Frankfurter<br />

R<strong>und</strong>schau, 23.4.1992, S. 17.<br />

13 Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien<br />

über Radikalismus, Weltanschauung <strong>und</strong> Vernunft<br />

1903–1989. Bonn (3. Aufl.) 1996.<br />

14 Siehe dazu detailliert N. Frei (1996), a.a.O.<br />

15 Rheinische Post, 2.2.1951.<br />

16 Siehe dazu Ernst Klee: Persilschein <strong>und</strong> falsche<br />

Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen. Frankfurt/M.<br />

(3., überarb. Aufl.) 1992.<br />

17 Thorsten Schmitz: Blutbande. In: Süddeutsche<br />

Zeitung Magazin Nr. 46, 13.11.1998.<br />

18 „Friede auch den Menschen bösen Willens“. Interview<br />

mit Prof. Dr. Hermann Schlingensiepen<br />

anläßlich seines 70. Geburtstages. In: Westdeutsche<br />

R<strong>und</strong>schau (Stadt Wuppertal) Nr. 186,<br />

13.8.1966. Unter dem Titel: „Adolf Eichmann<br />

<strong>und</strong> wir“ publizierte Schlingensiepen in der<br />

Zeitschrift „Politisch-Soziale Korrespondenz“<br />

(Bonn) am 1.2.1962 seine Reflexionen über den<br />

Eichmann-Prozeß.


19 „Friede sei den Menschen, die bösen Willens<br />

sind“. Sonntagsblatt, (ca.) 25.5.1965.<br />

20 Abgedruckt in Reinhard Henkys: Die nationalsozialistischen<br />

Gewaltverbrechen. Geschichte<br />

<strong>und</strong> Gericht. Stuttgart/Berlin 1964, S. 339–342.<br />

Um 1960 hatte Professor Schlingensiepen dar -<br />

über hinaus einen umfangreichen <strong>und</strong> über mehrere<br />

Jahre andauernden Briefwechsel mit der in<br />

NS-Strafsachen engagierten Staatsanwältin Dr.<br />

Barbara Just-Dahlmann geführt. Diesen kommentierte<br />

die Staatsanwältin in ihrem 1988 erschienenen<br />

Buch „Die Gehilfen. NS-Verbrechen<br />

<strong>und</strong> die Justiz nach 1945“ wie folgt: Ferner hatten<br />

wir einen sehr umfangreichen Briefwechsel<br />

[…] mit Professor D.H. Schlingensiepen in<br />

Wuppertal/Barmen, der in zahlreichen, intensiven<br />

<strong>und</strong> unendlich langen Schreiben glaubte,<br />

uns – schon zu diesem Zeitpunkt – an „Gnade“<br />

<strong>und</strong> „Vergebung“ erinnern zu müssen. Wir hingegen<br />

fanden, daß erst einmal „Recht“ zu sprechen<br />

sei. Es war eine anstrengende Korrespondenz…<br />

(S. 110).<br />

21 Ulrich Herbert: NS-Eliten in der B<strong>und</strong>esrepublik,<br />

a.a.O., S. 109.<br />

22 C. F. Rüter u.a. (Hg.): Justiz <strong>und</strong> NS-Verbrechen.<br />

Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer<br />

Tötungsverbrechen 1945–<br />

1966. Amsterdam 1968ff. In Bearbeitung inzwischen<br />

auch die ab 1966 bis 1999 gefällten westdeutschen<br />

Strafurteile. In Vorbereitung befindet<br />

sich ferner die Publikation „DDR-Justiz <strong>und</strong><br />

NS-Verbrechen“ mit Strafurteilen von 1945 bis<br />

1990.<br />

Für eine Übersicht <strong>und</strong> Vorrecherche sehr zu<br />

empfehlen: C. F. Rüter/D. W. de Mildt: Die westdeutschen<br />

Strafverfahren wegen nationalsozialistischer<br />

Tötungsverbrechen 1945–1997. Eine<br />

systematische Verfahrensbeschreibung mit Karten<br />

<strong>und</strong> Registern. Amsterdam/München 1998.<br />

23 Peter Klein (Hg.): Die Einsatzgruppen in der besetzten<br />

Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits<strong>und</strong><br />

Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei<br />

<strong>und</strong> des SD. Berlin 1997.<br />

24 Näheres dazu bei Stephan Stracke: Mit rabenschwarzer<br />

Zuversicht. Kommunistische Jugendliche<br />

in Wuppertal 1916–1936. Milieu <strong>und</strong> Widerstand.<br />

Bocholt/Bredevoort 1998, hier: S. 54f.<br />

25 Wichtige biographische Informationen, die für<br />

die eigenen Recherchen noch einmal verifiziert<br />

<strong>und</strong> ergänzt wurden, enthält der Aufsatz von Peter<br />

Fasel: „Von Babij Jar nach Würzburg. Die<br />

blutige Karriere des Kurt Hans.“ In: Mainfränkisches<br />

Jahrbuch für Geschichte <strong>und</strong> Kunst. Band<br />

47 (1995), S. 27–46. Der Beitrag dokumentiert<br />

darüber hinaus zentrale Passagen aus der umfangreichen<br />

Anklage- <strong>und</strong> Urteilsschrift gegen<br />

Hans <strong>und</strong> andere Männer des Blobel-Kommandos.<br />

26 Siehe Adressbuch der Stadt Wuppertal von<br />

1940/41 s.v. „Preußische Staatsbehörden <strong>und</strong><br />

Organisationen behördlichen Charakters“.<br />

27 Ein aufschlußreiches Indiz für das enge personelle<br />

Geflecht von staatlicher Polizei <strong>und</strong> Gestapo<br />

<strong>und</strong> SD vor Ort liefern zwei im NRW-<br />

Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStAD) lagernde<br />

Dokumente. Das eine enthält eine Aufforderung<br />

des Wuppertaler Polizeipräsidenten<br />

vom 6. Juli 1938, ein Verzeichnis der seiner Aufsicht<br />

unterstellten jüdischen Vereine <strong>und</strong> Organisationen<br />

anzufertigen. Das zweite Dokument<br />

führt – möglicherweise als Beitrag zu der vom<br />

SD-Hauptamt reichsweit geplanten sog. „Judenkartei“<br />

– eine Liste mit jüdischen Vereinen <strong>und</strong><br />

Organisationen aus Wuppertal, Remscheid <strong>und</strong><br />

Solingen auf <strong>und</strong> wurde am 8. Juli 1938 von der<br />

Gestapo-Außenstelle Wuppertal an die Staatspolizeistelle<br />

Düsseldorf gesandt. HStAD RW<br />

18–36 Bl. 2–4. Detailliert bei Michael Wildt<br />

(Hg.): Die Judenpolitik des SD. Eine Dokumentation.<br />

(Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für<br />

Zeitgeschichte Bd. 71.) München 1995.<br />

28 Vgl. dazu meinen Beitrag über Paul Blobel in<br />

Romerike Berge Jg. 46, H. 3 (1996), S. 20–27.<br />

29 Einzelheiten dazu sowie Auszüge aus Vernehmungsprotokollen<br />

<strong>und</strong> Zeugenaussagen im allierten<br />

Strafverfahren gegen Hans siehe Peter<br />

Fasel: Von Babij Jar nach Würzburg, a.a.O.<br />

30 Über den Prozeßbeginn berichtete u.a. auch die<br />

NRZ am 3.10.1967 in ihren „Wuppertaler Stadtnachrichten“:<br />

„Massenmordprozeß in Darmstadt:<br />

Auch ein Wuppertaler steht vor Gericht.“<br />

31 Eine vom B<strong>und</strong>esjustizministerium Ende 1993<br />

veröffentlichte Statistik belegt dies anhand einiger<br />

aufschlußreicher Zahlen. Zwischen 1948 bis<br />

Ende 1993 wurden gegen insgesamt 105.688<br />

Personen Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen<br />

eingeleitet. Rechtskräftig verurteilt<br />

wurden 6494 Angeklagte. Nur in 178 Fällen erhielten<br />

NS-Verbrecher die Höchststrafe – bis<br />

1949 zwölfmal die Todesstrafe <strong>und</strong> 166mal lebenslänglich.<br />

Der überwiegende Teil der übrigen<br />

Verurteilten kam mit Haftstrafen von unter<br />

10 Jahren davon.<br />

32 Dazu detailliert Birgit Nehmer: Die Täter als<br />

Gehilfen? Zur Ahndung von Einsatzgruppenverbrechen.<br />

In: Redaktion Kritische Justiz (Hg.):<br />

127


Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-<br />

Staats. Baden-Baden 1998, S. 635–669.<br />

33 Die Angaben zu Laufbahn <strong>und</strong> Karriere Schumachers<br />

bei Polizei-, SS <strong>und</strong> Reichssicherheitshauptamt<br />

(RSHA) sind seiner im B<strong>und</strong>esarchiv<br />

Berlin aufbewahrten SS-Offiziersakte (SSO-<br />

Schumacher) entnommen. Wichtige Hinweise<br />

auf Schumachers Nachkriegskarriere bei Heiner<br />

Lichtenstein: „Freiwillig verzichtet. Ein Polizist<br />

zeigt Reue.“ In: Ders.: Himmlers grüne Helfer.<br />

Die Schutz- <strong>und</strong> Ordnungspolizei im „Dritten<br />

Reich“. Köln 1990, S. 132–143.<br />

34 Das Strafurteil ist abgedruckt in C.F.Rüter u.a.<br />

(Hg.): Justiz <strong>und</strong> NS-Verbrechen, Bd. 18, a.a.O.<br />

S. 65–132.<br />

35 Dazu die umfangreiche Studie von Jens Banach:<br />

Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei<br />

<strong>und</strong> des SD 1936–1945. Paderborn<br />

1998.<br />

36 C. F. Rüter u.a. (Hg.): Justiz <strong>und</strong> NS-Verbrechen,<br />

a.a.O., S. 112f.<br />

37 Siehe dazu H. Lichtenstein: Himmlers grüne<br />

Helfer, a.a.O. S. 133, ferner Gerhard Paul:<br />

„Zwischen Selbstmord, Illegalität <strong>und</strong> neuer<br />

Karriere. Ehemalige Gestapo-Bedienstete im<br />

Nachkriegsdeutschland.“ In: G. Paul/Michael<br />

Mall mann (Hg.): Die Gestapo. Mythos <strong>und</strong> Realität.<br />

Darmstadt 1995, S. 529–551.<br />

38 B<strong>und</strong>esarchiv Berlin (BAB), Aktenbestände des<br />

Rasse- <strong>und</strong> Siedlungshauptamtes: SS-Ahnentafel<br />

Bosshammer. Bei SS-Angehörigen mußte die<br />

„arische“ Abstammung bis 1800, bei SS-Führern<br />

„möglichst“ bis 1750 nachgewiesen werden.<br />

39 In Bosshammers Lebenslauf vom 4.6.1948, den<br />

er im Rahmen seines Entnazifizierungsberufungsverfahren<br />

anfertigen mußte, ist von dieser<br />

Parteiaktivität selbstverständlich nicht die Rede<br />

(siehe: HStAD NW–1037-B I–8877) Eine den<br />

wirklichen Tatsachen näher kommende Version<br />

enthält ein handschriftlicher Lebenslauf vom<br />

März 1940, der sich in seiner SS-Personalakte<br />

befindet (siehe: BAB/SSO-Bosshammer).<br />

40 Zum Sozial- <strong>und</strong> Tätigkeitsprofil der den mittleren<br />

<strong>und</strong> leitenden Dienst des SD bildenden Referenten<br />

siehe Jens Banach: Heydrichs Elite,<br />

a.a.O., S. 300f.<br />

41 Ebd. S. 301.<br />

42 Als erster der vom Deutschen Reich abhängigen<br />

Satellitenstaaten hatte sich die von dem katholischen<br />

Priester Josef Tiso regierte Slowakei im<br />

September 1941 eine den „Nürnberger Gesetzen“<br />

entsprechende antijüdische Gesetzgebung<br />

zu eigen gemacht <strong>und</strong> sich bereitwillig mit der<br />

128<br />

Deportation ihrer Juden, die im März 1942 begann,<br />

einverstanden erklärt.<br />

43 ZStL AR 1310/63 E 5, Bd. V, S. 779ff. (Verfahren<br />

des Kammergerichts Berlin – 1 Js 1/65 <strong>und</strong> 1<br />

Ks 1/71 – gegen Friedrich Bosshammer u.a.)<br />

44 Claudia Steur: Theodor Dannecker. Ein Funktionär<br />

der „Endlösung“. Essen 1997, S. 98.<br />

45 Zitiert nach dem von Bosshammer verfaßten<br />

<strong>und</strong> unterzeichneten Protokoll des Gesprächs<br />

mit Legationsrat von Thadden am 14.5.1943.<br />

ZStL 415 AR 1310/63 E 5, Bd. V, S. 774–776.<br />

46 Einen ersten informativen Überblick über den<br />

Komplex „Judendeportationen aus Italien“ bietet<br />

der ,italienische‘ Beitrag von Liliana Picciotto<br />

Fargion in dem von Wolfgang Benz herausgegebenen<br />

Sammelband: Dimension des Völkermords.<br />

Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus.<br />

München 1996, S. 199–229.<br />

47 Dem Vorschlag zur Beförderung zum Sturmbannführer<br />

(24.6.1943) ist eine von Bosshammers<br />

unmittelbarem Vorgesetzten Adolf Eichmann<br />

verfaßte <strong>und</strong> unterzeichnete Beurteilung<br />

beigefügt. (BAB/SSO-Bosshammer)<br />

48 ZStL AR 1310/63 E 5, Bd. V, S. 795f.<br />

49 Ebd. S. 804ff.<br />

50 Wolfgang Benz: Dimension, a.a.O. S. 206.<br />

51 ZStL AR 1310/63 E 5, Bd. V., S. 1095.<br />

52 Bosshammers Rückkehr ins Bergische läßt sich<br />

fast lückenlos anhand seiner Spruchkammerverfahrensakte<br />

rekonstruieren. B<strong>und</strong>esarchiv Koblenz<br />

(BAK), Bestände Spruchgerichte in der<br />

Britischen Zone, Z 42 VI/1098: Verfahrensakten<br />

des Spruchgerichts Recklinghausen zu Fritz<br />

Bosshammer.<br />

53 BAK, Z 42 VI/1098, Bl. 57.<br />

54 Ebd. Bl. 35. Dazu auch detailliert: Anselm<br />

Faust: Entnazifizierung in Wuppertal: Eine Fallstudie.<br />

In: Stephan Lennartz (Red.): Deutsche<br />

Nachkriegswelten. (Bensberger Protokolle 76).<br />

Bergisch-Gladbach 1992, S. 41–58.<br />

55 Vernehmungsprotokoll des „Zivilinternierten“<br />

Friedrich Bosshammer vom 18.6.1947. BAK, Z<br />

42 VI/1098, Bl. 2f.<br />

56 Ebd. Bl. 3.<br />

57 Ebd. Bl. 16.<br />

58 Ebd. Bl. 19f.<br />

59 Ebd. Bl. 18.<br />

60 Ebd. Bl. 17.<br />

61 Ebd. Bl. 66ff., hier: Bl. 67f.: Schriftlicher Urteilstext<br />

der 8. Spruchkammer des Spruchgerichts<br />

Recklinghausen. Das mündliche Urteil<br />

war bereits am 18.3.1948 ergangen.<br />

62 HStAD NW–1037 B I 8877 (Akten des Sonder-


eauftragten für die Entnazifizierung im Lande<br />

Nordrhein-Westfalen).<br />

63 Zu den Auswirkungen in NRW siehe: Wolfgang<br />

Krüger: Entnazifiziert! Zur Praxis der politischen<br />

Säuberung in Nordrhein-Westfalen. Wuppertal<br />

1982 <strong>und</strong> Irmgard Lange: Entnazifizierung<br />

in Nordrhein-Westfalen. Richtlinien, Anweisungen,<br />

Organisation. Siegburg 1976.<br />

64 BAK Z 42 VI/1098, Bl. 76.<br />

65 Zitiert nach einem schriftlich fixierten Gesprächsprotokoll<br />

mit einer früheren Kanzleiangestellten<br />

Bosshammers vom Frühjahr 1999.<br />

66 Welche Rolle in diesem Zusammenhang der von<br />

mehreren Zeitzeugen immer wieder genannte<br />

„Fre<strong>und</strong>eskreis Boltenberg“, ein Zusammenschluß<br />

vermögender <strong>und</strong> einflußreicher Bürger,<br />

spielte, bedarf noch weiterer Recherchen. Genauere<br />

Auskünfte darüber gibt vermutlich der<br />

bei der Friedrich-Ebert-Stiftung deponierte<br />

Nachlaß des verstorbenen früheren Wuppertaler<br />

SPD-B<strong>und</strong>estagsabgeordneten Adolf Scheu aus<br />

Vohwinkel. Angeblich existiert auch ein – bislang<br />

noch nicht aufgef<strong>und</strong>ener – Nachruf dieses<br />

„Fre<strong>und</strong>eskreises“ auf den im Dezember 1972<br />

verstorbenen Bosshammer.<br />

67 Zu den bislang noch offenen Fragen gehört, wer<br />

in seinem persönlichen <strong>und</strong> beruflichen Umkreis<br />

zu welchem Zeitpunkt genauer über Boss -<br />

hammers Vergangenheit informiert gewesen ist,<br />

darüber wissentlich geschwiegen hat <strong>und</strong> damit<br />

unbewußt oder mit Vorsatz an seiner erfolgreichen<br />

Tarnung beteiligt war. Zwangsläufig stellt<br />

sich damit auch die Frage, ob <strong>und</strong> wenn ja, in<br />

welchem Maß Bosshammers damaliges Umfeld<br />

selbst durch frühere Ämter <strong>und</strong> Funktionen im<br />

NS-Staat belastet war.<br />

68 Antrag der Arbeitsgemeinschaft der Bürgervereine<br />

Wuppertal-Vohwinkel vom 30. Dezember<br />

1960 an den Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen.<br />

Volker Hingkeldey danke ich für<br />

den Hinweis auf die Existenz dieses Dokuments.<br />

❊ ❊<br />

❊<br />

69 Über die Verhaftung Bosshammers <strong>und</strong> eines<br />

weiteren hochrangigen Mitarbeiters Eichmanns,<br />

Rechtsanwalt Otto Hunsche aus Datteln, berichteten<br />

das ZDF-<strong>Nachrichten</strong>magazin „Heute“ ín<br />

seinen Abendnachrichten vom 11.1.1968 sowie<br />

die lokalen <strong>und</strong> überregionalen Tageszeitungen.<br />

70 General-Anzeiger Wuppertal, 12.4.1972.<br />

71 ZStL 415 AR 1310/63, a.a.O. (Band- <strong>und</strong> Seitenangaben<br />

unleserlich).<br />

72 Laut Auskunft von zwei seinerzeit anwesenden<br />

Trauergästen. Eine Zeitzeugin erinnerte sich<br />

daran, „in einem Kreis vornehmer <strong>und</strong> erlauchter<br />

Gäste“ gewesen zu sein.<br />

73 Laut Auskunft einer der Angehörigen des Verstorbenen<br />

hatten die Vohwinkler Pfarrer die<br />

Trauerzeremonie wohl deshalb abgelehnt, weil<br />

Bosshammer nach 1945 – im Unterschied zu<br />

den meisten NS-Tätern – nicht wieder in die<br />

Kirche eingetreten war.<br />

74 Dieses aufschlußreiche, gleichwohl deprimierende<br />

Dokument wurde mir fre<strong>und</strong>licherweise<br />

von einer Vohwinkler Bürgerin, die an der Trauerfeier<br />

teilgenommen hatte, zur Verfügung gestellt.<br />

75 Durch ein vermutliches Versehen – oder durch<br />

einen unbemerkt gebliebenen Verfahrenstrick –<br />

bei der Neuregelung der sog. „Beihilfe“-Verjährung<br />

von 1968 kam es nicht zu den kurz vor<br />

der Anklageerhebung stehenden Verfahren gegen<br />

die Hauptverantwortlichen für die nationalsozialistischen<br />

Massenverbrechen in Sicherheitspolizei<br />

<strong>und</strong> RSHA.<br />

76 Ulrich Herbert: Best, a.a.O.(bes. 1. Teil); Mi -<br />

chael Wildt (Hg.): Die Judenpolitik des SD 1935<br />

bis 1938, a.a.O. In Vorbereitung ist derzeit eine<br />

von M. Wildt berarbeitete umfangreiche Studie<br />

über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes;<br />

ferner: Jens Banach: Heydrichs<br />

Elite, a.a.O., sowie Gerhard Paul: „Ganz normale<br />

Akademiker. Eine Fallstudie zur staatspolizeilichen<br />

Funktionselite.“ In: G. Paul/M. Mall-<br />

129


Gudrun <strong>und</strong> Uwe Eckardt<br />

Der Anne-Frank-Hof<br />

130<br />

Für Marianne zum 31. Juli 1999<br />

In unmittelbarer Nachbarschaft zum „Problemviertel“<br />

Klingholzberg, 1 das sich aus einem<br />

Ende des vorigen Jahrh<strong>und</strong>erts eingerichteten<br />

Obdachlosenasyl entwickelt hatte, entstand<br />

1959/61 auf der Hilgershöhe das Europadorf<br />

„Anne-Frank-Hof“, eine Siedlung für<br />

„heimatlose Ausländer“. 2 Initiator der Europadorf-Bewegung<br />

war der belgische Dominikaner<br />

Dominique Georges Pire (1910–1969), bekannt<br />

als Pater Pire. Der Geistliche, der an der<br />

Ordensschule in La Huy Moraltheologie lehrte,<br />

engagierte sich Mitte der 50er Jahre führend in<br />

zahlreichen Projekten, die der Förderung der<br />

Völkerverständigung <strong>und</strong> des Friedensgedankens<br />

dienten. Dazu gehörten u. a. die „Hilfe für<br />

heimatlose Ausländer“, der Verband „Die Welt<br />

des offenen Herzens“, die „Friedensuniversität“<br />

Huy sowie soziale Einrichtungen für Alte<br />

<strong>und</strong> Bedürftige. 1958 wurde ihm für sein soziales<br />

<strong>und</strong> völkerverbindendes Engagement der<br />

Friedensnobelpreis verliehen. 3<br />

Bei den „Europadörfern“ handelte es sich<br />

um Siedlungen, die für politische Flüchtlinge<br />

<strong>und</strong> Vertriebene vor allem aus den Ostblockstaaten<br />

gedacht waren. Ihre Gründer verbanden<br />

gemeinsame Erfahrungen als ehemalige Widerstandskämpfer<br />

<strong>und</strong> Verfolgte des Nationalsozialismus.<br />

Die ersten „Europadörfer“, die<br />

ausschließlich aus Spenden finanziert wurden,<br />

waren in Brüssel, Aachen, Augsburg, Euskirchen<br />

<strong>und</strong> Spiesen/Saarland errichtet worden.<br />

Als mögliche Standorte für die 6. Siedlung kamen<br />

Köln, Düsseldorf <strong>und</strong> Wuppertal in die engere<br />

Wahl. Dank des Einsatzes des damaligen<br />

SPD-Stadtverordneten <strong>und</strong> Landesvorsitzenden<br />

des B<strong>und</strong>es der Verfolgten des Naziregimes<br />

Karl Ibach (1915–1990) <strong>und</strong> der Unterstützung,<br />

die er hierbei durch den Oberbürgermeister<br />

Hermann Herberts <strong>und</strong> den Oberstadtdirektor<br />

Werner Stelly erfuhr, erhielt Wuppertal<br />

den Zuschlag.<br />

Pater Pire mit dem ersten im Europadorf Aachen<br />

geborenen Kind (Aus: P. Dominique<br />

Pire: Erinnerungen <strong>und</strong> Gespräche, 1960)<br />

Am 31. Mai 1959 fand auf einem brachen<br />

Baugelände an der Caronstraße, das die Stadt<br />

kostenlos zur Verfügung gestellt hatte, die<br />

feier liche Gr<strong>und</strong>steinlegung statt. Der Platz<br />

war mit den Fahnen westeuropäischer Länder,<br />

Wuppertals <strong>und</strong> Israels geschmückt. Nach<br />

Zeitzeugenberichten sah Wuppertal niemals<br />

zuvor so viel Prominenz wie an diesem Sonntagnachmittag.<br />

Einige Zeitungen bezeichneten<br />

den Festakt sogar als Ereignis von europäischer<br />

Bedeutung. Als Ehrengast empfing Pater<br />

Pire Otto Frank, den Vater Anne Franks, der<br />

bisher alle Einladungen zu Feiern zu Ehren seiner<br />

1945 im KZ Bergen-Belsen ermordeten<br />

<strong>und</strong> durch ihr Tagebuch bekannt gewordenen<br />

Tochter abgelehnt hatte. 4


Feier zur Gr<strong>und</strong>steinlegung; in der Mitte von links: Otto Frank, Pater Pire <strong>und</strong> Bischof Otto Dibelius<br />

(Stadtarchiv Wuppertal)<br />

Ferner begrüßte der Friedensnobelpreisträger<br />

den Ratsvorsitzenden der Evangelischen<br />

Kirche Deutschlands, Bischof Friedrich Karl<br />

Otto Dibelius, den belgischen Premierminister<br />

a. D. Paul van Zeeland, Diplomaten der ausländischen<br />

Vertretungen in Bonn, an ihrer Spitze<br />

den belgischen Botschafter van Gruben <strong>und</strong><br />

den französischen Botschafter Seydoux, den<br />

Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes Dr.<br />

Weitz, den nordrhein-westfälischen Wiederaufbauminister<br />

Erkers, hohe englische <strong>und</strong> belgische<br />

Offiziere der in der B<strong>und</strong>esrepublik stationierten<br />

Truppen, den Leiter der israelischen<br />

Mission in Köln, Botschafter Shinnay, <strong>und</strong> die<br />

Spitzen der Stadt Wuppertal, um nur einige der<br />

anwesenden Prominenten zu nennen. Insgesamt<br />

waren r<strong>und</strong> 5 000 Menschen versammelt,<br />

die der Feierlichkeit, über die die nationale <strong>und</strong><br />

internationale Presse ausführlich berichtete,<br />

beiwohnten.<br />

In seiner Begrüßungsansprache erinnerte<br />

Oberbürgermeister Hermann Herberts an die<br />

„erste organisierte Wohlfahrtsverwaltung“, die<br />

sich unter dem Namen „Elberfelder System“<br />

vor über 100 Jahren in der ganzen Welt einen<br />

Namen gemacht hatte. Wörtlich sagte er: „Wir<br />

sind der Tradition der Wuppertaler Hilfsgemeinschaft<br />

gefolgt, als es hieß, hier ein Europadorf<br />

zu bauen!“<br />

Es folgte die Rede des ehemaligen belgischen<br />

Premierministers Paul van Zeeland, die<br />

er in deutscher <strong>und</strong> französischer Sprache hielt.<br />

Er meinte, man müsse sich schämen, daß, obwohl<br />

der materielle Wohlstand seit dem Zweiten<br />

Weltkrieg wieder erheblich gestiegen sei,<br />

der Leidensweg der Flüchtlinge weiter andauere.<br />

Anne Frank wertete der europäische<br />

Staatsmann als Symbol. In ihrem Sinne halte er<br />

es für erforderlich, „einen Angriff zu führen<br />

gegen jedes Unrecht, das bis an die Grenzen<br />

der Erde besteht. Und endlich gilt es, daß ohne<br />

Aufschub die Menschen unserer Zeit dem<br />

Drama der Flüchtlinge ein Ende setzen, vollständig<br />

<strong>und</strong> endgültig. Erst dann erhalten die<br />

131


Worte Anne Franks Sinn <strong>und</strong> Bestätigung,<br />

nämlich ihr letzter Wunsch, daß die Welt von<br />

neuem Ordnung, Ruhe <strong>und</strong> Frieden kenne.“<br />

Zum Abschluß sprach Pater Pire. Er benutzte<br />

ebenfalls das Bild Anne Franks <strong>und</strong> erinnerte<br />

an die Tagebucheintragung des jungen<br />

Mädchens: „Ich glaube an die angeborene<br />

menschliche Güte“. In diesem Zusammenhang<br />

führte er aus: „Verständigt euch, damit nie wieder<br />

kleine Mädchen ermordet werden, baut<br />

eine brüderliche Welt auf, in der nicht Furcht,<br />

sondern vertrauensvolle Zusammenarbeit die<br />

Lebensbasis darstellt. Kämpfer von gestern,<br />

von beiden Seiten der Fronten, Alliierte <strong>und</strong><br />

Feinde, ihr seid gekommen, um heute gemeinsam<br />

eine symbolische Handlung auszuführen.<br />

Diese Handlung hätte keinen Sinn, wenn sie<br />

ohne Fortsetzung bliebe.“ Der Geistliche richtete<br />

auch einige Worte an Otto Frank, den einzigen<br />

Überlebenden der jüdischen Familie. Er<br />

bezeichnete dessen Anwesenheit als Beispiel<br />

des Vergebens dessen, der am Tode Annes am<br />

meisten gelitten hatte, <strong>und</strong> als redliche Fortsetzung<br />

ihres Lebens.<br />

Anschließend verlasen Studenten der Genter<br />

Hochschule die Urk<strong>und</strong>e für die Gr<strong>und</strong>steinlegung<br />

in Französisch, Holländisch,<br />

Deutsch, Italienisch, Englisch <strong>und</strong> Norwegisch:<br />

„Heute, Sonntag, dem 31. Mai 1959 in<br />

Wuppertal, erhebt sich aus der Erde ein neues<br />

Europadorf unter dem Namen Anne Franks. Es<br />

wurde durch die Hilfe für heimatlose Ausländer<br />

mit Hilfe von Fre<strong>und</strong>en aus ganz Europa<br />

erbaut, um entwurzelten Brüdern wieder ein<br />

Heim, Arbeit <strong>und</strong> Freude zu geben.“<br />

Nach dem Abspielen von Ludwig van Beet -<br />

hovens „Hymne an die Freude“ durch den Uellendahler<br />

Musikverein nahmen Pater Pire, Paul<br />

van Zeeland <strong>und</strong> Otto Frank, umsurrt von den<br />

Kameras des Fernsehens <strong>und</strong> der Wochenschauen<br />

sowie umdrängt von den Reportern<br />

deutscher <strong>und</strong> ausländischer Zeitungen, die<br />

Gr<strong>und</strong>steinlegung vor. Otto Frank hatte in einem<br />

Kästchen eine Handvoll Erde aus dem Konzentrationslager<br />

Bergen-Belsen, in dem seine Tochter<br />

ermordet worden war, mitgebracht, die mit in<br />

den Gr<strong>und</strong>stein eingemauert wurde.<br />

Nach dem Wirbel, den es bei der Gr<strong>und</strong>steinlegung<br />

um die anwesende Prominenz in<br />

132<br />

der Presse gegeben hatte, wurde es still um das<br />

Dorf. Der Baubeginn hatte sich verzögert, weil<br />

der Pächter eines der vorgesehenen Gr<strong>und</strong>stücke<br />

an der Caronstraße eine überhöhte Entschädigung<br />

verlangt hatte. Das Problem umging<br />

die Stadt dadurch, daß sie das von ihr zur<br />

Verfügung gestellte Gr<strong>und</strong>stück durch ein anderes<br />

angrenzendes auf der Hilgershöhe ersetzte.<br />

Der Gr<strong>und</strong>stein war während dieser Zeit<br />

ausgebaut <strong>und</strong> vorübergehend in das Stadtarchiv<br />

gebracht worden.<br />

Mit dem Bau der Häuser, für die der Aachener<br />

Architekt Lambert Ohligschläger die Pläne<br />

entworfen hatte, konnte deshalb bald begonnen<br />

werden, weil der Aufruf zur Gründung dieses<br />

6. Europadorfs eine Welle der Hilfsbereitschaft<br />

in ganz Europa ausgelöst hatte. Pater Pire, der<br />

es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat,<br />

„Brücken von Mensch zu Mensch zu bauen“,<br />

stiftete DM 80.000,–, die Hälfte seines Friedensnobelpreises,<br />

<strong>und</strong> stand damit an der<br />

Spitze der Spender. Weitere Geldsummen gaben<br />

das norwegische Flüchtlingskomitee, die<br />

französischen <strong>und</strong> belgischen Vereinigungen<br />

ehemaliger Widerstandskämpfer, eine Osloer<br />

Zeitung <strong>und</strong> die Stadt München; der Präsident<br />

des Rotary-Clubs von Eupen-Malmedy, Leopold<br />

Roß, überreichte im Auftrag des belgischen<br />

Komitees einen Scheck über 1,5 Millionen<br />

belgische Francs, Studenten der belgischen<br />

Hochschule Gent sammelten einen Betrag von<br />

13.000 belgischen Francs.<br />

Jedoch nicht nur Geld wurde gespendet.<br />

Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler der Düsseldorfer<br />

Anne-Frank-Schule wollten 500 Arbeitsst<strong>und</strong>en<br />

zugunsten des Europadorfes leisten <strong>und</strong><br />

der französische Staatschef General Charles de<br />

Gaulle übernahm die Schirmherrschaft über eines<br />

der Häuser.<br />

Der großen Feier der Gr<strong>und</strong>steinlegung<br />

folgte ein schon weniger beachtetes Richtfest,<br />

das am 13. Juni 1960, einen Tag nach Anne<br />

Franks Geburtstag, stattfand. Im Auftrage des<br />

Paters Pire sprach Hans Ernst, der Geschäftsführer<br />

der „Hilfe für heimatlose Ausländer“, zu<br />

dem kleinen Kreis der Gäste. Oberbürgermeister<br />

Hermann Herberts sagte das Wesentlichste<br />

in knapper Form: „Die Menschen errichten zu<br />

wenig Brücken <strong>und</strong> zu viele Mauern, hat Peter


Oberbürgermeister Hermann Herberts bei dem Richtfest (Stadtarchiv Wuppertal)<br />

Pire einmal geklagt. Wenn wir alle nicht zur<br />

Verständigung miteinander kommen, so sind<br />

Katastrophen unvorstellbaren Ausmaßes unvermeidlich.<br />

Deshalb ist es unsere Pflicht, die<br />

Mauern zwischen den Menschen einzureißen<br />

<strong>und</strong> Brücken zu schlagen, die in eine friedliche<br />

Zukunft führen“.<br />

Am 30. März 1961 zogen ohne Fahnen, Reden<br />

<strong>und</strong> Musik Hieronym <strong>und</strong> Verenia Orlowski<br />

mit ihrem kleinen Sohn Jerome als erste<br />

Familie in das Anne-Frank-Dorf ein. Sie<br />

stammte aus Graudenz, er aus Salonimes in<br />

Frankreich. Hieronym Orlowski fand sofort<br />

Arbeit als Maschinenführer in einem Wuppertaler<br />

Werk. Die feste Anstellung war Voraussetzung<br />

für die Aufnahme in das Anne-Frank-<br />

Dorf.<br />

In der Folgezeit wurden alle 20 geplanten<br />

Häuser fertiggestellt <strong>und</strong> bezogen. Für die Gestaltung<br />

des in der Mitte gelegenen Hofes als<br />

Spielplatz fehlte zunächst das Geld. Dies nahm<br />

die deutsche Boxerjugend, die im Mai 1961 in<br />

Wuppertal ihre deutschen Juniorenmeisterschaften<br />

durchführte, zum Anlaß, den Kindern<br />

aus dem Erlös der Boxveranstaltung ein großes<br />

Schaukel- <strong>und</strong> Klettergerät zu schenken.<br />

Kurze Zeit später wurde zum letzten Mal in<br />

der Presse von einer großen Stiftung berichtet.<br />

Am 30. Mai 1961 überreichte die Präsidentin<br />

der weltweiten Frauenorganisation „Zonta International“,<br />

Misses Ellen Harris, der deutschen<br />

Vorsitzenden der „Hilfe für heimatlose<br />

Ausländer“, Frau Barbara von Wussow,<br />

während eines kleinen Festaktes in der Anne-<br />

Frank-Siedlung einen Scheck über 13.755<br />

Dollar. Damit hatte diese Organisation insgesamt<br />

40.000 Dollar aufgebracht, um den Bau<br />

der neuen Heimat für heimatlose Ausländer zu<br />

ermöglichen.<br />

Der Anne-Frank-Hof besteht aus 20 Häusern,<br />

die in 5 Gruppen ein Viereck bilden mit<br />

dem Kinderspielplatz in der Mitte. Es handelt<br />

133


sich um drei verschiedene Haustypen mit<br />

Wohnflächen zwischen rd. 66 m 2 <strong>und</strong> 107m 2 .<br />

Die Häuser sind wegen der hohen Kanalsohle<br />

nicht unterkellert worden. Für das Flachdach<br />

hatte der Architekt eine Holzkonstruktion <strong>und</strong><br />

Wellasbestzementplatten gewählt. Alle Wohnungen<br />

verfügten über elektrische Beleuchtung,<br />

Gas- <strong>und</strong> Wasseranschluß sowie zwei<br />

Kohleöfen. Die Miete betrug anfangs DM 75,–<br />

im Monat.<br />

In den ersten Jahren nach dem Bezug des<br />

Anne-Frank-Hofs, der diesen Namen offiziell<br />

durch Ratsbeschluß am 26. November 1960 erhielt,<br />

bemühten sich Behörden <strong>und</strong> caritative<br />

Einrichtungen um die Integration der auslän -<br />

dischen Mitbürger. Die Fürsorgerin Sibylle<br />

Schindler half bei Behördengängen zum Arbeitsamt<br />

oder in die Schulen. Mit Studenten organisierte<br />

sie Sprachunterricht. Gertrud Nowotny<br />

<strong>und</strong> andere katholische Gemeindeschwestern<br />

arrangierten Sommerfeste für die<br />

Kinder, sammelten Kleidungsstücke <strong>und</strong><br />

Spiele für Weihnachtsbescherungen. Verständigungsprobleme<br />

erschwerten das Zusammenleben<br />

von Polen, Tschechoslowaken, Jugoslawen,<br />

Litauern <strong>und</strong> Ungarn. Zu Veranstaltungen<br />

aller Bewohner der Siedlung kam es daher selten.<br />

Kontakte zu den Wuppertalern ergaben<br />

sich über den Arbeitsplatz, die Schule <strong>und</strong> den<br />

Kindergarten.<br />

Das schnelle Nachlassen des öffentlichen<br />

Interesses am Europadorf „Anne-Frank-Hof“<br />

steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu<br />

dem weit über die Stadt- <strong>und</strong> Landgrenzen hinausreichenden<br />

Aufsehen, das noch bei der<br />

Gr<strong>und</strong>steinlegung geherrscht hat. Dies liegt sicherlich<br />

mit daran, daß nach Pater Pires Tod im<br />

Jahre 1969 keine andere Persönlichkeit mit<br />

ähnlich großer Ausstrahlung <strong>und</strong> Überzeugungskraft<br />

an die Spitze der Europadorf-Bewegung<br />

getreten ist. Ein anderer Gr<strong>und</strong> ist aber<br />

auch in der Randlage des „Anne-Frank-Hofs“<br />

zu sehen, in einem Viertel, das seit einem Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

