Nachrichten und Buchbesprechungen.
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Volkmar Wittmütz<br />
Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />
Der Jahreswechsel 1899/1900 im Wuppertal<br />
Dieser kleine Beitrag gründet auf der Vermutung,<br />
daß der Übergang von einem Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
oder gar Jahrtausend in das folgende, wie<br />
er uns jetzt bevorsteht, mehr ist als das Überschreiten<br />
einer von der Mathematik <strong>und</strong> der<br />
Astronomie gesetzten, von vielen Zeitzeugen<br />
deshalb als willkürlich empf<strong>und</strong>enen Scheidelinie.<br />
Ein derartiger Jahreswechsel hat immer<br />
Wirkungen gehabt, vor allem wohl des -<br />
halb, weil viele andere Zeitgenossen von ihm<br />
eine besondere Wirkung erwarteten, so daß<br />
eine Jahrh<strong>und</strong>ertwende sich in der Art einer<br />
„self-fulfilling prophecy“ entfalten konnte 1 .<br />
Gewiß, die Geschichte orientiert sich nicht an<br />
Jahrh<strong>und</strong>erten, sie ist keine mathematische<br />
Wissenschaft, doch wenn viele Menschen<br />
meinen, daß mit einem neuen Jahrh<strong>und</strong>ert auch<br />
eine neue Epoche beginnt <strong>und</strong> ein anderes<br />
Zeitalter vergeht, <strong>und</strong> wenn diese Menschen<br />
deshalb dem Ende <strong>und</strong> gleichzeitigen Anfang<br />
viel Gewicht beimessen – dann bekommen<br />
Ende <strong>und</strong> Anfang ein entsprechendes Gewicht.<br />
Es ist auch in der Geschichte so, daß jene<br />
Ereignisse Bedeutung haben, denen nicht nur<br />
die Nachwelt, sondern auch die Zeitgenossen<br />
Bedeutung zumessen. Und daß der Beginn<br />
eines neuen Jahrh<strong>und</strong>erts wie eines Jahr -<br />
tausends für bedeutungsvoll gehalten wird, das<br />
erleben wir zur Zeit selbst. Was wird nicht alles<br />
unternommen, um dem Silvesterabend dieses<br />
Jahres ein besonderes Gepräge zu geben, weil<br />
mit dem Neujahrstag des Jahres 2000 das neue<br />
Jahrtausend beginnt! 2<br />
Schon jede Jahreswende läßt dies in ge -<br />
ringem Umfang spürbar werden; wir begehen<br />
sie in besonderer, aus dem Alltag herausgehobener<br />
Weise, wir „lassen unseren Geist über<br />
das Geschäftige der alltäglichen Materie<br />
steigen, wie die „Elberfelder Zeitung“ am 31.<br />
Dezember 1899 schrieb 3 , <strong>und</strong> blicken – meist<br />
in eine besondere Stimmung versetzt – zurück<br />
auf das vergangene Jahr, doch ebenso nach<br />
vorn, dem neuen Jahr entgegen, oft voller Er-<br />
wartungen <strong>und</strong> Hoffnungen, vielleicht aber<br />
auch voller Befürchtungen <strong>und</strong> Ängste. Bei<br />
einer Jahrh<strong>und</strong>ert- oder gar Jahrtausendwende<br />
wird daraus ein Massenphänomen. Priester <strong>und</strong><br />
Pfarrer, Psychologen <strong>und</strong> Soziologen, Ge -<br />
schäftsleute <strong>und</strong> Reiseveranstalter <strong>und</strong> nicht<br />
zuletzt Historiker verzeichnen eine Konzentration<br />
von Erwartungen, manchmal auch eine<br />
Zunahme von Ängsten. Nicht zu leugnen ist,<br />
daß der Charakter der unmittelbar bevorstehenden<br />
Jahrtausendwende vor allem durch die<br />
kommerzielle Werbung geprägt wird, die jede<br />
Gelegenheit ergreift, das Einzigartige des<br />
Ereignisses zu unterstreichen <strong>und</strong> ihm eine<br />
Aura von Exklusivität <strong>und</strong> Bedeutung zu<br />
geben. Aber auch hier verstärkt die Werbung<br />
nur unsere eigenen Neigungen <strong>und</strong> beutet unsere<br />
Stimmungen aus. Sicherlich ist dies alles<br />
irrational, noch viel irrationaler als die Furcht,<br />
die die Menschen früherer Jahrh<strong>und</strong>erte beim<br />
Anblick eines Kometen erfaßte. Doch auch irrationale<br />
Ängste <strong>und</strong> Hoffnungen sind nicht<br />
weniger geschichtsmächtig als rational begründete<br />
Handlungen der Menschen, manchmal<br />
sind sie sogar wirkungsvoller.<br />
„Seine Majestät der Kaiser <strong>und</strong> König<br />
haben mittelst Allerhöchster Ordre vom 11.<br />
dieses Monats (Dezember) zu bestimmen<br />
geruht, daß der am 1. Januar bevorstehende<br />
Jahrh<strong>und</strong>ertwechsel in feierlicher Weise begangen<br />
werde.<br />
Ich ersuche infolgedessen, in geeigneter<br />
Weise bei gemeinnützigen Vereinen <strong>und</strong> auch<br />
anderweitig auf die Abhaltung von Versammlungen<br />
<strong>und</strong> Vorträgen hinzuwirken, bei denen<br />
des zur Neige gehenden Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> der<br />
Segnungen, die es unserer Nation gebracht hat,<br />
gedacht <strong>und</strong> namentlich auf die glorreiche<br />
Leitung unserer Geschicke durch die preußi -<br />
sche Krone hingewiesen wird.“<br />
Dieser Text erschien in den Zeitungen des<br />
Rheinlandes am Samstag, dem 23. Dezember<br />
1899 4 . Sein Verfasser war der rheinische Ober-<br />
1
präsident. Das Erscheinen einer entsprechenden<br />
kaiserlichen Ordre ist auch andernorts<br />
belegt: der junge Journalist <strong>und</strong> Kritiker Alfred<br />
Kerr berichtete darüber in einer seiner<br />
regelmäßigen Korrespondenzen, in denen er<br />
das hauptstädtische Leben Berlins den Lesern<br />
der „Breslauer Zeitung“ schilderte 5 . Doch Kerr<br />
kritisierte nur, daß Kaiser <strong>und</strong> Regierung<br />
amtlich verfügten, daß das neue Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
am 1. Januar 1900 <strong>und</strong> nicht, wie mathematisch<br />
richtig, am 1. Januar 1901 zu beginnen<br />
habe. Er bemängelte nicht, was dem Redakteur<br />
der „Langenberger Zeitung“ auffiel: „Es bleibt<br />
fraglich, ob Beamte, die die Überzeugung von<br />
den Verdiensten der preußischen Krone zu befestigen<br />
haben, die gewünschte Wirkung haben<br />
werden. Werturteile bildet man nicht gern auf<br />
Kommando.“ 6 Beide Journalisten aber<br />
wandten sich nicht gegen die von der kaiserlichen<br />
Obrigkeit verfügte Anordnung, jenen<br />
Jahreswechsel überhaupt besonders feierlich<br />
zu begehen.<br />
Eben diese Anordnung erlaubt nun aller -<br />
dings die auch von anderer Seite gestützte 7<br />
Vermutung, daß für die Bevölkerung in<br />
Deutschland die Wende vom 19. zum 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert kein Ereignis darstellte, das man<br />
mit größerem Aufwand als sonst zu feiern<br />
gedachte. Demgegenüber sahen der Kaiser <strong>und</strong><br />
seine Umgebung in dem bevorstehenden<br />
Ereignis eine Gelegenheit, erneut die Verdienste<br />
der Hohenzollern-Dynastie um die politische<br />
Einigung Deutschlands ins Zentrum der<br />
Aufmerksamkeit zu rücken <strong>und</strong> das Ereignis<br />
damit gewissermaßen politisch zu instrumentalisieren.<br />
Kerr berichtet in seinen Korrespondenzen,<br />
daß zur Feier des neues Jahrh<strong>und</strong>erts in Berlin<br />
„ein ungeheures Schlemmen losgehen“ <strong>und</strong><br />
„der Champagner fließen“ würde 8 . Für das<br />
Wuppertal ist dagegen zu konstatieren, daß der<br />
Umfang <strong>und</strong> die Intensität von öffentlichen wie<br />
privaten Vergnügungen zur Jahreswende 1899/<br />
1900 nicht über das für einen „normalen“<br />
Jahreswechsel übliche Ausmaß hinausging.<br />
Daß das neue Jahrh<strong>und</strong>ert aber auch in anderen<br />
Städten zum Anlaß für verfeinerte kulinarische<br />
Genüsse genommen wurde, wird in einer<br />
Nachricht aus Köln deutlich, die im „Täglichen<br />
2<br />
Anzeiger für Berg <strong>und</strong> Mark“ 9 abgedruckt<br />
wurde: Kölner Bürger hatten ihrer Stadt aus<br />
Anlaß der Jahrh<strong>und</strong>ertwende ein aus 930<br />
Teilen (!) bestehendes silbernes Eß- <strong>und</strong><br />
Tafelservice geschenkt! Doch bei dieser so<br />
großzügig anmutenden Schenkung überwiegt<br />
der Eindruck, einige Kölner Bürger hätten<br />
überhaupt nur einen Anlaß gesucht, um mit<br />
ihrer mäzenatischen Geste ihren Reichtum zu<br />
demonstrieren, <strong>und</strong> da sei ihnen die Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />
gerade recht gewesen. Also handelt<br />
es sich hierbei ebenfalls eine Instrumenta -<br />
lisierung dieses Datums.<br />
Originäre Produkte der Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />
sind allerdings etliche Gelegenheitsgedichte,<br />
die auch in den Zeitungen des Wuppertals am<br />
Ende des Jahres 1899 erschienen. In ihnen verliehen<br />
meist unbekannt bleibende Autoren<br />
ihren Gefühlen, ihren Erwartungen, aber auch<br />
ihrer Skepsis gegenüber dem neuen Säkulum<br />
Ausdruck. Einige dieser Gedichte sollen im<br />
folgenden vorgestellt werden. Übrigens erschienen<br />
auch Prosatexte am 30. oder 31.<br />
Dezember 1899 in den Zeitungen; meist waren<br />
es zeitkritische Betrachtungen, manchmal fast<br />
mit dem Charakter einer religiösen Besinnung<br />
<strong>und</strong> Andacht, auch philosophische Überlegungen<br />
zum Wesen der Zeit werden hineinge -<br />
mischt. Diese Texte sollen ebenfalls mit<br />
herangezogen werden. Dabei geht es hier nicht<br />
darum, sie <strong>und</strong> die Gelegenheitsgedichte etwa<br />
als poetischen Ausdruck von individuellen<br />
Gefühlslagen oder auch von persönlichen<br />
Überlegungen <strong>und</strong> Einsichten literarisch zu<br />
würdigen. Die Gedichte <strong>und</strong> Texte sollen vor<br />
allem als Versuche einer „kollektiven Sinndeutung“<br />
verstanden werden 10 . Dieser Zugriff<br />
vergewaltigt die Produkte nicht, er erscheint<br />
umso eher angemessen, da es sich bei den Publikationen<br />
nicht um „große“ Literatur handelt,<br />
sondern um Bemühungen, das Besondere einer<br />
Situation – den Anfang eines neuen Säkulums<br />
– sowohl durch einige von Distanz zum Tagesgeschehen<br />
zeugende, dabei doch dieses auch<br />
kritisch reflektierende Gedanken in einer<br />
sprachlich anspruchsvollen Form – möglichst<br />
ein Gedicht – zum Ausdruck zu bringen.<br />
Im „Täglichen Anzeiger für Berg <strong>und</strong><br />
Mark“ erschien am Sonntag, dem 31. Dezem-
er 1899, das folgende Gedicht:<br />
Zum Jahrh<strong>und</strong>ertwechsel<br />
Ein neu’ Jahrh<strong>und</strong>ert ist emporgestiegen<br />
Am ewgen Firmament, genannt die Zeit –<br />
Zur Zukunft spannt es seinen lichten Bogen<br />
Heraus aus Trümmern der Vergangenheit –<br />
Und forschend schaut die Menschheit nun<br />
entgegen<br />
Dem strahlend aufgegangnen jungen Licht,<br />
Vertrauend, daß es ihr nur reichsten Segen<br />
In seinem hehren Rosenschein verspricht!<br />
Der Hoffnung Banner lieben wir zu schwingen<br />
Ja stets auf unserm rauhen Pilgerpfad –<br />
In diesem Zeichen kämpfen wir <strong>und</strong> ringen<br />
Im Daseinswogen immer früh <strong>und</strong> spat. –<br />
So laßt uns fürder denn auch vorwärts schauen<br />
Mit unerschüttert hoffnungsvollem Blick,<br />
So wollen froh der Zukunft wir vertrauen,<br />
Daß sie uns allen bringt ein neues Glück!<br />
Wohlan, du neuer Zeitenraum, wir grüßen<br />
Dich alle d’rum mit frischem Lebensmut. –<br />
Mög’ uns in deinem Lauf nur Heil ersprießen,<br />
Und immer schirmen Gottes treue Hut. –<br />
O, wahre ferner auch den gold’nen Frieden<br />
Dem vielgeliebten deutschen Vaterland,<br />
Damit ihm ferner Wohlfahrt sei beschieden<br />
Vom Firn der Alpen bis zum nord’schen Strand!<br />
Das ist keine emphatische Begrüßung des<br />
neuen Säkulum, wenn dessen Erscheinen auch<br />
mit positiven Epitheta belegt wird. Eher ist<br />
vorsichtige Zuversicht eine das Gedicht beherrschende<br />
Empfindung, gepaart mit einer<br />
Portion Skepsis. Die Anfangszeilen der<br />
zweiten Strophe lassen indessen anklingen,<br />
daß eine verhaltene Hoffnung schon immer<br />
zum täglichen Daseinskampf der Menschen<br />
dazugehörte <strong>und</strong> ihren „rauhen Pilgerpfad“<br />
stets charakterisiert hat. Die Hoffnungen „der<br />
Menschheit“ (in der ersten Strophe) wie „des<br />
deutschen Vaterlands“ (in der dritten Strophe)<br />
– der Autor bleibt diesen Kollektiven verhaftet,<br />
an keiner Stelle gibt er seinen eigenen<br />
Empfindungen Ausdruck – richten sich auf den<br />
„gold’nen Frieden“. Aber es bleibt auch das<br />
Gefühl dafür lebendig, daß der Frieden <strong>und</strong><br />
seine Folgen abhängig bleiben von „Gottes<br />
treuer Hut“. Überraschenderweise tritt der<br />
Rückblick auf das vergangene Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
deutlich hinter diesen Erwartungen an die<br />
Zukunft zurück, dabei ist nur sehr pauschal von<br />
den „Trümmern der Vergangenheit“ die Rede.<br />
Viele anderen Gelegenheitsgedichte vermitteln<br />
ähnlich unpersönliche, schematische <strong>und</strong><br />
manchmal geradezu stereotype Erwartungen<br />
<strong>und</strong> Erfahrungen. In einem in der „Langenberger<br />
Zeitung“ am 30. Dezember 1899 erschienenen<br />
Gedicht verschwindet der Dichter<br />
ebenfalls in einem Kollektiv. Allerdings fällt<br />
sein Rückblick auf das vergangene Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
ausführlicher <strong>und</strong> im Sinne der eingangs erwähnten<br />
Aufforderung des Kaisers aus. Da<br />
heißt es:<br />
Doch auch viel Herrliches sah’n wir erstehen,<br />
Und mancher Stern ging neu <strong>und</strong> glänzend auf.<br />
Ein einig Deutschland, von der Welt bew<strong>und</strong>ert<br />
Ein deutscher Kaiser, seiner Ahnen wert,<br />
Voll Friedenssinn, <strong>und</strong> doch die Hand am<br />
Schwert,<br />
War Deine Gabe, fliehendes Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />
Die Erfahrung der staatlichen Einigung<br />
Deutschlands beherrscht diesen Rückblick,<br />
während der Ausblick auf das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
fragender <strong>und</strong> skeptischer als in dem ersten<br />
Gedicht ausfällt:<br />
Du aber, das, mit Schleiern dich verhangen,<br />
Bei Glockenklang jetzt auf die Schwelle tritt,<br />
Hier jubelnd <strong>und</strong> dort sorgenvoll empfangen –<br />
Was bringst Du uns, was bringst der Welt<br />
Du mit?<br />
Wirst friedlich Du wohl lösen all’ die Fragen,<br />
Die unheilvoll bedrohen uns’re Zeit?<br />
Versöhnend schlichten der Parteien Streit<br />
Und Deutschlands Ruhm durch alle Lande<br />
tragen?<br />
Die größte Erwartung an das neue Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
besteht auch in Langenberg darin, daß es<br />
Frieden bringen möge. Der Frieden ist der Begleiter<br />
eines „stillen Glücks“, ein Ausdruck,<br />
der – jenseits des in allen Gelegenheitsgedichten<br />
auftretenden Kollektivs – auch eine<br />
gewisse persönliche, häusliche Sphäre<br />
evoziert.<br />
Ein stilles Glück, das sich mit Frieden paart,<br />
3
Das sei von Dir auf Deiner langen Fahrt,<br />
Erwachendes Jahrh<strong>und</strong>ert, uns beschieden!<br />
Der Wunsch, daß das neue Jahrh<strong>und</strong>ert vor<br />
allem Frieden bringen möge, ist die alle übrigen<br />
Gedichte ebenfalls beherrschende Erwartung.<br />
Dabei wird gelegentlich durchaus bemerkt,<br />
daß der Krieg als „Vater aller Dinge“<br />
auch Positives zu leisten imstande ist. Zum<br />
Beispiel ist, wie der Autor anführt 11 , nur durch<br />
die Kriege Bismarcks die nationalstaatliche<br />
Einigung Deutschlands erreicht worden. Doch<br />
droht diesem Werk „schnellverblich’ner<br />
Glanz“, <strong>und</strong> das nicht etwa, weil es den<br />
Kriegen entsprungen ist, sondern weil „Pfaff,<br />
Schranze <strong>und</strong> Demagog“ an ihm nagen, womit<br />
der Verfasser knapp die seiner Auffassung<br />
nach wesentlichen gesellschaftlichen Kräfte<br />
be zeichnet, die die Einheit Deutschlands unterminieren.<br />
Dabei sind „Pfaff“ <strong>und</strong> „Dem -<br />
agog“ noch am ehesten zu identifizieren: es<br />
sind die Kirchen <strong>und</strong> die politischen Parteien,<br />
die der nationalen Einheit entgegenwirken, die<br />
Kir chen, weil sie die konfessionellen Schran -<br />
ken betonen, die Parteien, weil ihre Vertreter<br />
auf dem Marktplatz, aber auch im Reichstag<br />
demagogische Reden halten <strong>und</strong> damit ebenfalls<br />
Zwietracht in die mühsam errungene Eintracht<br />
der Nation säen – ein deutlicher Hinweis<br />
auf eine in bestimmten gesellschaftlichen<br />
Schich ten verbreitete Verständnislosigkeit<br />
gegenüber einem modernen politischen Plura -<br />
lismus.<br />
Daß zuletzt auch „Schranzen“ die Einheit<br />
Deutschlands bedrohen, kann nur bedeuten,<br />
daß es sogar am kaiserlichen Hof, in der nächsten<br />
Umgebung des Kaisers, Kräfte, nämlich<br />
„Hofschranzen“, gibt, die Wilhelm II. in eine<br />
falsche, gefährliche Richtung zu bewegen<br />
suchen – eine deutliche Kritik des Hofes <strong>und</strong><br />
seiner Organisation, vielleicht gar eine verhaltene<br />
am Kaiser selbst, dem üblichen ge dank -<br />
lichen Muster folgend, der schlecht unterrichtete<br />
<strong>und</strong> beratene Kaiser möge sich mit<br />
besseren Beratern umgeben!<br />
Der kritische Ton des Gedichts wird sogar<br />
stärker, geradezu pessimistisch beim Blick auf<br />
andere Länder <strong>und</strong> deren Entwicklung:<br />
Doch, wo zu schau’n gehofft auf neuer Erde<br />
4<br />
Der Freiheit Reis man sprießen, schlank <strong>und</strong><br />
hehr,<br />
Herrscht über kläffender Banausenheerde<br />
Der Milliardär.<br />
Amerika, schnell hast du, lautre Quelle<br />
Der Väter Geist zum Pfuhl der Korruption<br />
Gewandelt du, McKinley füllt die Stelle<br />
Von Washington. 12<br />
Libertas, deine Leuchte droht zu fallen,<br />
Die bessre Zeiten w<strong>und</strong>ervoll erhellt,<br />
Ein Opfer für Gewerbebeuterkrallen<br />
Scheint heut die Welt.<br />
Der Jobber, aufgestiegen zum Minister,<br />
Sich waschend in des Golds erhöhter Fluth,<br />
Und neben ihm mit langem Borgregister<br />
Der Prinz von Blut.<br />
Und nach einer ähnlichen Kritik an<br />
Großbritannien heißt es in den letzten Zeilen,<br />
sicherlich vom Autor überspitzt formuliert,<br />
aber in der Tendenz doch deutlich:<br />
Die Reiter der Apokalypse reiten<br />
Im Börsensold.<br />
Diese f<strong>und</strong>amentale Opposition zum zeitgenössischen<br />
Imperialismus <strong>und</strong> Kapitalismus<br />
entspringt nicht allein der Überzeugung, daß<br />
ein ungeheurer Materialismus überall die Welt<br />
regiert <strong>und</strong> sich das Geld alles untertan macht,<br />
sie wird noch verschärft dadurch, daß auch<br />
dort, wo die Ideen <strong>und</strong> Werte der Aufklärung<br />
noch eine Heimstatt zu haben schienen, nämlich<br />
in den USA, daß nun auch dort der Kapitalismus<br />
herrscht <strong>und</strong> die Ideale der Menschheit<br />
ihm schon fast vollständig zum Opfer<br />
gefallen sind – ein wenig Hoffnung hat der Autor<br />
immerhin noch, etwa wenn er schreibt, daß<br />
die „Leuchte der Libertas zu fallen drohe“ <strong>und</strong><br />
daß die „Welt ein Opfer für Gewerbebeuterkrallen<br />
zu sein scheine“ <strong>und</strong> nicht „sei“.<br />
Freilich ist das apokalyptische Schlußbild<br />
dieses Gedichts nicht dazu angetan, dieser<br />
winzigen Hoffnung für das neue Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
Nahrung zu geben, selbst wenn man die<br />
manieristischen Züge dieses Bildes in Rechnung<br />
stellt.<br />
Auch die am letzten Tag des Jahres 1899 in<br />
den Zeitungen publizierten „Besinnungen“
oder „Gedanken“ sind nicht dazu angetan, den<br />
vorherrschenden Eindruck von Zurückhaltung,<br />
Skepsis, geringer Erwartung, zum Teil sogar<br />
von Hoffnungslosigkeit gegenüber dem neuen<br />
Säkulum zu korrigieren. Da ist überhaupt kein<br />
Aufbruch zu Neuem, trotz vieler Erfolge <strong>und</strong><br />
Errungenschaften des zu Ende gehenden<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts, zu spüren. Die „Elberfelder<br />
Zeitung“ etwa brachte am 31. Dezember 1899<br />
„Syvester-Gedanken“, die ein mit den Initialen<br />
„H. T.“ auftretender Verfasser sich gemacht<br />
hatte. Auch darin heißt es: „Die Welt versinkt<br />
im Materialismus“. Dieser Eindruck sei weit<br />
verbreitet, aber es werde von keiner Seite etwas<br />
unternommen, um dieser unheilvollen<br />
Ent wicklung entgegenzuwirken. Angesichts<br />
der drohenden Katastrophe beschwört der Autor<br />
die Zukunftshoffnung des christlichen<br />
Glau bens <strong>und</strong> die Botschaft des Neuen Testaments:<br />
„Es werden Zeiten kommen, wo wirklich<br />
Gleich heit <strong>und</strong> Brüderlichkeit herrschen“.<br />
Dieses Zitat aus der Französischen Revolution<br />
gibt allerdings die eschatologische Dimension<br />
der christlichen Hoffnung in die Zukunft kaum<br />
wieder; insofern ist der Aufsatz selbst ein<br />
Beispiel für jene Säkularisation <strong>und</strong> Entfernung<br />
von den Ideen <strong>und</strong> Idealen des Christentums,<br />
deren materialistische Wirkung der Autor<br />
zuvor beklagt hatte.<br />
Die „Barmer Zeitung“ entledigte sich des<br />
Auftrags, zum Jahrh<strong>und</strong>ertwechsel etwas<br />
Besinnliches zu veröffentlichen, bereits am<br />
Samstag, dem 30. Dezember. Der von ihr<br />
gedruckte Aufsatz ist bestimmt von einem ausführlichen<br />
Rückblick auf das vergehende<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert. Dabei geht es fast ausschließlich<br />
um die rasante <strong>und</strong> umstürzende technische<br />
Entwicklung der letzten h<strong>und</strong>ert Jahre, <strong>und</strong><br />
dem entsprechend beeindruckt zeigt sich der<br />
Autor. Das „Jahrh<strong>und</strong>ert der Technik“ hat dem<br />
Menschen faktisch die Beherrschung der Natur<br />
gebracht:<br />
Wie schön, o Mensch, mit Deinem Palmenzweige<br />
Stehst Du an des Jahrh<strong>und</strong>erts Neige<br />
In edler, stolzer Männlichkeit...<br />
Herr der Natur, die Deine Fesseln liebet,<br />
Die Deine Kraft in tausend Kämpfen übet<br />
Und prangend unter Dir aus der Verwildrung<br />
stieg.<br />
Die Überwindung der Grenzen von Zeit<br />
<strong>und</strong> Raum durch Erfindungen wie die Eisenbahn<br />
<strong>und</strong> die <strong>Nachrichten</strong>übermittlung hat das<br />
alltägliche Leben der Menschen gr<strong>und</strong>legend<br />
verändert. Doch sind diese <strong>und</strong> andere Er fin -<br />
dun gen auch für Krieg <strong>und</strong> Vernichtung eingesetzt<br />
worden, <strong>und</strong> am Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
tobt der Krieg Großbritanniens gegen die<br />
Burenrepublik in Südafrika:<br />
Edler Fre<strong>und</strong>, wo öffnet sich dem Frieden,<br />
Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort!<br />
Das Jahrh<strong>und</strong>ert ist im Sturm geschieden,<br />
Und das neue öffnet sich mit Mord.<br />
Angesichts der technischen Errungenschaften<br />
wie der blutigen Kriege stellt der Autor<br />
sich die Frage, ob man wirklich von einem<br />
Fortschritt sprechen könne, den das Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
den Menschen gebracht habe. Er neigt<br />
dazu, die Frage zu verneinen, denn „haben alle<br />
Bequemlichkeiten des Daseins nicht dahin<br />
geführt, indem sie uns Zeit ersparen sollten,<br />