im Bewußtsein der Bevölkerung als<br />

„Getto des Elends“ gilt. Die vermutlich aus finanziellen<br />

Gründen getroffene Entscheidung<br />

der Stadt Wuppertal, für das 6. Europadorf ein<br />

Gr<strong>und</strong>stück auf der Hilgershöhe kostenlos zur<br />

134<br />

Verfügung zu stellen, ist nachvollziehbar, sie<br />

hat jedoch die Möglichkeit verbaut, den<br />

„Anne-Frank-Hof“ zu einem wirklichen Vorbild<br />

für Ausländerintegration zu machen.<br />

Heute ist das Europadorf völlig in Vergessenheit<br />

geraten. Nur noch Inschrifttafeln („The residents<br />

of this village thank Zonta International“<br />

<strong>und</strong> „Built by the help of Irish friends“) erinnern<br />

an die internationale Hilfe für diese<br />

Ausländersiedlung, deren Benennung nach<br />

Anne Frank von den Initiatoren seinerzeit<br />

durchaus auch als Programm verstanden worden<br />

ist.<br />

Anmerkungen<br />

1 Vgl. Uwe Eckardt: Getto des Elends. Vom Klingholzberg<br />

zur Hilgershöhe, in: Bergische Blätter<br />

19, 1996, Nr. 24, S. 8–10.<br />

2 Diesem Aufsatz liegt Gudrun Eckardts Beitrag<br />

zum „Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte<br />

um den Preis des B<strong>und</strong>espräsidenten“, der<br />

1988/89 unter dem Thema „Unser Ort – Heimat<br />

für Fremde?“ gestanden hat, zugr<strong>und</strong>e. Die genannten<br />

Quellen befinden sich alle im Stadtarchiv.<br />

Die Berichterstattung der lokalen <strong>und</strong> überregionalen<br />

Presse über die Gr<strong>und</strong>steinlegung <strong>und</strong><br />

die Einweihung des Anne Frank-Hofes ist dort<br />

im Bestand „Presse- <strong>und</strong> Werbeamt“ unter der<br />

Signatur 306–83 zusammengestellt. – Vgl. auch<br />

Tina Siekmann: Entwurzelte fanden eine neue<br />

Heimat. Vor 30 Jahren wurde der Anne-Frank-<br />

Hof gegründet, in: Barmen-Ost aktuell (Heckinghausen,<br />

Langerfeld, Beyenburg) Nr. 78 vom<br />

25.9.1991.<br />

3 Vgl. auch P. Dominique Pire. Erinnerungen <strong>und</strong><br />

Gespräche. Aufgezeichnet von H. Vehenne, Einsiedeln/Zürich/Köln:<br />

Benziger, 1960.<br />

4 Vgl. Das Tagebuch der Anne Frank. 14. Juni<br />

1942 – 1. August 1944, Frankfurt a.M. u.a.: Fischer<br />

Verlag, 1955 (=Fischer Taschenbücher 77)<br />

<strong>und</strong> Die Tagebücher der Anne Frank. Niederländisches<br />

Staatliches Institut für Kriegsdokumentation.<br />

Einf. von Harry Paape. Mit einer Zusammenfassung<br />

des Berichts des Gerechtelijk Laboratorius<br />

„Gerichtslaboratorium des Justizministeriums“,<br />

verf. von H. J. J. Hardy. Ed. Gestaltung<br />

der Tagebuchtexte David Barnouw <strong>und</strong> Gerrold<br />

van der Stroos, Frankfurt a. M.: S. Fischer,<br />

2. Aufl. 1993.


Hans Joachim de Bruyn-Ouboter<br />

„Neue Schwebebahn“: Der Stand Ende August 1999<br />

Bekanntlich hat sich der Bergische Geschichtsverein,<br />

Abteilung Wuppertal seit<br />

Herbst 1995 als erster dafür eingesetzt, den<br />

Schwebebahnausbau deutlich zu modi fi zie -<br />

ren. 1 Der einstimmige Beschluß des Rates der<br />

Stadt Wuppertal vom 2. Juni 1997 erfüllte die<br />

Forderungen des BGV, die aufgr<strong>und</strong> des noch<br />

Erreichbaren gestellt waren. Danach ging <strong>und</strong><br />

geht es darum, die einzelnen Ziele des Beschlusses<br />

zu realisieren. Sehr wichtig für die<br />

Durchsetzung ist die im April 1998 geschlossene,<br />

sehr gut harmonierende Vierer-Allianz<br />

aus BGV-Wuppertal, Bürgerinitiative zur Unterschutzstellung<br />

der Schwebebahn (Prof.<br />

Klaus Goebel, Dr. Michael Metschies, Detlef<br />

Schmitz u.a.), Rheinischem Verein für Denkmalpflege<br />

<strong>und</strong> Landschaftsschutz, Ortsgruppe<br />

Wuppertal (Vorsitzende: Dr. M. Metschies <strong>und</strong><br />

Prof. K. Goebel; Vertreter des Vereins in der<br />

städtischen Denkmalpflegekommission: D.<br />

Schmitz) <strong>und</strong> den Bergischen Museumsbahnen<br />

e.V. (Vorsitzender: Michael Schumann). Alle<br />

genannten Personen sind zudem langjährige<br />

Mitglieder des Bergischen Geschichtsvereins.<br />

,R<strong>und</strong>er Tisch Schwebebahn‘<br />

Der vom BGV-Wuppertal initiierte ,R<strong>und</strong>e<br />

Tisch Schwebebahn‘ konnte von den Wuppertaler<br />

Stadtwerken einberufen werden, nachdem<br />

seit dem 4. August 1998 die Finanzierung der<br />

Rekonstruktion von drei weiteren Stationen<br />

(ein Teil des Ratsbeschlusses) durch Verhandlungen<br />

der WSW <strong>und</strong> des Oberbürgermeisters<br />

Dr. H. Kremendahl mit der Landesregierung<br />

gesichert war. Teilnehmer des ,R<strong>und</strong>en Ti -<br />

sches‘ waren neben den Vertretern der WSW<br />

der Oberbürgermeister <strong>und</strong> Vertreter der Stadtverwaltung,<br />

Bürgermeister H.J. Richter, Vertreter<br />

der drei Ratsfraktionen, Vertreter der<br />

Vierer-Allianz <strong>und</strong> des Stadtverbandes der<br />

Wuppertaler Bürgervereine sowie der Bürger-<br />

vereine Unterbarmen <strong>und</strong> Bendahl (in deren<br />

Stadtvierteln liegen die Stationen Landgericht<br />

<strong>und</strong> Völklinger Straße).<br />

Der ,R<strong>und</strong>e Tisch‘ tagte bisher am 13. August,<br />

22. Oktober <strong>und</strong> 27. November 1998. Dabei<br />

wurden in großer Einmütigkeit die Punkte<br />

geklärt, die vom Zeitplan des Schwebebahnausbaus<br />

her entschieden werden konnten <strong>und</strong><br />

mußten. Der ,R<strong>und</strong>e Tisch‘ wird wieder zusammentreten<br />

(möglicherweise im Herbst,<br />

nach der Konstituierung des am 12. September<br />

neugewählten Stadtrates), sobald Entscheidungsbedarf<br />

besteht. Dieser wird nicht zuletzt<br />

dadurch hinausgeschoben, weil der Schwebebahnausbau<br />

durch das tragische Unglück vom<br />

12. April 1999 sehr stark verzögert wurde.<br />

Was ist seit 1998 erreicht, <strong>und</strong> was muß<br />

noch erreicht werden?<br />

Rekonstruktion von Werther Brücke, Landgericht,<br />

Völklinger Straße <strong>und</strong> Ber liner<br />

Platz<br />

Am 2. Juni 1997 wurde festgelegt, daß neben<br />

der Wagenhalle Oberbarmen <strong>und</strong> der bereits<br />

seit längerem denkmalgeschützten Station<br />

Werther Brücke drei Haltestellen, darunter<br />

Landgericht <strong>und</strong> Völklinger Straße, rekonstruiert<br />

werden sollen. Nach genauen Prüfungen<br />

beschloß der ,R<strong>und</strong>e Tisch‘ am 27. November,<br />

daß die dritte Station der „Berliner Platz“ sein<br />

wird. Keine ganz ideale Lösung, aber per<br />

Sachzwang geboten. Die Vorteile habe ich im<br />

Bericht von 1998 aufgeführt. Unter anderem<br />

entsteht hier ein Ensemble von Wagenhalle<br />

<strong>und</strong> Station.<br />

Inzwischen steht auch fest, daß bei den Rekonstruktionen<br />

der Stationen noch mehr Originalsubstanz<br />

erhalten bleiben kann, als eh<br />

schon zu erwarten war. Es werden sogar, zumindest<br />

bei der „Werther Brücke“, erhebliche<br />

Prozentsätze der tragenden Teile der Stationen<br />

135


wiederverwandt werden können. Dies zeigt erneut,<br />

wie richtig es war, Rekonstruktionen anzustreben,<br />

da diese überdies, ganz im Sinne der<br />

Denkmalpflege, viel Originalsubstanz aufweisen<br />

werden. Vorwürfe wie „Walt Disney Land-<br />

Rekonstruktionen“ <strong>und</strong> „Mickey Mouse-Stationen“<br />

werden damit noch absurder.<br />

Es besteht auch Aussicht, im Fahrgerüst der<br />

Schwebebahn mit entsprechendem Aufwand,<br />

sprich mit einer Hilfskonstruktion, eine Original-Stütze<br />

zu erhalten.<br />

Nahverkehrs-Museum <strong>und</strong> „Regionale 2006“<br />

Die Einrichtung eines Schwebebahn-Museums<br />

ist eine Forderung, die der BGV-Wuppertal<br />

seit Beginn der Diskussion um den<br />

Schwebebahnausbau erhoben hat. Unter den<br />

Teilnehmern des ,R<strong>und</strong>en Tisches‘ bestand Einigkeit<br />

darüber, daß das im Ratsbeschluß vom<br />

2. Juni 1997 verlangte Schwebebahn-Museum,<br />

mit der Station Varresbecker Straße als Kern,<br />

unbedingt anzustreben ist, möglichst als Teil<br />

eines (Nah-) Verkehrs-Museums, das u.a. das<br />

Museum <strong>und</strong> den Fahrbetrieb der Bergischen<br />

Museumsbahnen mit einbindet. 2<br />

Das Problem ist weniger der auszuwählende<br />

Standort als die Finanzierung. Für das<br />

Schwebebahn- bzw. Nahverkehrs-Museum<br />

muß also noch gekämpft werden. Sehr förderlich<br />

ist es, daß Wuppertal am 12. Mai 1999<br />

(Bekanntgabe des Ergebnisses) zusammen mit<br />

Remscheid <strong>und</strong> Solingen den Sieg im Kampf<br />

um die „Regionale 2006“ errungen hat. Das<br />

bedeutet, daß das Land den drei Städten große<br />

zusätzliche Zuschüsse für solche Projekte leisten<br />

wird, die in den Rahmen der gemeinsamen<br />

Konzeption passen. Gesamtziel der Regionale-Konzeption<br />

des Landes ist es, einer<br />

Region zu einem Schub nach vorne zu verhelfen.<br />

Dies betrifft die Gebiete Städtebau, Natur,<br />

Freizeit, Kultur, Wirtschaft <strong>und</strong> Verkehr.<br />

Ein wichtiges Vorbild für die konkrete Gestaltung<br />

der Bergischen „Regionale 2006“ ist<br />

die „Internationale Bauausstellung Emscher<br />

Park“, die 1999 ihr „Finale“ feiert. Gerade an<br />

136<br />

den Projekten, die im Rahmen der „IBA Emscher<br />

Park“ entstanden, kann man sehen, welche<br />

Defizite unsere Region hat <strong>und</strong> wie sehr es<br />

Not tut, daß auch Wuppertal, das „Rheinische<br />

Mauerblümchen“, die „Stadt im Ruhrgebiet<br />

bei Düsseldorf“, endlich offensiv handelt, endlich<br />

energisch <strong>und</strong> klug seinen „Aufbruch ins<br />

21. Jahrh<strong>und</strong>ert“ in Gang setzt. Nicht ohne<br />

Gr<strong>und</strong> wohnen heute auf dem Gebiet der Stadt<br />

Wuppertal weniger Menschen als im Jahre<br />

1905, <strong>und</strong> nicht ohne Gr<strong>und</strong> verloren wir allein<br />

im Jahre 1998 die erschreckend hohe Zahl von<br />

4.670 Einwohnern.<br />

Ein entsprechend attraktiv konzipiertes<br />

Nahverkehrs-Museum wäre ein Publikumsmagnet<br />

<strong>und</strong> würde erheblich zu einem neuen, einem<br />

positiven Stadtprofil der „Metropole des<br />

Bergischen Landes“ beitragen.<br />

Jetzt, im Spätsommer, ist die Kommunalpolitik<br />

nicht nur durch den Kommunalwahlkampf<br />

geb<strong>und</strong>en. Darüberhinaus fesselt auch<br />

der Kampf um die Realisierung des „Neuen<br />

Döppersbergs“ sehr viel Aufmerksamkeit <strong>und</strong><br />

Energie. Wenn dieses für Wuppertal enorm<br />

wichtige Projekt Ende des Jahres hoffentlich in<br />

die gern zitierten „trockenen Tücher“ gebracht<br />

ist <strong>und</strong> der neue Stadtrat sich etabliert hat,<br />

dann werden wohl auch Zeit <strong>und</strong> planende Energien<br />

frei für andere wichtige Projekte der<br />

„Regionale 2006“ <strong>und</strong> des Wuppertaler (<strong>und</strong><br />

bergischen) „Aufbruchs ins 21. Jahrh<strong>und</strong>ert“.<br />

Anmerkungen<br />

1 Vgl. zu Diskussion <strong>und</strong> Stand der Dinge bis August<br />

1998: H. J. de Bruyn-Ouboter: Gerettet, was<br />

noch zu retten war: Die „Neue Schwebebahn“.<br />

In: Geschichte im Wuppertal. 6. Jg, 1997.<br />

S. 94–104. de Bruyn-Ouboter: „Neue Schwebebahn“:<br />

Der Ratsbeschluß vom 2. Juni 1997 wird<br />

ausgeführt. In: Geschichte im Wuppertal. 7. Jg,<br />

1998. S. 94–99.<br />

2 Zu den Gründen für ein solches Museum vgl. de<br />

Bruyn-Ouboter: „Neue Schwebebahn“: Der<br />

Rats beschluß vom 2. Juni 1997 wird ausgeführt.<br />

S. 98.


Peter Elsner<br />

Jubiläen <strong>und</strong> Gedenktage 2000<br />

■ 1750<br />

16. Mai<br />

Ellias Eller, der Gründer von Ronsdorf, stirbt<br />

im Alter von fast 6o Jahren in Ronsdorf. Wegen<br />

unüberbrückbarer Differenzen mit der Reformierten<br />

Gemeinde Elberfeld verlassen Eller<br />

<strong>und</strong> seine Glaubensanhänger 1737 Elberfeld<br />

<strong>und</strong> siedeln sich in Ronsdorf an. Von 1747 bis<br />

zu seinem Tod war Eller Bürgermeister in<br />

Ronsdorf. Er übte dieses Amt „diktatorisch“<br />

aus, sorgte aber dafür , daß die Stadt in dieser<br />

Zeit einen großen wirtschaftlichen Aufschwung<br />

erlebte.<br />

6. Juli<br />

Der Fabrikant Johann Gottfried Brügelmann<br />

wird in Elberfeld geboren. Er gründet 1783 in<br />

Ratingen die erste mechanische Spinnerei auf<br />

dem europäischen Festland. Diese Fabrik, die<br />

er „Cromford“ nannte, ist heute eine Außenstelle<br />

des Rheinischen Industriemuseums. Brügelmann<br />

starb 1803 in Ratingen<br />

■ 1775<br />

5. Januar<br />

Gründung der „Ersten Lesegesellschaft“ in Elberfeld.<br />

Ihre oberste Zielsetzung war eine<br />

„Veredlung des Menschen durch Vermehrung<br />

seiner Kenntnisse <strong>und</strong> Verfeinerung seiner Sitten“.<br />

Die hohe Aufnahmegebühr (100 Reichs -<br />

taler) <strong>und</strong> ein Darlehen in Höhe von 250<br />

Reichs talern, das jedes Mitglied dem Verein<br />

zur Verfügung stellen mußte, führten dazu, daß<br />

fast nur wohlhabende Kaufleute <strong>und</strong> Unternehmer<br />

Mitglieder der Lesegesellschaft werden<br />

konnten. Mit den Einnahmen wurden eine<br />

großzügig ausgestattete Bibliothek sowie regelmäßig<br />

stattfindende wissenschaftliche<br />

Fach vorträge finanziert.<br />

13. August<br />

Johann Rütger Brüning, der erste Elberfelder<br />

Oberbürgermeister, wird in Elberfeld geboren;<br />

seine Amtszeit dauerte von 1814 bis zu seinem<br />

Tod 1837. Er war einer der ersten Politiker, der<br />

eine Vereinigung der Wupperstädte anregte.<br />

Während seiner Amtszeit widmete sich Brüning<br />

besonders dem Ausbau des Straßennetzes<br />

<strong>und</strong> der Verbesserung des Schul- <strong>und</strong> Armenwesens.<br />

Bekannt sind auch die Brüning’schen<br />

Annalen (1818–1839). Hierbei handelt es sich<br />

um jährlich herausgegebene Stadtchroniken,<br />

die auf Gr<strong>und</strong> ihrer ausführlichen <strong>und</strong> detaillierten<br />

Angaben hervorragende Quellen für die<br />

Stadtgeschichtsforschung sind.<br />

■ 1800<br />

8. April<br />

Johann Peter Friedrich Birker wird auf Hof<br />

Sporkert bei Ronsdorf geboren. Er konstruierte<br />

eine Kartenschlagmaschine für Jacquardkarten.<br />

Mit dieser Erfindung konnte das Weben<br />

von Mustern weitgehend mechanisch durchgeführt<br />

werden. Durch solche Musterkarten<br />

wurde die Qualität der Webereiprodukte erhöht,<br />

zum anderen hatten die Webstühle weniger<br />

Stillstand. Patentschutz gab es zu dieser<br />

Zeit noch nicht <strong>und</strong> so ist der Name des Erfinders<br />

fast vollständig in Vergessenheit geraten.<br />

Birker starb 1862 in Ronsdorf.<br />

6. August<br />

In Beyenburg wird Martin Wilhelm von Mandt,<br />

der Leibarzt des russischen Zaren Nikolaus I.,<br />

geboren. Als Arzt arbeitete er auf mehreren medizinischen<br />

Fachgebieten, sein Schwerpunkt<br />

war jedoch die Chirurgie. Im Jahr 1835 siedelte<br />

er als Leibarzt der russischen Großfürstin<br />

Helene nach St. Petersburg über, 1840 wurde er<br />

schließlich zum Leibarzt von Zar Nikolaus I.<br />

berufen. Anfangs bereitete man ihm in Rußland<br />

137


einige Schwierigkeiten, die meist fortschrittlicheren<br />

Behandlungsmethoden aus dem Westen<br />

beim Kaiserpaar anzuwenden. Vom Zaren geadelt<br />

zog von Mandt nach dessen Tod (1855)<br />

nach Frankfurt/Oder, wo er 1858 starb.<br />

■ 1825<br />

22. März<br />

Johann Jakob Aders, Kaufmann <strong>und</strong> Kommunalpolitiker,<br />

stirbt im Alter von 56 Jahren in Elberfeld.<br />

Er hat sich um das Allgemeinwohl seiner<br />

Vaterstadt sehr verdient gemacht. So begründete<br />

er u.a. die „Allgemeine Armenanstalt“,<br />

eine Vorform des Elberfelder Systems<br />

<strong>und</strong> rief den „Elberfelder Kornverein“ ins Leben,<br />

der 1816/17 mit Spenden der wohlhabenden<br />

Bürger eine Hungersnot unter den Armen<br />

verhinderte. Aders war auch maßgeblich an<br />

der Gründung der „Rheinisch-Westindischen<br />

Kompagnie“, einer der ersten Aktiengesellschaften,<br />

beteiligt.<br />

1. April<br />

Gründung des Frauenvereins der ev. Kirchengemeinde<br />

Wichlinghausen. Die Frauen verteilten<br />

selbstangefertigte Bettwäsche, Bekleidungsstücke<br />

<strong>und</strong> Strümpfe an Arme <strong>und</strong> Notleidende<br />

in der Gemeinde.<br />

6. Juni<br />

Friedrich Bayer sen. wird in Barmen geboren.<br />

Zusammen mit seinem Fre<strong>und</strong> Friedrich Westkott<br />

gründete er 1863 in Oberbarmen die „Fa.<br />

Friedrich Bayer & Co.“, in der anfangs<br />

hauptsächlich Farbstoffe für die Textilindustrie<br />

hergestellt wurden. Schon sehr bald wurde die<br />

Produktionsstätte zu klein <strong>und</strong> 1866 errichtete<br />

man in Elberfeld ein neues Werk. Als Bayer<br />

1880 starb, hatte seine Firma rd. 400 Mitarbeiter<br />

<strong>und</strong> das Verkaufsnetz erstreckte sich über<br />

alle Textilzentren der Welt; damit war der<br />

Gr<strong>und</strong>stein für den heutigen Weltkonzern gelegt.<br />

11. Juli<br />

Eröffnung der Barmer Missionsschule. Bis zur<br />

Fertigstellung eines eigenen Missionshauses<br />

138<br />

„Am Loh“ in Unterbarmen (1832) wurden die<br />

zukünftigen Missionare in einem angemieteten<br />

Haus in der Diekerstraße unterrichtet.<br />

■ 1850<br />

Gründung der Fa. Fre<strong>und</strong> Gartengeräte GmbH.<br />

23. Januar<br />

Der Philosoph <strong>und</strong> Psychologe Hermann Ebbinghaus<br />

wird in Barmen geboren. Er war ein<br />

Pionier auf dem Gebiet der experimentellen<br />

Psychologie, u.a. entwickelte er Meßmethoden<br />

für Gedächtnisleistungen. Ein von ihm ausgearbeiteter<br />

Intelligenztest für Kinder, der sogenannte<br />

Ergänzungstest, wird in abgewandelter<br />

Form noch heute angewandt. Ebbinghaus, der<br />

in Berlin, Breslau <strong>und</strong> Halle lehrte, starb 1909<br />

in Halle.<br />

1. April<br />

Bernhard August Thiel, Bischof von Costa<br />

Rica, wird in Elberfeld geboren. Nach seiner<br />

Priesterweihe arbeitete er als Missionar <strong>und</strong><br />

Professor der Theologie in Südamerika (Ecuador,<br />

Costa Rica). Bereits mit dreißig Jahren<br />

wurde er zum Bischof von San José ernannt.<br />

Neben seiner seelsorgerischen Tätigkeit engagierte<br />

er sich besonders bei der Priesterausbildung<br />

<strong>und</strong> bei der Aufarbeitung der Landes- <strong>und</strong><br />

Kirchengeschichte. Thiel starb 1901 in San<br />

José.<br />

15. Mai<br />

Einweihung der zweiten lutherischen Kirche,<br />

der „Kreuzkirche“ in der Elberfelder Friedrichstraße.<br />

Sie gehörte zu den wenigen Gotteshäusern,<br />

die die Bombardierung im Zweiten Weltkrieg<br />

ohne größeren Schaden überstanden haben.<br />

19. Juli<br />

In Elberfeld wird der Stenograph Ferdinand<br />

Schrey geboren. Er war ein engagierter Verfechter<br />

der Stenographie <strong>und</strong> ständig darum<br />

bemüht, eine weitere Vereinfachung <strong>und</strong> Vereinheitlichung<br />

der Kurzschrift durchzusetzen.<br />

Seine Überlegungen <strong>und</strong> Thesen veröffent-


lichte er 1888 in dem „Lehrbuch der vereinfachten<br />

deutschen Stenographie“. Im Jahr 1897<br />

gab er zusammen mit Stolze einen Schriftenentwurf<br />

für die deutsche Kurzschrift heraus.<br />

Nach diesem sogenannten Stolze-Schrey-System<br />

wurde lange Zeit in den Stenographenschulen<br />

unterrichtet. Schrey, der sich auch<br />

nachdrücklich für die Verwendung von<br />

Schreibmaschinen in Büros einsetzte, starb<br />

1938 in Berlin.<br />

14. September<br />

Einrichtung der „Königlichen Direktion der<br />

Bergisch-Märkischen Eisenbahn“ in Elberfeld,<br />

der ersten Eisenbahndirektion Deutschlands.<br />

Die Bergisch-Märkische-Eisenbahn wurde damit<br />

eine öffentliche Behörde <strong>und</strong> stand von<br />

nun an unter staatlicher Aufsicht.<br />

■ 1875<br />

Gründung der Freiwilligen Feuerwehr Langerfeld.<br />

Eröffnung eines städtischen Krankenhauses in<br />

Ronsdorf, das anfangs über 10 Krankenbetten<br />

verfügte. Nach der Schließung des Krankenhauses<br />

1978 wurde in dem Gebäude ein Heim-<br />

Dialyse-Zentrum untergebracht.<br />

12. Januar<br />

In seiner Heimatstadt Elberfeld stirbt im Alter<br />

von 56 Jahren der Maler Richard Seel. Viele<br />

seiner Bilder sind im Stil damaliger Historienmalerei<br />

entstanden <strong>und</strong> erinnern an niederländische<br />

Maler; sehr bedeutend waren seine Porträtgemälde.<br />

Während seiner Berliner Zeit<br />

(1840–1842) entwarf er zahlreiche politischsatirische<br />

Karikaturen <strong>und</strong> wurde mit der Figur<br />

des „Deutschen Michel“bekannt.<br />

5. März<br />

Der evangelische Theologe Hermann Friedrich<br />

Kohlbrügge stirbt in Elberfeld. Geboren 1803<br />

in Amsterdam kritisierte er in seinen Predigten<br />

wiederholt die Lehren der Reformierten Kirche.<br />

Auf Gr<strong>und</strong> seiner Kritik wurde er in seinem<br />

Heimatland aus dem Kirchendienst ent-<br />

lassen <strong>und</strong> erhielt Predigtverbot. Im Jahr 1847<br />

gründete er zusammen mit Daniel von der<br />

Heydt die „niederländisch-reformierte Gemeinde<br />

Elberfeld“. Als Pastor dieser Gemeinde<br />

konnte Kohlbrügge weiterhin nach den alten<br />

Rechten <strong>und</strong> Ordnungen der reformierten Kirche<br />

praktizieren.<br />

1. April<br />

Eröffnung des ersten städtischen Altenheimes<br />

in Ronsdorf, das anfangs sechs Heimplätze<br />

hatte <strong>und</strong> dem Krankenhaus angegliedert war.<br />

Im Jahr 1921 erwarb man „An der Blutfinke“<br />

ein eigenes Gebäude.<br />

1. Mai<br />

Eröffnung des Bestattungsunternehmens Otto<br />

Kirschbaum.<br />

Gründung der Fa. Gustav Schmidt, sanitäre<br />

Anlagen.<br />

3. Juli<br />

Ernst Ferdinand Sauerbruch wird in Barmen<br />

geboren. Der Arzt, der von 1927 bis 1949 die<br />

Chirurgische Klinik der Charité in Berlin geleitet<br />

hat, war einer der bedeutendsten Chirurgen<br />

seiner Zeit. Er erarbeitete zahlreiche Operationsverfahren<br />

in Unterdruckkammern, durch<br />

die chirurgische Eingriffe im Thoraxbereich<br />

deutlich verbessert werden konnten. Sauerbruch,<br />

der auch Prothesen entwickelte, starb<br />

1951 in Berlin.<br />

1. August<br />

Gründung der Kistenfabrik Eigenbrodt.<br />

15. November<br />

In Kapellen bei Geldern wird die Schriftstellerin<br />

Henriette Brey geboren, die viele Jahre ihres<br />

Lebens in Wuppertal verbrachte. Krankheiten<br />

in jungen Jahren hinderten sie daran, ihr<br />

Studium zu beenden <strong>und</strong> den angestrebten<br />

Lehrerberuf zu ergreifen, so daß sie sich ganz<br />

der Schriftstellerei widmete. Ihr zahlreichen<br />

Werke (Romane, Erzählungen, Novellen) sind<br />

nicht nur von ihrer positiven Einstellung zum<br />

katholischen Glauben geprägt, sondern sie<br />

zeichnen sich auch durch (wissenschaftlich)<br />

139


f<strong>und</strong>ierte Recherchen aus. Brey starb 1953 in<br />

Ramersdorf bei Bonn.<br />

■ 1900<br />

Gründung der Kalkwerke Oetelshofen.<br />

Gründung der Ortsgruppe Elberfeld des Guttempler-Ordens.<br />

Gründung des Imkervereins Vohwinkel.<br />

11. Januar<br />

Im Elberfelder Hotel „Monopol“ findet der erste<br />

deutsche Schwimmertag statt.<br />

18. Januar<br />

Am Jahrestag der Kaiserproklamation von Versailles<br />

(1871) wird vor dem Barmer Rathaus<br />

ein Bismarck-Denkmal enthüllt. Wegen des<br />

Rathausneubaus wurde das Denkmal im<br />

Herbst 1921 neben die Ruhmeshalle, auf den<br />

heutigen Geschwister-Scholl-Platz, versetzt.<br />

15. Februar<br />

Inbetriebnahme des Elektrizitätswerkes in der<br />

Kabelstraße. Diese Wechselstromanlage versorgte<br />

nicht nur die Stadt Elberfeld mit Licht<strong>und</strong><br />

Kraftstrom, sondern sie lieferte auch<br />

Strom für die Straßen- <strong>und</strong> die Schwebebahn.<br />

17. Februar<br />

Offizielle Einweihung des neuen Gebäudes der<br />

Barmer Gesellschaft „Concordia“ auf dem<br />

Werth.<br />

1. März<br />

Gründung der Schablonenfabrik Driever &<br />

Fülle.<br />

16. März<br />

In Elberfeld wird Werner Eggerath geboren.<br />

Schon in den 20er Jahren war er für die KPD<br />

tätig <strong>und</strong> seit 1933 war er wegen seiner Parteizugehörigkeit<br />

im Widerstand aktiv. Nach 1945<br />

machte er in der DDR politische Karriere, sowohl<br />

in der Partei (KPD, SED) als auch im<br />

Staatsdienst, u.a. war er Ministerpräsident in<br />

140<br />

Thüringen (1947–1952) <strong>und</strong> Staatssekretär für<br />

Kirchenfragen (1957–1960). Neben seiner politischen<br />

Arbeit war Eggerath, der 1977 in Ostberlin<br />

starb, auch Schriftsteller. In seinem (autobiographischen)<br />

Roman „Die Stadt im Tal“<br />

schilderte er den kommunistischen Widerstand<br />

gegen das NS-Regime in Wuppertal.<br />

1. April<br />

Die 1879 in Wülfrath gegründete „Landwirtschaftliche<br />

Schule“ des Kreises Mettmann<br />

wird nach Vohwinkel verlegt.<br />

4. April<br />

In Cronenberg wird Hermann Herberts, Journalist<br />

<strong>und</strong> Politiker, geboren. Da er als junger<br />

Journalist für SPD-<strong>und</strong> USPD-nahe Zeitungen<br />

gearbeitet hat, erhielt er von den Nationalsozialisten<br />

Berufsverbot. Nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg engagierte sich Herberts; er war er<br />

von 1956 bis 1961 <strong>und</strong> von 1964 bis 1969<br />

Oberbürgermeister in Wuppertal <strong>und</strong> von 1964<br />

bis 1969 Mitglied des deutschen B<strong>und</strong>estages.<br />

Bei allem politischen Einsatz <strong>und</strong> Aktivitäten<br />

stand für Herberts immer der Mensch im Mittelpunkt<br />

seines Handelns. Für ihn waren deshalb<br />

auch parteiübergreifende Beschlüsse kein<br />

Makel, sofern sie dem Menschen <strong>und</strong> der Sache<br />

dienten. Der Altoberbürgermeister <strong>und</strong> Ehrenbürger<br />

starb 1995 in Wuppertal.<br />

19. April<br />

Eröffnung der „Preußischen Höheren Fachschule<br />

für Textilindustrie“ in Barmen. Unter<br />

der Bezeichnung „Textilingenieurschule Wuppertal“<br />

bestand die Schule noch bis Anfang der<br />

70er Jahre. Danach wurden die Studienrichtungen<br />

„Textilerzeugung“ <strong>und</strong> „Textilveredlung“<br />

in die Fachhochschule Krefeld, Abt. Mönchen-<br />

Gladbach, überführt <strong>und</strong> der Studiengang<br />

„Drucktechnik“ in den Fachbereich 5 (Design,<br />

Kunst- <strong>und</strong> Musikpädagogik, Druck) der Gesamthochschule<br />

Wuppertal eingegliedert.<br />

1. Mai<br />

Einweihung der Evangelischen Volksschule an<br />

der Thorner Straße. Diese Schule ist Nachfolgerin<br />

der I. Carnaper Schule. Heute ist in dem


Gebäude eine städtische Gr<strong>und</strong>schule untergebracht.<br />

15. Mai<br />

Einweihung der Volksschule Germanenstraße<br />

in Oberbarmen. Die Schule, die ursprünglich<br />

zur Entlastung der Volksschule Kohlgarten gebaut<br />

worden ist, ist heute städtische Gemeinschaftsgr<strong>und</strong>schule.<br />