uns immer weniger Zeit für uns selbst zu<br />
lassen?“ 13 Allein, für den Autor ist entscheidend,<br />
daß die „Bedürfnisfähigkeit des mensch -<br />
lichen Geistes“ während des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
gesteigert wurde, „<strong>und</strong> das ist Culturfort -<br />
schritt“.<br />
Die Frage, ob diese Entwicklung auch im<br />
neuen Jahrh<strong>und</strong>ert weitergehen wird, stellt der<br />
Verfasser nicht explizit, er äußert nur den<br />
Wunsch, daß die „Wogen des kommenden<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts ruhiger, gemessener <strong>und</strong> harmo -<br />
ni scher fließen“ mögen, ist also offensichtlich<br />
der Auffassung, wenn diese Entwicklung<br />
schon nicht geändert oder rückgängig gemacht<br />
werden könne, so könne doch ihr Tempo verlangsamt<br />
werden. Mit dieser Auffassung aber<br />
hat er den Charakter des Prozesses der<br />
Nutzbarmachung von Erfindungen nicht oder<br />
nur unvollkommen erfaßt, denn die permanente<br />
Beschleunigung der Entwicklung ist<br />
eines seiner wesentlichen Charakteristika. Aus<br />
diesem Wunsch nach mehr Ruhe <strong>und</strong><br />
Langsamkeit spricht auch – bei aller positiven<br />
Würdigung der technischen Entwicklung<br />
während des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts – eine gewisse,<br />
5
auch an anderer Stelle bemerkbare negative<br />
Sicht der Technik: sie wird dem Menschen immer<br />
unverständlicher, enteilt ihm sozusagen,<br />
<strong>und</strong> er muß hurtig sein <strong>und</strong> selbst immer<br />
schneller werden, um mit der Technik<br />
mitzuhalten. Sie verändert dazu seine traditionellen<br />
Lebensumstände, so daß er den Umständen,<br />
unter denen seine Großväter <strong>und</strong> Urgroßväter<br />
gelebt haben, <strong>und</strong> damit auch diesen<br />
selbst entfremdet wird. Er wird sie immer<br />
weniger verstehen, <strong>und</strong> unausgesprochen, aber<br />
greifbar ist der Gedanke, daß das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
zwar „Culturfortschritt“ brachte, aber auf<br />
Kosten menschlicher Nähe, vielleicht sogar<br />
menschlichen Glücks. Die „Kosten“ dieses<br />
Fortschritts kommen bei diesem nachdenk -<br />
lichen Aufsatz deutlich in den Blick.<br />
Auch in dem kurzen Aufsatz „Zum neuen<br />
Jahre <strong>und</strong> zum neuen Jahrh<strong>und</strong>ert“ in dem<br />
„Täglichen Anzeiger für Berg“ klingen diese<br />
Kosten an 14 . Auch dort ist von vielen Fort -<br />
schritten während des vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
die Rede, auch von politischen Fortschritten,<br />
eben solchen, die errungen wurden durch<br />
„nationale Kämpfe“ <strong>und</strong> die in eine „größere<br />
Freiheit der politischen, sozialen, wirt schaft -<br />
lichen <strong>und</strong> geistigen Bewegung an die Stelle<br />
überlebter, beschränkter alter Zustände“ mündeten.<br />
„Ob der größeren Freiheit ...auch immer<br />
die rechte Weisheit <strong>und</strong> Würde im Menschen<strong>und</strong><br />
Völkerleben gefolgt ist, wird indessen<br />
wohl niemand zu behaupten wagen, denn viele<br />
Mißstände <strong>und</strong> Gebrechen, viele Aufgaben <strong>und</strong><br />
Rätsel nehmen wir aus dem alten Jahre <strong>und</strong><br />
dem scheidenden Jahrh<strong>und</strong>ert mit hinüber ins<br />
neue Säkulum“. Auch hier das Ungenügen hinsichtlich<br />
der vorübergehenden Zeitspanne, <strong>und</strong><br />
es ist noch nicht einmal Skepsis gegenüber<br />
dem anbrechenden Säkulum, was diese Zeilen<br />
bestimmt, sondern eher die Gewißheit, daß das<br />
neue Jahrh<strong>und</strong>ert sich mit den gleichen,<br />
vielfach sogar denselben „Mißständen <strong>und</strong> Gebrechen,<br />
Aufgaben <strong>und</strong> Rätseln“ wird be -<br />
schäftigen müssen wie das alte, das sie nicht<br />
hat lösen können. Dazu dann die Auffassung,<br />
daß zwar bestimmte „Errungenschaften“ das<br />
vergangene Jahrh<strong>und</strong>ert kennzeichneten, denen<br />
jedoch keine entsprechenden Entwicklungen<br />
in den Menschen selbst, etwa in ihrer<br />
6<br />
„Weisheit“, ihrer „Würde“ oder ihren morali -<br />
schen Fähigkeiten, folgten. Deshalb äußert der<br />
Autor zum Schluß den Wunsch, das kommende<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert möge „eine innere Konsolidation<br />
begründen, der Befestigung, der<br />
Sammlung, der Würde <strong>und</strong> Weihe im Leben<br />
der Völker <strong>und</strong> Menschen“ dienen.<br />
Wenn man die Äußerungen in der Presse<br />
des Wuppertals zum Jahresende 1899 insgesamt<br />
überblickt, stellt man fest, daß kein Blatt<br />
der Anordnung des Kaisers nachgekommen ist.<br />
Nirgendwo findet sich eine Verherrlichung der<br />
Hohenzollern, noch nicht einmal eine Würdigung<br />
ihrer politischen oder militärischen Taten,<br />
allenfalls eine positive Erwähnung Bismarcks.<br />
Die Hochstimmung der nationalen Einheit ist<br />
weitgehend verflogen, der Blick in die Vergangenheit<br />
läßt sie nur am Rande anklingen. Das<br />
Politische spielt überhaupt nur eine untergeordnete<br />
Rolle bei den Rückblicken, die Errungenschaften<br />
von Wissenschaft <strong>und</strong> Technik<br />
faszinieren mehr. Doch werden beider Leistungen<br />
nicht überschwenglich gelobt, sondern –<br />
mit überraschender Deutlichkeit – in ihren<br />
sozialen <strong>und</strong> politischen Bezügen gesehen <strong>und</strong><br />
dann eben auch als möglicherweise durchaus<br />
gefährlich, manchmal sogar als verhängnisvoll<br />
beurteilt. Natürlich werden im Angesicht des<br />
neuen Jahrh<strong>und</strong>erts auch Hoffnungen <strong>und</strong> Erwartungen<br />
formuliert, aber doch überraschend<br />
verhalten <strong>und</strong> verb<strong>und</strong>en mit gehöriger Skepsis.<br />
Und wenn ein Autor feststellt, daß der Ent -<br />
wicklung auf den Feldern von Wissenschaft<br />
<strong>und</strong> Technik während des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
kein Fortschritt der Weisheit, der Würde oder<br />
der Moral der Menschen entsprach, so impliziert<br />
er damit, daß durch das entstandene –<br />
<strong>und</strong> sich möglicherweise noch erweiternde –<br />
Ungleichgewicht zwischen technischem Fort -<br />
schritt <strong>und</strong> moralischer Entwicklung der Menschen<br />
das Risiko technischer Errungenschaften<br />
deren Chancen für die Menschen übersteigt.<br />
Schließlich wird der Gedanke formuliert, daß<br />
viele Probleme <strong>und</strong> Schwie rig keiten, die im<br />
alten Jahrh<strong>und</strong>ert nicht bewältigt wurden, in<br />
das neue Jahrh<strong>und</strong>ert mitgenommen werden<br />
müssen, daß mithin die zeitliche Grenzlinie für<br />
den Charakter von Problemen ebenso wie für
ihre Lösungsmöglichkeit unerheblich ist.<br />
Schauen wir, wenn wir diese einh<strong>und</strong>ert<br />
Jahre alten Texte lesen, nicht in einen Spiegel?<br />
Anmerkungen<br />
1 Diese Auffassung widerspricht der Einschätzung<br />
anderer Historiker; vgl. dazu etwa<br />
den französischen Historiker Gilbert Badia, der<br />
die Jahrh<strong>und</strong>ertwende als eine „notion arbitraire,<br />
irrationelle et historiquement non pertinente“<br />
bezeichnet hat; vgl. ders.: Les limites de<br />
siècles; in: M.Gilli (Hg.): Les limites de siècles.<br />
Grußkarte zum Jahreswechsel 1900/1901<br />
(Privatbesitz)<br />
Lieux de ruptures novatrices depuis les temps<br />
modernes. Actes du colloque international à Besançon<br />
29–31 mai 1997. Paris 1998, S. 765–770<br />
2 Es bleibt hierbei unberücksichtigt, daß das neue<br />
Jahrtausend – mathematisch korrekt – erst am 1.<br />
Januar 2001 beginnt; die Diskussion um den<br />
„exakten“ Beginn eines neuen Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
kennzeichnet auch die Silvestertage der Jahre<br />
1799 <strong>und</strong> 1899<br />
3 Vgl. Stadtarchiv Wuppertal (SAW), Elberfelder<br />
Zeitung vom 31.12.1899<br />
4 Hier zitiert nach der Langenberger Zeitung vom<br />
23.12.1899, im Stadtarchiv Velbert (StV)<br />
5 Vgl. Alfred Kerr: Wo liegt Berlin? Briefe aus der<br />
Reichshauptstadt 1895–1900. Hg. von G. Rühle.<br />
Berlin o.J. (1998), S. 538 ff.<br />
6 Vgl. Langenberger Zeitung (wie Anm. 4)<br />
7 Ein Blick in die Zeitungen des Wuppertals wie<br />
den Täglichen Anzeiger für Berg <strong>und</strong> Mark, die<br />
Elberfelder Zeitung, die Barmer Zeitung (alle<br />
im SAW) <strong>und</strong> auch in die Langenberger Zeitung<br />
für den Landkreis Mettmann (im StV) zeigt<br />
deutlich, daß sowohl in den Anzeigen wie in den<br />
Berichten <strong>und</strong> Meldungen auf die Jahrh<strong>und</strong>ert -<br />
wende kaum Bezug genommen wurde; es finden<br />
sich vor allem vermehrt Verlo bungs an zeigen,<br />
dazu zahlreiche private Glück wünsche zum<br />
Neuen Jahrh<strong>und</strong>ert, als sei das Erleben desselben<br />
ein persönliches Verdienst, dazu Hinweise<br />
auf Silvesterkonzerte <strong>und</strong> Anzeigen von Buchhandlungen,<br />
zur Jahrh<strong>und</strong>ertwende sich mit<br />
Memoirenliteratur zu versorgen<br />
8 Vgl. Alfred Kerr (wie Anm. 5), S. 538<br />
9 Vgl. Täglicher Anzeiger für Berg <strong>und</strong> Mark vom<br />
30.12.1899, im SAW<br />
10 Vgl. dazu H.U.Gumbrecht: Funktionen parlamentarischer<br />
Rhetorik in der Französischen<br />
Revolution. Vorstudien zur Entwicklung einer<br />
historischen Textpragmatik. München 1978<br />
11 Das Gedicht heißt „Zum Abschied“ <strong>und</strong> erschien<br />
in der Elberfelder Zeitung am 31.12.1899<br />
12 William McKinley war von 1897 bis 1901 der<br />
25. Präsident der USA <strong>und</strong> ein Vertreter des<br />
amerikanischen Imperialismus, etwa im Krieg<br />
gegen Spanien<br />
13 Vgl. „An der Wende des Jahrh<strong>und</strong>erts“; Barmer<br />
7
Hermann J. Mahlberg<br />
St. Suitbertus in Wuppertal-Elberfeld<br />
„Hast Du schon vom hl. Suitbertus, dem Bischof<br />
gehört? Der hat die Urbewohner der hiesigen<br />
Gegend <strong>und</strong> unseres Wupperthales der<br />
Macht des Heidentums entrissen <strong>und</strong> sie vom<br />
Götzendienst ab zum Glauben an den wahren<br />
Gott hingeführt. Er ist nicht nur der erste, sondern<br />
auch der größte Wohlthäter unserer Stadt,<br />
<strong>und</strong> wenn irgend wer es verdient, in Elberfeld<br />
ein Denkmal zu haben, so ist es St. Suitbertus.<br />
Sieh, unser St. Suitbertus-Dom in spe, wenn<br />
möglich »ein großartig monumentales Werk«,<br />
soll dies Ehrendenkmal sein; es soll zugleich<br />
Zeugnis dafür ablegen, wie die Stadt Elberfeld<br />
ihren größten Wohlthäter ehrt.“ 1<br />
Gespickt mit kernigen Sätzen in der hier zitierten<br />
Diktion wendet sich im Jahre 1887 ein<br />
anonym bleibender Autor in Form einer Denkschrift<br />
an die Katholiken Elberfelds. Trotz des<br />
stellenweise theatralisch anmutenden Sprachstils<br />
weist der Offene Brief eine Fülle interessanter<br />
Interna auf, die auch für die Geschichte<br />
der Stadtentwicklung Elberfelds einen nicht<br />
unerheblichen Stellenwert haben. Elberfeld<br />
bildete ursprünglich nur einen katholischen<br />
Pfarrbezirk, der auch nach dem Bau von<br />
St. Laurentius (1829 bis 1835) von hier aus betreut<br />
werden mußte. 2 Mit wachsender Bevölkerung<br />
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
dehnte sich die Stadt zunächst in nördliche <strong>und</strong><br />
westliche Richtung hin aus. Folgerichtig teilte<br />
man die Laurentiuspfarre in drei Pfarreien <strong>und</strong><br />
ließ zwei neue Kirchen bauen: In den Jahren<br />
1884 bis 1886 entstand an der westlichen<br />
Hardthöhe die St. Marienkirche, in der Elberfelder<br />
Nordstadt wurde von dem bekannten<br />
Kölner Architekten August Lange im Jahre<br />
1886 die Herz-Jesu-Kirche errichtet. 3<br />
Genau an diesem Punkt setzt nun der Verfasser<br />
der Denkschrift an. Er trägt alle relevanten<br />
Argumente vor, die für die „Südstädter“ einen<br />
eigenen Pfarrbezirk mit Pfarrkirche unterstützen<br />
helfen. Immerhin reicht die Pfarrei im<br />
Westen bis Königshöhe <strong>und</strong> Ruthenbeck <strong>und</strong><br />
8<br />
hat auch auf den Südhöhen die gleiche Ausdehnung<br />
wie die Zivilgemeinde Elberfeld. Erste<br />
Klagen über „den Mangel einer nahegelegenen<br />
Kirche“ seien bereits Ende der 1850er Jahre<br />
laut geworden. Die Kritiker waren Bewohner<br />
der Ronsdorfer Straße <strong>und</strong> dem „Kleeblatt“,<br />
„wo mehrere achtbare Beamten-Familien<br />
aus der vorwiegend katholischen Westfalia eingezogen<br />
waren <strong>und</strong> jetzt wegen des weiten<br />
Weges zur Kirche ihrer liebgewonnenen heimischen<br />
Sitte <strong>und</strong> Gewohnheit, täglich die<br />
hl. Messe zu besuchen, entsagen mußten.“<br />
Abgesehen von den weiten Kirchwegen<br />
<strong>und</strong> den Behinderungen durch Eisenbahntrasse<br />
<strong>und</strong> fehlende Wupperübergänge wird die mangelnde<br />
Anbindung neu entstandener Schulen<br />
an eine naheliegende Kirche vorgebracht. Mit<br />
wachsender Bautätigkeit in der Südstadt etablierten<br />
sich auch katholische Volksschulen.<br />
Die erste wurde bereits am 1. Mai 1861 eröffnet.<br />
Im Jahre 1887 bestanden hier drei Schulen<br />
mit insgesamt 23 Klassen <strong>und</strong> 1508 Schülern. 4<br />
Die Ansiedlungen in der Südstadt waren in<br />
starkem Maße von der Entwicklung des Eisenbahnbetriebes<br />
geprägt, so daß arbeitsplatznahe<br />
Arbeiter- <strong>und</strong> Beamtenwohnungen erforderlich<br />
wurden.<br />
Alles in allem wohnten mindestens 7000<br />
Katholiken im Bereich der Südstadt. Man empfand<br />
es als ungerecht, wegen der neu erbauten<br />
Kirchen an der Hardt (St. Marien) <strong>und</strong> auf dem<br />
Höchsten (Herz-Jesu) die notwendig gewordene<br />
Erhöhung der Kirchensteuer mittragen zu<br />
müssen. Um dem Ziel der eigenen Südstadt-<br />
Pfarrkirche näher zu kommen, hatte sich durch<br />
Initiative des Lehrers J.G.Breuer 5 im Jahre<br />
1884 der „St. Suitbertus-Kirchbau-Verein“ begründet.<br />
Die rührigen Mitglieder bemühten<br />
sich um ein Baugr<strong>und</strong>stück. Zunächst liebäugelten<br />
einige „Südstädter“ mit dem rückwärtigen<br />
Gartengr<strong>und</strong>stück des beliebten Lokals Johannisberg.<br />
Doch Rudolf Küpper, der Betreiber<br />
des florierenden Garten- <strong>und</strong> Veranstal-
St. Suitbertus, Innenansicht, Zustand um 1920 (Pfarrarchiv St. Suitbertus)<br />
9
tungsetablissements, wußte um den Wert dieser<br />
Top-Immobilie oberhalb der Elberfelder City.<br />
Der Preis für das „Suitbertus-Denkmal“ in Gestalt<br />
einer Kirche wäre zu hoch gewesen; die<br />
Nähe zu dem mitunter ausgelassenen Treiben<br />
eines großen Ausflugslokals für ein Gotteshaus<br />
wohl auch unangemessen <strong>und</strong> unschicklich.<br />
Die Tatsache, daß nach 1895 auf dem Küpper’schen<br />
Gelände die Elberfelder Stadthalle errichtet<br />
wurde 6 , spricht für sich. Immerhin hatten<br />
die Betreiber des Kirchenbauprojektes eines<br />
der markantesten Baugr<strong>und</strong>stücke Elberfelds<br />
im Visier, wenn sie auch in finanzieller<br />
Hinsicht an die Grenzen ihrer Möglichkeiten<br />
gerieten.<br />
Eine realistischere Option auf ein geeignetes<br />
Gr<strong>und</strong>stück für den Kirchenbau bot das<br />
Gelände, das östlich an die Kölner Straße angrenzte<br />
<strong>und</strong> auf dem schließlich die Kirche<br />
aufgeführt wurde. In zäher Vorgehensweise<br />
wurden hier von 1886 bis 1891 Parzellen aus<br />
unterschiedlichem Besitz aufgekauft, die z.T.<br />
vorhandene ältere Wohnbebauung abgebrochen<br />
<strong>und</strong> eine sinnvolle Arrondierung des Baugr<strong>und</strong>stückes<br />
erreicht. 7<br />
Noch vor endgültiger Klärung der Bauplatzfrage<br />
hatte sich in katholischen Kreisen<br />
der Südstadt ein weiterer Verein gebildet, der<br />
die Förderung konfessioneller Belange <strong>und</strong><br />
Einrichtungen auf seine Fahnen geschrieben<br />
hatte. 8 Die am 27. März 1889 begründete Vereinigung<br />
gab sich den Namen „Gesellschaft<br />
Südstadt“ <strong>und</strong> forcierte sogleich die Bereitstellung<br />
eines größeren Baugeländes als man es<br />
seitens der Mutterpfarrei St. Laurentius für<br />
tunlich gehalten hatte. Zugleich vergab die Gesellschaft<br />
den Auftrag zur Erstellung eines<br />
Bauplanes. Leider wird der Architekt nicht genannt.<br />
Ob dies bereits Gerhard August Fischer<br />
aus Barmen war, der den Bau von St. Suitbertus<br />
schließlich ausführen würde, kann nur vermutet<br />
werden. Im Frühjahr 1896 erfolgte der<br />
erste Spatenstich; der feierliche Akt der Gr<strong>und</strong>steinlegung<br />
zum „Südstadt-Dom“ wurde am<br />
6. Mai 1897 durch den damaligen Weihbischof<br />
Fischer, späteren Erzbischof von Köln, vollzogen.<br />
9 Zu den Einweihungsfeierlichkeiten des<br />
fertiggestellten Gotteshauses indes war seine<br />
Eminenz verhindert. Kurz vor den angesetzten<br />
10<br />
Festlichkeiten, die für den Himmelfahrtstag<br />
1899 <strong>und</strong> den darauffolgenden Sonntag (11.<br />
<strong>und</strong> 14. Mai) vorgesehen waren, starb Kardinal<br />
Krementz, Erzbischof von Köln10 , so daß<br />
Weihbischof Fischer unabkömmlich war. Über<br />
die Einweihung am 11. Mai 1899 findet sich<br />
ein relativ ausführlicher Zeitungsbericht, der<br />
im folgenden wiedergegeben wird.<br />
„Die Suitbertuskirche in Elberfeld<br />
Bei der überaus raschen Entwicklung der<br />
Südstadt Elberfelds war es schon lange ein<br />
Herzenswunsch der katholischen Bewohner<br />
derselben, ein eigenes Gotteshaus zu besitzen.<br />
Dieser Wunsch ist jetzt in Erfüllung gegangen.<br />
Die Kirche, die den Namen des bergischen<br />
Apostels Suitbertus erhalten hat, <strong>und</strong> auf dem<br />
Gr<strong>und</strong>stück an der Kölner-, Feld- <strong>und</strong> Weststraße<br />
erstanden ist, wurde gestern feierlich<br />
eingeweiht <strong>und</strong> danach dem Verkehr übergeben.<br />
Vertreten waren bei der Einweihung zahlreiche<br />
katholische Vereine mit ihren Fahnen,<br />
der Klerus, von der städt. Behörde die Beigeordneten<br />
Lütje <strong>und</strong> Mäurer, sowie Stadtschulrath<br />
Dr. Boodstein, <strong>und</strong> als Vertreter des Regierungspräsidenten<br />
Oberregierungsrath Hamann.<br />
Die Einweihung vollzog Dechant Hönningen.<br />
An die Einweihung schloß sich ein feierliches<br />
Hochamt mit Predigt. Die Südstadt<br />
war reich beflaggt.<br />
Das Bauwerk selbst ist zwar einfach, aber<br />
dennoch künstlerisch hervorragend. Die Baumittel<br />
waren nicht sehr reichlich; damit war<br />
schon auf den zu wählenden Baustil hingewiesen.<br />
Der theure gothische Stil, der das Bauwerk<br />
in h<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> aberh<strong>und</strong>ert kleine Kunstwerke<br />
auflöst, konnte nicht in Betracht kommen,<br />
wenn er seine Eigenart bewahren wollte.<br />
Baumeister Fischer, unter dessen Leitung<br />
schon so manche Kirche in Rheinland <strong>und</strong><br />
Westfalen entstand <strong>und</strong> welchem Schloß Burg<br />
seine Rekonstruktion verdankt, hat eine romanische<br />
Kirche entworfen, die in einfachster<br />
Ausführung <strong>und</strong> praktischer Raumvertheilung<br />
einen durchaus erfreulichen Anblick von innen<br />
<strong>und</strong> außen bietet. Im Allgemeinen sind die einfachen<br />
Verhältnisse der mittelromanischen Periode<br />
bevorzugt, jedoch auch spätere Formen<br />
passend verwendet. Gedrungen <strong>und</strong> kräftig
flankieren zwei viereckige Thürme das Westportal<br />
an der Kölnerstraße. Einfache Friese<br />
kennzeichnen die vier Stockwerke. Leider tritt<br />
hier nur einmal der überhaupt nur spärlich<br />
verwendete <strong>und</strong> doch so werthvolle R<strong>und</strong>bogenfries<br />
auf, eine Dekorationsform, die auf’s<br />
glücklichste die Verbindung zwischen horizontaler<br />
<strong>und</strong> vertikaler Kraftentwicklung in den<br />
Baugliedern vermittelt. Die Fensteranlage<br />
bringt in der beim romanischen Stile üblichen<br />
Abstufung die Vertheilung von Kraft <strong>und</strong> Last<br />
zum Ausdruck; unten nur massives Mauerwerk,<br />
allein durch ein kleines Radfenster unterbrochen<br />
<strong>und</strong> durch eine weitgespannte<br />
Blend arkade geziert, darauf erst zwei einfache,<br />
schmale Fenster, <strong>und</strong> nun, je höher die Lage,<br />
desto größer (<strong>und</strong> durch 2, zuletzt 3 Arkaden<br />
eingetheilt) die Fenster, die das Mauerwerk<br />
nach oben immer mehr zurückdrängen. Das<br />
Dach der Thürme bildet eine vierkantige Pyramide,<br />
die auf den 4 Seitengiebeln ruht. Das<br />
Hauptportal zwischen den Thürmen ist einfach<br />
<strong>und</strong> edel ausgestattet. Die tiefen Laibungen<br />
sind dreifach abgestuft mit drei vorgesetzten<br />
Säulen, deren Tragkraft symbolisch in der<br />
Mitte durch einen Ringwulst zusammengefaßt<br />
wird. Das Tympanon oder Bogenfeld über der<br />
Thüre enthält eine Suitbertusstatue. Das Feld<br />
über dem Portal weist ein großes Radfenster<br />
auf, das durch kleine Säulen gespannt wird.<br />
Noch höher sehen wir drei Kreise durch romanisches<br />
Bandornament der Frühzeit ausgefüllt<br />
Vom Mittelschiff gehen drei Strebebögen über<br />
die niedrigen Seitenschiffe hinweg, wodurch<br />
dem gedrungenen romanischen Bau etwas von<br />
gothischer Leichtigkeit verliehen wird. Diesem<br />
Prinzip entspricht auch das innere System, das<br />
möglichst viel die großen Mauerflächen auflöst<br />
oder unterbricht. Den eigentlichen R<strong>und</strong>bogen<br />
sehen wir nur bei kleineren Überspannungen<br />
angewendet, sonst aber den Spitzbogen, <strong>und</strong><br />
zwar als gedrückten, gleichseitigen <strong>und</strong> sogar<br />
steilen. (Diesen letzteren beim Durchgang aus<br />
dem Seiten- ins Querschiff.) Ferner dient demselben<br />
Zweck die Gestalt der Pfeiler, die durchweg<br />
kräftige R<strong>und</strong>pfeiler <strong>und</strong> in beschränkter<br />
Zahl vorhanden sind, so daß der Überblick in<br />
der Kirche möglichst ungehemmt bleibt. Vom<br />
Westportal aus gelangt man in das Mittelschiff<br />
unter der Empore durch, die die Orgel trägt<br />
<strong>und</strong> auf drei Säulenreihen ruht. Das gesammte<br />
Langhaus hat fast die Breite des Querschiffes.<br />
Die Wand des Chores (mit der Apsis) ist recht<br />
hübsch durch sieben Arkaden, die auf dicht an<br />
der Wand stehenden schlanken Säulen ruhen,<br />
durch eine Säulchengallerie <strong>und</strong> hohe Fenster<br />
gegliedert. Ueber der Vierung erhebt sich ein<br />
Dachreiter, der leider in seiner Schiefereinkleidung,<br />
die kein Mauerwerk wirken läßt, nüchtern<br />
aussieht. Das Innere der Kirche ist ungemein<br />
hell, da erst wenige bunte Fenster gestiftet<br />
worden sind, die wegen der unmittelbaren<br />
Nachbarschaft der hellen Fenster nicht zur<br />