18. Mai<br />

Der berühmt-berüchtigte Räuberhauptmann<br />

Carl Biebighäuser stirbt im Alter von 57 Jahren<br />

in seiner Heimatstadt Barmen. Er war schon zu<br />

Lebzeiten eine Legende. Seine dreisten Diebestouren<br />

sorgten unter der Bevölkerung immer<br />

wieder für Aufsehen <strong>und</strong> Gesprächsstoff. Einen<br />

großen Teil seiner Beute verteilte er unter<br />

den Armen, was ihm den Beinamen „Bergischer<br />

Schinderhannes“ einbrachte. Die letzten<br />

Lebensjahre verbrachte Biebighäuser als Ge -<br />

müsehändler <strong>und</strong> damit als „ehrbarer“ Bürger<br />

in Barmen.<br />

Juni<br />

Gründung des „Bergischen Turnerb<strong>und</strong>es Beyenburg<br />

1900“. In den ersten Jahren mußten immer<br />

wieder Räumlichkeiten angemietet werden,<br />

meistens Säle von Gaststätten, um den<br />

Turnbetrieb durchführen zu können; die Turngeräte<br />

waren dabei größtenteils selbst gebastelt.<br />

Erst seit 1958 steht dem Verein eine Turnhalle<br />

zur Verfügung.<br />

3. Juni<br />

In Rotenburg/Fulda wird der Unternehmer<br />

Otto Happich geboren. Unter seiner Leitung<br />

entwickelte sich die Happich GmbH, die er<br />

1924 zusammen mit seinem Bruder Ludwig<br />

gegründet hat, zu einem der größten<br />

<strong>und</strong> bedeutendsten Automobilzulieferbetriebe<br />

Deutsch lands, der seine Produkte in über 70<br />

Länder exportiert.<br />

22. Juni<br />

Gründung des St. Joseph-Klosters in Vohwinkel<br />

durch Franziskanerinnen. Die Ordensschwestern<br />

unterhielten eine Kinder-Bewahrschule<br />

<strong>und</strong> waren in der ambulanten Kranken-<br />

pflege tätig. Die Eröffnung einer Handarbeits<strong>und</strong><br />

Hauswirtschaftsschule wurde ihnen von<br />

der Regierung in Düsseldorf mehrmals untersagt.<br />

1965 wurde diese Niederlassung aufgegeben.<br />

1. Juli<br />

Gründung des Reproduktionstechnischen Betriebes<br />

Brockhaus.<br />

6. Juli<br />

Einweihung der Elberfelder Stadthalle auf dem<br />

Johannisberg im Rahmen des „Bergischen Musikfestes“.<br />

Die Stadthalle, die nach Ansicht des<br />

Landeskonservators als Konzerthaus durchaus<br />

in einer Reihe mit dem Gewandhaus in Leipzig<br />

oder der Tonhalle in München zu stellen ist,<br />

verfügte über einen großen Saal mit ca. 2000<br />

Plätzen sowie fünf kleineren Sälen mit zusammen<br />

rd. 1000 Plätzen. Von 1992 bis 1995<br />

wurde die Stadthalle völlig umgebaut <strong>und</strong> saniert;<br />

am 8. Dezember 1995 fand die feierliche<br />

Wiedereröffnung statt.<br />

6.–8. Juli<br />

Durchführung des „Bergischen Musikfestes“<br />

in der neueröffneten Elberfelder Stadthalle.<br />

Zur Aufführung kamen Werke deutscher Komponisten<br />

aus den letzten beiden Jahrh<strong>und</strong>erten.<br />

30. Juli<br />

Suse Bernuth, Malerin <strong>und</strong> Textilgestalterin,<br />

wird in Wesel geboren. Ihre monumentalen<br />

Wandteppiche, die in vielen öffentlichen Gebäuden<br />

<strong>und</strong> Museen zu sehen sind, wurden<br />

nicht nur von der Künstlerin selbst entworfen,<br />

sondern auch eigenständig von ihr hergestellt.<br />

Für ihre im In- <strong>und</strong> Ausland gezeigten Arbeiten<br />

wurde sie u.a. mit dem bayerischen <strong>und</strong> dem<br />

nordrhein-westfälischen Staatspreis ausgezeichnet.<br />

Suse Bernuth, die seit 1958 in Wuppertal<br />

lebte, starb 1977.<br />

3. August<br />

Harald Frowein wird in Elberfeld geboren.<br />

Seine umfangreichen wirtschaftlichen Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> Sachkenntnisse setzte er nicht nur<br />

für sein eigenes Unternehmen ein, sondern<br />

durch die Übernahme zahlreicher Ehrenämter<br />

141


profitierten viele wirtschaftliche Bereiche davon.<br />

Als Präsident der Industrie- <strong>und</strong> Handelskammer<br />

Wuppertal (1964–1970) engagierte er<br />

sich besonders für die mittelständische Wirtschaft<br />

im bergischen Raum. Frowein starb<br />

1978.<br />

16. September<br />

Gründungsversammlung der „Freiwilligen<br />

Feuer- <strong>und</strong> Wasserwehr Beyenburg“. Dank<br />

großzügiger finanzieller Unterstützung durch<br />

die Gemeinde Lüttringhausen <strong>und</strong> privater<br />

Gönner war die Wehr von Anfang an mit dem<br />

notwendigen Gerät ausgestattet.<br />

24. Oktober<br />

Kaiser Wilhelm II. <strong>und</strong> Kaiserin Augusta Victoria<br />

besuchen das Wuppertal. Anläßlich dieses<br />

Besuches kommt es zur Einweihung der Barmer<br />

Ruhmeshalle <strong>und</strong> des neuen Elberfelder<br />

Rathauses. Das Kaiserpaar nimmt auch an einer<br />

Probefahrt mit der Schwebebahn vom Döppersberg<br />

bis Vohwinkel teil.<br />

10. November<br />

Einweihung der katholischen Volksschule für<br />

Knaben in der Wiesenstraße in Elberfeld.<br />

Heute wird das Gebäude von der Volkshochschule<br />

genutzt.<br />

14. November<br />

Einweihung des neuen Rathauses in Cronenberg.<br />

■ 1925<br />

Gründung der Aufzug- <strong>und</strong> Maschinenfabrik<br />

Schmersal.<br />

Gründung der Fa. Metzenauer & Jung, heute<br />

Fanal-Elektrik.<br />

Gründung des Elberfelder Frauenchores.<br />

Eröffnung des Altenheimes „Heim Abendfrieden“.<br />

Anfangs war das Heim in einer Villa am<br />

Böhler Weg untergebracht, 1933 bezog man<br />

die Räumlichkeiten der ehemaligen Mittelsten-<br />

Scheid-Villa am Diek.<br />

142<br />

20. Januar<br />

Gründung des Verkehrsvereins Vohwinkel, der<br />

es sich zum Ziel gesetzt hatte, „Vohwinkel <strong>und</strong><br />

seine Umgebung zu einem anziehenden Verkehrspunkt<br />

des Bergischen Landes zu machen“.<br />

28. Juli<br />

Im Alter von 70 Jahren stirbt in Barmen der<br />

Unternehmer Max Albert Molineus. Von 1906<br />

bis März 1917 war er Präsident der Handelskammer<br />

Barmen, anschließend bis Ende 1919<br />

Präsident der wiedervereinigten Handelskammern<br />

von Barmen <strong>und</strong> Elberfeld, deren Zusammenlegung<br />

er förderte. Als Kammerpräsident<br />

setzte er sich entschieden für eine Verbesserung<br />

der Verkehrsstruktur, besonders für den<br />

Ausbau des Eisenbahnwesens, ein. Darüber<br />

hinaus war er sehr darum bemüht, das berufliche<br />

Ausbildungssystem ständig zu verbessern.<br />

Molineus galt auch als einer der Väter der Barmer<br />

Bergbahn, denn schon 1886 hatte er die<br />

Idee, eine von einer Dampfmaschine angetriebene<br />

Standseilbahn von der Cleferstraße bis<br />

zum Toelleturm zu bauen.<br />

20. August<br />

Der Fabrikant Adolf Vorwerk stirbt im Alter<br />

von 72 Jahren in Barmen. Er führte nicht nur<br />

das von seinem Großvater gegründete Textilunternehmen<br />

„Vorwerk & Co.“ weiter auf Expansionskurs,<br />

sondern mit der Herstellung von<br />

Gummiwaren für industrielle Zwecke stieg er<br />

auch erfolgreich in die Gummi-Industrie ein.<br />

Auf seine Initiative sind der Bau des „Barmer<br />

Luftkurhauses“ <strong>und</strong> die Anlage der „Barmer<br />

Bergbahn“ zurückzuführen. Dadurch wurde<br />

Barmen ein beliebtes Ausflugsziel für Besucher<br />

aus der näheren <strong>und</strong> weiteren Umgebung.<br />

23. August<br />

Gründung des MGV „Alemannia“ in Vohwinkel<br />

als Gesangsabteilung des Fußballvereins<br />

„Alemannia 07“. Im Jahr 1936 löste man sich<br />

vom Hauptverein <strong>und</strong> wurde ein eigenständiger<br />

Verein.<br />

16. September<br />

Eröffnung der Großwäscherei Voss GmbH.


19. September<br />

Offizielle Inbetriebnahme des Senders Elberfeld<br />

im Thalia-Theater. In erster Linie war<br />

diese R<strong>und</strong>funkstation ein Propagandasender<br />

für die von Franzosen <strong>und</strong> Belgiern besetzten<br />

Gebiete an Rhein <strong>und</strong> Ruhr. Nach der Eröffnung<br />

des leistungsstärkeren Senders Langenberg,<br />

Anfang 1927, stellte das Studio Elberfeld<br />

seinen Sendebetrieb ein.<br />

10. Oktober<br />

Gründung des Wuppertaler Marionetten-<br />

Theaters durch Fritz Gerhards. Mit seinen<br />

Aufführungen feierte er nicht nur in Wuppertal,<br />

sondern im gesamten deutschsprachigen Raum<br />

große Erfolge <strong>und</strong> verhalf dem Puppenspieltheater<br />

somit zu neuem Ansehen. Die<br />

größtenteils selbstangefertigten Puppen <strong>und</strong><br />

Requisiten wurden im Krieg völlig zerstört.<br />

■ 1950<br />

7. März<br />

In Wuppertal stirbt im Alter von 72 Jahren Wilhelm<br />

Koch. Der gelernte Schreiner gehörte vor<br />

1933 zu den führenden Persönlichkeiten der<br />

christlichen Gewerkschaftsbewegung. Er war<br />

Elberfelder Stadtverordneter (1919–1924) <strong>und</strong><br />

von 1919–1933 Mitglied des Reichstages. In<br />

den Jahren 1927/28 amtierte er als Reichsverkehrsminister.<br />

Nach 1933 übernahm Koch die<br />

Leitung des Thalia-Theaters.<br />

25. April<br />

Einweihung der Volksschule am Hammersberger<br />

Weg, heute eine Gr<strong>und</strong>schule.<br />

21. Juli<br />

Der zweijährige Elefant „Tuffi“ springt<br />

während einer Werbefahrt für den Zirkus<br />

Althoff zwischen den Stationen Alter Markt<br />

<strong>und</strong> Adlerbrücke aus einer fahrenden Schwebebahn.<br />

Bis auf einige kleine Schrammen<br />

überstand der 13 Zentner schwere Elefant den<br />

Sturz in die Wupper unverletzt. Obwohl zahlreiche<br />

Journalisten in der Schwebebahn mit -<br />

gefahren sind, hat keiner den Sprung foto -<br />

grafiert.<br />

■ 1975<br />

1. Januar<br />

Im Rahmen der kommunalen Neugliederung<br />

werden die Ortsteile Dönberg <strong>und</strong> Obensie -<br />

beneick (bisher Neviges), Dornap (bisher<br />

Wülf rath) <strong>und</strong> die Gemeinde Schöller nach<br />

Wuppertal eingemeindet.<br />

17. Januar<br />

Die evangelische Gemeinde Hatzfeld eröffnet<br />

in der Wilkhausstraße einen neuen Kindergarten.<br />

25. Januar<br />

Im Alter von 72 Jahren stirbt der Schauspieler<br />

Gustav Landauer. Der gebürtige Österreicher<br />

gehörte von 1932 bis zur Spielzeit 1966/67<br />

dem Ensemble der Wuppertaler Bühnen an. Er<br />

debütierte in Wuppertal mit dem „Romeo“ <strong>und</strong><br />

spielte in der Folgezeit u.a. den Hamlet, Mephisto<br />

<strong>und</strong> Danton.<br />

„Die Brautwerber von Loches“, ein Schauspiel<br />

von Georges Feydau, wird erstmals auf einer<br />

b<strong>und</strong>esdeutschen Bühne aufgeführt. Die Inszenierung<br />

leitete Jürgen Brosse, Bühnenbild <strong>und</strong><br />

Kostüme entwarf Herbert Wernike.<br />

4. März<br />

In Gießen stirbt der Unternehmer Otto Happich.<br />

(siehe 3. Juni 1900)<br />

14. März<br />

B<strong>und</strong>esdeutsche Erstaufführung der Oper „Levins<br />

Mühle“ von Udo Zimmermann; die Uraufführung<br />

fand 1973 an der Dresdner Staats -<br />

oper statt. In Wuppertal war Kurt Horres für<br />

die Inszenierung verantwortlich, das Bühnenbild<br />

<strong>und</strong> die Kostüme schuf Hanna Jordan.<br />

14. Mai<br />

An seinem Altersruhesitz Detmold stirbt Oskar<br />

Hammelsbeck, der Gründungsrektor der<br />

Pädagogischen Hochschule Wuppertal. Nach<br />

Kriegsende trat er nachdrücklich für die hochschulbezogene<br />

Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen<br />

ein <strong>und</strong> folglich wurde er 1946<br />

mit der Gründung <strong>und</strong> dem Aufbau einer<br />

143


Pädagogischen Hochschule in Wuppertal beauftragt;<br />

bis 1951 war er Rektor dieser Hochschule.<br />

Hammelsbeck, der 1899 in Elberfeld<br />

geboren wurde, lehrte gleichzeitig auch an der<br />

Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Darüber<br />

hinaus engagierte er sich in wissenschaftlichen<br />

Verbänden <strong>und</strong> Vereinigungen, u.a. war er Präsident<br />

des Deutschen Pädagogischen Hochschultages.<br />

Juni<br />

Eröffnung des katholischen Kindergartens der<br />

St. Christopherus-Gemeinde in Barmen.<br />

7. Juli<br />

Eröffnung eines evangelischen Kindergartens<br />

am Dönberg.<br />

26. August<br />

Der Maler Albrecht Kettler stirbt im Alter von<br />

77 Jahren in Wuppertal. Schwerpunkte seines<br />

künstlerischen Schaffens waren großformatige<br />

Porträts <strong>und</strong> figürliche Kompositionen. Für<br />

seine Arbeiten wurde der gebürtige Barmer mit<br />

zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. erhielt<br />

er 1927 den „Großen Staatspreis der preußischen<br />

Akademie für bildende Kunst.“<br />

1. September<br />

Eröffnung des städtischen Kindergartens „An<br />

der Blutfinke“.<br />

Einweihung des Schulzentrums Süd am Jung-<br />

Stilling-Weg. Erstmals in Wuppertal wurden ein<br />

Gymnasium, eine Realschule <strong>und</strong> eine Hauptschule<br />

in einem Gebäudekomplex untergebracht;<br />

in dieser Größenordnung übrigens damals<br />

ein Novum für ganz Nordrhein-Westfalen.<br />

13. September<br />

B<strong>und</strong>esdeutsche Erstaufführung des Volksstückes<br />

„Der magere Preis von Kuba“ von<br />

Hector Quintero. Inszeniert wurde die Aufführung<br />

von Karl Paryla, Bühnenbild <strong>und</strong> Kostüme<br />

schuf Jürgen Dreier.<br />

1. Oktober<br />

In München stirbt im Alter von 68 Jahren der<br />

Theaterregisseur Helmut Henrichs. Der gebür-<br />

144<br />

tige Elberfelder war von 1953 bis 1958 Generalintendant<br />

der Wuppertaler Bühnen. In seiner<br />

Wuppertaler Zeit hat er sich große Verdienste<br />

bei der Förderung des Drei-Sparten-Theaters<br />

erworben.<br />

4. Oktober<br />

Konsekration der St. Ewald-Kirche in Cronenberg<br />

durch Weihbischof Dick. Mit der Einsegnung<br />

der vierten Pfarrkirche in Cronenberg erhielt<br />

die Gemeinde auch ihren ursprünglichen<br />

Namen „St. Ewald“ zurück; diesen Namen trug<br />

auch schon die erste katholische Kirche vor der<br />

Reformation.<br />

Deutsche Erstaufführung der Oper „Ein wahrer<br />

Held“ von Giselher Klebe. Die Inszenierung<br />

lag in den Händen von Friedrich Meyer-Oertel,<br />

die musikalische Leitung hatte Hanns-Martin<br />

Schneidt, das Bühnenbild entwarf Jürgen<br />

Dreier <strong>und</strong> die Kostüme Marion Gerretz.<br />

27. Oktober<br />

Inbetriebnahme des neuen Wasserturms auf<br />

Lichtscheid, der den Druckausgleich bei der<br />

Wasserversorgung auf den Wuppertaler Südhöhen<br />

verbesserte.<br />

30. Oktober<br />

Im Alter von 74 Jahren stirbt in Schwelm Pastor<br />

Hermann Haarbeck, der von 1951 bis 1968<br />

die Evangelistenschule Johanneum geleitet<br />

hat.<br />

19. November<br />

Im Alter von 78 Jahren stirbt Alfred Dobbert.<br />

Seit seiner Jugendzeit engagierte er sich politisch<br />

<strong>und</strong> gewerkschaftlich <strong>und</strong> bereits 1920<br />

wurde er hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär.<br />

Darüber hinaus war er als Journalist <strong>und</strong><br />

Redakteur tätig, um mit Hilfe der Presse Belange<br />

der Arbeiterschaft einer breiten Öffentlichkeit<br />

bekannt zu machen <strong>und</strong> ihren Forderungen<br />

Nachdruck zu verleihen. Nach 1945 bekleidete<br />

Dobbert, der gebürtige Barmer, zahlreiche<br />

politische Ämter, u.a. war er von 1961<br />

bis 1966 Vizepräsident des nordrhein-westfälischen<br />

Landtages sowie von 1961–1964 Wup-


pertaler Bürgermeister.<br />

29. November<br />

Uraufführung des Märchens „Die Wawuschels<br />

mit den grünen Haaren“ von B.A. Mertz. Regie<br />

führte Gregor Bals, für das Bühnenbild <strong>und</strong> die<br />

Kostüme war Herbert Scherreiks zuständig.<br />

31. Dezember<br />

„Der B<strong>und</strong>. Gesellschaft für geistige Erneuerung“<br />

löst sich auf. Gegründet Anfang des Jahres<br />

1946 war es das Hauptanliegen des B<strong>und</strong>es<br />

„das Fachwissen der einzelnen Wissenschaftler<br />

unter ein gemeinsames Ziel zu stellen <strong>und</strong> gebündelt<br />

für eine geistige Erneuerung nach 1945<br />

Noch lieferbar! Noch lieferbar! Noch lieferbar! Noch lieferbar!<br />

Herbert Pogt (Bearb.):<br />

Historische Ansichten aus dem Wuppertal<br />

des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Zweite, überarbeitete Auflage – Selbstverlag des Bergischen Geschichtsvereins –<br />

Abt. Wuppertal, Wuppertal 1998, 188 S., zahlr. Abb.<br />

(=Beiträge zur Geschichte <strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e Wuppertals, Sonderband)<br />

Als dieser Bildband 1989 in seiner Erstauflage erschien, war er innerhalb kurzer Zeit vergriffen.<br />

Weil immer wieder Anfragen an den Bergischen Geschichtsverein gerichtet worden sind, hat man<br />

sich entschlossen, eine Neuauflage herauszugeben. Abbildungen <strong>und</strong> Texte sind gegenüber der<br />

ersten Auflage unverändert geblieben, einige seinerzeit unentdeckt gebliebene Fehler wurden vom<br />

Autor korrigiert.<br />

Zu beziehen über den Buchhandel oder das Stadtarchiv, Friedrich-Engels-Allee 89–91,<br />

42485 Wuppertal (Tel.: 02 02/5 63-66 23 oder 41 23)<br />

Preis: DM 75,– (für BGV-Mitglieder DM 65,–, nur im Stadtarchiv erhältlich) zzgl. Versandkosten<br />