Geltung kommen können. Man hat dem Mangel<br />
im Chor durch Abblenden der hellen Fenster<br />
abzuhelfen gesucht. Das Mauerwerk ist im<br />
Innern röthlich oder bläulich getönt, sodaß<br />
demnächst, wenn bereitwillige Spender die<br />
Buntverglasung auch der übrigen Fenster ermöglichen<br />
werden, die Belichtung ganz harmonisch<br />
werden wird. Die innere Einrichtung ist<br />
hier <strong>und</strong> da noch provisorisch, besonders in<br />
den Altären, die noch nicht vollendet sind. Bei<br />
der Ornamentik bei Kapitälen, Friesen, Gurten,<br />
Feldern u.s.w. sei darauf hingewiesen, daß<br />
sie in streng romanischer Art gehalten ist <strong>und</strong><br />
im Rahmen allgemeiner Symmetrie bei gleichen<br />
Baugliedern reizvolle Abwechslung aufweist.<br />
Die Symbolik tritt nur selten hervor, so<br />
z.B. in den Portalen in den Figuren von Adler<br />
(Stärke), Hahn (Wachsamkeit) oder Ente<br />
(Weis heit). Die Südstadt hat in der St. Suitbertuskirche<br />
eine architektonische Zierde erhalten,<br />
die bei möglichster Einfachheit <strong>und</strong> praktischer<br />
Einrichtung reich an künstlerischer Wirkung<br />
ist.“ 11<br />
Stilistische Querverweise<br />
Der 1899 fertiggestellte Sakralbau knüpfte<br />
in seinem äußeren Erscheinungsbild an spätromanische<br />
Vorbilder an. Das markante Westwerk<br />
mit seiner Doppelturmfassade läßt z.B.<br />
an die Stifts- <strong>und</strong> Pfarrkirche St. Georg in Limburg<br />
an der Lahn denken. 12 Bei den übrigen<br />
Baulösungen an St. Suitbertus finden sich zum<br />
„Limburger Dom“ jedoch kaum noch Paralle-<br />
11
Gr<strong>und</strong>riß der katholischen Kirche für Elberfeld, Nachlaß von Th. Roß<br />
(Historisches Archiv der Stadt Köln)<br />
12
len. Dies gilt auch für die Außenhautbehandlung:<br />
Während in Limburg zum weißen Putz<br />
die rot abgesetzten Architekturgliederungen<br />
das Bild bestimmen, herrscht bei St. Suitbertus<br />
die Steinsichtigkeit, d.h. die natürliche Farbigkeit<br />
des jeweiligen Natursteines vor. Damit<br />
entspricht der Elberfelder Bau dem ästhetischen<br />
Verständnis des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. 13 In<br />
der Tat stammten die in der Außenarchitektur<br />
der Suitbertus-Kirche verwendeten Materialien<br />
aus den traditionellen Bezugsgebieten. Die in<br />
Ziegelbauweise ausgeführte Kirche wurde im<br />
Sockel mit Niedermendiger Basaltlava <strong>und</strong> im<br />
Aufgehenden mit Tuff aus den Brohltaler<br />
Steinbrüchen verblendet. Zu den Eckquadern<br />
der Türme, zur Einfassung von Fenstern, zu<br />
Abdeckungen, Gesimsen, Kragsteinen <strong>und</strong><br />
Säulen verwendete man roten Sandstein von<br />
Kyllburg. Die innere Einfassung der Portale<br />
<strong>und</strong> Türen wie auch die Säulen wurden aus hellem<br />
Cordeler Sandstein gefertigt. 14<br />
Der Architekt Gerhard August Fischer hatte<br />
zunächst einen skizzenhaften Entwurf vorgelegt,<br />
auf dessen Gr<strong>und</strong>lage am 21. Januar 1895<br />
das Generalvikariat des Erzbistums Köln ein<br />
generelles Placet für das Bauvorhaben abgab. 15<br />
Fischer hatte nun eine Reinzeichnung nebst<br />
Kostenvoranschlag zu erarbeiten. Wenn bei<br />
dem Kirchenbau in neoromanischem Baustil<br />
die Wahl ausgerechnet auf den Architekten<br />
G.A. Fischer fiel, so mag dies einigermaßen<br />
verw<strong>und</strong>ern. Weniger die Tatsache, daß ein Elberfelder<br />
Renommierprojekt von einem Barmer<br />
Baumeister zu konzipieren war, läßt uns<br />
hier stutzig werden, als vielmehr das Faktum,<br />
daß Fischer als eingefleischter Gotiker galt. 16<br />
Noch im Jahre 1906 wird der damals 73jährige<br />
als Senior des Barmer Architektenvereins<br />
durch seinen Kollegen Wilhelm Werdelmann<br />
entsprechend geehrt. 17 Wohl erst ab 1889, im<br />
Zusammenhang mit seinen Studien zur Rekonstruktion<br />
von Schloß Burg 18 , befaßte sich G.A.<br />
Fischer intensiver mit romanischen Formbeständen.<br />
Trotzdem bestehen an seiner alleinigen<br />
Autorschaft für die Entwürfe zu St. Suitbertus<br />
Zweifel. Im Nachlaß des Kölner Architekten<br />
Theodor Roß (1864–1939) findet sich<br />
ein kompletter Satz Reinzeichnungen zur Suitbertus-Kirche.<br />
19 Roß begegnet uns bereits im<br />
Alter von 26 Jahren als selbständiger Architekt;<br />
er hatte spätestens im März 1890 das<br />
„Atelier für Kirchen- <strong>und</strong> Profanarchitektur“<br />
seines Schwiegervaters Erasmus Schüller<br />
übernommen <strong>und</strong> war von 1886 an bei Kirchenbauten<br />
tätig. 20 Bei Schüller erschloß sich<br />
Theodor Roß seine Kenntnisse (neo-) romanischer<br />
Kirchenbauten. Daß Roß auch ansehnliche<br />
Sakralbauten in (neo-) gotischer Bauweise<br />
schaffen konnte, zeigt sich z.B. in den 1897<br />
vorgelegten Entwürfen für St. Peter in Köln-<br />
Ehrenfeld (Einweihung 1901). 21 Die im Nachlaß<br />
Roß überkommenen Zeichnungen tragen<br />
die Bezeichnung „Kath. Kirche für Elberfeld“.<br />
Außerdem existiert noch eine Bleistiftzeichnung<br />
mit der Aufschrift „Projekt zum Neubau<br />
einer kath. Kirche für den Osten der Stadt Elberfeld“.<br />
Dieser Entwurf in romanischer Formgebung<br />
mit zwei kleineren Türmen an der Eingangsseite,<br />
Zwerggalerien <strong>und</strong> einem oktogonalen<br />
Vierungsturm, greift Anregungen der<br />
Abteikirche Maria Laach auf <strong>und</strong> war möglicherweise<br />
als Wettbewerbsentwurf für den Bau<br />
der Marienkirche an der Hardt vorgesehen. 22<br />
Die sorgfältig ausgeführten Zeichnungen zur<br />
St. Suitbertus-Kirche („Kath. Kirche für Elberfeld“)<br />
bilden entweder Konkurrenzvorschläge<br />
zu den Plänen des Barmer Architekten G.A. Fischer<br />
oder aber es handelt sich um eine Auftragsarbeit<br />
von Fischer an den jüngeren Kollegen<br />
aus Köln, der dabei anonym bleiben<br />
mußte. Vieles spricht für die letztere Version,<br />
da die Ähnlichkeiten mit dem ausgeführten<br />
Kirchengebäude frappant sind. Dennoch zeigen<br />
sich markante Abweichungen, die sich aufgr<strong>und</strong><br />
einer Reduktion aus Kostengründen erklären<br />
ließen. Spricht nicht der von G.A. Fischer<br />
gut informierte Berichterstatter des General-Anzeigers<br />
anläßlich der Einweihung bezeichnenderweise<br />
von einer romanischen Kirche<br />
„in einfachster Ausführung“? Wohl wahr!<br />
Das Westwerk gerät weniger aufwendig z.B.<br />
durch Verzicht auf die Nebenportale in den<br />
Turmzonen oder reduzierte Gliederungselemente<br />
im Aufgehenden. Chorseitig wird auf<br />
die an St. Aposteln in Köln erinnernden Seitentürme<br />
verzichtet, die Gliederung der Seitenschiffe<br />
stark zurückgenommen. Einsparungen<br />
auch bei der Innenraumkonzeption. Hier ver-<br />
13
St. Suitbertus nach der Zerstörung 1943 (Pfarrarchiv St. Suitbertus)<br />
läßt Fischer das für einen dreischiffigen Basilikentyp<br />
vorgesehene „Geb<strong>und</strong>ene System“ <strong>und</strong><br />
kommt zu einer gotisierenden Lösung mit weiten<br />
Säulenabständen. Der von Theodor Roß<br />
ausgearbeitete Plan wäre zwar konsequenter<br />
gewesen, aber eben auch teurer gekommen.<br />
Mit dem an Roß delegierten Auftrag bewegen<br />
wir uns wohl am Beginn des Jahres 1895.<br />
Roß war zu diesem Zeitpunkt 30 Jahre alt <strong>und</strong><br />
noch nicht in einem Maße routiniert, um auf<br />
jegliche Anregung verzichten zu können. Es<br />
versteht sich von selbst, daß bei einem historisierenden<br />
Baumeister des späten 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
nicht einfach ein romanischer Sakralbau<br />
zum Vorbild genommen wurde. Anregungen<br />
von unterschiedlichen Baulösungen flossen in<br />
den Entwurf ein <strong>und</strong> es galt, die stilistische<br />
Vielfalt sowohl zu einem überzeugenden Gesamtkonzept<br />
zu integrieren als auch den ortsgegebenen<br />
Anforderungen anzugleichen. Vermutlich<br />
stand Roß auch unter Zeitdruck, so daß<br />
14<br />
ihn der unverhoffte Auftrag Fischers in Zugzwang<br />
brachte.<br />
Glücklicherweise entstand vom Jahre 1891<br />
an in Köln-Deutz die Kath. Pfarrkirche<br />
St. Heribert, die am 28. Mai 1896 ihrer Bestimmung<br />
übergeben werden konnte. Die Pläne für<br />
das Gotteshaus stammten von dem renommierten<br />
Kirchenbaumeister Caspar-Clemens Pickel<br />
(1847–1939) aus Düsseldorf. 23 Einerseits war<br />
der Bau im Jahre 1895 genügend weit fortgeschritten,<br />
um einem aufmerksamen Architekten<br />
als Vorlage dienen zu können, andererseits<br />
mochte es Roß auch gelungen sein, Einsicht in<br />
die Pläne zu nehmen. Bei einem Formvergleich,<br />
der allerdings den hier gesetzten Rahmen<br />
sprengen würde, wird deutlich, in welch<br />
starkem Maß die Roß’schen Pläne von<br />
St. Heribert geprägt sind. 24 Auch bei der<br />
schließlich durch G.A. Fischer realisierten<br />
Ausführung der St. Suitbertus-Kirche erinnern<br />
noch etliche Details an das durch Caspar-Cle-
Blick von der Orgelempore zum Chor, 1993 (Forschungsstelle für Architekturgeschichte <strong>und</strong><br />
Denkmalpflege der Bergischen Universität/Gesamthochschule Wuppertal)<br />
mens Pickel geschaffene Vorbild. Wenn man es<br />
milde formuliert, kann man sagen, daß sich um<br />
die St. Suitbertus-Kirche in Elberfeld immerhin<br />
drei namhafte Architekten verdient gemacht<br />
haben.<br />
Zerstörung <strong>und</strong> Wiederaufbau<br />
Die Rohbauleistungen für St. Suitbertus<br />
wurden an den Bauunternehmer Peter König<br />
(Briller Straße in Elberfeld) vergeben. Aus dem<br />
Barmer Büro G.A. Fischers war der Architekt<br />
Knevels mit der örtlichen Bauleitung betreut.<br />
Die Steinhauerarbeiten ließ man durch das Königswinterer<br />
Unternehmen Bachem & Cie vornehmen.<br />
Auch für Ausstattung <strong>und</strong> Fenster<br />
hatte man erste Adressen angesprochen, wenngleich<br />
die Vergabe aus finanziellen Gründen<br />
gestreckt werden mußte. 25 Als St. Suitbertus<br />
am 26. Oktober 1902 in den Rang einer selb -<br />
ständigen Pfarrkirche erhoben wurde, konnte<br />
dieser Freudentag bereits im Glanz aller Altäre<br />
<strong>und</strong> zu den Klängen einer Seiffert-Orgel ge -<br />
feiert werden. Die Ausstattung wurde im Jahre<br />
1927 durch eine Ausmalung mit Wand- <strong>und</strong><br />
Deckenfresken komplettiert. 26<br />
Wie zahlreiche Gebäude in der Südstadt<br />
wurde auch St. Suitbertus beim Luftangriff<br />
vom 25. Juni 1943 auf Elberfeld zerstört. Als<br />
eines der wenigen unversehrten Bauwerke<br />
wird die Stadthalle genannt. 27 Der Wiederaufbau<br />
der Südstadt in den 50er Jahren führte zu<br />
einem völlig veränderten Ortsbild, in dem nur<br />
wenige Bauten eine Orientierung an den Vorkriegszustand<br />
ermöglichen. St. Suitbertus<br />
gehört zu dieser Kategorie. Dem Brand vom<br />
25.6.1943 hatten Außenmauern <strong>und</strong> Gewölbe<br />
zwar standgehalten, doch ein Gottesdienst<br />
konnte in der Trümmerstätte nicht mehr stattfinden.<br />
Zudem waren von den r<strong>und</strong> 8000 Katholiken<br />
des Pfarrsprengels nach der Bombar-<br />
15
dierung gerade mal zwei Dutzend Mitglieder<br />
übrig geblieben. Bis zum Mai 1949 rechnete<br />
man wieder mit etwa 1600 Pfarrangehörigen. 28<br />
Ab Juni 1946 hatte man zunächst die Sakristei<br />
als Notkirche genutzt, vom 5.6.1947 an das<br />
linke Seitenschiff. 29 In einem Zeitungsbericht<br />
zum 50jährigen Bestehen der Kirche lesen wir:<br />
„Goldene Jubelfeier in St. Suitbertus.<br />
Die katholische Gemeinde St. Suitbertus<br />
beging gestern die kirchliche Feier ihres<br />
50jährigen Bestehens. Noch ragen die ehedem<br />
imposanten Türme des romanischen Baues in<br />
der Elberfelder Südstadt wie stumpfe Kegel<br />
aus dem Ruinenfeld dieses hart mitgenommenen<br />
Stadtteils empor, so daß das zu einer Kapelle<br />
ausgebaute linke Seitenschiff die Festgemeinde<br />
aufnehmen mußte...“ 30<br />
Wenig vorher waren die Gewölbe wiederhergestellt<br />
<strong>und</strong> die Orgelpartie „durch eine Betondecke<br />
geschützt“ worden. Am 10. Mai 1949<br />
war die „letzte Niete in die Stahlkonstruktion<br />
für das eigentliche Dach eingeschlagen“ worden.<br />
31 Am 21. August des Jahres 1950 konnte<br />
in einem feierlichen Pontifikalamt die wiederaufgebaute<br />
Kirche eingeweiht werden. 32 Im<br />
Jahre 1953 wurden die Restarbeiten an den<br />
Türmen abgeschlossen. Zum gleichen Zeitpunkt<br />
legte das Erzbistum Köln die Betreuung<br />
von Kirche <strong>und</strong> Pfarrei in die Hände des<br />
Kreuzherrenordens. 33<br />
Der Wiederaufbau von St. Suitbertus geschah<br />
unter der Leitung des Kölner Dombaumeisters<br />
Willy Weyres. Neben einigen Vereinfachungen<br />
im Außenbau fällt vor allem die Innenraumgestaltung<br />
ins Auge: Durch Abschlagen<br />
des Putzes tritt der Ziegelbau zutage <strong>und</strong><br />
vermittelt die herbe Ästhetik der frühen Nachkriegsjahre.<br />
Von der nach <strong>und</strong> nach erneuerten<br />
Ausstattung seien ein Tabernakel <strong>und</strong> ein den<br />
Altarraum beherrschendes Hängekreuz hervorgehoben,<br />
beides Arbeiten von Prof. Karl<br />
Schrage, dem Leiter der Wuppertaler Werkkunstschule.<br />
34<br />
St. Suitbertus läßt sich im Rückblick auf<br />
eine h<strong>und</strong>ertjährige Geschichte kunsthistorisch<br />
in die Gruppe jener historisierenden Kirchenbauten<br />
einreihen, die zur Zeit ihrer Entstehung,<br />
aber auch im Zuge des Wiederaufbaus Qualität<br />
16<br />
<strong>und</strong> gestalterischen Anspruch zu dokumentieren<br />
vermochten.<br />
Anmerkungen<br />
1 Vgl. Pfarrarchiv St. Suitbertus: Abschrift (Manuskript<br />
1950er Jahre?), S. 73–97: Anonym:<br />
„Appelation (sic!) An die Elberfelder Katholiken<br />
in Angelegenheit der projektierten St. Suitbertus-Kiche.<br />
Ein Wort zur Aufklärung.“ Das<br />
Schreiben war wohl auch <strong>und</strong>atiert, es erschien,<br />
wie aus dem Text sinngemäß hervorgeht, kurz<br />
vor Weihnachten des Jahres 1887. Der Verfasser<br />
ist möglicherweise Hauptlehrer J.G. Breuer, der<br />
1884 den „St. Suitbertus-Kirchbau-Verein“ begründete.<br />
2 Im Jahre 1687 errichtete die kleine katholische<br />
Gemeinde Elberfelds am Turmhof ein bescheidenes<br />
Gotteshaus, das in den Jahren 1729–1732<br />
durch einen größeren Bau ersetzt wurde. Das<br />
Gr<strong>und</strong>stück wurde in den 1820er Jahren zum<br />
Bau des Rathauses benötigt, so daß man im<br />
Zuge der westlichen Stadterweiterung Elberfelds<br />
an einen großzügigen Neubau für die etwa<br />
5000 Katholiken des Pfarrsprengels denken<br />
konnte. Vgl. u.a. Pfeffer (1980) S. 28.<br />
3 August Lange verstarb 1883; seine Pläne für die<br />
Herz-Jesu-Kirche wurden von Baumeister<br />
Schmitz aus (Köln-) Deutz ausgeführt; vgl. König<br />
(1986), S. 8. (Der Name Lange ist hier fälschlich<br />
mit Lunge wiedergegeben). Bei dem<br />
„Baumeister Schmitz“ handelt es sich vermutlich<br />
um Franz Schmitz (1832–1894), der 1884<br />
als Diözesanbaumeister in Köln nachgewiesen<br />
ist <strong>und</strong> 1890 Dombaumeister von Straßburg<br />
wurde. Vgl. Weyres/Mann (1968), S. 92 Nr. 630.<br />
Die St. Marienkirche wurde nach Plänen des<br />
„Stadtbaumeisters Schmitz aus Deutz“ gebaut<br />
(vgl. Wichard, 1986, S. 14). Vermutlich handelt<br />
es sich um den gleichen Architekten wie von<br />
Herz-Jesu; Pfeffer (1980), S. 37/38 benennt für<br />
St. Marien die Düsseldorfer Architektensozietät<br />
Tuishaus (Tüshaus, H.M.) & van Abbema. Um<br />
die Verwirrung perfekt zu machen: Pfarrer Karl<br />
Neumann von St. Laurentius schreibt den Bau<br />
von Herz-Jesu den Architekten Tüshaus <strong>und</strong> van<br />
Abbema zu, vgl. Neumann (1910), S. 323. Vorerst<br />
läßt sich die Frage nach dem (bzw. den) Architekten<br />
von St. Marien nicht klären. Bezüglich<br />
Herz-Jesu ist die Quellenlage durch einen Reprint<br />
der Bauurk<strong>und</strong>e gesichert. Vgl. König<br />
(1986), S. 8.
4 Vgl. Pfarrarchiv St. Suitbertus: Abschrift, S. 86.<br />
Es handelt sich um folgende katholische Schulen:<br />
1. Schule an der Grifflenberger Straße: 9 Klassen<br />
mit 547 Schülern<br />
2. Schule an der Simonsstraße: 7 Klassen mit<br />
498 Schülern<br />
3. Schule an der Andreasstraße: 7 Klassen mit<br />
463 Schülern.<br />
5 Vgl. Festschrift 75 Jahre St. Suitbertus. 1899–<br />
1974, S. 13; Im Jahre 1885 war der ehemalige<br />
Hauptlehrer J.G. Breuer, wohnhaft in der Hofauerstraße<br />
39, bereits „emeritiert“, vgl. STAW<br />
(Stadtarchiv Wuppertal): Adreßbuch der Stadt<br />
Elberfeld 1885. In der Amtszeit des Pfarrers Friderici<br />
von St. Laurentius war Breuer vor allem<br />
auf sozialem Gebiet stark engagiert <strong>und</strong> der Initiator<br />
zahlreicher sozialer Einrichtungen <strong>und</strong><br />
Vereinigungen, vgl. Neumann (1910),<br />
S. 323.<br />
6 Vgl. Wieck (1995), S. 19; an die Stadt Elberfeld<br />
veräußerte die Familie Küpper allerdings den<br />
Gesamtkomplex zum Preise von 525000 Mark.<br />
7 Vgl. Festschrift 75 Jahre St. Suitbertus, 1899–<br />
1974, S. 14.<br />
8 Vgl. Pfarrarchiv St. Suitbertus: Abschrift,<br />
S. 132f.<br />
9 Vgl. Festschrift 75 Jahre St. Suitbertus, 1899–<br />
1974, S. 14; Neumann (1910), S. 326. Antonius<br />
Fischer (geb. Jülich 30.5.1840, gest. Köln<br />
30.7.1912) wurde 1888 Domkapitular in Köln;<br />
1889 Weihbischof, 1902 Erzbischof von Köln<br />
<strong>und</strong> 1903 zum Kardinal ernannt, vg. Steimel<br />
(1958), Sp. 126.<br />
10 Philippus Krementz (geb. Koblenz 1.12.1819,<br />
gest. Köln 6.5.1899) wurde 1867 Bischof von<br />
Ermland, 1885 zum Erzbischof von Köln ernannt,<br />
erhielt 1893 die Kardinalswürde. Vgl.<br />
Steimel (1958), Sp. 230; vgl. auch : STAW: Täglicher<br />
Anzeiger für Berg <strong>und</strong> Mark, Nr. 112 v.<br />
14.5.1899.<br />
11 STAW: General-Anzeiger für Elberfeld-Barmen,<br />
Nr. 110 v. Freitag, 12. Mai 1899. Der anonym<br />
verfaßte Text scheint sehr stark auf Hinweisen<br />
des Architekten G.A. Fischer zu basieren, da<br />
auf formale Details des Kirchenbaues eingegangen<br />
wird.<br />
12 Der sog. „Dom zu Limburg“ wurde nach 1211<br />
bis 1235 erbaut. Vgl. Binding (1980), S. 58,<br />
Abb. 152.<br />
13 Zur Rezeption romanischer Sakralbauten <strong>und</strong><br />
ihrer Restaurierung/Rekonstruktion. Vgl. Hoffmann/Godehard:<br />
Rheinische Romanik im 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert, Köln 1995.<br />
14 Vgl. Pfarrarchiv St. Suitbertus: Abschrift, S. 41<br />
<strong>und</strong> 229.<br />
15 Vgl. Pfarrarchiv St. Suitbertus: Auszug aus dem<br />
Lagerbuch von St. Laurentius, betr. Suitbertus-<br />
Kirche (<strong>und</strong>atiertes Manuskript, um 1903), S. 2.<br />
16 Vgl. Aleweld (1994), S. 92–94 <strong>und</strong> Moll (1994),<br />
S. 18–20.<br />
17 Vgl. STAW: Barmer Zeitung v. 30.10.1906:<br />
„Eine Ehrenfeier für Architekt Fischer“.<br />
18 Vgl. Fischer (1892)<br />
19 Vgl. HASK (Historisches Archiv der Stadt<br />
Köln): Abt. 1081, Nachlaß Theodor Roß.<br />
20 Zu Theodor Roß. Vgl. Frielingsdorf (1992),<br />
S. 93/94; Mahlberg (1982), S. 34 <strong>und</strong> S. 42<br />
Anm. 110. Von Erasmus Schüller <strong>und</strong> Theodor<br />
Roß befinden sich Originalpläne in der vom Verfasser<br />
geleiteten Forschungsstelle für Architekturgeschichte<br />
<strong>und</strong> Denkmalpflege der Bergischen<br />
Universität-Gesamthochschule Wuppertal.<br />
21 Vgl. Hilgers (1993), S. 4.<br />
22 Vgl. HASK: Abt. 1081, Nachlaß Theodor Roß,<br />
Nr. 193 „Projekte fremder Architekten“.<br />
23 Vgl. Schmitges (1971), Fußbroich (1982) <strong>und</strong><br />
Krings (1988).<br />
24 Für Pickel wie für Roß hatten außer St. Georg in<br />
Limburg a. d. Lahn noch folgende romanische<br />
Kirchen Vorbildfunktion: St. Aposteln in Köln,<br />
Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Andernach<br />
<strong>und</strong> St. Kastor in Koblenz. Direkte Anregungen<br />
für den Erstenwurf (Nachlaß Roß) wie auch die<br />
schließlich durch G.A. Fischer ausgeführten<br />
Pläne konnten ferner von der Krefelder neoromanischen<br />
Kirche St. Josef (in den Jahren 1887–<br />
90 nach den Plänen Pickels ausgeführt), ausgegangen<br />
sein. Vgl. Schmitges (1971),<br />
S. 78–84.<br />
25 Hochaltar, Nebenaltäre <strong>und</strong> Kommunionbank<br />
wurden von den Kunstwerkstätten Custodis<br />
(Köln) erstellt. Der Bildhauer Ferdinand Josef<br />
Friedrich Custodis fertigte übrigens auch den<br />
Marienaltar in St. Heribert in Köln (vgl. Fußbroich,<br />
1982, S. 24); die Kanzel war ein Werk des<br />
Holzbildschnitzers Goldkuhle (Essen).Die Fenster,<br />
deren Anschaffung aus Kostengründen über<br />
etliche Jahre verteilt wurde, stammten aus der<br />
bekannten Glaswerkstatt Oidtmann in Linnich.<br />
Der Marienaltar wurde am 25. 11 1899 eingeweiht,<br />
der Hochaltar Weihnachten 1899, St. Josefsaltar<br />
<strong>und</strong> Kanzel Ostern 1900, der Taufaltar<br />
Ostern 1901, die Orgel wurde im Oktober 1901<br />
in Betrieb genommen <strong>und</strong> die Kommunionbank<br />
im Jahre 1903 aufgestellt; im gleichen Jahr er-<br />
17
folgte auch der Einbau der restlichen 6 Chorfenster.<br />
Vgl. Pfarrarchiv St. Suitbertus, Abschrift,<br />
S. 40.<br />
26 Zu dem Künstler sind leider keine näheren Angaben<br />
zu finden. Als Programm kann aufgr<strong>und</strong><br />
älterer Fotovorlagen das Wirken des Hl. Suitbertus<br />
ausgemacht werden.<br />
27 Vgl. Picard (1993), S. 90.<br />
28 Vgl. STAW: Westdeutsche Zeitung v. 13. 5.<br />
1949: „50 Jahre St. Suitbertus-Kirche“.<br />
29 Festschrift 75 Jahre St. Suitbertus, 1899–1974,<br />
S. 44.<br />
30 Vgl. STAW: Westdeutsche Zeitung v. 27. 5.<br />
1949.<br />
31 Vgl. STAW: Westdeutsche Zeitung v. 13. 5.<br />
1949.<br />
32 Vgl. STAW: Generalanzeiger der Stadt Wuppertal<br />
(Beilage) v. 19. 8. 1950 <strong>und</strong> 21 8.1950.<br />
33 Vgl. STAW: General-Anzeiger der Stadt Wuppertal<br />
v. 16.5.1953, 4.7.1953 <strong>und</strong> Barmer Zeitung<br />
v. 29.8.1953.<br />
34 Vgl. Mahlberg (1994), S. 94/95.<br />
Literaturverzeichnis<br />
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Der Architekt von Schloß Burg <strong>und</strong> sein<br />
Sohn, in: Hans Joachim de Bruyn-Ouboter<br />
(Hrsg.): Barmer Südstadt. Wuppertal, 1994,<br />
S. 92–94.<br />
Binding Günther: Architektonische Formenlehre.<br />
Darmstadt, 1980.<br />
Fischer, G.A.: Schloß Burg an der Wupper <strong>und</strong> andere<br />
Burgen des Rheinlandes, Barmen 1892<br />
(Reprint mit einem Nachwort von Dirk<br />
Soechting, Remscheid 1980).<br />
Frielingsdorf, Joachim: Der Baumeister Heinrich<br />
Wolff (1843–1924). Wuppertal, 1992.<br />
Fußbroich, Helmut: Die Pfarrkirche St. Heribert in<br />
Köln-Deutz (=Rheinische Kunststätten, H. 270).<br />
Neuss, 1982.<br />
Hilgers, Fritz: Die Pfarrkirche St. Peter in Köln-Ehrenfeld<br />
(=Rheinische Kunststätten, H. 380).<br />
Neuss 1993.<br />
Hoffmann, Godehard: Rheinische Romanik im 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert. Denkmalpflege in der preußischen<br />