145


Peter Elsner<br />

Wuppertaler Neuerscheinungen 1998/99<br />

Im folgenden sind wichtige Wuppertaler Neuerscheinungen<br />

aufgelistet, die in den Jahren<br />

1998/99 – einige „Nachzügler“ aus 1997 sind<br />

auch dabei – erschienen sind. Diese Literaturliste<br />

erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.<br />

Außerdem sind nur selbständige Veröffentlichungen<br />

aufgenommen worden, die sich ausschließlich<br />

oder zum großen Teil mit Wuppertaler<br />

Themen oder Persönlichkeiten beschäftigen.<br />

Aufsätze <strong>und</strong> Abhandlungen aus Zeitschriften<br />

<strong>und</strong> Sammelwerken sind absichtlich<br />

nicht berücksichtigt worden. Wegen der oben<br />

gemachten Einschränkungen ist in der Überschrift<br />

auch bewußt das Wort „Bibliographie“<br />

vermieden worden.<br />

Die Uhrmacher- <strong>und</strong> Goldschmiedefamilie<br />

Abeler. Ihre Vorfahren <strong>und</strong> ihre Verwandten.<br />

Lebensläufe, Daten <strong>und</strong> Fakten, besondere Ereignisse,<br />

bearb. <strong>und</strong> hrsg. von Jürgen Abeler,<br />

Sprockhövel: Verlag Dr. Eike Pies 1998, 2<br />

Bde., 1163 S., 25 Tafeln, 376 Abb. (= Familien-<br />

Chroniken, Bd. 10)<br />

„Abenteuer Wissenschaft“. Forschung <strong>und</strong><br />

Entwicklung an der Bergischen Universität/<br />

Gesamthochschule Wuppertal. Dokumentation<br />

einer Ausstellung anläßlich des 25jährigen Bestehens<br />

der Bergischen Universität/Gesamthochschule<br />

Wuppertal, hrsg. vom Rektorat der<br />

Bergischen Universität/Gesamthochschule<br />

Wup per tal, Remscheid: RGA-Druck 1997,<br />

78 S., zahlr. Abb.<br />

Battenfeld, Beate: Die Ziegelindustrie im<br />

Bergischen Land. Ein wirtschaftshistorischer<br />

Beitrag zur Architekturgeschichte <strong>und</strong> Denkmalpflege,<br />

hrsg. vom Bergischen Geschichtsverein,<br />

Abt. Solingen, Remscheid: Neusser-<br />

Werbedruck GmbH 1998, 270 S., 164 Abb.<br />

Bormann, Cornelius: Ein Stück menschlicher.<br />

Johannes Rau. Die Biographie, Wuppertal:<br />

Peter Hammer Verlag GmbH 1999, 271 S.,<br />

zahlr. Abb.<br />

146<br />

30 Jahre Wuppertaler Siedlerjugend, hrsg.<br />

von der Wuppertaler Siedlerjugend – WSJ,<br />

Wuppertal: WupperDruck oHG 1998, 54 S.,<br />

zahlr. Abb.<br />

Eschmann, Jürgen: Die Wuppertaler Schwebebahn.<br />

Geschichte – Technik – Kultur, hrsg.<br />

von den Wuppertaler Stadtwerken, Lengerich<br />

2. Aufl. 1998, 248 S., zahlr. Abb.<br />

Filmer, Werner/Klein, Wolfgang: Johannes<br />

Rau – Der B<strong>und</strong>espräsident, Bergisch Gladbach:<br />

Gustav Lübbe Verlag 1999, 240 S., zahlr. Abb.<br />

Foto-Schätze aus dem WSW-Archiv, ausg.<br />

von Michael Malicke, [Wuppertal 1998], o.S.,<br />

zahlr. Abb.<br />

25 Jahre Antoniuskirche 1973–1998. Dokumentation<br />

zur Baugeschichte von Werner A.<br />

Zimmermann, Wuppertal 1998, o.S.<br />

50 Jahre GEWG Wuppertal, hrsg. von der<br />

Gemeinnützigen Eisenbahn-Wohnungsbau<br />

GmbH Wuppertal, Wuppertal: Ulrico Druck<br />

1999, 44 S., zahlr. Abb.<br />

50 Jahre Kolpingsfamilie Wuppertal-Cronenberg<br />

1948–1998, hrsg. von der Kolpingsfamilie<br />

Wuppertal-Cronenberg, Essen: Brinck<br />

& Co. 1998, o.S., zahlr. Abb.<br />

50 Jahre VVN Wuppertal. 50 Jahre aktiver<br />

Antifaschismus in Wuppertal, Wuppertal 1997,<br />

32 S., zahlr. Abb.<br />

Geschichte im Wuppertal, hrsg. vom Bergischen<br />

Geschichtsverein, Abt. Wuppertal e.V. –<br />

Historischem Zentrum – Stadtarchiv – Stadtbibliothek,<br />

Jg. 7, 1998, 124 S., zahlr. Abb.<br />

Geschichten vam Ölberg, hrsg. von Siegfried<br />

Becker, ill. von K.-J. Burandt, Wuppertal: Data<br />

System/Götzky-Drucke o.J., 56 S.


Gleichstrom – Wechselstrom, hrsg. von der<br />

Stadtbibliothek Wuppertal, Wuppertal 1998,<br />

107 S. (= Wuppertaler Texte 1)<br />

Hahne, Heinrich: Nachhall – Gedanken, Beobachtungen,<br />

Erfahrungen aus einem langen<br />

Leben, Wuppertal: Staats-Verlag 1997, 908 S.<br />

Hahne, Heinrich: Hinsichten auf Sammelausstellungen<br />

<strong>und</strong> auf einzelne Künstler, Wuppertal:<br />

Staats-Verlag 1997, 859 S.<br />

„hoch auf dem Engelnberg“. Der Alte Jüdische<br />

Friedhof in Elberfeld. Eine Dokumentation,<br />

hrsg. vom Trägerverein Bildungsstätte<br />

Alte Synagoge Wuppertal e.V., Wuppertal:<br />

Druckservice HP Nacke KG 1998, 71 S., zahlr.<br />

Abb.<br />

100 Jahre Chor der St.-Antonius-Kirche,<br />

hrsg. vom Chor der St.-Antonius-Gemeinde,<br />

Wuppertal: HP Nacke KG 1999, 186 S., zahlr.<br />

Abb.<br />

100 Jahre Preußische Bandwirkerschule<br />

1899–1999, hrsg. vom Ronsdorfer Heimat<strong>und</strong><br />

Bürgerverein, Wuppertal-Ronsdorf 1999,<br />

24 S., zahlr. Abb.<br />

100 Jahre Schule an der Gertrudenstraße 1.<br />

Juni 1899 – 1. Juni 1999, Wuppertal 1999, 40<br />

S., zahlr. Abb. (= Guckt mal rein. Schulzeitung<br />

der Hauptschule Gertrudenstraße. Jubiläumsausgabe<br />

99)<br />

100 years Aspirin. The future has just begun,<br />

hrsg. von der Bayer AG, Bad Oeynhausen:<br />

Kunst- <strong>und</strong> Werbedruck 1997, 132 S., zahlr.<br />

Abb.<br />

125 Jahre Männerchor Union Wuppertal,<br />

hrsg. vom Männerchor Union Wuppertal,<br />

Wuppertal: Druckerei Ehrlich 1998, o.S., zahlr.<br />

Abb.<br />

160 Jahre Offizierverein Wuppertal. Chronik<br />

1838–1998, hrsg. vom Offizierverein Wuppertal<br />

von 1838, Wuppertal:Götzky Drucke<br />

Data System 1998, 24 S., zahlr. Abb.<br />

Jung, August: Als die Väter noch Fre<strong>und</strong>e waren.<br />

Aus der Geschichte der freikirchlichen Bewegung,<br />

Wuppertal: R. Brockhaus-Verlag<br />

1999, 198 S. (= Kirchengeschichtliche Monographien<br />

(KGM), Bd. 5)<br />

Kaufmann, Ursula: Pina Bausch. Nur Du,<br />

Wuppertal: Verlag Müller+Bussmann 1998,<br />

165 S., (Bildband)<br />

(K)ein anderes Wuppertal. Fotographien <strong>und</strong><br />

Stimmen zum Leben im Tal hrsg. von Hans Peter<br />

Nacke, Christian Graeff <strong>und</strong> Björn Ueberholz,<br />

Wuppertal: Verlag HP Nacke 1998,<br />

144 S., zahlr. Abb.<br />

Alfred Leithäuser 1898–1979. In Erinnerung<br />

zum H<strong>und</strong>ersten Geburtstag, hrsg. von Sabine<br />

Fehlemann, Wuppertal: Druckerei Hitzegrad<br />

1999, 56 S., zahlr. Abb. (= Ausstellungskatalog)<br />

Lüttgen, Franz: Johann Gregor Breuer <strong>und</strong><br />

Adolph Kolping. Studien zur Frühgeschichte<br />

des Katholischen Gesellenvereins, Paderborn:<br />

Bonifatius-Verlag 1997, 398 S., 12 Abb.<br />

Michels Erwachen – Emanzipation durch<br />

Aufstand? Studien <strong>und</strong> Dokumente zur Ausstellung,<br />

hrsg. von Michael Knieriem, Neustadt<br />

a.d. Aisch: Verlagsdruckerei Schmidt<br />

GmbH 1998, 325 S., zahlr. Abb. (= Ausstellungskatalog)<br />

Neues bergisches Wappenbuch bürgerlicher<br />

Familien. Heraldik – Genealogie – Bibliographie,<br />

hrsg. von Eike Pies, Solingen: Verlag E.<br />

& U. Brockhaus 1998, Textband: 352 S., Tafelband:<br />

133 SW-Tafeln <strong>und</strong> XXIV Farbtafeln<br />

(= Bibliothek für Familienforscher, Bd. 3)<br />

Nigg, Walter: Gerhard Tersteegen. Der Verstand<br />

des Herzens. Ein Lebensbericht, Giessen:<br />

Brunnen Verlag, 2. Aufl. 1998, 61 S.<br />

Oelemann, Christian: Totmann. Ein schwebendes<br />

Verfahren, Wuppertal: Atelier Verlag<br />

1997, 106 S.<br />

Pies, Eike: Geschichte der bergischen Familie<br />

147


Brockhaus vom Hof Bruchhausen im Kirchspiel<br />

Wiedenest in (Wuppertal-)Elberfeld <strong>und</strong><br />

zur Geschichte der Familie Bruckenhaus vom<br />

Schepershof im Kirchspiel Langenberg,<br />

Sprockhövel: Verlag Dr. Eike Pies 1998,<br />

300 S., zahlr. Abb.<br />

Schmidt, Jochen: Pina Bausch – Tanzen gegen<br />

die Angst, Düsseldorf/München: Econ/List<br />

Taschenbuch Verlag, 2. Aufl. 1998, 246 S.,<br />

zahl. Abb. (Econ & List, Bd. 26513)<br />

Schnöring, Kurt: Ronsdorf im Wandel der<br />

Zeiten, Horb am Neckar: Geiger-Verlag 1998,<br />

72 S., zahlr. Abb.<br />

Schröder, Erich: Oskar Erbslöh. Ein rheinischer<br />

Luftfahrt-Pionier, hrsg. vom Deutschen<br />

Aero-Philatelisten-Club e.V., o.O. 1997,<br />

137 S., zahlr. Abb.<br />

Seifert, Wolfgang: Günter Wand: So <strong>und</strong> nicht<br />

anders. Gedanken <strong>und</strong> Erinnerungen, Hamburg:<br />

Hoffmann <strong>und</strong> Campe 1998, 528 S.,<br />

zahlr. Abb.<br />

Sonnenfeld, Herta: Stufen zur Freiheit. Die<br />

Geschichte meines Lebens, übers., eing. <strong>und</strong><br />

komm. von Christoph Knüppel, hrsg. von der<br />

Forschungsgruppe Wuppertaler Widerstand,<br />

Bocholt: Achterland Verlagscompagnie 1998,<br />

65 S., zahlr. Abb. (= Verfolgung <strong>und</strong> Widerstand<br />

in Wuppertal, Bd. 1)<br />

„Spurwechsel“. Regionale 2006 im Bergischen<br />

Städtedreieck Remscheid – Solingen –<br />

Wuppertal, hrsg. vom Arbeitskreis Regionale<br />

2006 des Regionalbüros Bergisches Städte -<br />

dreieck Remscheid – Solingen – Wuppertal,<br />

Wuppertal 1998, 223 S. u. Anl., zahlr. Abb.<br />

Stracke, Stephan: Mit rabenschwarzer Zuversicht.<br />

Kommunistische Jugendliche in Wuppertal<br />

1916–1936. Millieu <strong>und</strong> Widerstand,<br />

hrsg. von der Forschungsgruppe Wuppertaler<br />

Widerstand, Bocholt: Achterland Verlagscompagnie<br />

1998, 146 S., zahlr. Abb. (= Verfolgung<br />

<strong>und</strong> Widerstand in Wuppertal, Bd. 2)<br />

Gerhard Tersteegen. Ich bete an die Macht<br />

148<br />

der Liebe. Eine Auswahl aus seinen Werken,<br />

hrsg. von Dietrich Meyer, Giessen: Brunnen-<br />

Verlag, 2. Aufl. 1998, 374 S.<br />

Unter Schienen schweben, hrsg. vom Museum<br />

Ludwig/Agfa Photo-Historama Köln,<br />

Göttingen: Steidl-Verlag 1999, 111 S. zahlr.<br />

Abb. (= Ausstellungskatalog)<br />

„Wir werden siegen, wenn wir einig sind.“<br />

Quellen zur Revolution 1848/49 in Remscheid,<br />

Solingen, Wuppertal, bearb. von Ralf Rogge,<br />

hrsg. vom Historischen Zentrum Remscheid,<br />

Stadtarchiv Solingen <strong>und</strong> Stadtarchiv Wuppertal,<br />

177 S.<br />

„With a little help from my friends“. 25 Jahre<br />

Gesellschaft der Fre<strong>und</strong>e der Bergischen Universität,<br />

hrsg. von der Gesellschaft der Fre<strong>und</strong>e<br />

der Bergischen Universität, Remscheid: rga-<br />

Druck 1998, o.S.<br />

Wuppertaler Künstler – Landschaften. Neuhoff<br />

– Nantke – Dost. Ausstellung des Kunst<strong>und</strong><br />

Museumsvereins Wuppertal in der Kunsthalle<br />

Barmen im Haus der Jugend, hrsg. vom<br />

Kunst- <strong>und</strong> Museumsverein Wuppertal, Wuppertal:<br />

Druckerei Hitzegrad 1999, 36 S., zahlr.<br />

Abb. (= Ausstellungskatalog)<br />

Wuppertaler Rückblende. Ein historischer<br />

Bilderbogen aus dem WSW-Archiv, ausg. von<br />

Michael Malicke, [Wuppertal 1998], 64 S.,<br />

zahlr. Abb.<br />

10 Jahre Gesamtschule Wuppertal-Langerfeld.<br />

Mit Kopf, Herz <strong>und</strong> Hand. Miteinander<br />

Leben <strong>und</strong> Lernen, hrsg. vom Förderverein der<br />

Gesamtschule Langerfeld in Zusammenarbeit<br />

mit dem Kollegium <strong>und</strong> der Schulleitung,<br />

Wuppertal: b+s Druck GmbH 1998, 206 S.,<br />

zahlr. Abb.<br />

Zwischen den Bergen. Wuppertaler Heimatlieder<br />

von Herbert Heßler, Wuppertal, Selbstverlag<br />

1998, 29 Lieder


<strong>Nachrichten</strong><br />

Mitgliederversammlung 1999 des BGV, Abteilung Wuppertal<br />

Die diesjährige Mitgliederversammlung<br />

des BGV, Abteilung Wuppertal, fand am 4.<br />

März 1999 in gewohntem Rahmen im Lesesaal<br />

der Stadtbibliothek Wuppertal statt. Von den<br />

886 Mitgliedern nahmen etwa 80 Mitglieder an<br />

der Versammlung teil. Der Vorsitzende trug<br />

den allgemeinen Rechenschaftsbericht, der<br />

Schatzmeister den Kassenbericht vor. Nach<br />

dem Bericht der Kassenprüfer Frau Weidenbach<br />

<strong>und</strong> Herrn Dr. Paetzold wurde dem Vorstand<br />

von der Versammlung Entlastung erteilt.<br />

Zuvor war der im Jahre 1998 verstorbenen<br />

Mitglieder des Vereins ehrend gedacht worden.<br />

Es waren dies die Damen <strong>und</strong> Herren Ruth<br />

Barth, Walther Gothe, Heinz Hensing, Uwe<br />

Herder, Dr. Ursula Lahse, Heinrich Lembke,<br />

Kurt Niederau, Peter Schmitz, Siegm. Schumacher,<br />

Gertrud Stoever <strong>und</strong> Gerda Wuester.<br />

Wie seit einigen Jahren üblich erhielten die<br />

Jubilare auch in diesem Jahr ein Buchgeschenk;<br />

für 40jährige Mitgliedschaft Frau Dr. Marie-<br />

Agnes Schnittert <strong>und</strong> Herr Professor Dr. Diethelm<br />

Balke, für 25jährige Mitgliedschaft die<br />

Damen <strong>und</strong> Herren Eberhard Droullier, Margarete<br />

Eisolt, Barbara Faulenbach, Werner Heyer,<br />

Günter Hoffmann, Bruno Rasch, Horst Rudolph,<br />

Christa Schlieper, Kurt Schnöring, Wilhelmine<br />

Schultheiß sowie die Firma Verpackungs-Industrie<br />

GmbH. Es ist die oft langjährige Treue unserer<br />

Mitglieder, die Vorstand <strong>und</strong> Beirat unseres<br />

Vereins dankbar empfinden <strong>und</strong> die uns ermöglicht,<br />

unsere Arbeit am „historischen Bewußtsein“<br />

unserer Stadt, ihrer Stadtteile <strong>und</strong> ihrer<br />

Umgebung zu unternehmen. Wir haben diese<br />

Arbeit – wie in den Jahren zuvor – vor allem in<br />

drei Bereichen geleistet: der Verein bietet ein<br />

umfangreiches Vortragsangebot, das Frau<br />

Meyer-Kahrweg schon seit vielen Jahren betreut,<br />

er veranstaltet weiterhin zahlreiche historische<br />

Exkursionen, Fahrten <strong>und</strong> Wanderungen,<br />

für die Frau Dr. Lekebusch <strong>und</strong> Herr Esser verantwortlich<br />

zeichnen, <strong>und</strong> er gibt Publikationen<br />

heraus <strong>und</strong> unterstützt Veröffentlichungen. An<br />

eigenen Publikationen erarbeiteten Vorstand <strong>und</strong><br />

Beirat eine neue Ausgabe der „Geschichte im<br />

Wuppertal“, einer Zeitschrift, die inzwischen im<br />

8. Jahrgang erscheint, <strong>und</strong> auf vielfachen<br />

Wunsch unserer Mitglieder wurde der Prachtband<br />

zum 125jährigen Jubiläum des BGV, die<br />

„Historischen Ansichten aus dem Wuppertal“,<br />

herausgegeben <strong>und</strong> bearbeitet von Dr. H.Pogt,<br />

neu aufgelegt – wahrlich ein Kraftakt für unseren<br />

Verein. Zur Veröffentlichung einer Festschrift<br />

für den an der Bergischen Universität lehrenden<br />

Architekturhistoriker Hermann J. Mahlberg<br />

unter dem Titel „Kunst <strong>und</strong> Architektur“<br />

gewährte der Bergische Ge schichts verein einen<br />

Zuschuß, schließlich unterstützte er die Stadtbibliothek<br />

Wuppertal <strong>und</strong> das Historische Zentrum<br />

mit namhaften Beträgen.<br />

Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang,<br />

daß Vorstand <strong>und</strong> Beirat zwei neue Beiratsmitglieder<br />

kooptiert haben, die Herren Privatdozent<br />

Dr. Wolfgang Heinrichs <strong>und</strong> Christoph<br />

Heuter M.A., so daß neben dem aus vier Personen<br />

bestehenden Vorstand (Prof. Dr. V. Wittmütz,<br />

H.J. de Bruyn-Ouboter, Dr. W. Wicht<br />

<strong>und</strong> G. Birker) insgesamt 13 Damen <strong>und</strong> Herren<br />