Rheinprovinz. Köln, 1995.<br />
Klinkenberg, Joseph: Köln <strong>und</strong> seine Kirchen. Führer<br />
durch Köln für die Besucher der 50. Generalversammlung<br />
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Köln 1903.<br />
18<br />
König, Franz (Hrsg.): 100 Jahre Pfarrgemeinde<br />
Herz-Jesu Wuppertal-Elberfeld. 1886–1986.<br />
Wuppertal o.J. (1986).<br />
Krings, Ulrich: Die Katholische Pfarrkirche<br />
St. Heribert in Köln-Deutz. Gedanken zu ihrer<br />
denkmalpflegerischen Instandsetzung 1986–<br />
1988, in: Rechtsrheinisches Köln. Jahrbuch für<br />
Geschichte <strong>und</strong> Landesk<strong>und</strong>e, Bd. 14 (Köln<br />
1988), S. 65–88.<br />
Mahlberg, Hermann J.: Karl Schrage (1904–1972)<br />
in: Kunst /Design <strong>und</strong> Co. (Hrsg. Dekan FB 5):<br />
Von der Kunstgewerbeschule Barmen/Elberfeld<br />
– Meisterschule – Werkkunstschule Wuppertal<br />
zum Fachbereich 5 der Bergischen Universität<br />
Gesamthochschule Wuppertal. 1894–1994.<br />
Wup per tal 1994, S. 94–95.<br />
Ders.: 850 Jahre Kirch-Kleintroisdorf. Ein Beitrag<br />
zur geschichtlichen Entwicklung des Doppelortes,<br />
in: 850 Jahre Kirch-Kleintroisdorf (Hrsg.<br />
Ralf v. Ameln u.a.). Bedburg 1982, S. 7–42.<br />
Moll, Jörg: Fischer, Fischer <strong>und</strong> Fischer. Der Barmer<br />
Stadtbaumeister August Fischer (1824ca.1885),<br />
seine Vorgänger, Nachfolger <strong>und</strong> Namensvettern,<br />
in: POLIS, H. 4, 1994, S. 18–20.<br />
Neumann Karl: Geschichte der Katholischen Gemeinde,<br />
in: Die Stadt Elberfeld. Festschrift zur<br />
Dreijahrh<strong>und</strong>ert-Feier 1910 (Hrsg. v. Heinrich<br />
Born), Elberfeld, 1910, S. 320–329.<br />
Pfeffer, Klaus: Die Kirchenbauten in Wuppertal-Elberfeld<br />
(=Rheinische Kunststätten, H. 229),<br />
Neuss, 1980.<br />
Picard, Wilfried: Erinnerungen eines Neunjährigen,<br />
in: Herbert Pogt (Hrsg.): Vor fünfzig Jahren.<br />
Bomben auf Wuppertal. Wuppertal 1993, S. 88–<br />
90.<br />
Schmitges, Horst: Die Kirchenbauten des Caspar-<br />
Clemens Pickel. Ein Beitrag zur katholischen<br />
Kirchenbaugeschichte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />
München 1971.<br />
Steimel, Robert: Kölner Köpfe. Köln, o.J. (1958)<br />
Weyres, Willy/Mann, Albrecht: Handbuch zur rheinischen<br />
Baukunst des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, 1800–<br />
1880. Köln 1968.<br />
Wichard, Felix u.a. (Hrsg.): 100 Jahre katholische<br />
Pfarrgemeinde St. Marien in Elberfeld. 1886–<br />
1986. Wuppertal o.J. (1986).<br />
Wieck, Anke: Zur Geschichte der Elberfelder Stadthalle,<br />
in: Frielingsdorf, Joachim / Hartwig, Jost<br />
(Hrsg.): Die Stadthalle. Ein Wuppertaler Monumentalbauwerk.<br />
(1895–1995). Wuppertal 1995,<br />
S. 12–73.
Klaus Goebel<br />
Literarische Ortsbeschreibung<br />
Zu Jung-Stillings Erzählung „Auch eine heilige Familie“<br />
Seit ich mich erinnern kann, bin ich in dieser<br />
Stadt zu Hause. Laute, Gerüche, Farben,<br />
Tageszeiten zwischen Morgengrauen <strong>und</strong><br />
Dämmerung, Regenschauern <strong>und</strong> Sonnenschein<br />
verbinden sich mit den Gesichtern der<br />
Eltern, der Großeltern, der verzweigten Familie.<br />
Die Erinnerung klammert sich an täglich<br />
geschaute, immer wieder neu gesehene Orte,<br />
an Möbel, Zimmer, Häuser, Straßen, weite<br />
Wiesen, an schneebedeckte Hänge, über die es<br />
auf dem Schlitten in rasender Fahrt abwärts<br />
geht.<br />
An einem Septembermorgen steht die<br />
Nachbarin mit ernstem Gesicht an der Wohnungstür.<br />
Ihr Mann sei in der Nacht eingezogen<br />
worden <strong>und</strong> schon unterwegs nach Polen, an<br />
die Front. Wenig später teilt sie der Mutter tränenüberströmt<br />
die Todesnachricht mit. Ich<br />
stehe dabei <strong>und</strong> schaue auf das schwarze Kleid<br />
<strong>und</strong> ins Treppenhaus. An der Haustür hängt ein<br />
schwarzer Flor. Die nächsten Kriegsjahre ver -<br />
knüpfen sich im Bewußtsein des Kindes mit<br />
dem Keller unter der Treppe, wo ein Luft -<br />
schutzraum eingerichtet ist. Wir sitzen an zwei<br />
oder drei Tischen. Langsam erwache ich aus<br />
der Schlaftrunkenheit. Die Vermieterin, Hausherrin<br />
genannt, spielt ein Würfelspiel mit uns.<br />
Dann verkünden die Sirenen Entwarnung. Alle<br />
kehren in ihre Wohnungen zurück. Einmal<br />
spielen wir nicht, sondern haben nur Angst,<br />
weil Bomben fallen, st<strong>und</strong>enlang. Am nächsten<br />
Morgen geht das Kind über die Straße, die mit<br />
Glassplittern übersät ist. Auf der Straßenecke<br />
Collenbuschstraße–Litzmannstraße steht die<br />
Gulaschkanone. Dort wird Suppe ausgeschenkt.<br />
Ein Junge aus der Klasse sagt zu mir:<br />
„Lebst du noch?“<br />
Die Schulwege. Zu den Volksschulen Liegnitzer<br />
Straße, Wichlinghauser Straße, Germanenstraße,<br />
Rübenstraße. Sechs Jahre lang von<br />
Heckinghausen zum Carl-Duisberg-Gymnasium<br />
in der Diesterwegstraße auf Wupperfeld,<br />
mal über Rittershausen, mal über die Wupper-<br />
brücke Brändströmstraße, die die Großmutter<br />
Schillerbrücke nennt, der Großvater wohl auch<br />
einmal Totenbrücke. Wer das Schellen versäumt,<br />
findet das große Schulportal geschlossen.<br />
Erst nach Minuten läßt der Hausmeister<br />
Hölschen die Zuspätgekommenen ein. Drei<br />
Treppen hoch droht der Eintrag ins Klassenbuch.<br />
Die Fahrten mit dem Rad durch die<br />
Stadt, mit der Talbahn, mit der Bergbahn, mit<br />
der Schwebebahn. Ins Theater an der Berg -<br />
straße. Die Gemarker Kirche, die im Krieg ausgebrannt<br />
war, ist wieder aufgebaut. Ich bekomme<br />
im Festgottesdienst einen Stehplatz.<br />
Das Glasmosaik neben der Kanzel leuchtet in<br />
allen Farben, <strong>und</strong> der Oberbürgermeister<br />
Schmeißing, der mich anzusehen scheint, sagt<br />
am Ende seiner Rede: Veni, creator spiritus. An<br />
wie vielen Ruinen gehen die Wege damals vorbei!<br />
Vielleicht fallen mir die ganz alten Häuser,<br />
die aus Fachwerk, darum besonders ins Auge,<br />
die Bauten, über die ich dann als Schüler <strong>und</strong><br />
Student Artikelserien in den Zeitungen<br />
schreibe. Gespräche mit Hausbewohnern <strong>und</strong><br />
lokalgeschichtliche Literatur aus der Stadt -<br />
bibliothek bilden die Gr<strong>und</strong>lagen. Kindheits -<br />
eindrücke <strong>und</strong> Lektüre verdichten sich zum<br />
Bild der Stadt, in dem Erinnerung <strong>und</strong> Gegenwart<br />
zusammenfließen. Vor allem aber begegnen<br />
uns immer wieder Menschen, traurige oder<br />
lachende Gesichter, wenn wir uns erinnern.<br />
Wortfetzen schallen ans Ohr. Die Großmutter<br />
schiebt uns einen Teller Essen hin. Draußen<br />
spielt ein Lumpenhändler auf seiner Flöte.<br />
Autobiographische Momentaufnahmen lassen<br />
erkennen, daß sich keine Erinnerung ohne<br />
die Orte <strong>und</strong> Menschen denken läßt, denen<br />
man im Leben begegnet ist. Bewegte Schauplätze<br />
gehören zum Erzählen. Sie erscheinen<br />
wie Märkte voller Menschen, von denen sich<br />
ab <strong>und</strong> zu einer löst <strong>und</strong> auf uns zugeht. Ohne<br />
bestimmte Orte sind weder die erf<strong>und</strong>enen<br />
noch die geschehenen Geschichten zu denken,<br />
ohne Menschen wiederum bleiben diese Orte<br />
19
leblos. Menschliche Sprache <strong>und</strong> Wechsel der<br />
Orte bringt die Handlung vorwärts, wie es im<br />
Wesen der Biographie, des Schauspiels <strong>und</strong> des<br />
Films liegen.<br />
Doch in Geschichtsschreibung <strong>und</strong> Literaturtheorie<br />
„bleibt der Raum fast unbeachtet,<br />
genauer, der Ort, an dem Geschichte stattfand,“<br />
stellte Anke Bennholdt-Thomsen nachdenklich-kritisch<br />
fest. 1 Die Funktion, die der Ort in<br />
der fiktiven Literatur wie in der Geschichtsschreibung<br />
einnimmt, besteht gewöhnlich in<br />
der Wiedergabe äußeren Geschehens <strong>und</strong> in<br />
der Vermittlung ebenso äußerlichen Lokalkolorits.<br />
Zeit <strong>und</strong> Raum im Roman, von Michail<br />
Bachtin mit dem Begriff Chronotopos umschrieben,<br />
verbinden die Zeitverhältnisse mit<br />
bestimmten Räumlichkeiten. 2 Welche Bedeutung<br />
der literarisch vermittelte Raum für das<br />
Geschichtsbewußtsein des Autors besitzt <strong>und</strong><br />
in welcher Weise eine literarische Dimension<br />
dem Ort zu danken ist, in dem das vom Autor<br />
beschriebene Geschehen abläuft, bleibt häufig<br />
unbeantwortet. Welcher Einfluß aber dem Ort<br />
im fiktiven wie im faktischen Erzählen ein ge -<br />
räumt werden muß, läßt sich unzählig oft nachweisen.<br />
Wir greifen die Essayfolgen heraus,<br />
die von Marie Luise Kaschnitz unter den Titeln<br />
„Orte. Aufzeichnungen“ 3 <strong>und</strong> „Orte <strong>und</strong> Menschen“<br />
4 veröffentlicht wurden. Ausdrücklich<br />
werden „Orte“ hervorgehoben. Städte, Häuser,<br />
Hügel, den Flughafen <strong>und</strong> das Schloß, geographisch<br />
genau fixierbare Örtlichkeiten wählt die<br />
Dichterin zu Ausgangs- <strong>und</strong> Endpunkten reflektierender<br />
Beschreibungen. Eindrücke <strong>und</strong><br />
Empfindungen machen sich an Orten fest. In<br />
Begegnungen mit Menschen nimmt der Geist<br />
des Ortes Gestalt an. „Orte will ich beschreiben<br />
[…]dann nur noch ein einziges Gefühl […]die<br />
Liebe der Lebenden, der Toten <strong>und</strong> von ihr getragen,<br />
von ihr umhüllt. Die Quintessenz aller<br />
Erfahrungen Liebe, empfangene <strong>und</strong> gegebene,<br />
wie ist das zu unterscheiden, empfangen<br />
<strong>und</strong> geben ist eins.“ 5<br />
Jung-Stillings Ortsbeschreibungen<br />
Johann Heinrich Jung-Stillings „Auch eine<br />
heilige Familie“ 6 ist ein Beispiel für diesen<br />
20<br />
Johann Heinrich Jung-Stilling (Archiv Klaus<br />
Goebel)<br />
Einfluß des Ortes. Der Verfasser gilt als derjenige<br />
unter den deutschen Schriftstellern, der<br />
Örtlichkeiten des Wuppertals, Stadtteile der<br />
heutigen Stadt Wuppertal, sowie Städte <strong>und</strong><br />
Dörfer in der Umgebung, im Bergischen Land,<br />
in die über regionale Grenzen hinaus gelesene<br />
Literatur eingeführt hat. Zum Beweis ist vor allem<br />
die von ihm selbst erzählte Lebensgeschichte<br />
zu nennen, deren dritten Teil „Henrich<br />
Stillings Wanderschaft. Eine wahrhafte Geschichte“<br />
7 <strong>und</strong> vierter Teil „Henrich Stillings<br />
häusliches Leben. Eine wahrhafte Ge -<br />
schichte“ 8 vorwiegend im Bergischen Land<br />
spielen. Das Manuskript des ersten Teils „Henrich<br />
Stillings Jugend“, der die Kindheit im Siegerland<br />
zum Gegenstand hat, nahm Goethe anläßlich<br />
seines Besuchs bei Jung-Stilling in Elberfeld<br />
1774 mit <strong>und</strong> veröffentlichte es drei<br />
Jahre später 9 . Auch der Roman „Theobald oder<br />
die Schwärmer“ weist Ronsdorf <strong>und</strong> Elberfeld<br />
als Schauplätze auf 10 .<br />
1762 setzte die „Wanderschaft“ des damals<br />
22jährigen Jung ein. Er verließ die Heimat <strong>und</strong>
erreichte am vierten Tag seiner zu Fuß unternommenen<br />
Reise Elberfeld, das er als „Schönenthal“<br />
begeistert beschreibt: „Als er auf die<br />
Höhe kam <strong>und</strong> die unvergleichliche Stadt mit<br />
dem paradiesischen Tal überschaute, so freute<br />
er sich, setzte sich hin auf den Rasen <strong>und</strong> beschaute<br />
das alles eine Weile; hiebei stieg ihm<br />
der Wunsch so tief aus dem Innersten seiner<br />
Seele empor: Ach Gott! Möcht ich doch da<br />
mein Leben beschließen!“ 11 Doch die Arbeitsstelle,<br />
die er suchte, fand er nicht hier, sondern<br />
in Solingen, Hückeswagen <strong>und</strong> Radevormwald.<br />
Als er im Jahr darauf aus der Werkstatt<br />
des Radevormwalder Schneidermeisters<br />
Becker nach Kräwinklerbrücke wechselte, um<br />
Hauslehrer in der Fabrikantenfamilie Flender<br />
zu werden, besuchte er erneut Elberfeld. Von<br />
der Erinnerung an den Anblick der Stadt im<br />
Jahr zuvor überwältigt, „wurde er begeistert,<br />
setzte sich hin unter das Gesträuche, zog eine<br />
Schreibtafel heraus <strong>und</strong> schrieb.“ 12 Die sechs<br />
Strophen des Gedichtes, das jetzt entsteht, nennen<br />
die innerlich <strong>und</strong> äußerlich im zurückliegenden<br />
Jahr erfahrenen Qualen <strong>und</strong> preisen angesichts<br />
einer verheißungsvollen neuen Tätigkeit<br />
des himmlischen „Vaters Wohlgefallen, /<br />
Der reinen Wonne Wiederkehr. / Die Wolken<br />
ziehen sanft herüber, / Tief unten braun, licht<br />
oben drüber.“<br />
Es vergingen glückliche Jahre im Hause<br />
Flender, bis Jung 1769 nach von Johann Baptist<br />
Molitor erworbenen Rezepten die ersten<br />
Augenheilkuren durchführte. Er fand auch in<br />
Elberfeld Patienten, die er dort besuchte. Er<br />
machte bei dieser Gelegenheit Bekanntschaft<br />
„mit vielen frommen gottesfürchtigen Leuten,<br />
die ihn Sonntagsmittags wechselsweise zum<br />
Essen einluden <strong>und</strong> sich mit ihm vom Christentum<br />
<strong>und</strong> andern guten Sachen unterredeten.“ 13<br />
Nachdem er sich entschieden hatte, ein Medizinstudium<br />
aufzunehmen, erhielt er auch in Elberfeld<br />
„einen Wink vom himmlischen Vater“<br />
14 , nach Straßburg zu gehen. Während dieser<br />
Studienzeit wurde er 1771 in Ronsdorf mit<br />
Christine Heyder getraut; seine Elberfelder<br />
Fre<strong>und</strong>e, der Arzt Dr.Dinkler <strong>und</strong> der Chirurg<br />
Troost, nahmen an dieser Hochzeit teil <strong>und</strong><br />
schlugen ihm vor, sich als Arzt in Elberfeld<br />
niederzulassen, sobald er in Straßburg das Ex-<br />
amen abgelegt habe. 15 Dies erfolgte auch am<br />
1.Mai 1772. Zu Beginn des „Häuslichen Lebens“,<br />
des vierten Teils der Autobiographie,<br />
schildert Jung die Fußwanderung, die er an diesem<br />
Tage mit Ehefrau <strong>und</strong> Schwiegervater von<br />
Ronsdorf nach Elberfeld unternahm. Erneut<br />
widmete er der Stadt im Tal Worte tief empf<strong>und</strong>enen<br />
Gefühls. Sie werden in der Literatur,<br />
nicht zuletzt in Zitatsammlungen 16 , immer wieder<br />
herangezogen, porträtieren sie doch den<br />
Gegenstand der Verehrung in anschaulicher<br />
<strong>und</strong> dabei vorteilhaftester Weise: „Diese Stadt<br />
liegt in einem sehr anmutigen Tal, welches von<br />
Morgen gegen Abend in gerader Linie fortläuft<br />
<strong>und</strong> von einem mittelmäßigen Flüßchen, der<br />
Wupper, durchströmt wird; den Sommer über<br />
sieht man das ganze Tal zwei St<strong>und</strong>en hinauf<br />
bis an die märkische Grenze mit leinen Garn<br />
wie beschneit, <strong>und</strong> das Gewühl von tätigen <strong>und</strong><br />
sich glücklich nährenden Menschen ist unbeschreiblich:<br />
alles steht voller einzelner Häuser;<br />
ein Garten, ein Baumhof stößt an den andern,<br />
<strong>und</strong> ein Spaziergang durch dieses Tal hinauf ist<br />
paradiesisch. Stilling träumte sich in eine selige<br />
Zukunft, <strong>und</strong> unter diesen Träumen schritt<br />
er ins Getöse der Stadt hinein.“ 17<br />
Doch die Aussichten auf eine „selige Zukunft“<br />
sollten sich als wolkenverhangen, ja als<br />
umso düsterer erweisen, je länger Jung in Elberfeld<br />
wohnte. Er beklagte im „Häuslichen<br />
Leben“ <strong>und</strong> anderer Stelle den Umgang mit<br />
manchem Frommen, der den Pietisten zugerechnet<br />
werde <strong>und</strong> sich besser als andere<br />
dünke, tatsächlich jedoch den Heuchlern zuzurechnen<br />
sei. „Jüngling, willst du den wahren<br />
Weg gehen“, rät er <strong>und</strong> kennzeichnet zugleich<br />
die eigene Haltung, „so zeichne dich durch<br />
nichts aus als durch ein reines Leben <strong>und</strong> edle<br />
Handlungen; bekenne Jesum Christum durch<br />
eine treue Nachfolge seiner Lehre <strong>und</strong> seines<br />
Lebens <strong>und</strong> sprich nur von ihm, wo es nottut<br />
<strong>und</strong> frommet; dann aber schäme dich auch seiner<br />
nicht.“ 18<br />
Auch eine heilige Familie<br />
Johann Heinrich Jung-Stillings vor 1795<br />
entstandene Erzählung „Auch eine heilige Fa-<br />
21
milie“ hat Elberfeld zum Schauplatz. 19 In elenden<br />
Lebensverhältnissen leuchtet darin ein<br />
Beispiel uneigennütziger Nächstenliebe auf,<br />
das der Autor in ein erbauliches Gewand kleidet.<br />
Der eingangs zur Sprache gebrachte „Einwurf“,<br />
die christlichen Völker seien sittlich<br />
nicht besser als die von andern Religionen geprägten<br />
außereuropäischen Nationen, ist auch<br />
200 Jahre später noch aktuell. Der Verfasser<br />
sucht ihn zu entkräften, denn der „hohe Grad<br />
der Menschengüte“, zu dem Christinnen <strong>und</strong><br />
Christen fähig seien, ließe sich nicht übertreffen.<br />
Ob <strong>und</strong> in welcher Weise die absolut gemeinte<br />
Antwort Jung-Stillings Gültigkeit beanspruchen<br />
kann, soll uns an dieser Stelle nicht<br />
beschäftigen. Gegenstand ist im Blick auf die<br />
Möglichkeiten literarischer Ortserk<strong>und</strong>ung<br />
vielmehr die Tatsache, daß eine solche Geschichte<br />
in „Schönthal“, im an anderer Stelle<br />
„Schönenthal“ genannten Elberfeld also spielt.<br />
Erfahrungen, die Jung-Stilling während seiner<br />
mehrjährigen ärztlichen Praxis in der Stadt<br />
sammelte, finden ihren Niederschlag. Wie bei<br />
anderer Gelegenheit, so zeichnet er auch hier<br />
zunächst das Bild der Stadt in der Landschaft<br />
mit charakteristischen Einzelheiten. Er<br />
schwärmt erneut von „dem herrlichen Tal“.<br />
Weißes Garn, das die Wupperwiesen übersät,<br />
bleicht in der Sonne. Dem aufmerksamen Leser<br />
begegnen Hinweise auf voneinander abgeschlossen<br />
stehende prächtige Villen, auf Handel<br />
<strong>und</strong> Gewerbe, die im Tal blühen, auf handwerkliche<br />
Tätigkeiten, technische Neuerungen,<br />
ärztliche Praktiken <strong>und</strong> soziale Probleme.<br />
In dem zuletzt genannten Stichwort verbirgt<br />
sich der Umgang von Menschen unterschiedlicher<br />
Schichten miteinander <strong>und</strong> entwickelt<br />
sich zum Hauptthema. Das „paradiesische<br />
Tal“ allein hätte dazu nicht ausgereicht.<br />
Es entsteht ein differenziertes Bild, das nicht<br />
etwa zu einer „frommen Stadt“ führt. Da steht<br />
auf der einen Seite die arme Witwe, deren<br />
Tochter Katherine mit Johannes Langenborn<br />
eine neue Familie gründet. Die Familie wird<br />
als gottesfürchtig, fleißig <strong>und</strong> anspruchslos geschildert.<br />
Die Witwe findet weder „beim Kaufmann,<br />
für den sie arbeitete“ noch beim Prediger,<br />
also Pfarrer, Beachtung, denn sie lebt mit<br />
22<br />
der Tochter in völliger Zurückgezogenheit. Die<br />
Mentalität von Gerhard Tersteegen erscheint in<br />
den geschilderten Menschen personifiziert, eines<br />
Tersteegen, der in Briefen <strong>und</strong> Versen zu<br />
Einsamkeit <strong>und</strong> Stille rät, Abgeschiedenheit<br />
<strong>und</strong> duldendes Leiden preist: „Ein ganz vergeßner<br />
Bürger sein, / Von dem man nicht viel<br />
weiß noch höret; / Nur Gott bekannt <strong>und</strong> Gott<br />
gemein: / So lebt man frei <strong>und</strong> ungestöret.“ 20<br />
Doch die Pflege eigener Frömmigkeit<br />
reicht dem Tersteegen geistesverwandten Jung-<br />
Stilling nicht. Erst durch die Zuflucht, die die<br />
Frommen den Kranken, Hilfsbedürftigen <strong>und</strong><br />
Verlassenen bieten, vervollständigt sich wahre<br />
Christlichkeit. Dem gottesfürchtigen Johannes<br />
Langenborn wird der hartherzige, unbarmherzige<br />
Kaufmann gegenübergestellt, ein scheinheiliger<br />
Christ, der im Begriff steht, seine arbeitsunfähige<br />
Magd auf die Straße zu setzen.<br />
Der Erzähler läßt die eigene Person in das Geschehen<br />
eintreten, was den autobiographischen<br />
Hintergr<strong>und</strong> deutlich macht. Doktor Stilling<br />
leistet uneigennützig medizinische Hilfe <strong>und</strong><br />
zeigt damit, auf wessen Seite er steht. Als er<br />
Schönthal verläßt, weint er mit den vier Langenborns<br />
„zärtliche Tränen“. Es ist, als verabschiede<br />
er sich von einer wahren Heimat, in der<br />
er jenseits von Glück <strong>und</strong> Unglück die Bekanntschaft<br />
wahrer Christen gemacht hatte,<br />
mitten in der arbeitsamen Stadt, in der niedrigen<br />
Hütte, wo einem so ums Herz ist, „als<br />
wenn da der Blitz nicht einschlagen könnte.“<br />
Anmerkungen<br />
1 Anke Bennholdt-Thomsen, Die Bedeutung des<br />
Ortes für das literarische Geschichtsbewußtsein.<br />
In: Hartmut Eggert/Ulrich Profitlich/Klaus R.<br />
Scherpe (Hg.), Geschichte als Literatur. Formen<br />
<strong>und</strong> Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit.<br />
Stuttgart 1990, S.128–139, hier wie<br />
Anm. 1, S.128.<br />
2 In: Kunst <strong>und</strong> Literatur II (1974), zitiert bei A.<br />
Bennholdt-Thomsen, wie Anm. 1, S.128.<br />
3 Zuerst Frankfurt am Main 1973. Wiederholt neu<br />
aufgelegt.<br />
4 Zuerst Frankfurt am Main 1986. Wiederholt neu<br />
aufgelegt.
5 Ebenda, Frankfurt am Main/Leipzig 1991 (it<br />
1361), S.30<br />
6 Siehe die in diesem Heft vollständig abgedruckte<br />
Erzählung.<br />
7 Berlin/Leipzig 1778. Häufig neu aufgelegt, zuletzt<br />
umfassend kommentiert in: Johann Heinrich<br />
Jung-Stilling, Lebensgeschichte. Vollständige<br />
Ausgabe, mit Anmerkungen herausgegeben<br />
von Gustav Adolf Benrath. Darmstadt 3 1993,<br />
S.187–288.<br />
8 Berlin/Leipzig 1789. In: wie Anm.7, S.289–440.<br />
9 Berlin/Leipzig 1777. In: wie Anm.7, S.1–79.<br />
10 Erschienen Leipzig 1784 (1.Teil) <strong>und</strong> 1785<br />
(2.Teil). Näheres bei: Klaus Goebel, Jung-Stillings<br />
Beziehungen zu Ronsdorf. In: Derselbe, In<br />
allem Betracht ein angenehmer Aufenthalt.<br />
Ronsdorfer Vorträge <strong>und</strong> Aufsätze. Köln 1994,<br />
S.103–121.<br />
11 Wie Anm. 7, S.192; Rechtschreibung <strong>und</strong> Zeichensetzung<br />
in allen Zitaten modernisiert.<br />
12 Ebenda, S.224.<br />
13 Ebenda, S.247.<br />
Johann Heinrich Jung-Stilling<br />
Auch eine heilige Familie<br />
Ich habe oft von Männern, die am Christus-<br />
Ekel kränkeln, den Einwurf gehört: was denn<br />
doch die Religion Jesu viel nütze <strong>und</strong> genützt<br />
habe? – Die europäischen oder christlichen Nationen<br />
seien ja doch in Ansehung ihrer sittlichen<br />
Vervollkommnung um keinen Grad besser,<br />
als von jeher auch andere gebildete Völker<br />
gewesen sind.<br />
Im Ganzen genommen ist freilich etwas<br />
dran: die Staatspolitik ist noch immer eben so<br />
pfiffig, als sie bei den Assyriern, Babyloniern,<br />
Persern, Griechen <strong>und</strong> Römern war; <strong>und</strong> unsere<br />
Kriege haben durchgehends so wenig<br />
Christliches, daß man eine europäische Armee<br />
wohl schwerlich von Nebukadnezars 1 oder<br />
Alexanders 2 Heeren, was die Handelsweise 3<br />
betrifft, würde unterscheiden können. Was<br />
vollends den physischen <strong>und</strong> moralischen Luxus<br />
angeht, so geben wir daran den Völkern aller<br />
Orten <strong>und</strong> aller Zeiten nichts nach. Wenn<br />
14 Ebenda, S.257.<br />
15 Ebenda, S.284.<br />
16 So bei Kurt Hackenberg, Wuppertal. Ein Pa -<br />
norama. Wuppertal o.J. (1955), S. 7 f.; Kurt<br />
Schnöring, Wuppertaler Lesebuch. Stimmen aus<br />
drei Jahrh<strong>und</strong>erten. Wuppertal 1988, S.17.<br />
17 Wie Anm. 7, S. 289 f.<br />
18 Ebenda, S. 345; über die Elberfelder Zeit zuletzt:<br />
Erich Mertens, Jung-Stilling im Bergischen<br />
Land. Siegen 1995, S. 67–115; Universitätsbibliothek<br />
Siegen (Hg.), Goethes Jugendfre<strong>und</strong><br />
Johann Heinrich Jung-Stilling im Siegerland<br />
<strong>und</strong> im Bergischen Land. Ausstellung in<br />
Verbindung mit der Jung-Stilling-Gesellschaft,<br />
Siegen 1999, hier vor allem S. 47–50.<br />
19 Aus der Erzählung wird nachfolgend zitiert.<br />
20 Gerhard Tersteegen, Der Frommen Lotterie<br />
Nr.51. In: Geistliches Blumengärtlein inniger<br />
Seelen; oder: Kurze Schlußreime, Betrachtungen<br />
<strong>und</strong> Lieder über allerhand Wahrheiten des<br />
inwendigen Christenthums, zur Erweckung,<br />
Stärkung <strong>und</strong> Erquickung in dem verborgenen<br />
wir aber ins Einzelne gehen <strong>und</strong> die Volksmasse<br />
von Haus zu Haus <strong>und</strong> von Familie zu<br />
Familie prüfen, so findet der ruhige <strong>und</strong> Gott<br />
liebende Beobachter manches verborgene, aber<br />
eben darum desto reinere Gute; – einen Fortschritt<br />
in der Heiligung, den man außer der<br />
Christenheit in dem Grade vergebens sucht.<br />
Man trifft allerdings unter Juden, Muhamedanern<br />
<strong>und</strong> Heiden auch einzelne Menschen an,<br />
aber bei weitem nicht in der Menge <strong>und</strong> in dem<br />
hohen Grad der Menschengüte, als unter den<br />
Christen. „Das Reich Gottes ist einem Sauerteige<br />
gleich, den Jemand nahm <strong>und</strong> ihn unter<br />
das Mehl verbarg, bis es ganz durchgesäuert<br />
ward.“ 4 Noch immer ist der Teig nicht gesäuert,<br />
aber das Ferment wirkt im Verborgenen unaufhaltsam<br />
fort, <strong>und</strong> Er wird schon daraus machen,<br />
was daraus werden soll.<br />
Wenn Prediger <strong>und</strong> Ärzte Augen <strong>und</strong> Willen<br />
zum Beobachten haben, so können sie Wir-<br />
23
kungen der Religion, besonders unter dem gemeinen<br />
Volke, entdecken, die Einem Herz <strong>und</strong><br />
Seele erquicken. Ein treffliches Beispiel von<br />
der Art will ich jetzt erzählen; es geht ohnehin<br />
stark auf Mitternacht zu: wir werden über dem<br />
langen Warten auf die Zukunft unseres Herrn<br />
schläfrig 5 , <strong>und</strong> es gibt der muthwilligen Knaben<br />
so viele, die immer darüber aus sind, Einem<br />
das ohnehin so schwach brennende Lämpchen<br />
unvermerkt auszublasen, welches sie aufklären<br />
nennen, so daß es höchst nöthig ist, sich<br />
untereinander wachend zu halten: <strong>und</strong> da ist<br />
bekanntlich nichts besser <strong>und</strong> zweckdienlicher,<br />
als wenn man sich etwas Hübsches erzählt.<br />
Nun, Kinder, seyd aufmerksam! – Aber gebt<br />
auch Acht auf die pausbackigen Jungens <strong>und</strong><br />
haltet die Hand um das Flämmchen!<br />
In dem herrlichen Thal, in welchem unten<br />
am Ende Schönthal 6 liegt, blühen die Leinwand-Fabriken<br />
in einem hohen Grade; von<br />
Osten gegen Westen zu, zwei St<strong>und</strong>en lang,<br />
sieht der ganze Gr<strong>und</strong> einem Lustgarten voller<br />
prächtiger Landhäuser ähnlich; hier wohnen<br />
reiche Kaufleute <strong>und</strong> wohlhabende Fabrikanten<br />
zerstreut durcheinander. Jeder hat das, was er<br />
bedarf, um sich her, Alles wimmelt von Thätigkeit,<br />
<strong>und</strong> im Sommer staunt der Wanderer aus<br />
der Ferne die großen, prächtigen Fluren an. –<br />
Er kann nicht begreifen, wie sich der Schnee<br />
mit schwüler Sommerhitze verträgt; kommt er<br />
aber näher, so entdeckt er erst, daß sie über <strong>und</strong><br />
über mit schneeweißem Garn belegt sind.<br />
In einer abgelegenen Ecke des großen<br />
Thals, da, wo ein kleiner Bach durch ein enges<br />
Thälchen herabschlängelt <strong>und</strong> dann den Bleichern<br />
zum Begießen des Garns dient, guckt ein<br />
kleiner, einsamer Schornstein aus einem Obstgebüsche<br />
hinter dem Hügel hervor. Zoar 7 fällt<br />
einem ein, wenn man dahin blickt, <strong>und</strong> es ist einem<br />
so, als wenn da der Blitz nicht einschlagen<br />
könnte. Tausende reiten, fahren <strong>und</strong> gehen die<br />
nur eine Viertelst<strong>und</strong>e entfernte Straße, <strong>und</strong><br />
schwerlich bemerkt einer die niedrige Hütte;<br />
aber desto besser kennen sie die unsichtbaren<br />
Gesandten, die dienstbaren Geister, die denen<br />
zum Dienst thätig sind, die die Seligkeit er -<br />
erben sollen 8 .<br />
In dieser Hütte wohnte ehemals eine arme<br />
Witwe mit einer einzigen Tochter; sie ernährte<br />
24<br />
sich mit Baumwollenspinnen <strong>und</strong> Garn -<br />
spuhlen, <strong>und</strong> in ihrem fleißigen Gärtchen hinter<br />
dem Hause erzog sie sich die ärmliche Nahrung<br />
für sich <strong>und</strong> ihr Mädchen. Viele Jahre lang<br />
kannte sie die Nachbarschaft nur von Angesicht;<br />
der Kaufmann 9 , für den sie arbeitete,<br />
sagte von ihr, sie sei eine arme, aber fleißige<br />
<strong>und</strong> treue Frau; aber da sie nie in ihrem Leben,<br />
außer Gott, Jemand ihr Leiden klagte, so<br />
dachte auch Niemand weiter an sie; sie war mit<br />
ihrer Tochter ein alltäglicher Gegenstand, von<br />
dem man weder Gutes noch Böses sprach, eine<br />
Null in der menschlichen Gesellschaft, die aber<br />
gemeiniglich sehr viel bedeutete, wenn eine<br />
gültige Zahl vor sie gesetzt wird.<br />
Gute <strong>und</strong> treue Prediger pflegen sonst wohl<br />
arme, gute Menschen zu kennen; aber das war<br />
auch hier nicht einmal der Fall. Diese Frau<br />
äußerte sich auch in Ansehung ihrer Empfindungen<br />
<strong>und</strong> Kenntnisse nicht; <strong>und</strong> so bekümmerte<br />
sich Niemand um sie. Immer hatte sie<br />
gekränkelt, <strong>und</strong> ihr Leben war eine Kette von<br />
Jammer gewesen, ohne daß es Jemand wußte;<br />
auf den nämlichen Fuß hatte sie auch ihre<br />
Tochter erzogen: dies Mädchen fiel hübsch <strong>und</strong><br />
bescheiden ins Auge, aber sie hatte im Geringsten<br />
nichts Anziehendes; von allen ihren inneren<br />
Kostbarkeiten hing sie nichts auf den Laden,<br />
um Käufer anzulocken, folglich kam auch<br />
keiner, der etwas bei ihr suchte.<br />
Endlich wurde es schlimmer mit der Frau;<br />
sie konnte nichts mehr arbeiten, ihre Tochter<br />
mußte ihr aufwarten. Schmerzen <strong>und</strong> Elend bestürmten<br />
sie unaufhörlich <strong>und</strong> ohne Zahl, <strong>und</strong><br />
noch immer blieben beide bei ihrem Gr<strong>und</strong>satz,<br />
ihren M<strong>und</strong> auch auf der Schlachtbank<br />
zum Klagen nicht zu öffnen. Daher kam’s<br />
dann, daß kein Mensch auf der Welt von diesen<br />
beiden großen Dulderinnen etwas wußte.<br />
Dieses Elend mochte ungefähr ein Vierteljahr<br />
gewährt haben, als an einem Nachmittage<br />
zwei Bleichergesellen, von welchen der eine<br />
Johannes Langenborn hieß, in der Nähe der<br />
Hütte auf einer Bleiche beschäftigt waren. Ob<br />
sie nun gleich oft <strong>und</strong> vielfältig da gearbeitet<br />
<strong>und</strong> sich nie um das Häuschen <strong>und</strong> seine Bewohner<br />
bekümmert hatten, so wurden sie doch<br />
jetzt dadurch aufmerksam gemacht, daß die<br />
Tochter der armen Witwe aus ihrer Hausthüre
gelaufen kam <strong>und</strong> die Hände über dem Kopfe<br />
zusammenschlug, dann im Hofe herumlief <strong>und</strong><br />
wehklagte.<br />
Beide Bleichergesellen durften nicht zugleich<br />
vom Garn gehen, sie wurden also einig,<br />
daß Langenborn hinlaufen <strong>und</strong> nachsehen<br />
sollte, was das zu bedeuten habe; dieser war<br />
aber auch der rechte Mann zu dieser göttlichen<br />
Gesandtschaft, <strong>und</strong> der war der Ehre werth,<br />
Engeldienste zu übernehmen. Er lief, was er<br />
laufen konnte, <strong>und</strong> war in einer Minute an Ort<br />
<strong>und</strong> Stelle. Angelegentlich rief er schon aus der<br />
Ferne: „Mädchen! Mädchen! was ist? – was<br />
fehlt Dir?“ – „Johannes,“ antwortete sie ängstlich:<br />
„Komm <strong>und</strong> siehe es!“ Langenborn lief an<br />
den Ort des Elends, <strong>und</strong> siehe da, die Kreuzträgerin<br />
lag auf ihrem Bette <strong>und</strong> schien todt zu<br />
seyn. Flugs nahm er das kleine Spiegelchen<br />
von der Wand <strong>und</strong> hielt es ihr vor den M<strong>und</strong> 10 ;<br />
– da bemerkte er denn, daß es noch anlief; so<br />
hielt er sie mit Recht noch nicht für todt. Er<br />
wusch sie also mit kaltem Wasser <strong>und</strong> Essig<br />
<strong>und</strong> brachte sie wieder zurecht; sie konnte vor<br />
Schwäche zwar noch nicht reden, aber sie<br />
lächelte himmlisch <strong>und</strong> streichelte seine Wangen.<br />
So eigensinnig waren die beiden Dulderinnen<br />
nicht, daß sie auf Langenborns liebevolle<br />
Fragen nicht nach der Wahrheit hätten antworten<br />
sollen; er erfuhr also den ganzen Jammer.<br />
Schmerz <strong>und</strong> Mangel an Erquickung waren die<br />
Peiniger, denen die sonst starke Natur der<br />
guten Frau unterliegen mußte. Er suchte also<br />
seinen Sparpfennig hervor, begab sich seiner<br />
Bleichergeschäfte 11 <strong>und</strong> ward der Pfleger der<br />
armen kranken Wittwe. Jetzt lernte er nun das<br />
verborgene Kleinod, das in ein ärmliches Gewand<br />
<strong>und</strong> in der niedern Hütte versteckt war,<br />
recht kennen, <strong>und</strong> er glaubte, die größte irdische<br />
Belohnung für seine Dienste sey Katharinens<br />
Besitz; das glaubte er <strong>und</strong> er betrog sich<br />
nicht. Ebenso hielten auch Mutter <strong>und</strong> Tochter<br />
ihren Johannes für den größten Schatz, den sie<br />
in diesem Leben erringen konnten, <strong>und</strong> auch<br />
sie betrogen sich nicht. Langenborn <strong>und</strong><br />
Katha rine heiratheten sich am Krankenbette<br />
der Mutter; im Himmel war Freude über diese<br />
Verbindung, auf Erden aber besorgte man,<br />
durch diese Heirath würde nun eine Familie<br />
entstehen, die mit der Zeit durch Betteln <strong>und</strong><br />
durch Bedürfnisse dem Armenfond zur Last<br />
fallen könnte; allein diese Sorge war unnöthig:<br />
denn Johannes ernährte sich, seine Frau <strong>und</strong><br />
nachher seine Kinder recht ordentlich, er war<br />
allgemeinerer Wohlthäter 12 als alle, die für den<br />
Armenfond besorgt gewesen waren.<br />
Die alte Kreuzträgerin wurde so lange auf<br />
den Händen getragen, bis sie von den Engeln in<br />
Abrahams Schooß 13 getragen wurde. In ihren<br />
letzten Tagen besuchte sie der Prediger; dieser<br />
erfuhr nun, welch’ eine kostbare Seele er in der<br />
Nähe gehabt hatte, ohne sie zu kennen. Er bedauerte<br />
laut <strong>und</strong> öffentlich diesen Verlust, <strong>und</strong><br />
zog den großen Nutzen daraus, daß er von nun<br />
an die Hütten des gemeinen Mannes fleißiger<br />
besuchte <strong>und</strong> die daselbst wirkenden Geister<br />
genauer prüfte; er hielt der abgeschiedenen Edlen<br />
die Leichenpredigt über die Worte: Jesaja<br />
57, V. 1–2 „Aber der Gerechte kommt um. Und<br />
Niemand ist, der es zu Herzen nehme, <strong>und</strong> heilige<br />
Leute werden aufgerafft <strong>und</strong> Niemand<br />
achtet darauf: denn die Gerechten werden weggerafft<br />
für 14 dem Unglück, <strong>und</strong> die richtig für<br />
sich gewandelt haben, kommen zum Frieden<br />
<strong>und</strong> ruhen in ihren Kammern.“ Johannes Langenborn<br />
<strong>und</strong> sein Weib Katharine hielten nun<br />
lange <strong>und</strong> viele Jahre im Segen Haus; beide<br />
waren allgemein beliebt, <strong>und</strong> ihre Kinderzucht<br />
war ein Muster für alle ihres Gleichen.<br />
Kreuz hat jeder gottesfürchtige Hausvater.<br />
Langenborn wurde also auch nicht damit verschont.<br />
Indessen fand es der große Schmelzer 15<br />
der Mühe werth, ihn auf den Treibheerd zu<br />
bringen <strong>und</strong> ihn da recht tüchtig auszubrennen.<br />
Erst starben dem guten Ehepaar alle Kinder bis<br />
auf die zwei ältesten Töchter; darauf bekam<br />
Langenborn einen Zufall 16 ans rechte Knie, so<br />
daß er Jahr <strong>und</strong> Tag das Bett hüten mußte, <strong>und</strong><br />
als er es wieder verlassen konnte, so war das<br />
Knie so krumm gewachsen, daß er ein hölzernes<br />
Bein anschnallen <strong>und</strong> auf einer Krücke gehen<br />
mußte. Jetzt war er nicht mehr fähig, mit<br />
Bleichen sein Brot zu erwerben; er sah also,<br />
wenn er bloß seine Vernunft zu Rathe zog, einer<br />
traurigen Zukunft entgegen; allein er war<br />
ein Christ, das heißt: er glaubte <strong>und</strong> hoffte, wo<br />
nichts zu glauben <strong>und</strong> zu hoffen war, <strong>und</strong> dann<br />
war er zu jedem ehrlichen Gewerbe, sey es<br />
25
auch das niedrigste, geringste <strong>und</strong> verächtlichste,<br />
bereit, sobald es ihm die Vorsehung anwies,<br />
sich dadurch zu ernähren.<br />
Es währte nicht lange, so bekam er ein Geschäft,<br />
womit er sich zwar kümmerlich, aber<br />
doch ehrlich durchbringen konnte: es wurde<br />
nämlich eine Maschine erf<strong>und</strong>en, womit man<br />
durch bloßes Drehen einer Kurbel, nachdem<br />
die gehörige Vorrichtung geschehen war, in<br />
großer Geschwindigkeit viele Ellen Schnürbänder<br />
flechten konnte 17 . Ein Kaufmann verschaffte<br />
dem Johannes eine solche Maschine;<br />
nun konnte er sich dabei setzen <strong>und</strong> wenigstens<br />
das trockene Brot verdienen, seine Frau <strong>und</strong><br />
die beiden Töchter spannen <strong>und</strong> spuhlten dazu,<br />
<strong>und</strong> so brachten sich die lieben Leute ehrlich<br />
<strong>und</strong> redlich durch.<br />
Bis soweit findet der Menschenbeobachter<br />
noch nichts Ausgezeichnetes, das mich berechtigen<br />
könnte, dieser Familie vorzugsweise den<br />
Charakter der Heiligkeit beizulegen. Daß auch<br />
diese vier Leute von Herzen fromm waren,<br />
ohne Anspruch auf den Ruf der Frömmigkeit<br />
zu machen, macht es noch nicht allein aus; daß<br />
sie aber bei ihrer Armuth aus reinem <strong>und</strong> lauterem<br />
Liebestriebe noch die Pfleger armer Kranken<br />
<strong>und</strong> eine Zuflucht der Verlassenen waren,<br />
das ist schon etwas Erhabenes. Dazu kommt<br />
denn noch, daß sie alle vier einen so hohen<br />
Grad der Erleuchtung <strong>und</strong> der sittlichen Kultur<br />
erstiegen hatten, wie ihn wenige, auch der<br />
wahrhaft Aufgeklärte unter den Christen ersteigen.<br />
In diesem Zustand war diese Familie, als<br />
der Doktor Stilling nach Schönthal kam 18 , er<br />
hörte zwar zuweilen etwas von diesen Leuten,<br />
das ihm wohlgefiel; allein da sie arm <strong>und</strong> gering<br />
waren, so schätzte man ihre Handlungen<br />
nicht nach ihrem wahren Werthe. Das Gerücht<br />
sagte daher immer viel zu wenig von ihnen,<br />
<strong>und</strong> er erfuhr vor der Hand weder ihre Geschichte,<br />
noch ihre ausgezeichnet edlen Thaten,<br />
bis er sie endlich bei folgender Gelegenheit<br />
selbst kennen lernte.<br />
In der Nachbarschaft des Langenborn’schen<br />
Hauses wohnte ein reicher Mann; dieser<br />
hatte über zwanzig Jahre eine Magd gehabt, die<br />
durch vorzügliche Treue in ihrem Dienst <strong>und</strong><br />
durch ihre christliche Aufführung als eine<br />
26<br />
fromme <strong>und</strong> brave Person, wenigstens ihrem<br />
Gott, <strong>und</strong> dann auch einigen Wenigen, die das<br />
wahre Verdienst allenthalben, auch da schätzten,<br />
wo es nicht mit äußerem Glanz umgeben<br />
ist, bekannt war. Diese gute Seele mußte viele<br />
Jahre lang mit Engbrüstigkeit kämpfen, die<br />
ihr ihren Beruf öfters äußerst beschwerlich<br />
machte. Endlich bekam sie am Beine eine Geschwulst<br />
<strong>und</strong> zugleich verlor sich ihr kurzer<br />
Odem, <strong>und</strong> die Brust wurde frei; jetzt aber<br />
konnte sie nicht mehr fortkommen, ihr Dienst<br />
wurde ihr also sehr sauer. Anstatt nun, daß ihr<br />
Dienstherr sie hätte verpflegen <strong>und</strong> für ihre Genesung<br />
sorgen sollen, verfuhr er mit ihr nach<br />
der gewöhnlichen Weise, so wie es die Gesetze<br />
der Dienstordnung mit sich bringen; er kündigte<br />
ihr also an, daß sie aus dem Dienst gehen<br />
müsse, bis sie vom ihrem Übel geheilt wäre.<br />
Die arme Magd wußte jetzt weder aus noch<br />
ein; in’s Hospital konnte sie nicht aufgenommen<br />
werden, denn sie war keine Bürgerstochter,<br />
<strong>und</strong> Geld hatte sie auch nicht, um sich verpflegen,<br />
viel weniger um sich kuriren zu lassen.<br />
Sie schleppte sich also mit ihrem Jammer<br />
<strong>und</strong> arbeitete über Vermögen. Unter der Hand<br />
bemerkte sie nahe am Schienbein, einwärts gegen<br />
den Waden zu, an ihrem braun angelaufenen<br />
<strong>und</strong> geschwollenen Bein einen schwärzlichen<br />
Flecken. Diese Erscheinung machte ihr<br />
Angst, <strong>und</strong> nun sehnte sie sich nach einem<br />
Arzte, den sie auch an einem Leinweber zu finden<br />
hoffte, der zwei St<strong>und</strong>en weit in einem<br />
Flecken wohnte <strong>und</strong> durch seine Kuren<br />
berühmt war. Da sie nun nicht selber dahin gehen<br />
konnte, so erbarmte sich ein Webergeselle<br />
über sie, der an einem Sonntage hinging <strong>und</strong><br />
den Doktor Leinweber ihrenthalben konsultirte;<br />
dieser erklärte gleich das Übel für gefährlich<br />
<strong>und</strong> gab den Flecken für den kalten<br />
Brand 19 aus; er verordnete also seiner Meinung<br />
nach eine sehr kräftige Arznei: denn er gab ein<br />
ätzendes Pulver, das auf den Fleck gestreut<br />
werden sollte.<br />
Die arme Leidende folgte treulich dem<br />
Rath des Afterarztes 20 , sie streute das Pulver<br />
auf den schadhaften Ort, das Pulver fraß um<br />
sich <strong>und</strong> verursachte ihr unleidliche Schmerzen,<br />
wobei sie nun ihren Fuß nicht mehr von<br />
der Stelle bewegen konnte. Jetzt mußte sie also
das Bett hüten. Ihr Herr wurde darüber äußerst<br />
ungeduldig, er fuhr sie an <strong>und</strong> sagte: wenn sie<br />
nicht machte, daß sie aus dem Hause käme, so<br />
würde er sie hinaustransportiren <strong>und</strong> auf die<br />
Straße werfen. Diese Unbarmherzigkeit schnitt<br />
W<strong>und</strong>en in ihr Herz, <strong>und</strong> sie rief mit unaussprechlichem<br />
Weinen in ihrem trostlosen Zustand<br />
Gott um Hülfe an, der sie dann auch gnädig<br />
hörte.<br />
Langenborn, der immer der Erste war, der<br />
so etwas erfuhr, ward auch bald den Zustand<br />
der bedauerungswürdigen Dienstmagd gewahr;<br />
flugs nahm er seine Krücken unter dem<br />
Arm <strong>und</strong> stolperte nach dem <strong>und</strong>ankbaren<br />
Hause. Gleich bei dem Eintritt begegnete ihm<br />
der hartherzige Kaufmann, der ihn anfuhr <strong>und</strong><br />
fragte, was er wolle? – Mit dem erhabenen<br />
Ernst des Christen antwortete Johannes: „ich<br />
will Ihre Magd abholen <strong>und</strong> zu mir nehmen.“<br />
„So?“ antwortete der Kaufmann; „Ihr habt ja<br />
selber nichts; Ihr hofft vielleicht für die Magd<br />
zu betteln, <strong>und</strong> dann mitzuessen!“ – Mit sanftem<br />
Lächeln versetzte Langenborn: „O ja! ich<br />
hoffe bei dem lieben Gott recht viel für Ihre<br />
arme Magd zu erbetteln, <strong>und</strong> dann freilich auch<br />
von dem, was Er bescheeret, mitzuessen!<br />
Aber,“ setzte er entschlossen hinzu: „bei Menschen<br />
habe ich noch nie gebettelt <strong>und</strong> wenn’s ja<br />
dazu kommen sollte, so würde ich doch einen<br />