den Beirat unserer Abteilung bilden.<br />

Zur Erneuerung der Schwebebahn hatte unser<br />

Mitglied Herr Stieglitz noch einmal einen<br />

Antrag vorgelegt, der BGV Wuppertal möge<br />

die Verantwortlichen der Wuppertaler Stadtwerke<br />

auffordern, sämtliche Dokumente <strong>und</strong><br />

Gutachten zur Erneuerung der Schwebebahn<br />

der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.<br />

Nachdem dieser Antrag schon bei Zusammenkünften<br />

der Jahre 1997 <strong>und</strong> 1998 sehr kontrovers<br />

<strong>und</strong> heftig erörtert worden war, verzichtete<br />

man dieses Mal auf eine ausführliche<br />

Diskussion <strong>und</strong> schritt – nach einer kurzen Begründung<br />

des Antrags durch Herrn Stieglitz –<br />

zur Abstimmung, die folgendes Resultat erbrachte:<br />

Für den Antrag Stieglitz 10 Stimmen, gegen<br />

den Antrag 42 Stimmen, Enthaltungen 14<br />

Stimmen.<br />

Damit war dieser Antrag abgelehnt worden.<br />

149


Rückschau auf die Vorträge von 1998/99<br />

Unsere Vorträge finden – wenn nichts dazwischen<br />

kommt – immer am ersten Donnerstag<br />

der Monate Februar, März, April, Mai sowie<br />

September, Oktober <strong>und</strong> November um<br />

19.00 Uhr in der Zentralbibliothek in Wuppertal-Elberfeld,<br />

Kolpingstraße 8, statt. Die Veranstaltung<br />

im April 1999 mußte leider wegen<br />

der Osterferien ausfallen.<br />

Am 3. September 1998, sprach Prof. Dr.<br />

Paul Derks, Germanist an der Universität Essen,<br />

zum Thema „Die Wuppertaler Siedlungsnamen<br />

– Ein sprachwissenschaftlicher<br />

Streifzug“. Er beschränkte sich allerdings auf<br />

die Erläuterung weniger Begriffe, wie „Barmen“,<br />

„Elberfeld“ <strong>und</strong> „Carnap“, wobei deutlich<br />

wurde, daß sich bei der Erforschung der<br />

Namensursprünge ein weites Feld auftut, bei<br />

dem man oft Wege zu finden glaubt, die in<br />

Sackgassen münden. Ein Gr<strong>und</strong>satz, den Prof.<br />

Derks seinen Zuhörern nahe zu bringen suchte,<br />

lautet: „Trau keiner Quelle, die du nicht selber<br />

hast sprudeln sehen“. Wir hoffen, daß Prof.<br />

Derks seine Überlegungen <strong>und</strong> Teile seiner<br />

Forschungsergebnisse für „Geschichte im<br />

Wuppertal“ zur Verfügung stellen wird.<br />

Am 1. Oktober 1998 gab Herr Dr. Uwe<br />

Eckardt, Direktor des Wuppertaler Stadtarchivs,<br />

einen interessanten Überblick über „Die<br />

Revolutionsjahre 1848/49 in Elberfeld“.<br />

Die wachsende Unzufriedenheit des Bürgertums<br />

<strong>und</strong> der Industriearbeiterschaft mit<br />

den politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Verhältnissen<br />

führte 1848/49 dazu, daß es in vielen<br />

Städten Deutschlands zu Unruhen kam. Der<br />

„Elberfelder Aufstand“, der im Morgengrauen<br />

des 17. Mai 1849 (Christi Himmelfahrt) mit<br />

dem Abzug der letzten Freischärler in Richtung<br />

Rheinpfalz nach wenigen Tagen zusammenbrach,<br />

war Teil der „Reichsverfassungskampagne“.<br />

Ihre Anhänger sprachen sich für die von<br />

der Frankfurter Nationalversammlung am 28.<br />

März 1849 in Kraft gesetzte, jedoch u.a. von<br />

Preußen, Sachsen, Bayern <strong>und</strong> Österreich nicht<br />

anerkannte demokratische Reichsverfassung<br />

<strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen Gr<strong>und</strong>rechtekata-<br />

150<br />

log aus. In vielen Teilen Deutschlands eskalierte<br />

die Gewalt.<br />

In Elberfeld prallten die unterschiedlichsten<br />

Interessen aufeinander, bei denen es zu<br />

keiner Einigung kommen wollte. Den konservativen<br />

Bürgerkreisen stand die oppositionelle<br />

Arbeiterschaft gegenüber, die sich von der<br />

neuen Verfassung vor allen Dingen handfeste<br />

wirtschaftliche Veränderungen versprach. Ihnen<br />

waren ideelle Vergünstigungen wie Pressefreiheit<br />

etc. gleichgültig. Elberfeld zählte zu<br />

dieser Zeit bei 46.000 Einwohnern 3.000 arbeitslose<br />

Familienväter. Suppenküchen mußten<br />

eingerichtet werden, es gab viele Konkurse u.a.<br />

auch wegen der bis dahin üblichen Regelung,<br />

daß Handwerkerrechnungen nur einmal im<br />

Jahr bezahlt wurden <strong>und</strong> kaum einer der Betroffenen<br />

die Wartezeit überbrücken konnte.<br />

Die Parole hieß: „Was geht uns Preß freiheit an,<br />

wir brauchen Freßfreiheit!“ Als es dann zu<br />

Barrikadenkämpfen zwischen Bürgerwehr,<br />

Landwehr, Freischärlern <strong>und</strong> aus Düsseldorf<br />

angerücktem Militär kam, gab es einige Tote,<br />

darunter den Kompanieführer Hans von Uttenhoven,<br />

dessen Grab sich noch heute auf dem<br />

Elberfelder reformierten Friedhof an der Hochstraße<br />

befindet.<br />

Eine viel beachtete Ausstellung zu den Revolutionsjahren<br />

1848/49 stellte Herr Dr. Mi -<br />

chael Knieriem, Direktor des Historischen<br />

Zentrums, unter dem Motto „Michels Erwachen“<br />

zusammen. Einen Quellenkatalog mit<br />

dem Titel „Wir werden siegen, wenn wir einig<br />

sind – Quellen zur 1848/49 Revolution in<br />

Remscheid, Solingen <strong>und</strong> Wuppertal“, erarbeiteten<br />

die Archive dieser Städte.<br />

Am Donnerstag, dem 5. November 1998,<br />

sprach Herr Stephan Laux, M.A., Wissenschaftlicher<br />

Assistent des Historischen Seminars<br />

der Heinrich Heine Universität Düsseldorf,<br />

zum Thema „Münster <strong>und</strong> Osnabrück<br />

1648: Zu Verlauf, Charakter <strong>und</strong> Wirkungen<br />

des Westfälischen Friedens“.<br />

Dabei ging es im Wesentlichen um eine<br />

Einordnung des Friedensschlusses in die europäische<br />

Staatengeschichte der Frühen Neu-


zeit (1500–1815). Eine der zentralen Fragen<br />

war, ob dem (bzw. den) Frieden des Jahres<br />

1648 wirklich eine „Befriedung“ der europäischen<br />

Verhältnisse folgte, <strong>und</strong> welche Frie -<br />

dens idee den Verträgen bzw. Verhandlungen<br />

eigentlich zugr<strong>und</strong>e lag. Taugt 1648 als historischer<br />

Vorläufer für die europäische Idee unserer<br />

Tage ? Wo bietet das Thema überhaupt Anknüpfungspunkte<br />

an die Gegenwart, die in<br />

mehr als musealen <strong>und</strong> nicht zuletzt kommerziellen<br />

Interessen liegen? Es ging in diesem Vortrag<br />

weniger um die unzählbaren Einzelbestimmungen<br />

<strong>und</strong> Probleme des Westfälischen<br />

Friedens, sondern eher um das diplomatiegeschichtliche<br />

<strong>und</strong> kulturelle Ereignis, auch in<br />

seiner praktischen Gestaltung. Können wir uns<br />

heute noch vorstellen, welcher Aufwand getrieben<br />

werden mußte, um Macht <strong>und</strong> Ansehen<br />

der an den Verhandlungen beteiligten Länder<br />

<strong>und</strong> ihrer jeweiligen Vertreter gebührend darzustellen?<br />

Können wir ermessen, welche Anstrengungen<br />

die Städte Münster <strong>und</strong> Osna -<br />

brück unternehmen mußten, um den reisenden<br />

Troß, dessen Größe überwältigend war, standesgemäß<br />

unterzubringen <strong>und</strong> zu beköstigen?<br />

Hätten wir heute noch Geduld für die Zeit, die<br />

verging, um durch reitende Boten die einzelnen<br />

Beschlüsse in den Heimatländern der Verhandlungspartner<br />

genehmigen zu lassen?<br />

Die Abteilung Wuppertal des BGV nahm<br />

im November <strong>und</strong> Dezember 1998 sowie im<br />

Januar 1999 die Gelegenheit zu Studienfahrten<br />

nach Münster <strong>und</strong> Osnabrück wahr, um an Ort<br />

<strong>und</strong> Stelle des historischen Geschehens entsprechende<br />

Ausstellungen zu besichtigen.<br />

Die Veranstaltungsreihe im ersten Halbjahr<br />

1999 begann am 4. Februar 1999 mit einem<br />

Vortrag von Frau Dr. Sigrid Lekebusch, Historikerin<br />

in Wuppertal, über „100 Jahre<br />

Frauenhilfe – Anfang <strong>und</strong> Wandel innerhalb<br />

eines Jahrh<strong>und</strong>erts“.<br />

Die Evangelische Frauenhilfe, 1899 von<br />

Kaiserin Auguste Viktoria gegründet, war in<br />

ihrer h<strong>und</strong>ertjährigen Geschichte zeitweise<br />

eine regelrechte Massenorganisation <strong>und</strong> ist<br />

dennoch bis heute ein weitgehend unbeachtetes<br />

Kapitel geblieben. 1900 wurde der rheinische<br />

Landesverband mit Sitz in Barmen ge-<br />

gründet.<br />

Während anfangs vor allen Dingen der<br />

Dienst der Frauen an Kranken, Schwachen, Alten<br />

<strong>und</strong> Armen im Mittelpunkt stand, wandelte<br />

sich das Selbstverständnis der Frauen immer<br />

mehr dahingehend, daß aus der bloß dienenden<br />

<strong>und</strong> mit gesenktem Kopf aufopfernde Hilfe gebenden<br />

Gestalt mehr <strong>und</strong> mehr ein selbstbewußter<br />

Mensch wurde, der in Eigenverantwortung<br />

handelte. Auch heute ist der Gedanke der<br />

Frauenhilfe noch lebendig <strong>und</strong> sollte nicht verwechselt<br />

werden mit frommen Kaffeekränzchen,<br />

sondern lebt von der geistigen Auseinandersetzung<br />

mit modernen Anforderungen innerhalb<br />

der Gesellschaft <strong>und</strong> der praktischen<br />

Umsetzung bei der Hilfe am Mitmenschen.<br />

Am 4. März 1999 setzten wir unsere Vortragsreihe<br />

mit Herrn Michael Okroy, M.A.,<br />

Literaturwissenschaftler in Wuppertal fort, der<br />

über „Karrieristen, Schreibtischtäter, Massenmörder:<br />

NS-Täter aus Wuppertal <strong>und</strong><br />

dem Bergischen Land“ sprach.<br />

Herr Okroy unterstrich zu Recht, daß in der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik die Auseinandersetzung mit<br />

der NS-Vergangenheit lange Zeit einseitig mit<br />

Blick auf die Opfer des Nationalsozialismus<br />

gerichtet war, eine Konfrontation mit den Tätern<br />

jedoch bisher meist unterblieb. Erst im<br />

Zuge der Goldhagen-Debatte geriet dieser Personenkreis<br />

stärker in das öffentliche Blickfeld.<br />

Am Beispiel der Biographien <strong>und</strong> (Nachkriegs-)<br />

Karrieren von NS-Tätern aus Wuppertal<br />

<strong>und</strong> dem bergischen Städtedreieck zeigte er<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage von Archivdokumenten <strong>und</strong><br />

Prozeßmaterialien auf, woher diese „ganz normalen“<br />

Männer kamen <strong>und</strong> auf welche Weise<br />

sie sich, ob als Schreibtischtäter oder ,Mordgehilfen‘,<br />

am Judenmord beteiligt hatten.<br />

Zum Abschluß unserer Vorträge des ersten<br />

Halbjahres 1999 sprach Herr Prof. Dr.<br />

Günther van Norden, Wuppertal, zum Thema<br />

„Reformierte Profile im Kirchenkampf –<br />

War die Theologie Gr<strong>und</strong>lage der Stellung -<br />

nahme zum Nationalsozialismus oder waren<br />

es historische Erfahrungen?“<br />

Prof. van Norden versuchte in seinem Vortrag,<br />

vier Gruppenprofile herauszuarbeiten, die<br />

151


sich im Bereich des reformierten Protestantismus<br />

in Deutschland während des Kirchenkampfes<br />

1933–1945 gebildet hatten. Das Spektrum<br />

reichte von der „Wuppertaler Gruppe“<br />

mit ihrer strikten Ablehnung einer „Gleichschaltung“<br />

durch die Politik <strong>und</strong> deren Einmischung<br />

in innerkirchliche Belange, bis hin zu<br />

den Stillen im Lande, die es vorzogen, mög -<br />

liche Einflußnahme durch NS-Ideologen zu<br />

igno rieren, indem sie das reine Wort Gottes<br />

ohne Wenn <strong>und</strong> Aber in den Mittelpunkt der<br />

kirchlichen Arbeit stellten. Auch gab es reformierte<br />

Kreise, die sich den Deutschen Christen<br />

<strong>Buchbesprechungen</strong><br />

Dietrich Meyer (Hg.): Kirchengeschichte als<br />

Autobiographie. Ein Blick in die Werkstatt<br />

zeitgenössischer Kirchenhistoriker. Rheinland-Verlag.<br />

Köln 1999. 424 Seiten <strong>und</strong> einige<br />

Abbildungen (Schriftenreihe des Vereins für<br />

Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 138)<br />

Das Biographische ist wieder gefragt in der<br />

Geschichtswissenschaft, nachdem es jahrelang<br />

im Zeichen von Sozialgeschichte, Strukturgeschichte<br />

<strong>und</strong> anderen -Geschichten verpönt<br />

war. Und im Zuge dieser Renaissance erlebt<br />

auch die Autobiographie eine neue Wertschätzung,<br />

etwa in den vielen Erinnerungen, die älter<br />

werdende Zeitgenossen anzufertigen gebeten<br />

werden. Meist sind es Ereignisse aus der<br />

Zeit des „Dritten Reiches“ bzw. der Nachkriegszeit,<br />

die in der individuellen Erinnerung<br />

lebendig werden sollen. Und angesichts des<br />

Tempos, in dem historische Veränderungen<br />

stattfinden, ist das Bemühen, Spuren des Vergangenen<br />

auch auf diese Art <strong>und</strong> Weise festzuhalten,<br />

nur allzu verständlich.<br />

Für den Leiter des Archivs der Evangelischen<br />

Kirche im Rheinland war es jedoch weniger<br />

die Geschwindigkeit der historischen<br />

Veränderung als vielmehr der Mangel an handfesten<br />

Informationen über Leben (<strong>und</strong> oft auch<br />

Werk) emeritierter Kirchenhistoriker, der ihn<br />

bewogen hat, diesen Band mit autobiographischen<br />

Skizzen eben jener Historiker herauszugeben,<br />

in denen sie Auskunft geben sollten<br />

152<br />

anschlossen <strong>und</strong> sogar eine kleine Gruppe, die<br />

fast vorbehaltlos in Adolf Hitler den von Gott<br />

gesandten Heilsbringer sah. Es stellte sich also<br />

heraus, daß, obwohl bei allen vier Gruppierungen<br />

die reformierte Theologie Basis ihres<br />

Glaubens war, es jedoch zu höchst unterschiedlichen<br />

Reaktionen auf den Nationalsozialismus<br />

kam. Die Theologie war demnach, wenn überhaupt,<br />

nur in sehr geringem Maße Gr<strong>und</strong>lage<br />

für politische Positionen, sondern die jeweiligen<br />

historischen Erfahrungen bestimmten den<br />

Weg.<br />

über ihren wissenschaftlichen Werdegang,<br />

über ihre Arbeit <strong>und</strong> über deren Ergebnisse.<br />

Und so kommen eine Dame <strong>und</strong> acht Herren zu<br />

Wort, unter ihnen Karl-Hermann Beeck <strong>und</strong><br />

Günther van Norden, die beiden Emeriti der<br />

Bergischen Universität Wuppertal.<br />

Um es in wenigen Worten zu sagen: das<br />

Buch hinterläßt beim Rezensenten einen zwiespältigen<br />

Eindruck. Nur wenige Skizzen, unter<br />

anderen die von Beeck <strong>und</strong> van Norden, sind<br />

knapp <strong>und</strong> doch aussagekräftig, auch mit der<br />

genügenden Distanz zur eigenen Person, gewissermaßen<br />

als „Selbstinterview“ – so der Titel,<br />

den Beeck seinem Rückblick gegeben hat –<br />

geschrieben worden. An etlichen anderen Stellen<br />

stößt man auf viel gespreizte Selbstdarstellung,<br />

auch auf Selbstrechtfertigung. Vielleicht<br />

hätte der Herausgeber sein vom Ansatz her<br />

durchaus begrüßenswertes Vorhaben schärfer<br />

strukturieren, auch seine Autoren straffer an<br />

der Leine führen <strong>und</strong> ihre Rückblicke strenger<br />

eingrenzen müssen. Eine gelegentlich humorvolle<br />

Sicht der Dinge hätte den Skizzen gleichfalls<br />

nicht geschadet, etwa so, wie sie Rudolf<br />

Mohr (Düsseldorf) anklingen läßt, der seinen<br />

Beitrag mit einem Gedicht von Wilhelm Busch<br />

schließt, dessen entscheidende Zeilen lauten:<br />

O weh! Ich war im Kreis gelaufen,<br />

Stand wiederum am alten Platze,<br />

Und vor mir dehnt sich lang <strong>und</strong> breit,<br />

Wie ehedem, die Ewigkeit.<br />

V.W.