so sehr armen Mann, wie Sie sind, niemals beschwerlich<br />
fallen; denn wahrlich! Sie müssen<br />
wohl blutarm seyn, weil sie nicht einmal vermögend<br />
sind, Ihren kranken Dienstboten die<br />
Kost zu geben, wenn sie nichts verdienen können.“<br />
Der Kaufmann eilte glühend weg, <strong>und</strong> Johannes<br />
hockte hinauf in die Kammer. Hier war<br />
er nun freilich kein hinkender Bote 21 , sondern<br />
ein Engel des Herrn, der Heil verkündigt. Mit<br />
einem Wort: noch in der nämlichen St<strong>und</strong>e trugen<br />
einige Gesellen <strong>und</strong> Knechte die fromme<br />
Dulderin in Langenborns segenvolle Hütte.<br />
Nun waren aber nur zwei Betten im Haus. In<br />
der Stube schliefen Vater <strong>und</strong> Mutter, <strong>und</strong> in<br />
der Kammer beide Töchter, allein die Liebe<br />
findet allenthalben Auskunft 22 ; die Kranke<br />
wurde in’s beste Bett in die warme Stube gelegt;<br />
der gebrechliche Vater <strong>und</strong> die schwächliche<br />
Mutter schliefen in der Kammer, <strong>und</strong> die<br />
beiden Töchter lagen bei der Kranken in der<br />
Stube auf der Erde auf bloßem Stroh, um immer<br />
bei der Hand zu seyn. Jetzt war nun die<br />
Magd zwar insoweit versorgt, aber deswegen<br />
war ihr Bein noch immer nicht besser. Sie<br />
streute das Pulver <strong>und</strong> duldete die fürchterlichen<br />
Schmerzen, indessen wurde das Loch am<br />
Waden immer größer; Langenborns älteste<br />
Tochter lief also wieder zum Arzte, der aber<br />
befahl, immer mit dem Pulverstreuen fortzufahren.<br />
Einige Zeit wurde dieser Rath unter<br />
unsäglichen Schmerzen noch fortgesetzt; allein<br />
nun fing die Sache an, gefährlicher zu werden.<br />
Die Patientin zehrte ab, <strong>und</strong> es hatte das Ansehen,<br />
als ob das Bein verloren gehen würde.<br />
Endlich fiel dem guten Langenborn ein,<br />
daß er von dem neuen Doktor Stilling gehört<br />
habe, er sey ein guter Mann, der den Armen<br />
nichts abnähme 23 , er wolle also selbst zu ihm<br />
gehen, <strong>und</strong> ihn erst einmal ausforschen, ob<br />
dem Ding auch wohl so wäre, <strong>und</strong> was er zu<br />
dem Umstand sagen würde. Stilling saß eben<br />
auf seiner Studirstube <strong>und</strong> arbeitete, als er ein<br />
dreifüßiges Wesen, einen hölzernen Fuß, eine<br />
Krücke <strong>und</strong> einen natürlichen Fuß, die Treppe<br />
herauf kommen hörte. Er eilte an die Tür <strong>und</strong><br />
führte den edlen Langenborn, den er jetzt zum<br />
ersten Male sah, herein. – Das ist wahr, ein<br />
solch apostolisches Gesicht hatte er in seinem<br />
Leben noch nicht gesehen. Ehrfurcht <strong>und</strong><br />
Liebe durchschauerte ihn bei dem Anblicke<br />
dieses ärmlich, aber sehr reinlich gekleideten<br />
Mannes; er ließ ihn sitzen <strong>und</strong> seine Kappe aufsetzen:<br />
denn wahrlich! Langenborn war ein<br />
vornehmerer Mann als er. Auch Stilling mußte<br />
dem scharfblickendem Geist so ziemlich behagen;<br />
denn er floß alsofort von Zutrauen <strong>und</strong><br />
Leutseligkeit über, <strong>und</strong> bedauerte, daß er den<br />
Herrn Doktor nicht eher gekannt habe. Stilling<br />
freute sich ebenfalls über diesen neuen <strong>und</strong><br />
würdigen Fre<strong>und</strong>, <strong>und</strong> fragte ihn dann, was<br />
sein Begehren wäre. Jetzt erzählte Langenborn<br />
nun die Geschichte mit der Magd so umständlich,<br />
als ich sie hier erzähle, <strong>und</strong> im Augenblick<br />
machte sich Stilling bereit <strong>und</strong> eilte zu der<br />
Kranken.<br />
Nie in seinem Leben wird er das Leidensbild<br />
vergessen, das er hier zwischen den die -<br />
nenden Christinnen antraf. – Abgezehrt bis auf<br />
27
die Gebeine lag sie da, – jede Miene war Ausdruck<br />
der schrecklichsten Schmerzen, <strong>und</strong> jeder<br />
Odemzug war ein himmelansteigender<br />
Seufzer um Erbarmung. Dieser Anblick trieb<br />
dem Arzte häufige Thränen aus den Augen, die<br />
Wangen herab; er eilte also zur Linderung.<br />
Aber großer Gott! welch ein Anblick! – er fand<br />
das Schienbein fast vom Knie bis auf den<br />
Knöchel entblößt, der ganze Waden hatte sich<br />
abgelöst, <strong>und</strong> hing nur noch vermittelst der<br />
Haut <strong>und</strong> ein Paar Muskeln mit dem Bein zusammen,<br />
<strong>und</strong> man konnte beinahe den ganzen<br />
Vorderarm in dieser ungeheuren W<strong>und</strong>e verbergen.<br />
Stilling nahm also die schleunigsten Maß -<br />
regeln zur Hülfe; die älteste Tochter Langenborns<br />
mußte in den nahen Wald laufen, um einen<br />
Arm voll Goldwurzeln (chelidonium majus)<br />
24 zu suchen; die zweite mußte in die Stadt<br />
<strong>und</strong> Bienenhonig holen, <strong>und</strong> die Mutter, der<br />
Vater <strong>und</strong> der Arzt pflückten Scharpie 25 . Als<br />
nun Alles bei der Hand war, so wurden die<br />
Wurzeln <strong>und</strong> Stengel der Goldwurzel in einem<br />
Mörser gestoßen <strong>und</strong> der Saft durch ein Tuch<br />
gepreßt. Zu einem halben Schoppen dieses<br />
Saftes mischte Stilling eben so viel Honig,<br />
tauchte dann Büschlein von Scharpie in dieses<br />
Gemische, <strong>und</strong> füllte die ganze Höhle der<br />
W<strong>und</strong>e damit aus; dann legte er den beinahe<br />
abgelösten Waden wieder an seinen Ort, <strong>und</strong><br />
umwand das ganze Bein mit dem gehörigen<br />
Verband. Durch dieses Arzneimittel <strong>und</strong> durch<br />
diese Methode nebst der gehörigen Diät wurde<br />
das Bein innerhalb drei bis vier Wochen vollkommen<br />
heil <strong>und</strong> brauchbar, so daß die gute<br />
Person hernach wieder bis an ihr Ende in Dienste<br />
gehen konnte. Daß sie ihrem vorigen Herrn<br />
die Ehre nicht erzeigte, versteht sich von<br />
selbst.<br />
Während dieser Kur wurden Stilling <strong>und</strong><br />
Langenborn vertraute Fre<strong>und</strong>e; beide erzählten<br />
sich ihre Schicksale, <strong>und</strong> wenn der Erste zuweilen<br />
in seinen schweren Prüfungen sich erholen<br />
wollte, so ging er zu seinem Fre<strong>und</strong>e<br />
Langenborn, dem kreuzgewohnten Dulder, der<br />
ihn dann aus seiner Fülle reichlich zu trösten<br />
wußte.<br />
Endlich zog Stilling bekanntlich als Professor<br />
der Staatswirthschaft nach Rittersburg 26 ; er<br />
28<br />
nahm auch bei Langenborn Abschied. Alle fünf<br />
weinten zärtliche Thränen, <strong>und</strong> das Präsent,<br />
das der erhabene Streiter seinem Fre<strong>und</strong>e mitgab,<br />
bestand in dem herrlichen Spruch: „Trachtet<br />
nicht nach hohen Dingen, sondern haltet<br />
Euch herunter zu den Niedrigen.“ 27<br />
Jetzt dreht Langenborn nicht mehr Schnürbänder,<br />
auch braucht er seine Krücke <strong>und</strong> sein<br />
hölzern Bein nicht mehr; denn er wandelt mit<br />
andern seines Gleichen unter den Lebensbäumen<br />
im Paradiese Gottes, <strong>und</strong> genießt, was<br />
seine Thaten werth sind.<br />
Der Titel bezieht sich auf die „Heilige Familie“<br />
mit Maria, Joseph <strong>und</strong> dem Jesuskind.<br />
Abdruck nach: Johann Heinrich Jung’s, genannt<br />
Stilling, sämmtliche Werke. Neue Ausgabe.<br />
12. Bd.: Erzählungen – Gedichte – Taschenbuch-Aufsätze.<br />
Stuttgart (J. Scheible)<br />
1842, S. 5–18. Zuerst in: Urania. Herausgegeben<br />
von J. L. Ewald. Bd. 3, 6. Stück, Leipzig<br />
1795, S.431–444 unter dem Titel „Auch eine<br />
heilige Familie. Anekdote von Wilhelm Stilling“.<br />
Für diesen Nachweis danke ich Herrn<br />
Dr. Erich Mertens, Lennestadt. Klaus Goebel<br />
Anmerkungen von Klaus Goebel<br />
1 Babylonischer König, über den im Buch 2. Könige<br />
24 <strong>und</strong> 25 sowie bei den Propheten Jeremia<br />
<strong>und</strong> Daniel berichtet wird.<br />
2 Der mazedonische König Alexander der Große.<br />
3 Gemeint: Handlungsweise.<br />
4 Lukas 13, Vers 21.<br />
5 Anspielung auf das Gleichnis von den zehn<br />
Jungfrauen (Matthäus 25).<br />
6 Elberfeld, in Jung-Stillings Lebensgeschichte<br />
„Schönenthal“ genannt.<br />
7 Wörtlich „die Kleine“. Eine der fünf Städte der<br />
Pentapolis nach 1.Mose 14. Lot flüchtete nach<br />
Zoar, als Sodom <strong>und</strong> Gomorrha untergegangen<br />
waren (1.Mose 19).<br />
8 Für Jung-Stilling ist die Welt von unsichtbaren<br />
Geistern belebt. Dazu mit eingehenden Nachweisen:<br />
Gerhard Merk (Hg.), Jung-Stilling-Le-
xikon Religion. Kreuztal 1988, S. 45–57.<br />
9 Kaufmann in seiner Funktion als Verleger.<br />
10 Probe, ob ein Totgeglaubter noch atmete.<br />
11 Im Sinne von: gab den Beruf auf.<br />
12 Gemeint: Wohltaten der Allgemeinheit, der Gemeinde<br />
zukommen lassen.<br />
13 Nach Lukas 16, 22.<br />
14 vor.<br />
15 Vergleich Gottes mit einem Schmelzer, so beim<br />
Propheten Maleachi 3,2–3.<br />
16 Im Sinne einer Krankheit, die einem zufällt.<br />
17 Mechanische Flecht- <strong>und</strong> Riemenmaschine,<br />
viel leicht Vorgänger der Erfindung oder Verbesserung,<br />
die Johann Heinrich Bockmühl in Elberfeld<br />
in dieser Zeit zugeschrieben wird. Vgl. Walter<br />
Dietz, Die Wuppertaler Garnnahrung. Geschichte<br />
der Industrie <strong>und</strong> des Handels von Elberfeld<br />
<strong>und</strong> Barmen von 1400 bis 1800. Neustadt<br />
an der Aisch 1957 (Bergische Forschungen<br />
IV), S.53; Friedrich Christoph Müller, Choragraphie<br />
von Schwelm. Anfang <strong>und</strong> Versuch einer<br />
Topographie der Grafschaft Mark. Schwelm<br />
1789. Neu hg. von Gerd Helbeck, Gevelsberg<br />
1980, S. 74 f., 92. Es liegen keine genauen<br />
<strong>Nachrichten</strong> über die Erfindung des „Riemengangs“<br />
zur Herstellung von Kordeln <strong>und</strong> Schuh-<br />
oder Schnürriemen vor. Jungs Hinweis ist<br />
darum ein bemerkenswerter literarischer Beleg.<br />
18 Jung begann im Mai 1772 seine ärztliche Praxis<br />
in Elberfeld.<br />
19 Unspezifische Bezeichnung für in Fäulnis übergehende<br />
Körperteile, die brandig absterben <strong>und</strong><br />
verwesen (Nekrose); volkstümlicher Gegensatz:<br />
„heißer Brand“, durch den das Leben im Feuer<br />
stirbt.<br />
20 Falscher Arzt, Kurpfuscher.<br />
21 Seit dem 17.Jahrh<strong>und</strong>ert (angeblich zuerst 1607)<br />
als Kalendername bekannt. Ursprünglich garantierte<br />
ein kriegsversehrter Invalide mit Stelzbein<br />
zuverlässige Postzustellung guter wie böser<br />
<strong>Nachrichten</strong>; er hinkte dem eiligen Postreiter,<br />
dem aber nicht immer zu trauen war, hinterher.<br />
Danach regelmäßig erscheinende Jahreskalender<br />
benannt. Näheres bei Adolf Dresler, Kalenderk<strong>und</strong>e.<br />
München 1972, S.61.<br />
22 Im Sinne von: Auskommen finden.<br />
23 Jung schrieb keine Rechnungen, wenn er sah,<br />
daß der Patient nicht zahlen konnte.<br />
24 Schöllkraut.<br />
25 Verdeutscht aus Charpie (französ.), durch Zerrupfen<br />
von Leinwand gewonnene Fäden, die als<br />
Verbandsmaterial verwendet wurden.<br />
Elberfeld von Westen, um 1810 (Aus: H. Pogt: Historische Ansichten aus dem Wuppertal, 2. Aufl.<br />
1998).<br />
29
Stefan Gilsbach<br />
Missionare aus dem Bergischen Land<br />
Die hier vorgelegten Quellen sind handschriftliche<br />
Lebensläufe, verfaßt von Missionaren<br />
<strong>und</strong> Missionarsfrauen der Rheinischen<br />
Missionsgesellschaft, die aus Elberfeld, Barmen<br />
oder dem bergischen Umland stammen<br />
bzw. hier aufwuchsen. Sie finden sich im ersten<br />
Lebenslaufbuch der Rheinischen Mission,<br />
das den Zeitraum von 1829–1881 umfaßt. 1<br />
Wer heute seinen Lebenslauf vorlegt, tut<br />
dies in der Regel, um sich bei einem möglichen<br />
Arbeitgeber vorzustellen. Mit den hier gesammelten<br />
Quellen verhält es sich anders. Die<br />
Frauen <strong>und</strong> Männer, die darin Rechenschaft<br />
über ihr bisheriges Leben geben, waren bereits<br />
in den Dienst der Rheinischen Mission aufgenommen<br />
worden, manche schon längst als<br />
Missionare tätig, wie etwa Friedrich Becker,<br />
der seine Lebensgeschichte per Brief aus Borneo<br />
sandte. In den meisten Fällen jedoch wurden<br />
die Lebensläufe unmittelbar vor der Abreise<br />
in die Missionsgebiete geschrieben. Man<br />
darf nicht vergessen: In den ersten Jahrzehnten<br />
der Mission bedeutete dieser Schritt eine Fahrt<br />
ins Ungewisse. Doch auch später, als bereits<br />
ständige Missionsstationen errichtet worden<br />
waren, konnte man keineswegs sicher sein, die<br />
Ausgesandten im Barmer Missionshaus eines<br />
Tages wieder begrüßen zu können. Man kann<br />
daher sagen, daß diese Lebensläufe keine<br />
„Überreste“ sind, sondern von vornherein als<br />
historische Dokumente konzipiert waren, als<br />
dauerhafte Zeugnisse ihrer Autorinnen <strong>und</strong><br />
Autoren.<br />
In den Jahrzehnten, die das erste Lebenslaufbuch<br />
umfaßt, legte die Rheinische Mission<br />
die Gr<strong>und</strong>lagen für ihre Missionstätigkeit in<br />
Südafrika, Indonesien <strong>und</strong> China. Gegründet<br />
wurde die Gesellschaft im Jahre 1828, als Zusammenschluß<br />
mehrerer Missionsvereine, zu<br />
denen auch die Elberfelder <strong>und</strong> Barmer Missionsgesellschaft<br />
gehörten. 2 Ein Jahr später wurden<br />
bereits die ersten Missionare nach Südafrika<br />
ausgesandt, darunter auch der Elberfel-<br />
30<br />
der Paulus Daniel Lückhoff 3 . Für die Gründung<br />
einer Missionsgesellschaft bot das Wuppertal<br />
mit seiner pietistischen Atmosphäre günstige<br />
Voraussetzungen. Die teilweise mit der<br />
Erweckungsbewegung 4 verschwisterte Missionsbewegung<br />
fand in den Gemeinden <strong>und</strong><br />
Konventikeln im Bergischen großen Widerhall.<br />
Nicht umsonst wurde der Wichlinghauser,<br />
später Elberfelder Pfarrer Immanuel Friedrich<br />
Sander 5 der erste Präsident der neugegründeten<br />
Missionsgesellschaft.<br />
Schon vor der Gründung der Rheinischen<br />
Missionsgesellschaft hatte die Barmer Mission<br />
eine Ausbildungsstätte für die zukünftigen<br />
Missionare <strong>und</strong> Lehrer eingerichtet, die zu -<br />
nächst „Katecheten-Seminar“ genannt wurde.<br />
Bei der Auswahl der Bewerber wurden strenge<br />
Kriterien angelegt, die gesamte Lebensführung<br />
wurde berücksichtigt. Das war nicht zuletzt<br />
wegen der hohen Bewerberzahlen notwendig.<br />
Man darf nicht übersehen, daß für junge Männer<br />
der Unterschicht der Beruf des Missionars<br />
eine der wenigen Möglichkeiten des sozialen<br />
Aufstiegs war. Was wir heute „kirchliches Engagement“<br />
nennen würden, spielte bei der Auswahl<br />
eine wichtige Rolle. Viele Bewerber waren<br />
Mitglied der Jünglingsvereine, die einerseits<br />
den christlichen Glauben fördern, andererseits<br />
die jungen Handwerker oder Arbeiter<br />
vor einem Absinken in schlechte Gesellschaft<br />
<strong>und</strong> Alkoholismus bewahren wollten.<br />
Die Ausbildung der Aufgenommenen fand<br />
an drei Tagen der Woche statt, in der übrigen<br />
Zeit übten die Zöglinge fürs erste ihren erlernten<br />
Beruf weiter aus. Im Jahre 1832 wurde das<br />
erste Missionshaus der Gesellschaft in Barmen<br />
errichtet, in dem die Zöglinge während der<br />
Ausbildung lebten. Der Theologe Heinrich<br />
Richter war bereits 1827 zum Leiter des Seminars<br />
berufen worden, sein Bruder Wilhelm<br />
wurde zweiter Lehrer an demselben. Beide<br />
prägten die Missionarsausbildung der ersten<br />
Jahre. 1829 wurde das Institut offiziell in Semi-
nar der Rheinischen Missionsgesellschaft umbenannt.<br />
Der Schwerpunkt lag nun nicht mehr<br />
auf der Ausbildung zum Schuldienst, sondern<br />
auf der Vorbereitung zum geistlichen Beruf.<br />
Neben der theologischen Ausbildung wurden<br />
praktische Fächer wie Geographie <strong>und</strong> Naturgeschichte<br />
unterrichtet, ebenso Englisch <strong>und</strong><br />
Holländisch, die vorherrschenden Kolonialsprachen<br />
in den Missionsgebieten. 6 Im Jahre<br />
1858 wurde unter Direktor Friedrich Fabri die<br />
Seminarausbildung reformiert, die Studienzeit<br />
von drei auf vier Jahre verlängert, außerdem<br />
eine Vorschule für die „Aspiranten“ eingerichtet,<br />
in der die Kenntnisse der Elementarfächer<br />
vertieft wurden. Neu auf dem Lehrplan erschienen<br />
die alten Sprachen Hebräisch, Griechisch<br />
<strong>und</strong> Latein, denn für Bibelübersetzungen<br />
in die jeweiligen Landessprachen hatte<br />
sich das Verständnis des Gr<strong>und</strong>textes als wichtig<br />
erwiesen. Die meisten Missionszöglinge<br />
wurden vor der Abreise zum Geistlichen ordiniert,<br />
nur in einigen Fällen folgte die Ordination<br />
erst nach mehreren Jahren Missionsdienst.<br />
Die Neuankömmlinge wurden in der Regel auf<br />
den Hauptstationen der Missionsgebiete – beispielsweise<br />
Stellenbosch in der Kapregion –<br />
mit der praktischen Missionsarbeit vertraut gemacht,<br />
bevor sie selber als Stationsleiter tätig<br />
werden konnten.<br />
Was die Frage der Heirat betraf, so hatte die<br />
Missionsgesellschaft am Anfang sehr strenge<br />
Gr<strong>und</strong>sätze. Eine Verlobung während der Ausbildung<br />
bedeutete den Ausschluß aus dem Missionshaus.<br />
Die ersten Missionare waren unverheiratet<br />
ausgesandt worden <strong>und</strong> hatten erst<br />
nach mehreren Jahren im Missionsdienst<br />
Frauen genommen, die meist den weißen Siedlerfamilien<br />
enstammten. Im Laufe der Zeit bildete<br />
sich die Regel aus, daß die Missionare<br />
mindestens zwei Jahre Missionsdienst leisten<br />
mußten, bevor sie heiraten durften. Doch<br />
mußte eine Eheschließung in jedem Fall durch<br />
die Missionsleitung genehmigt werden.<br />
Bei der Auswahl der Missionarsfrauen<br />
spielten Lebensführung <strong>und</strong> Charakter eine<br />
ebenso große Rolle wie bei den männlichen<br />
Bewerbern. Aus den Lebensläufen läßt sich ein<br />
klares Profil dieser Anforderungen entnehmen:<br />
tiefe religiöse Überzeugung, Bereitschaft zu<br />
Hingabe <strong>und</strong> Opfer, strenge Sittlichkeit. Man<br />
sollte aber nicht den Schluß ziehen, die geistigen<br />
Fähigkeiten der Frauen hätten keine Rolle<br />
gespielt. „Seht auch darauf, daß eure Auserkorene<br />
über eine gute Bildung verfügt“, heißt<br />
es in einem Gr<strong>und</strong>satzpapier um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende,<br />
„denn eine an Bildung unter dem<br />
Mann stehende Frau wird ihm zur Hinderung.“<br />
7 Hier mochten Erfahrungen aus den vergangenen<br />
Jahrzehnten eine Rolle gespielt haben,<br />
denn auch für Frauen der Unterschicht gab<br />
es neben religiösen Motiven handfeste Gründe,<br />
diesen Weg einzuschlagen, nicht zuletzt eine<br />
gesicherte Versorgung.<br />
Aus den frühen Jahren der Mission sind<br />
keine Lebensläufe von Missionarsfrauen erhalten,<br />
erst im Jahre 1846 taucht mit Caroline Seringhaus<br />
der erste weibliche Eintrag im Lebenslaufbuch<br />
auf. In vielen Fällen kannten die<br />
ausgesandten Frauen von ihrem zukünftigen<br />
Ehemann nur den Namen. Persönliche Sympathie<br />
<strong>und</strong> Verträglichkeit der Charaktere wurden<br />
als Nebensache betrachtet, was die Ehepartner<br />
einigen sollte, war der gemeinsame Dienst an<br />
der Mission. Neben der Haushaltsführung <strong>und</strong><br />
Kindererziehung leiteten die Missionarsfrauen<br />
häufig Nähvereine <strong>und</strong> Singst<strong>und</strong>en. Auch die<br />
Krankenpflege lag in ihrem Aufgabenbereich,<br />
manchmal auch die Leitung von Sonntagsschulen.<br />
Eine große Belastung waren die häufigen<br />
Kindgeburten, die in manchen Fällen Jahr<br />
auf Jahr folgten. Viele Missionarsfrauen sind<br />
im Kindbett oder an den ges<strong>und</strong>heitlichen<br />
Spätfolgen gestorben.<br />
Die vorliegenden Lebensläufe liefern vor<br />
allem für die Mentalitätsgeschichte wertvolles<br />
Quellenmaterial. Sie geben einen unmittelbaren<br />
Einblick in die religiöse Welt der breiten<br />
Bevölkerung im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, denn der<br />
überwiegende Teil der Schreiberinnen <strong>und</strong><br />
Schreiber kam aus kleinen Verhältnissen. Immer<br />
wieder wird eingeräumt, daß man nur eine<br />
lückenhafte Schulbildung genossen habe, was<br />
nicht zuletzt durch die manchmal fehlerhafte<br />
Orthographie belegt wird. Das freimütige Eingeständnis<br />
betont freilich auch die nun erreichte<br />
Position. In den Texten wird auch die<br />
besondere Atmosphäre des Wuppertales mit<br />
seinem Reichtum an Konfessionen <strong>und</strong> christ-<br />
31
Barmer Missionshaus, ca. 1872 (Alle Abbildungen dieses Beitrages stammen aus den Beständen<br />
der Archiv- <strong>und</strong> Museumsstiftung Wuppertal der Vereinten Evangelischen Mission).<br />
lichen Vereinen spürbar, was den zusätzlichen<br />
Wert der Lebensläufe als regionalgeschichtliche<br />
Quelle unterstreicht.<br />
Bei der Lektüre der Quellen fällt sofort eine<br />
gewisse Ähnlichkeit der einzelnen Lebensläufe<br />
auf. Es scheint fast, als seien die Schreiberinnen<br />
<strong>und</strong> Schreiber einem verbindlichen Aufbau<br />
gefolgt. So wird immer wieder die Konfirmation<br />
als eine wichtige Zäsur angegeben, wobei<br />
man gelegentlich den Eindruck gewinnt, daß<br />
dieser Zeitpunkt besonders betont wird, weil<br />
die Verfasser keine psychologisch stringente<br />
Schilderung ihrer religiösen Entwicklung geben<br />
können. Die Ähnlichkeiten gehen bis zu<br />
wiederholt gebrauchten Bibelzitaten oder stehenden<br />
Formulierungen, etwa der Versicherung,<br />
daß man „in der Zucht <strong>und</strong> Vermahnung<br />
zum Herrn“ erzogen wurde oder die Zeit im<br />
Missionshaus einem „zum Segen gereicht“<br />
habe. Doch geht die Ähnlichkeit noch tiefer,<br />
sie zeigt sich in der Sicht der Beziehung Gott-<br />
Mensch <strong>und</strong> belegt, welchen Einfluß der Pietismus<br />
bis weit ins 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein behalten<br />