Horst Groschopp: Dissidenten – Freidenkerei<br />

<strong>und</strong> Kultur in Deutschland. Berlin: Dietz<br />

Verlag, 1997, 448 Seiten.<br />

Hinter diesem etwas sperrigen Titel findet<br />

sich eine hochinteressante Darstellung jener<br />

Kräfte, welche um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende den<br />

Säkularisierungsprozeß entscheidend vorangetrieben<br />

haben. Speziell bezieht sich der Autor,<br />

ein Berliner Kulturwissenschaftler, dabei auf<br />

solche Gruppierungen, die dem „Weimarer<br />

Kartell für freiheitliche Kultur“ (1907–1919)<br />

angehörten <strong>und</strong> sich als eine Art „kultureller<br />

Gegenkirche“ verstanden. Auch Vorläufer- <strong>und</strong><br />

Nachfolge-Organisationen werden berücksichtigt,<br />

von Lichtfre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Deutschkatholiken<br />

des Vormärz bis zum Humanistischen <strong>und</strong><br />

Freidenker-Verband unserer Tage.<br />

Das Weimarer Kartell war ein loser, pragmatischer<br />

Dachverband, der lediglich etwa<br />

20 000 Persönlichkeiten (meist Intellektuelle)<br />

umfaßte. Trotz ihrer eigentlich lächerlichen<br />

Größe <strong>und</strong> bemitleidenswerten Heterogenität<br />

ist diese (heute nahezu vergessene) Vereinigung<br />

dennoch von beachtlicher Durchschlagskraft<br />

<strong>und</strong> weitreichender, anhaltender Wirkung<br />

gewesen. Groschopp qualifiziert sie als „Initiator<br />

<strong>und</strong> Förderer einer kulturellen <strong>und</strong> politischen<br />

Neuorientierung in Deutschland“, <strong>und</strong><br />

tatsächlich sind die im Gründungsprogramm<br />

formulierten, für den Kern freien Denkens repräsentativen<br />

10 Forderungen im Laufe des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts weitgehend Realität geworden.<br />

Überraschenderweise finden sich unter den<br />

bedeutendsten der angeschlossenen Gesellschaften<br />

gleich drei, welche Wuppertaler zu<br />

Vorsitzenden hatten:<br />

Hauptstütze des Kartells war die „Deutsche<br />

Gesellschaft für Ethische Kultur“, eine sehr aktive<br />

sozialpädagogische Organisation mit einer<br />

Reihe von Bildungs- <strong>und</strong> Wohlfahrtseinrichtungen.<br />

Von 1896 bis 1903 war ihr Vorsitzender<br />

der Berliner Philosophie-Professor <strong>und</strong><br />

vormalige Barmer Oberlehrer Dr. August<br />

Döring (1834–1912), ein Sohn des Elberfelder<br />

Jünglingsverein- <strong>und</strong> Dichter-Pastors. Schon<br />

als Dortm<strong>und</strong>er Gymnasialdirektor (1870–<br />

1883) war Döring vehement für die Trennung<br />

von Kirche <strong>und</strong> Staat eingetreten, insbesondere<br />

für die Abschaffung des kirchlichen Religions -<br />

unterrichts.<br />

Zweite Stütze des Kartells war der „Deutsche<br />

Monistenb<strong>und</strong>“, 1906 durch den darwinistischen<br />

Biologen Ernst Haeckel gegründet,<br />

um wissenschaftlichen Erkenntnissen <strong>und</strong><br />

Denkweisen zum Durchbruch gegenüber<br />

kirchlichen Lehren zu verhelfen. Zum ersten<br />

Vorsitzenden wählte man den in Bremen wirkenden<br />

liberalen Theologen Dr. Albert Kalthoff<br />

(1850–1906), der aus Barmen stammte<br />

<strong>und</strong> hier August Döhng als Lehrer gehabt hatte.<br />

Dritter im B<strong>und</strong>e war der „B<strong>und</strong> für Mutterschutz“.<br />

Dieser verdankte seine Existenz der<br />

Frauen- <strong>und</strong> Friedensarbeiterin Dr. Helene<br />

Stöcker (1869–1943) aus Elberfeld, <strong>und</strong> er<br />

steuerte zur überwiegend geisteswissenschaftlichen<br />

Akademikerschaft des Kartells eine Anzahl<br />

fortschrittlicher Frauen <strong>und</strong> Ärzte bei.<br />

Später kamen verschiedene Gruppierungen<br />

sozialistischer Arbeiter hinzu, die sich wiederum<br />

auf Friedrich Engels als geistigen Vater<br />

berufen konnten. Ferner erwähnt Groschopp<br />

aus dem Bereich religiöser Freigeister den germanophilen<br />

Barmer Maler Prof. Ludwig Fahrenkrog<br />

mit seinem „B<strong>und</strong> für Persönlichkeitskultur“<br />

sowie den Elberfelder Kaplan Licht als<br />

Gründer der deutschkatholischen Gemeinde.<br />

Groschopp stellt eine Vielzahl theoretischer<br />

Richtungen <strong>und</strong> Strömungen jeweils knapp<br />

oder exemplarisch dar <strong>und</strong> vermittelt einen lebhaften<br />

Eindruck von dem mächtigen geistigen<br />

Brodeln im ausgehenden Kaiserreich. Dabei<br />

stützt er sich fast ausschließlich auf Primärquellen<br />

<strong>und</strong> berücksichtigt die in den letzten<br />

Jahren so erfreulich angewachsene, reichhaltige<br />

Sek<strong>und</strong>ärliteratur nur sporadisch.<br />

Johannes Abresch<br />

Heinrich Hahne: Nachhall. Gedanken,<br />

Beobachtungen, Erfahrungen aus einem langen<br />

Leben. Hrsg. von Susanne Hahne: Wuppertal:<br />

Verlag Fr. Staats, 1997, 908 S.<br />

Heinrich Hahne: Hinsichten auf Sammel -<br />

ausstellungen <strong>und</strong> auf einzelne Künstler. Hrsg.<br />

von Susanne Hahne, Wuppertal: Verlag Fr.<br />

Staats, 1998, 859 S., je 82,50 DM (Ausliefe-<br />

153


ung durch die Galerie Schwarzkopf, Bredde<br />

99, 42277 Wuppertal)<br />

Es gehört zu den Besonderheiten unserer<br />

Stadt, daß sie sich mit ihren freien <strong>und</strong> kritischen<br />

Geistern immer schwer getan hat. Dies<br />

gilt auch für Heinrich Hahne (1911–1996). Der<br />

aus Gelsenkirchen stammende Lehrer, Dozent<br />

<strong>und</strong> Publizist studierte in Köln, München, Kiel,<br />

Berlin <strong>und</strong> Prag Deutsch, Geschichte, Französisch<br />

<strong>und</strong> Philosophie <strong>und</strong> wurde in Berlin von<br />

Nicolai Hartmann <strong>und</strong> Eduard Spranger in Philosophie<br />

<strong>und</strong> Musikwissenschaft als zweitem<br />

Hauptfach promoviert. Im Zweiten Weltkrieg<br />

war er Soldat. Über Lippststadt <strong>und</strong> Meschede<br />

kam er 1953 nach Wuppertal, wo er „hauptberuflich“<br />

bis zu seiner Pensionierung als Studiendirektor<br />

am Carl-Duisberg-Gymnasium unterrichtete.<br />

Dieser Beruf allein genügte dem<br />

engagierten <strong>und</strong> bei seinen Schülern beliebten<br />

Lehrer jedoch nicht. Heinrich Hahne gab an<br />

der Volkhochschule Kurse in den Fächern Literatur<br />

<strong>und</strong> Philosophie, wirkte als Fachleiter für<br />

Philosophie am Staatlichen Studienseminar,<br />

gehörte viele Jahre dem Prüfungssausschuß<br />

der Universität Köln für Philosophie an <strong>und</strong><br />

engagierte sich an der Gesamthochschule<br />

Duisburg als Gründer <strong>und</strong> Leiter einer Forschungsstelle<br />

für Philosophie. Vor allem war er<br />

aber mit Leib <strong>und</strong> Seele kritischer Publizist.<br />

Schon in den 30er Jahren schrieb er für das<br />

Berliner Tageblatt <strong>und</strong> die Frankfurter Zeitung.<br />

Von 1950 an gehörte er zu den ständigen Mitarbeitern<br />

der Frankfurter Allgemeinen Zeitung<br />

(FAZ). Für über 70 verschiedene Zeitungen<br />

<strong>und</strong> Zeitschriften verfaßte er Kritiken, Glossen<br />

Reiseberichte <strong>und</strong> Essays. Schwerpunkte bildeten<br />

die Bereiche Musik, Literatur, Philosophie<br />

<strong>und</strong> Pädagogik. Bereits zu Lebzeiten legte<br />

Heinrich Hahne Teilsammlungen seiner weit<br />

zerstreuten Arbeiten in mehreren Bänden vor<br />

(z.B. „In der Pause. Ketzereien eines Studienrates“,<br />

1956 oder „Wortwörtlich. Glossen <strong>und</strong><br />

Skizzen“, 1977 <strong>und</strong> zuletzt „Wort + Bild“,<br />

1990).<br />

Kurz nach dem Tode ihres Mannes hat Susanne<br />

Hahne im Herbst 1996 zwei Bände mit<br />

thematisch ausgewählten Texten unter den Titeln<br />

„Letzte Reisen. Auf vertrauten Wegen zu<br />

154<br />

bevorzugten Zielen“ <strong>und</strong> „Perspektiven. Erfahrungen<br />

aus einem langen Leben“ im Staats-<br />

Verlag veröffentlicht, die ebenfalls über die<br />

Galerie Schwarzkopf zu beziehen sind.<br />

Die hier anzuzeigenden voluminösen<br />

Bände „Nachhall“ <strong>und</strong> „Hinsichten“, die aus<br />

dem Nachlaß zusammengestellt sind, zeigen<br />

beeindruckend die ganze Breite <strong>und</strong> Vielfalt<br />

von Heinrich Hahnes publizistischem <strong>und</strong><br />

schriftstellerischem Schaffen. Der Bogen<br />

spannt sich im ersten Band von Persönlichem<br />

über Philosophie, Pädagogik <strong>und</strong> Sprache bis<br />

hin zu Kunst, Literatur <strong>und</strong> Musik. Umfang -<br />

reiche philosphische Essays über die Tendenz<br />

zur Unsterblichkeit oder das Wahre stehen neben<br />

kurzen Notizen über nicht datierte Theateraufführungen,<br />

die ohne nähere Erläuterungen<br />

im Gr<strong>und</strong>e nicht verständlich sind. Die Frage,<br />

ob mit der Aufnahme solcher Kurztexte dem<br />

Autor ein Gefallen getan worden ist, bleibt offen.<br />

Gerade bei den Theater- <strong>und</strong> Musikkritiken<br />

hätte ich mir die genauen Angaben, wann<br />

<strong>und</strong> wo sie erschienen sind, gewünscht. Die im<br />

Inhaltsverzeichnis aufgeführten Jahreszahlen<br />

helfen nur bedingt weiter. Immerhin bringen<br />

sie in das Bewußtsein, daß Heinrich Hahne länger<br />

als ein halbes Jahrh<strong>und</strong>ert sich kritisch,<br />

geistreich <strong>und</strong> sprachgewandt zu den verschiedensten<br />

Fragen der Zeit geäußert hat. Die ungenauen<br />

Datierungen gehen übrigens nicht auf<br />

das Konto der Herausgeberin. Der Verfasser<br />

hat auch in den von ihm selbst herausgegebenen<br />

Sammelbänden auf genaue Angaben verzichtet.<br />

Vielleicht haben ihn die exakten Quellennachweise<br />

nach dem Erscheinen der Texte<br />

auch nicht mehr interessiert, wollte er diese unabhängig<br />

davon sprechen <strong>und</strong> wirken lassen.<br />

Die Lektüre der Texte macht immer wieder<br />

deutlich, daß Heinrich Hahne keine Moden<br />

mitgemacht hat, immer unabhängig seine Meinung<br />

vertreten hat <strong>und</strong> deshalb auch unbequem<br />

gewesen ist (vgl. z.B. die Kritiken des DDR-<br />

Gastspiels mit dem Stück „Die neuen Leiden<br />

des jungen W.“, S. 466 oder der Brecht-Inszenierung<br />

des „Hofmeisters“, S. 501).<br />

Der Band „Hinsichten“ enthält Kunst -<br />

kritiken, die vor allem in der FAZ, Die Kunst<br />

<strong>und</strong> Weltkunst erschienen sind. Hinzu kommen<br />

Reden zu Ausstellungseröffnungen <strong>und</strong> Kata-


logbeiträge. Der Band ist nicht weniger als eine<br />

Geschichte der Kunst <strong>und</strong> des Kunstbetriebes<br />

der 2. Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts im Spiegel<br />

von Heinrich Hahnes Kritiken <strong>und</strong> Essays. Einigen<br />

Künstlern, die der Kritiker besonders<br />

schätzt – u.a. Christian Rohlfs <strong>und</strong> Emil<br />

Schumacher – nähert er sich aus einer immer<br />

wieder neuen Perspektive. Für die Wuppertaler<br />

Kunstgeschichte bildet dieser Band einen ge -<br />

radezu unerschöpflichen Steinbruch. Es ist<br />

gut, daß Susanne Hahne diese Bände vorgelegt<br />

hat.<br />

Ich weiß nicht, ob Heinrich Hahne selbst<br />

ihm angetragene Ehrungen oder Auszeichnungen<br />

kategorisch abgelehnt hat. Angesichts seines<br />

Lebenswerkes, das sich in diesen beiden<br />

Bänden widerspiegelt, überrascht es doch, daß<br />

er nicht nach seinem Aussscheiden aus dem<br />

Kuratorium für die Verleihung des Von der<br />

Heydt-Preises diese Auszeichnung erhalten hat<br />

oder für eine andere Ehrung vorgeschlagen<br />

worden ist. Oder hängt dieses Übergehen von<br />

offizieller Seite doch damit zusammen, daß<br />

Wer kennt seine Heimat?<br />

Das Stadtarchiv hat diese Elberfelder Ansichtskarte,<br />

die am 20. Februar 1910 nach<br />

Pirna in Sachsen geschickt worden ist, erworben.<br />

Derjenige Leser unserer Zeitschrift „Geschichte<br />

im Wuppertal“, der dem Stadtarchiv<br />

seine Maxime „Was in der Sache begründet ist,<br />

<strong>und</strong> wovon ich überzeugt bin, das muß ich<br />

auch aussprechen können“ gelautet hat?<br />

U. E<br />

.<br />

Christiane Gibiec: Türkischrot, Köln:<br />

Emonds, 1999, 215 S., DM 16,80<br />

Die Verfasserin legt in kurzer Folge bereits<br />

ihren zweiten bergischen „Krimi“ vor. Sie verlegt<br />

die Handlung in die Zeit des Barmer Vormärz.<br />

Eine Fabrikantengattin wird in einem<br />

Färberbottich ermordet aufgef<strong>und</strong>en. Vor dem<br />

Hintergr<strong>und</strong> der im Entstehen begriffenen Arbeiterbewegung<br />

<strong>und</strong> eines bigotten Wuppertaler<br />

Pietismus erntwirft Christiane Gibiec einen<br />

fesselnden Kriminalfall, der auch den mit den<br />

Wuppertaler Örtlichkeiten nicht vertrauten Leser<br />

unweigerlich in seinen Bann ziehen wird.<br />

M. K<br />

(Friedrich-Engels-Allee 89-91, Tel.: 0202/563-<br />

66 23, Fax: 0202/ 563-80 25) zuerst mitteilt,<br />

von wo aus dieser Blick auf Elberfeld foto -<br />

graphiert worden ist, erhält einen Buchpreis.<br />

U. E.<br />

155


Druck:<br />

Verlagsdruckerei Schmidt GmbH, 91413 Neustadt an der Aisch<br />

Redaktionsanschrift:<br />

Stadtarchiv Wuppertal,<br />

Friedrich-Engels-Allee 89–91, 42285 Wuppertal-Barmen<br />

Tel. 02 02 / 5 63 66 23, Fax 02 02 / 5 63 80 25<br />

Preis:<br />

DM 15,00 (Bei Zusendung zuzüglich Porto)<br />

Die Mitglieder der Abteilung Wuppertal des Bergischen Geschichtsvereins erhalten die Zeitschrift<br />

„Geschichte im Wuppertal“ kostenlos.<br />

Gedruckt mit Unterstützung des Landschaftsverbandes Rheinland, Köln.<br />

Autorenverzeichnis:<br />

Abresch, Johannes, Dr.<br />

Platz der Republik 21, 42107 Wuppertal<br />

de Bruyn-Ouboter, Hans Joachim<br />

Heinrich-Janssen-Str. 3, 42289 Wuppertal<br />

Eckardt, Gudrun<br />

Bremer Straße 146, 26382 Wilhelmshaven<br />

Eckardt, Uwe, Dr.<br />

Stadtarchiv Wuppertal, Friedrich-Engels-Allee<br />

89-91, 42285 Wuppertal<br />

Elsner, Peter<br />

Stadtarchiv Wuppertal, Friedrich-Engels-Allee<br />

89-91, 42285 Wuppertal<br />

Gilsbach, Stefan<br />

Birkenstraße 89, 40233 Düsseldorf<br />

Goebel, Klaus, Prof. Dr.<br />

Mühlenfeld 42, 42369 Wuppertal<br />

Herbers, Winfried<br />

Asternstr. 2 c, 42109 Wuppertal<br />

156<br />

Knieriem, Michael, Dr.<br />

Historisches Zentrum, Engelsstr. 10,<br />

42283 Wuppertal<br />

Mahlberg, Hermann J., Prof. Dr.<br />

Bergische Universität/Gesamthochschule<br />

Wuppertal, Forschungsstelle für<br />

Architekturgeschichte <strong>und</strong> Denkmalpflege,<br />

Haspeler Str. 27, 42285 Wuppertal<br />

Meyer-Kahrweg, Ruth<br />

Weddigenstr. 51, 42389 Wuppertal<br />

Okroy, Michael M. A.<br />

Hombüchel 61, 42105 Wuppertal<br />

Rhefus, Reiner<br />

Wilhelm-Raabe-Weg 34, 42109 Wuppertal<br />

Schmitz, Werner W.<br />

Im Johannistal 23, 42119 Wuppertal<br />

Wittmütz, Volkmar, Prof. Dr.<br />

Hopscheider Weg 46, 42555 Velbert<br />

Titelbild: St. Suitbertus in Elberfeld, Nordwestansicht, Zustand um 1920 (Pfarrarchiv St. Suitbertus).

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