hatte. Das zeigt sich in den Texten eindrucksvoll<br />
in einer sehr innigen, persönlichen<br />
32<br />
Frömmigkeit, jedoch auch in einem Hang zu<br />
selbstquälerischen Überlegungen. Immer wieder<br />
berichten die Schreiberinnen <strong>und</strong> Schreiber<br />
über Rückfälle in die Sündenhaftigkeit, über<br />
Phasen der Gleichgültigkeit, in denen sie sich<br />
von Gott entfernt hätten, der sie letztlich doch<br />
„zu sich gezogen“ habe. Im Rückblick werden<br />
die überw<strong>und</strong>enen Schwierigkeiten als Bewährung<br />
vor Gott gesehen, selbst Brüche in der<br />
Biographie fügen sich unter diesem Blickwinkel<br />
in Gottes Gnadenplan ein. So spricht Fried -<br />
rich Wilhelm Weber gegen Ende seines Ein -<br />
trages vom „Heilswege“ <strong>und</strong> den „Führungen“<br />
des Herrn. Wilhelm Kind schreibt über seine<br />
Einziehung zum Militär, die ein Jahr nach Aufnahme<br />
ins Missionshaus erfolgte: „Als ich erst<br />
einberufen wurde, wußte u[nd] verstand ich<br />
nicht, warum ich nun noch Soldat werden<br />
sollte; später habe ich’s eingesehen u[nd] dem<br />
Herrn dafür gedankt.“<br />
Die Spuren der Lektüre religiös-erbaulicher<br />
Literatur lassen sich in Stil <strong>und</strong> Inhalt wiederholt<br />
nachweisen. An manchen Stellen werden<br />
solche Einflüsse auch genannt, so erwähnt<br />
Laura Böckmann die Lieder Gerhard Terstee-
gens <strong>und</strong> Wilhelm Lobscheid spricht von seiner<br />
Lektüre Johann Heinrich Jung-Stillings. 8<br />
Besonders deutlich werden solche Lektüreerlebnisse<br />
in dem ausführlichen Lebenslauf<br />
Fried rich Beckers. Passagen wie die folgende<br />
könnten, vom Ich-Erzähler abgesehen, aus<br />
„Heinrich Stillings Jugend“ stammen: „Wenn<br />
ich später so oft als Knabe draußen im Felde<br />
einsam umherging: so erhoben sich meine Augen<br />
unwillkührlich gen Himmel, während ich<br />
dabei in meinem Herzen [unklar] <strong>und</strong> sprach:<br />
Dort oben ist meine liebe selige Mutter,<br />
möchte ich doch bei ihr sein, <strong>und</strong> Thränen der<br />
Wehmut <strong>und</strong> Sehnsucht rollten in demselben<br />
Augenblick über meine Wangen.“ Und in<br />
Beckers Schilderung seiner Seereise nach Java<br />
meint man ein fernes Echo von Schnabels „Insel<br />
Felsenburg“ zu spüren. Auch bei diesen<br />
Lektüreeinflüssen darf man den regionalen Bezug<br />
nicht übersehen, denn manche Geistliche<br />
im Wuppertal waren zur gleichen Zeit einflußreiche<br />
religiöse Schriftsteller, so die reformierten<br />
Pfarrer Gottfried Daniel Krummacher<br />
(1774–1837) <strong>und</strong> sein Neffe Friedrich Wilhelm<br />
Krummacher (1796–1868).<br />
Weitgehend offen bleiben muß die Frage,<br />
inwiefern die Schreiberinnen <strong>und</strong> Schreiber<br />
der Versuchung erlegen sind, im Rückblick bestimmte<br />
Züge ihres Lebens stark zu betonen<br />
<strong>und</strong> andere auszulassen. So fällt der manchmal<br />
schwärmerische Tonfall auf, mit dem die ehemaligen<br />
Zöglinge von ihrer Zeit im Missionshaus<br />
sprechen. Daß hier manche Erinnerung<br />
unterdrückt wurde, belegt ein Brief des ausgeschiedenen<br />
Missionars Wilhelm Lobscheid an<br />
Inspektor Ludwig von Rohden. „Oft lag ich im<br />
Missionshaus von meinem Fieber Paroxismus<br />
geschüttelt“, schreibt Lobscheid, „<strong>und</strong> Niemand<br />
kümmerte sich um mich. Niemand<br />
machte mir ein Feuer an oder kehrte mir die<br />
Stube aus; niemand erquickte mich mit einem<br />
Fruchtwasser. So behandelt man keinen H<strong>und</strong>;<br />
am wenigsten einen kranken Missionar […]“. 9<br />
Zu der heiklen Frage der Heirat schrieb Lobscheid:<br />
„Ich will die innere Entrüstung nicht<br />
beschreiben, welche ich fühlte, als mir Pastor<br />
Banning Vorwürfe über meine Verlobung<br />
machte, aber in meiner Gegenwart seine Frau<br />
umarmte <strong>und</strong> küßte, weil sie die Nachricht von<br />
der Anstellung zweier Kandidaten brachte, mit<br />
welchen seine Töchter verlobt waren!“. 10<br />
Muß man insgesamt eine große Ähnlichkeit<br />
im Aufbau der einzelnen Lebensläufe feststellen,<br />
so kann doch nahezu jeder Text mit individuellen<br />
Details aufwarten. Nicht selten sind die<br />
Schilderungen eindrucksvoll, ja bewegend.<br />
Auch das Sprichwort, daß der Stil den Menschen<br />
abbildet, wird bei genauer Lektüre bestätigt.<br />
Man vergleiche den verschachtelten,<br />
umständlichen Satzbau im Lebenslauf Johann<br />
Heinrich Külpmanns mit der präzisen, lakonischen<br />
Sprache eines Peter Heinrich Bernsmann.<br />
Külpmanns Hang zur selbstquälerischen<br />
Gewissenserforschung, wie sie aus seinem Bericht<br />
hervorgeht, <strong>und</strong> Bernsmanns Ordnungsliebe<br />
<strong>und</strong> Selbstdisziplin, wie Weggefährten sie<br />
bezeugen, liegen hier offen zutage.<br />
Bei der Edition der Quellen konnte auf die<br />
maschinenschriftliche Transkription des Lebenslaufbuches<br />
zurückgegriffen werden, die<br />
Gustav Menzel, ehemaliger Direktor der Rheinischen<br />
Mission, erstellt hat. Diese Fassung<br />
wurde anhand des Quellentextes überprüft, gegebenenfalls<br />
korrigiert, <strong>und</strong>, soweit es möglich<br />
war, mit Anmerkungen versehen. Den Texten<br />
wurde ein kurzer Abriß der weiteren Biographie<br />
der Schreiberinnen <strong>und</strong> Schreiber hinzugefügt.<br />
Dabei wurden vor allem die Nachrufe<br />
ausgewertet, die sich in den „Berichten der<br />
Rheinischen Missionsgesellschaft“ finden. Von<br />
großem Wert waren auch die Personalkarten,<br />
auch wenn hier, vor allem bei den Missionarsfrauen,<br />
die Informationen oft spärlich sind. In<br />
Zweifelsfällen, etwa bei widersprüchlichen<br />
Daten, wurde auch Einblick in die jeweilige<br />
Personalakte genommen. Die Lebensläufe<br />
wurden nach der jeweiligen Herkunft in drei<br />
Teile – Elberfeld, Barmen, das übrige Bergische<br />
Land – geordnet, innerhalb dieser Teile<br />
sind die Texte chronologisch nach dem Aussendungsdatum<br />
ihrer Verfasser gereiht.<br />
Mein Dank gilt den Mitarbeitern der Archiv-<br />
<strong>und</strong> Museumsstiftung der Vereinten<br />
Evangelischen Mission in Wuppertal, besonders<br />
der Archivarin, Frau Barbara Faulenbach,<br />
<strong>und</strong> dem Bibliothekar, Herrn Wolfgang Appelt,<br />
die nicht nur auf die fre<strong>und</strong>lichste Weise mein<br />
Praktikum bei der VEM begleiteten, sondern<br />
33
mir auch ermöglichten, die vorliegende Arbeit<br />
während dieser Zeit fertigzustellen. Dank<br />
schulde ich auch Herrn Pfarrer em. Peter Merx,<br />
Wuppertal, für seine große Hilfe bei der Herkunftsbestimmung<br />
von Lieder- <strong>und</strong> Gedichtversen.<br />
Die Lebensläufe<br />
Missionare <strong>und</strong> Missionarsfrauen aus Elberfeld<br />
Paulus Daniel Lückhoff (1803–1891)<br />
[Paulus Daniel Lückhoff, Tischler]<br />
Paulus Daniel Lückhoff wurde den 27ten<br />
Sept[ember] 1803 in der reformirten Gemeine<br />
zu Elberfeld geboren. Nach der Einsicht meiner<br />
Eltern genoß ich eine gute Erziehung; sie<br />
hielten mich fleißig zur Schule an, weil ich<br />
aber lieber spielen als lernen mochte <strong>und</strong> sonst<br />
allerhand sündliche Streiche ausübte, so<br />
brachte ich meine Jugendzeit sehr unnütz dahin.<br />
Es war im Jahr 1816 wo der barmherzige<br />
Gott diese Stadt so gnädig heimsuchte 11 <strong>und</strong><br />
viele Todtengebeine nicht allein rauschen, sondern<br />
auch lebendig machte. Da gefiel es ihm,<br />
nach seiner unbegreiflichen Liebe, auch vor<br />
mir, dem im Blute Liegenden, vorüberzugehen<br />
<strong>und</strong> zu sagen: ,,Du sollst leben, ja du sollst leben.“<br />
Dieses geschah in meinem 13. Jahre, in<br />
welchem ich auch confirmirt wurde <strong>und</strong> dem<br />
Herrn versprach, mit Leib <strong>und</strong> Seele Ihm anzugehören.<br />
Dieser Entschluß war, soviel ich<br />
weiß, aus meiner Seele gesprochen; daß aber<br />
ein Vertrauen auf eigene Kraft mit dabei gewesen,<br />
habe ich später sehr erfahren müssen.<br />
Nach meiner Confirmation konnte ich nicht<br />
mehr in die Schule gehen, sondern war meiner<br />
Mutter behülflich in einem kleinen Spezerei-<br />
Geschäft. 12 Als dieses einige Jahre geschehen<br />
war, wünschte ich eine Profession zu lernen<br />
<strong>und</strong> kam mit Einwilligung meiner Eltern bei einem<br />
christlichen Färber in die Lehre. Nachdem<br />
ein ganzes Jahr bei diesem Geschäfte verflossen<br />
war, mußte ich wegen einem Übel an der<br />
Hand zu Hause gehen, woselbst ich auch aus<br />
34<br />
Paulus Daniel Lückhoff<br />
guten Gründen meiner Eltern bleiben mußte<br />
<strong>und</strong> nun bei meinem Vater das Tischlerhandwerk<br />
lernte. Was in der verflossenen Zeit in<br />
geistlicher Hinsicht mit mir vor gegangen, ist in<br />
dem lieben Verse enthalten: ,,Du hast auch,<br />
mein Gott <strong>und</strong> König, mich nicht wenig deine<br />
Treue lassen sehn; bin ich gleich nicht treu geblieben,<br />
dich zu lieben, doch bleibt deine Treue<br />
stehen.“ Und das ist köstlich. Im Jahr 1823 arbeitete<br />
ich bei einem christlichen Fre<strong>und</strong>e; da<br />
ich bisher mehreren Versammlungen beigewohnt,<br />
wo von der Ausbreitung des Reiches<br />
Gottes unter den Heiden oft die Rede war <strong>und</strong><br />
auch hier Gelegenheit hatte, mich davon zu unterhalten,<br />
so fand sich damals ein sehr starker<br />
Trieb zum Missionarwerden bei mir ein. Weil<br />
ich so viele Unlauterkeiten bei diesem Triebe<br />
gewahr wurde <strong>und</strong> auch sonst noch allerhand<br />
Schwierigkeiten hatte, so fürchtete ich, mich<br />
anzumelden. Dabei blieb es denn, bis ich nach<br />
mancherlei Erfahrungen im Jahr 1828 den<br />
Muth hatte, nebst einigen anderen Brüdern<br />
mich bei der verehrten Miss[ions]-Ges[ell-
schaft] in Elberfeld zu melden; welche mich<br />
auch nach einiger Zeit aufnahm <strong>und</strong> den 28.<br />
Sept[ember] 1828 in das Missionshaus abgehen<br />
ließ. Und jetzt schon ist der Ruf an mich<br />
ergangen, auszugehen aus meinem Vaterland,<br />
von meinen noch lebenden Eltern <strong>und</strong> 3 Brüdern<br />
u[nd] hinzugehen in ein Land, welches<br />
der Herr uns gezeigt hat. Nun:,,Gelobet sei<br />
Gott, der Herr, der Gott Israels, der allein W<strong>und</strong>er<br />
thut, <strong>und</strong> gelobet sei sein herrlicher Name<br />
ewiglich; <strong>und</strong> alle Lande müssen seiner Ehre<br />
voll werden. Amen, Amen. 13<br />
Du führest Herr die Deinen,<br />
Nie so, wie sie es meinen,<br />
Nein! Nur nach deinem Rath.<br />
Ob ich mich auch betrübe,<br />
bleibt doch dein Rath voll Liebe,<br />
Daß zeigt der Ausgang mit der Tath.<br />
Barmen den 30. Juni 1829<br />
Paulus Daniel Lückhoff gehörte zu den ersten<br />
Missionaren, die von der Rheinischen<br />
Missions-Gesellschaft ausgesandt wurden. Am<br />
7. Oktober 1829 landete er mit vier Begleitern14<br />
in Kapstadt <strong>und</strong> wurde nach einigen Wochen<br />
von den Christen der holländischen Kolonistensiedlung<br />
Stellenbosch zu ihrem Geistlichen<br />
berufen. Am 6. Januar 1830 hielt er dort<br />
seine Antrittspredigt. Der überwiegende Teil<br />
der Bevölkerung bestand aus Sklaven. Am 13.<br />
März 1831 ließ sich eine 60jährige, die sich<br />
freigekauft hatte, als erste taufen. Doch erst<br />
nach der von Großbritannien verfügten Sklavenbefreiung<br />
(1834 – 38) konnten Lückhoff<br />
<strong>und</strong> die hinzugekommenen Missionare deutliche<br />
Fortschritte machen. Die Zahl der Kirchgänger<br />
<strong>und</strong> der Schulkinder stieg stark an, am<br />
1. Dezember 1840 konnte die erweiterte Kirche<br />
eingeweiht werden. Gleichzeitig stieg die farbige<br />
Bevölkerung Stellenboschs von 2000 auf<br />
7000 Personen.<br />
Als die Missionare 1846 vorschlugen, auch<br />
Schwarze ins Direktorium der Missions-Gesellschaft<br />
von Stellenbosch aufzunehmen, reagierte<br />
die weiße Bevölkerung empört. Als<br />
Folge dieser Auseinandersetzung spaltete sich<br />
die schwarze Gemeinde unter alleiniger Leitung<br />
der Rheinischen Mission ab. Einige Zeit<br />
wurden die Gottesdienste in der Schule abge-<br />
halten, bis ein Kompromiß zur gemeinsamen<br />
Nutzung der Kirche geschlossen wurde. Später<br />
ging die gesamte Station Stellenbosch in die<br />
Verfügung der Rheinischen Mission über, was<br />
Lückhoffs Arbeit wesentlich erleichterte. Die<br />
Station entwickelte sich zum Zentrum der afrikanischen<br />
Mission, dort wurden die Neu -<br />
ankömmlinge aufgenommen <strong>und</strong> Erholungsaufenthalte<br />
für Missionare <strong>und</strong> ihre Angehörigen<br />
ermöglicht. Außerdem wurden dort Missionarskinder<br />
erzogen. Neben seiner Missions -<br />
tätigkeit sammelte Lückhoff zahlreiche Spenden<br />
für die Bodelschwinghschen Anstalten in<br />
Bethel. Obwohl 1878 emeritiert, wirkte er weiter<br />
bis zu seinem Tod am 29. Dezember 1891 in<br />
Stellenbosch.<br />
Lückhoff war seit 1833 mit Susanne Johanne<br />
Albertyn aus Stellenbosch verheiratet,<br />
mit der er elf Kinder hatte, von denen nur vier<br />
ein höheres Alter erreichten: Daniel (*1836,<br />
Prediger am Kap), Johanne (*1841, verheiratet<br />
mit Carl Ritter, 1866–1874 Generalkassierer<br />
Kapland), Jacob (*1842, Prediger am<br />
Kap), Conrad (*1851). Susanne Lückhoff starb<br />
am 24. Februar 1856 in Stellenbosch.<br />
Caroline Lutz, geb. Seringhaus (1817–1859)<br />
Elberfeld den 7ten Juli [1846]<br />
Caroline Seringhaus<br />
Ich C[aroline] S[eringhaus] wurde geboren<br />
den 9 December 1817 in Elberfeld meines Seeligen<br />
Vaters Geschäft, war ein Becker, er<br />
schikte mich früh zur schule, nämlich zu dem<br />
Lehrer Hausmann, dessen frau die kleine<br />
schule leitete; wo ich denn leider sehr wenig<br />
gelernt habe. Später mußte der Vater sein Geschäft,<br />
niederlegen, <strong>und</strong> so war er den<br />
genöthigt, uns früh an Arbeit zu thun, wodurch<br />
ich denn in Schulkenntniß sehr zurückge -<br />
blieben bin. – So gefiehl es denn dem Herrn,<br />
mich die Welt schon frühe zu verleiden, um<br />
mich zu sich zu ziehen. – Die Gnade des Herrn<br />
bewahrte mich nun zwar vor groben Sünden,<br />
aber in dem Jahre wo ich Konformirt wurde,<br />
fühlte ich mein inneres Sündliche verderben<br />
so, daß der Spruch. O, das du kalt oder warm<br />
wärest, so du aber Lau bist werde ich dich aus-<br />
35
speien aus meinem M<strong>und</strong>e 15 , mich immer verfolgte.<br />
– Anstatt nun meine Zuflucht zu dem<br />
Herrn zu nehmen, wollte ich mir selbst helfen,<br />
jemehr ich nun das gute wollte, fand ich das<br />
mich das Böse anhing, ich ging denn auch<br />
wohl fleißig zur Kirche, wohnte auch die Missions-St<strong>und</strong>en<br />
16 mit bei, wo denn auch der erste<br />
Missionstrieb in mir erwachte, <strong>und</strong> kann sagen<br />
das mich der Gedanke nie verlassen hat, obwohl<br />
ich noch keinen Frieden, für meine Seele<br />
gef<strong>und</strong>en, es währte auch noch lange ehe ich<br />
zum Frieden kam; ich fing an zu verzagen, es<br />
kam so weit, das ich dachte der Herr erhöre<br />
mich nicht. – In der Zeit hörte ich mal Pastor<br />
Sander 17 predigen, über die worte, Johannes<br />
that dem Himmelreich, gewalt an, <strong>und</strong> die so<br />
gewalt thun, reißen es zu sich 18 : diese Worte<br />
trieben mich denn wieder ins Gebet, <strong>und</strong> so<br />
fand ich denn auch endlich Frieden, für meine<br />
Seele, obwohl es später wieder durch manche<br />
dunkle, Zeiten ging. –<br />
Jetzt wurde der Trieb zur Mission auch immer<br />
größer, <strong>und</strong> ich keinen größeren Wunsch<br />
hatte, als das mich der Herr zu den Heiden senden<br />
möge obwohl, ich dazu keine Aussicht<br />
sahe. Da hieß es den zu mir: Ihn laß doch thun<br />
<strong>und</strong> Walten, er ist ein Weiser Fürst; <strong>und</strong> wird<br />
sich so verhalten das du dich w<strong>und</strong>ern wirst,<br />
wenn Er wies Ihm gebühret mit W<strong>und</strong>erbarem<br />
Rath, das Werk hinaus geführet; was dich<br />
bekümmert hat. Anstatt ich nun mein Vertrauen<br />
ganz, auf den Herrn setzte, setzte ich meine<br />
Hoffnung auf Menschen, <strong>und</strong> dachte wenn dieser,<br />
<strong>und</strong> jener es mal wüsste. Eines Sontags<br />
ging ich mal, in die Barmer Missions-St<strong>und</strong>e,<br />
worin bekannt gemacht wurde, das Frau Inspekterin<br />
19 , ein Nähverein angefangen habe,<br />
wo ein jeder theil annehmen könne, so fühlte<br />
ich mich denn gedrungen, auch hin zu gehen,<br />
wodurch ich denn mit Inspäkters, bekannt<br />
wurde, da hätte ich dann wohl Gelegenheit gehabt,<br />
ihnen meinen Wunsch zu offenbaren,<br />
hatte aber immer noch keine Freudigkeit dazu.<br />
– konnte aber auch mein anliegen, jetzt mehr<br />
wie sonst, auf den Herrn werfen: der die seinen<br />
nicht Ewig will in Unruh lassen.<br />
Am schluße des vorigen Jahres, dachte ich<br />
so darüber nach, das schon wieder ein Jahr zu<br />
ende ginge, <strong>und</strong> ich noch nicht im klaren wäre,<br />
36<br />
Caroline Lutz, geb. Seringhaus<br />
ob es wirklich des Herrn guter <strong>und</strong> Wohlgefäl -<br />
liger Wille sei, mich zu den Heiden zu senden;<br />
bat auch den Herrn mich seinen Willen kennen<br />
zu lassen. Ich nahm das Wort Gottes zur Hand,<br />
<strong>und</strong> traf gerade die Stelle. Jesaja 30 vers 21. 20<br />
Vor einiger Zeit war ich gerade bei Frau Inspäckterin<br />
wo wir über Missions-angelegenheiten<br />
sprachen – <strong>und</strong> ich mich gedrungen<br />
fühlte ihr mal zu sagen das ich schon lange ein<br />
verlangen gehabt hätte, unter den Heiden,<br />
wirksam zu sein. – Es ist nun meines Herzenswunsch,<br />
das es ihnen der Herr in ihrem Gebete<br />
möge erkennen lassen, ob mein Gang von ihm,<br />
gefödert wird, <strong>und</strong> er Lust zu meinen Wegen<br />
hat. Ich an meinem Theil kann aus allem, wie<br />
ich geführt worden bin nicht anderes erkennen<br />
als des Herrn Wille, habe auch große Freudigkeit<br />
dazu, <strong>und</strong> alle Gefahren die im Missionsdienste<br />
vorkommen können, schrecken mich<br />
nicht ab. Weil der Herr dem alle Gewalt gegeben<br />
ist, bei den seinen will sein, alle Tage bis<br />
an der Welt Ende. Der Wunsch meines Herzens<br />
sei:
Nimm mich Herr Jesu hin für dich,<br />
<strong>und</strong> laß mich sein die deine;<br />
regire führ <strong>und</strong> leite mich:<br />
Dein Wille sei der Meine;<br />
Ich will, o, Herr, nicht rathen mit,<br />
zeug das ich folge, schritt für Schritt;<br />
wie, <strong>und</strong> wohin, du führest.<br />
So empfehle ich mich den ihrer Fürbitte,<br />
Sie im Herrn liebende<br />
Caroline Seringhaus.<br />
Caroline Seringhaus heiratete am 29. Dezember<br />
1846 den ehemaligen Messerschmied<br />
Johann Heinrich Lutz (1812–1887), der seit<br />
1841 als Missionar in der Kapregion wirkte,<br />
zuerst in Ebenezer, seit 1845 in Amandelboom.<br />
Von ihren neun Kindern überlebten das Säuglingsalter:<br />
Caroline (1847–1866), Lydia<br />
(1849–1934, verheiratet am Kap), Heinrich<br />
(1852–1896, Kaufmann in Afrika), Felix<br />
(1854–1927, Orgelbauer am Kap), Auguste<br />
(1855–1942, Lehrerin am Kap), Maria (1858–<br />
1948, verheiratet am Kap), Jacob (1859–<br />
1955). Caroline Lutz, geb. Seringhaus, starb<br />
am 21. August 1859 in Amandelboom im Kindbett.<br />
Johann Heinrich Lutz heiratete 1862 Babette<br />
Kühn, wie er, aus dem schweizerischen<br />
Rheineck gebürtig. 1875 kehrte er nach Europa<br />
zurück <strong>und</strong> arbeitete hier weiter für die<br />
Mission. Er starb am 17. September 1887 in<br />
He risau/Schweiz.<br />
Julie Kreft, geb. Seringhaus (1824–1867)<br />
[Julie Seringhaus (verheiratet mit Missionar<br />
Kreft, Schwester von Caroline Seringhaus<br />
verh. Lutz)]<br />
Lebenslauf von Julie Seringhaus<br />
Ich wurde den 21 März 1824 in Elberfeld<br />
geboren Mein Vater Peter Johan Seringhaus<br />
war Baeker daselbst <strong>und</strong> meine Mutter Johane<br />
Maria geb Hofmann. Meine Eltern waren damals<br />
nicht gläubig. Wie ich 12 Jahr alt war verlor<br />
ich meinen Vater durch den Tod <strong>und</strong> muß<br />
bekennen daß ich deßhalb sehr wenig Schulkenntnis<br />
erlangt habe. Wie ich 17 Jahr alt war<br />
wurde ich confirmirt. Schon früh wurde ich<br />
zum Herrn gezogen, aber erst kurz nach meiner<br />
Confirmation wurde ich meines Gnadenstandes<br />
völlig gewiß. Im Jahr 1847 schrieb mein<br />
Schwager Lutz ich sollte zu Ihm kommen<br />
<strong>und</strong>[?] das wollten meine Geschwister nicht<br />
haben. Was seit der Zeit in meinem Herzen<br />
vorgegangen ist, davon will ich schweigen; allein<br />
der Herr hat meines Herzens Wunsch erfüllt.<br />
Im März dieses Jahr starb meine Mutter<br />
<strong>und</strong> ich war also freier. Im Mai d[ieses) J[ahres]<br />
wurde mir der Antrag durch Herrn Inspector<br />
Wallmann gemacht, ob ich Lust hätte mit<br />
H[e]r[rn] Kreft nach Süd Afrika zu gehen; <strong>und</strong><br />
da ich dies nicht anders als einen Ruf vom<br />
Herrn annehmen konnte, habe ich ja gesagt <strong>und</strong><br />
freue mich das es der Herr bis dahin wohl gemacht<br />
hat, ich traue es dem Herrn zu, er wird es<br />
auch ferner wohl machen.<br />
Barmen den[?] 21 Juli 1852<br />
Julie Seringhaus<br />
Julie Seringhaus heiratete am 23. Juli 1852<br />
den ehemaligen Holzschuhmacher Heinrich<br />
Hermann Kreft (1823–1878), der von 1853 bis<br />
1878 als Missionar in Bethanien/Namaland<br />
stationiert war. Von ihren acht Kindern überlebten<br />
das Säuglingsalter: Hermann (* 1855),<br />
Johannes (* 1856), Julie (* 1858), Caroline<br />
(* 1860), Georg (* 1862), Sophie (* 1863),<br />
Auguste (*. 1865). Der älteste Sohn, Hermann<br />
Kreft (gestorben 1927), wirkte später als Missionar<br />
in Tulbagh/Kapland. Julie Kreft, geb.<br />
Seringhaus, starb „nach kurzer Krankheit“ 21<br />
am 10. Juni 1867 in Bethanien. Heinrich Hermann<br />
Kreft heiratete 1869 Magdalena Hatje<br />
(1869–1930) aus Holstein. Er starb am 3. Mai<br />
1878 auf der Reise von Grootfontein nach Be -<br />
thanien.<br />
Ida Heidmann, geb. Eick (1836–1899)<br />
Ida Eick [verheiratet am 4. Juni 1869 mit<br />
Missionar Heidmann in de Tuin]<br />
Am 29. April 1836 wurde ich zu Elberfeld<br />
geboren, es sind unser 10 Kinder gewesen von<br />
denen ich das fünfte war. Mein Vater war<br />
Bäcker u[nd] habe ich wenn auch leider keine<br />
christliche, doch eine liebevolle u[nd] ordentliche<br />
Erziehung gehabt. Mein Herz hörte auch<br />
37
gerne das Gute, wie ich überhaupt mich nie mit<br />
den gewöhnlichen Freuden der Jugend beschäftigt<br />
habe. Zwar ging ich doch in der Welt<br />
dahin, bis es dem Herrn gefiel, mich im Jahr<br />
1854 in die Familie des nun schon selig vollendeten<br />
Pastor Schumacher aus Schleswig-Holstein<br />
zu führen wo ich wie Kind im Hause war<br />
<strong>und</strong> auf diese Zeit nur mit innigem Dank gegen<br />
den Herrn zurückblicke. [Randnotiz:] Herr Pastor<br />
Schumacher war damals Hilfsprediger in<br />
Wichlinghausen. Im Herbst des Jahres 1854<br />
wurde Herr Pastor Schumacher nach Gennweiler<br />
bei Saarbrücken versetzt, ich erhielt die Erlaubniß<br />
meiner Eltern, mitzugehen, <strong>und</strong> bin bis<br />
zum Juli 1856, also 2 1 /2 Jahre als ihre Pflege -<br />
tochter bei ihnen geblieben, u[nd] kehrte von<br />
da nach Hause zurück.<br />
In dieser Zeit wurde der Gr<strong>und</strong> zu meinem<br />
inneren Leben gelegt, aber das echte Suchen<br />
fing erst an, nachdem ich wieder zu Hause war.<br />
Mein inneres Ohr war geöffnet für das süße<br />
Wort des Herrn, welches in unserm gesegneten<br />
<strong>und</strong> geliebeten Wupperthal so reichlich gepredigt<br />
wird. Doch war es vorzugs weise der öftere<br />
Besuch in dem Hause des verehrten <strong>und</strong> geliebten<br />
Insp. von Rohden 22 welcher sich im<br />
Mai 1854 mit der einzigen Tochter des Pastors<br />
Schumacher verheiratet hatte, <strong>und</strong> noch besonders<br />
die Liebe u[nd] Güte dieser meiner Herzensfre<strong>und</strong>inn,<br />
das so ganz andere u[nd] besondere<br />
Leben, welches ich dort kennen lernte,<br />
daß ich immer mehr davon überzeugt wurde,<br />
wie selig es sein müßte, auch diesem Herrn anzugehören.<br />
Meine Seele gerieth in große Betrübniß<br />
über meine Sünde <strong>und</strong> nachdem ich einige<br />
Zeit also dahingegangen war, gefiel es<br />
dem Herrn nun plötzlich das ewige Licht aufgehen<br />
zu lassen; es war dies am Tage der<br />
25jährigen Feier der Missionsgesellschaft den<br />
25. October 1857. 23 Von da an wurde ich immer<br />
mehr zu Ihm hingezogen durch Freud <strong>und</strong><br />
Leid, unendlich viel habe ich dem theueren<br />
Herrn Inspektor u[nd] seiner nun schon seit einigen<br />
Jahren heimgegangenen, lieben, innigen<br />
u[nd] von mir sehr vermißten u[nd] betrauerten<br />
Frau zu danken, dann auch den Predigten <strong>und</strong><br />
St<strong>und</strong>en des sehr geliebten Pastor Kraft 24 in Elberfeld,<br />
welcher ein Mann nach dem Herzen<br />
Gottes ist <strong>und</strong> den ich nie vergessen werde, ich<br />
38<br />
habe ihn sehr tief in mein Herz geschlos sen<br />
<strong>und</strong> es ist sehr schwer für mich, seine treuen<br />
Lehren <strong>und</strong> Ermahnungen nicht mehr hören zu<br />
dürfen.<br />
Da ich durch die Fre<strong>und</strong>schaft mit Insp.<br />
von Rohden’s viel von der Mission hörte, <strong>und</strong><br />
damit bekannt wurde, so erwachte die Liebe zu<br />
derselben in mir <strong>und</strong> wünschte ich oft, ihr auch<br />
mit meinen geringen Kräften zu dienen. Doch<br />
wußte der Herr, daß Er mich noch nicht gebrauchen<br />
konnte, <strong>und</strong> wenn ich mich jetzt bedenke,<br />
so wäre ich auch nicht werth gewesen,<br />
denn mein Glaube war noch mehr Gefühls- wie<br />
Herzensglaube. Darum mußte ich erst nach<br />
Seinem Rathschluß eine Zeit vieler Sorge <strong>und</strong><br />
Trübsal durchmachen, aber dadurch erfuhr ich<br />
auch Seine Hülfe, Macht <strong>und</strong> Treue <strong>und</strong> weiß,<br />
daß Er Alles thut, was Er will u[nd] wenn man<br />
im Glauben bittet, allewege hilft.<br />
In dieser Gewißheit habe ich die an mich<br />
am 5. Febr[uar] d[es] Jahr[es] gekommene Anfrage,<br />
ob ich mich dazu entschließen könne,<br />
Eltern u. Heimath zu verlassen u. die Frau eines<br />
Missionars zu werden, angenommen.<br />
Meine lieben Eltern, welche der treue Herr<br />
nach Seinem Gnadenwege zu Sich gezogen<br />
hat, haben mir gleich, wenn auch mit schwerem<br />
Herzen, ihre Einwilligung gegeben, <strong>und</strong><br />
habe ich darauf, nachdem Ende Juli die eigentliche<br />
Werbung gekommen, mich mit Missionar<br />
F[riedrich] Heidmann auf de Tuin in Süd-<br />
Africa ver lobt <strong>und</strong> werde, so der Herr will! in<br />
nächster Woche in Beglei tung vieler Geschwister<br />
ausziehen. Der treue Heiland gebe uns eine<br />
glückliche Reise u[nd] bringe uns an das irdische,<br />
aber vor Allem an das himmlische Ziel.<br />
Ihm sei Lob, Ehre <strong>und</strong> Preis in Ewigkeit.<br />
Amen!<br />
Barmen, d[en] 17 Oct[ober] 1868.<br />
Ida Eick heiratete am 4. Juni 1869 den ehemaligen<br />
Glaser Johann Christian Friedrich<br />
Heidmann (1834–1913) aus Lübeck, der seit<br />
1865 als Missionar in Südwestafrika tätig war,<br />
zuerst in de Tuin (wo auch die Hochzeit stattfand),<br />
ab 1868 in Rehoboth. Heidmanns Name<br />
ist eng verb<strong>und</strong>en mit dem Stamm der Bastards<br />
(auch: Baster, Bastergemeente, heute etwa<br />
40 000 Menschen). Dieses Volk, das ursprüng-
lich südlich des Oranje-Flusses lebte, führte er<br />
gemeinsam mit ihrem Käpitan Hermanus van<br />
Wijk im Jahre 1869 nach Norden. 1870 ließ<br />
sich der Stamm im Gebiet von Rehoboth nieder.<br />
25 Das Ehepaar Heidmann hatte ein Kind,<br />
das kurz nach der Geburt starb. Ida Heidmann,<br />
geb. Eick, starb am 10. Juni 1899 in Rehoboth.<br />
Ihr Mann arbeitete bis zu seiner Emeritierung<br />
1906 in Rehoboth <strong>und</strong> starb dort am 30. Juni<br />
1913, nachdem er seine letzten Lebens jahren<br />
in einer Heilanstalt verbracht hatte.<br />
Anna Mohri, geb. Barschig (1836–1893)<br />
Anna Barschig [verheiratet am 22.2.1871<br />
mit Missionar Mohri]<br />
Im Jahre 1836, den 31 Mai wurde ich zu<br />
Mainz geboren. Meine Mutter lehrte mich<br />
frühe beten, u[nd] ist mir immer besonders<br />
lieblich die Erinnerung an die Dämmerst<strong>und</strong>e,<br />
in der wir mit unserer Mutter beteten. Mein Vater<br />
wurde als Gensdarm nach Waldbröl versetzt,<br />
ich besuchte die dortige Elementarschule.<br />
Im Jahr 1847 wurde mein Vater nach<br />
Elberfeld berufen, als Postbeamter angestellt.<br />
Von meinem zwölften bis 14 Jahre genoß ich<br />
den Religionsunterricht des Sel[i]g[en] Herrn<br />
Pastor Sander 26 wurde von demselben 1851<br />
konfirmirt. Die Konfirmation hatte Eindruck<br />
auf mich gemacht, der aber bald wieder verwischt<br />
wurde. Doch ging der gute Hirte dem<br />
Verlorenen nach rief u[nd] lockte auf mancherlei<br />
Weise Es ging durch manches äußere u[nd]<br />
innere Gedränge hindurch, habe oft erfahren,<br />
wie gar nichts man in seiner eignen Kraft kann.<br />
Der liebe Heiland zerbrach meine Kraft, damit<br />
er in mir könne ein neues schaffen, u[nd] gebraucht<br />
dazu Wege u[nd] Führungen von denen<br />
ich oft dachte: Sie sind mir zu schwer, aber sie<br />
waren allein richtig u[nd] gut. – Den 17 Mai<br />
1855 starb unsere liebe gute Mutter das war ein<br />
großer Verlust für uns 6 Kinder von denen ich<br />
die Älteste. Ich suchte Trost für meinen<br />
Schmerz u[nd] Frieden u[nd] Ruhe für meine<br />
Seele, u[nd] fand sie nicht. Da im Jahr 1859 in<br />
dem die Cholera in Elberfeld so viele Opfer<br />
forderte 27 , wurde ich von der Cholera befallen,<br />
u[nd] war dem Tode sehr nahe. Nun standen<br />
die Schrecken des Todes die Strafen der Sünde,<br />
das Gefühl dem Herrn auf Tausend nicht eins<br />
antworten zu können immer vor meiner geängsteten<br />
Seele, ich wußte nicht wo aus noch ein!<br />
Da führte mir der Herr meinen theuersten<br />
Fre<strong>und</strong> u[nd] Seelsorger den Herrn Pastor<br />
Köllner 28 zu. Er zeigte mir den Weg des Heils,<br />
ich hielt mich an die Ver heißung wer zu mir<br />
kommt den werde ich nicht hinaus stoßen.<br />
Habe glauben u[nd] erfahren dürfen das der<br />
Herr über mir Gedanken des Friedens habe.<br />
Sein für mich vergossenes Blut ein vollgültiges<br />
Opfer sei für alle meine Sünden. Welche Seligkeit<br />
ein Herz das ein Heiland gef<strong>und</strong>en erfüllt<br />
läßt sich nicht sagen, wer es erfahren preise mit<br />
mir den Herrn <strong>und</strong>[?] alles was er an Seinen<br />
Kindern thut. Seit dem Tode meiner Mutter<br />
stand ich dem Haushalt vor u[nd] suchte meine<br />
lieben Geschwister zu erziehen. Im Jahr 1863<br />
erlaubte mir mein Vater die Anstalt für Kinderpflege<br />
in Nonnenweiher zu besuchen unter<br />
Leitung der nun heimgegangenen Frau Dr. Jolberg.<br />
Im Jahr 64 rief mein lieber Vater mich<br />
zurück da er schwer erkrankt war, u[nd] schon<br />
nach 14 Tagen in die obere Heimath abgerufen<br />
wurde. Die Stelle an der Kleinkinderschule in<br />
Ronsdorf war vakant, ich meldete mich, u[nd]<br />
wurde als Kinderlehrerin daselbst angestellt.<br />
Im Jahr 1868 verließ ich Ronsdorf um in Berlin<br />
einer Schule vorzustehen, blieb dort zwei Jahre<br />
u[nd] arbeitete mit viel Freudigkeit unter den<br />
Ärmsten der Armen, unter denen ich gerne geblieben<br />
wäre. Nach des Herrn Wohlgefallen<br />
sollte ich einen anderen Weg gehen, der mir so<br />
köstlich u[nd] durch so manches theure Angeld<br />
[?] des Herrn Treue versiegelt wurde. Ich bin<br />
gewiß das Er der meiner Schultern Vermögen<br />
kennt, wird Gnade geben zu dem was kommen<br />
wird. Sei die Noth auch groß u[nd] der Trübsal<br />
viel, größer als der Helfer ist die Noth doch<br />
nicht. Die Gewißheit ,,Es ist der Herr“ erfüllt<br />
mein Herz mit Freudigkeit, meinem lieben<br />
Bräutigam zu folgen. Der Herr Jesu lasse den<br />
in Gnaden seine Allmachtshände über mir aus -<br />
gebreitet, halte meine Glaubensauge offen allezeit<br />
auf ihn gerichtet. Gilt auch mir die Verheißung<br />
,,Siehe ich bin bei euch alle Tage bis<br />
an der Welt Ende“. 29<br />
Barmen den 8. Sept. 1870.<br />
39
Anna Mohri, geb. Barschig<br />
Anna Barschig heiratete am 22. Februar<br />
1871 den ehemaligen Fabrikarbeiter August<br />
Mohri (1835–1907) aus Allendorf/Nassau, der<br />
seit 1868 als Missionar in Indonesien tätig war,<br />
zuerst auf der Insel Nias, später auf Sumatra<br />
(1870–1888 Si Poholon, 1888–1891 Pea<br />
Radja, 1892–1907 Huta Bavat). Das Paar<br />
hatte fünf Kinder: Anna (1872–1954, verheiratet<br />
mit Henri Guillaume, Missionar auf Sumatra),<br />
August (*1873), Friedrich (*1875), Theodor<br />
(*1877), Heinrich (*1879). Nach einem<br />
Aufenthalt in Deutschland (Herborn) in den<br />
Jahren 1891–92 kehrte das Ehepaar Anfang<br />
1893 nach Sumatra zurück. Noch am Tag der<br />
Ankunft in Pangaloan erkrankte Anna Mohri<br />
schwer <strong>und</strong> starb kurz darauf, am 11. Januar,<br />
in Pea Radja. Nach dem Bekanntwerden ihrer<br />
Todesnachricht sollen sich h<strong>und</strong>erte von Menschen<br />
aus Si Poholon <strong>und</strong> Pea Radja versammelt<br />
haben, um die Verstorbene zu ehren 30 . August<br />
Mohri heiratete 1898 Elly Schumacher<br />
(1865–1914) aus Barmen. Er starb am 13. Juni<br />
1907 in Purba.<br />
40<br />
Emma Schütz, geb. Haarmann (1835–1876)<br />
[Emma Haarmann, verheiratet am 9.2.1870<br />
mit Missionar Schütz]<br />
E[m]ma Haarmann wurde am 27ten Mai<br />
1835 geboren zu Elberfeld. Meine lieben Eltern<br />
waren dem Leben aus Gott fremd, der<br />
treue Herr schickte schwere Leiden, machte<br />
meinen armen Vater gemüthskrank, das machte<br />
auf mich einen tiefen ich kann sagen unauslöschlichen<br />
Eindruck. Durch den langjährigen<br />
Unterricht bei dem theuren Pastor Jaspis 31 <strong>und</strong><br />
durch seinen näheren Umgang lernte ich mein<br />
armes Herz kennen suchte besonders in dem<br />
letzten Jahr vor der Confirmation ein Kind der<br />
Gnade zu werden, durfte auch wohl mal etwas<br />
von dem Frieden der aus Jesu kommt fühlen<br />
kam jedoch zu keiner Entscheidung, im Gegentheil<br />
alles verwischte sich wieder durch den<br />
dreijährigen Aufenthalt bei Verwandten in Arnheim.<br />
Von dort kam ich nach Kaiserswerth,<br />
wurde Lehrerin, bekam eine Stelle in Wetzlar,<br />
aber war immer noch nicht wiedergeboren. In<br />
dem Hause des Herrn [Name unklar] legte man<br />
mir mein hochmüthiges Herz recht bloß, es<br />
ging durch viele u[nd] schwere Kämpfe hindurch<br />
bis endlich der Herr sein „Ich will’s, sei<br />
gereinigt“ sprach. Nun fühlte ich tief wie<br />
schwer es sei im Reich Gottes, im Weinberg<br />
des Herrn zu arbeiten, mußte umreißen was ich<br />
selbst gebaut, jedoch der Herr half <strong>und</strong> ließ<br />
mich im Segen arbeiten. Im Jahre 1865 durfte<br />
ich nach Beerberg in Schlesien ziehen, durfte<br />
dort Kleinkinderschule u[nd] Gemeindepflege<br />
einrichten. Nachdem ich zwei Jahre dort gearbeitet<br />
<strong>und</strong> zu den Ferien nach Hause reiste,<br />
(meine Eltern waren zwar schon gestorben)<br />
frug mich Miss[ionar] Schütz mein jetziger<br />
Bräutigam, der mich in Wetzlar kennengelernt<br />
ob ich, wenn der Herr Gnade gäbe ihm nach<br />
Sumatra folgen wolle, ich konnte freudig „Ja“<br />
sagen, mußte mich zwar tief beugen vor der<br />
großen Gnade dem Herrn an Seinen Heiden<br />
dienen zu dürfen. Bis Ostern 1869 blieb ich<br />
noch in Beerberg, kam dann nach Barmen in<br />
das Haus eines Fre<strong>und</strong>es meines lieben Bräutigams.<br />
Viel, viel Gnade u[nd] Segen durfte ich<br />
erfahren, wenn es auch manch mal dunkel<br />
u[nd] trübe war, der Herr ist aber treu, Er
nimmt die Seinen in Seine Hut [?] nach väterlicher<br />
Weise. Ihm sei Lob in Ewigkeit. Er gebe<br />
mir Kraft für Sein Werk zu leben <strong>und</strong> zu leiden!<br />
Um einen ewgen Kranz<br />
dies arme Leben ganz!<br />
Emma Haarmann heiratete am 9. Februar<br />
1870 den ehemaligen Anstreicher Christian<br />
Philipp Schütz (1838–1922) aus Braunfels, der<br />
von 1868 –1912 als Missionar in Bungabondar<br />
im Batakland auf Sumatra tätig war. Das Paar<br />
hatte zwei Söhne: Christian (* 1871) <strong>und</strong> August<br />
Georg (* 1874). Emma Schütz, geb. Haarmann<br />
starb am 28. Januar 1876 in Bungabondar.<br />
Christian Phillip Schütz heiratete 1877<br />
Eva Meisner (1852–1939) aus Mainz. Er starb<br />
am 14. März 1922 in Herborn.<br />
Wilhelmine Thomas, geb. Müller<br />
(1851–1912)<br />
Wilhelmine Müller [am 28. Januar 1874<br />
mit Missionar Thomas verheiratet]<br />
Am 30. Oktober 1851 wurde ich in Elberfeld<br />
geboren. Mein Vater Joh[ann] Wilhelm<br />
Müller war Schuhleistenmacher. Es waren unser<br />
sechs Geschwister, wovon ich die zweitjüngste<br />
bin; wir hatten das große Glück gläubige<br />
Eltern zu haben, daher wir in der Furcht<br />
u[nd] Vermahnung zum Herrn erzogen wurden.<br />
Jedoch durften wir uns nicht lange unserer<br />
Eltern freuen, unser Herr nahm den Vater nach<br />
längerem Leiden im Jahre 1861 zu sich in den<br />
Himmel; daher nun unserer lieben Mutter eine<br />
große Aufgabe überblieb. Sie mußte das Geschäft<br />
mit fremden Leuten fortsetzen, wobei<br />
sie oft die Hülfe des Herrn erfahren durfte, der<br />
Herr Jesus war ihr Mann u[nd] unser Vater,<br />
nach seiner Verheißung. Später im Jahr 1863<br />
konnte sie das Geschäft meinem ältesten Bruder<br />
anvertrauen. Vom 6 bis 14 Jahre besuchte<br />
ich die Elementarschule <strong>und</strong> vom 11 – 14 Jahre<br />
den Religionsunterricht des l[ieben] Pastor<br />
Köllner 32 , worinnen sich der Herr in mancherlei<br />
Weise zu mir bekannte. Als ich confirmirt<br />
wurde faßte ich den Ent schluß, ganz dem<br />
Herrn zu leben, mußte jedoch erfahren daß es<br />
durch Sterben zum Leben ging, wobei ich mir<br />
oft den Spruch sagte: ,,Die Christi angehören,<br />
kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten u[nd]<br />
Begierden. 33 Eine alte liebe Christin, die in unserer<br />
Nachbarschaft wohnte, war meine liebste<br />
Fre<strong>und</strong>in, zu dieser ging ich täglich. So<br />
schwand ein Jahr an der Hand des Herrn dahin.<br />
Danach wurde ich sehr vom geistlichen<br />
Hochmuth geplagt, u[nd] verließ ein ganzes<br />
Jahr meinen treuen Heiland u[nd] ich wurde ärger<br />
denn zuvor. Meine früheren Fre<strong>und</strong>innen<br />
denen ich den Abschied gegeben hatte fanden<br />
wieder einen Ort bei mir, u[nd] ich diente mit<br />
Leib u[nd] Seele dem Teufel. Meine alte<br />
Fre<strong>und</strong>in trauerte sehr über mich u[nd] weinte<br />
u[nd] ermahnte viel aber vergeblich. Da geschah<br />
es einmal als ich bei meinen Fre<strong>und</strong>innen<br />
war, daß sie anfingen zu tanzen, dabei bekam<br />
ich aber die größte Unruhe, Eilte nach<br />
Hause, setzte mich an einen stillen Ort u[nd]<br />
las in einem Predigtbuche, konnte aber vor Unruhe<br />
meines Herzens nichts verstehen; lief<br />
dann in meiner Angst zu meiner lieben alten<br />
Fre<strong>und</strong>in <strong>und</strong> klagte ihr Alles. Diese brach in<br />
Thränen aus u[nd] freute sich über die Erscheinung.<br />
Das war der Anfang meiner zweiten Bekehrung,<br />
u[nd] bis hierher hat Gott geholfen<br />
Gott hilft, Gott wird weiter helfen. Nachdem<br />
ich das Nähen u[nd] die häuslichen Arbeiten<br />
gelernt hatte, kam ich zu meinem Schwager,<br />
dem Bäcker Funccius um meiner leidenden<br />
Schwester als Stütze zu dienen. Das Leiden<br />
meiner l[ieben] Schwester mehrte sich immer<br />
mehr <strong>und</strong> mehr, so daß wir zuletzt keine Hoffnung<br />
mehr hatten u[nd] sie durfte am 22. Juni<br />
1871 eingehen zu ihres Herrn Freude. Gott<br />
aber sei Dank der mir diese Zeiten hat erleben<br />
lassen. Nachdem meine 1[iebe] Mutter ihre<br />
Zustimmung auf die Bitte meines 1[ieben]<br />
Bräutigams um meine Hand gegeben hatte;<br />
verließ ich meinen Schwager, um die kurze<br />
Zeit bei meiner 1[ieben] Mutter u[nd] Geschwister<br />
sein zu können. Jetzt stehe ich am<br />
Abschluß der zwei Jahre, u[nd] Gott der Herr<br />
hat mir bis heute Freudigkeit u[nd]Kraft gegeben,<br />
u[nd] ich hoffe getrost u[nd] in aller Zuversicht<br />
auf seine Hülfe noch ferner.<br />
Barmen den 23/8 1873.<br />
41
Wilhelmine Thomas, geb. Müller<br />
Nachtrag 13.7.1933: Der Vater der Schreiberin<br />
Johann Wilh[elm] Müller wurde am<br />
22.3.1809 in Barmen geboren <strong>und</strong> starb am<br />
15.7. 1861 in Elberfeld. Die Mutter Maria Ka -<br />
tharina geb. Knipp schild wurde in Höringhausen/Wald<br />
eck am 22.12.1816 geboren u[nd]<br />
starb am 3.9.1878 in Elberfeld. Diese Angaben<br />
stehen auf den Grabsteinen in Elberfeld [Unterschrift:]<br />
Diehl<br />
Wilhelmine Müller heiratete den ehemaligen<br />
Bauern Johann Wilhelm Thomas (1843–<br />
1900) aus Eibach/Nassau am 28. Januar 1874.<br />
Thomas war seit 1873 als Missionar auf Nias<br />
tätig. 1883 gründete er die Missionsstation Teluk<br />
Dalam im Süden der Insel, unter großen<br />
Schwierigkeiten, so daß Wilhelmine Thomas,<br />
die dort schwer erkrankte, die Station verlassen<br />
mußte34 . 1886 mußte die Station aufgegeben,<br />
die Missionare Thomas <strong>und</strong> Lagemann<br />
durch holländische Kanonenboote aus ihrer<br />
heiklen Lage befreit werden. Nach einem Jahr<br />
in Neu-Guinea <strong>und</strong> einem Aufenthalt in<br />
42<br />
Deutschland kehrte das Paar 1889 nach Nias<br />
zurück. 1891 wurde durch sie die neue Missionsstation<br />
in Humene gegründet, die sich in<br />
den folgenden Jahren zur größten Station der<br />
Rheinischen Mission auf der Insel entwickelte.<br />
Das Ehepaar Thomas hatte sieben Kinder, von<br />
denen nur einige ein höheres Alter erreichten:<br />
Wilhelm (* 1875), Lydia (* 1876, verheiratet<br />
mit Missionar Eduard Lewandowsky), Luise<br />
(* 1877), Paul (1880–1949, Geistlicher in Wisconsin/USA),<br />
Johannes Peter (* 1882), Theophil<br />
(1884–1958) <strong>und</strong> Adolf (* 1888). Ende<br />
1900 erkrankte Johann Wilhelm Thomas an<br />
Gürtelrose <strong>und</strong> starb unerwartet am 30. Dezember<br />
in Humene. Wilhelmine Thomas bat die<br />
Missions-Gesellschaft zunächst, in Nias bleiben<br />
zu dürfen: „Ich arbeite mit großer Freude<br />
an unserem Volke; es ist mir in den 27 Jahren<br />
sehr ans Herz gewachsen.“ 35 Später zog sie mit<br />
der Familie nach Dillenburg, wo sie am 17.<br />
Juni 1912 starb.<br />
Friedrich Wilhelm Staudte (1845–1884)<br />
Fried[rich] Wilh[elm] Staudte [Drechsler/<br />
Jünglingsverein] 36<br />
Am 1. Mai 37 wurde ich, Fr[iedrich]<br />
Wilh[elm] Staudte, am Hahnerfeld bei Elberfeld<br />
als 1[ste]r Sohn der Amalie geb. Bünger<br />
u[nd] des Michael Staudte, Drechslers zu<br />
Hahnerfeld, geboren. In meinem 6[ste]n Jahre<br />
starb die Mutter, <strong>und</strong> ich war, da 2 jüngere Geschwister<br />
ebenfalls gestorben waren, einziges<br />
Kind meines Vaters. Er erzog mich nach bestem<br />
Wissen in der Zucht u[nd] Vermahnung<br />
zum Herrn. Seine äußeren Verhält nisse gestatteten<br />
es ihm nicht, mich auch den Elementarunterricht<br />
ununterbrochen genießen zu lassen;<br />
meine Kraft wurde dem Geschäfte u[nd] dem<br />
Hauswesen dienstbar gemacht, so daß meine<br />
Schulbildung im Allgemeinen schwach u[nd]<br />
noch dazu sehr lückenhaft blieb. Bis züm<br />
13[te]n Jahre hatte mein bild sames Herz schon<br />
tiefe Eindrücke menschl[icher] Sünde empfangen,<br />
doch stand es auch durch die vorwiegend<br />
christl[iche] Erziehung u[nd] durch eine gewisse<br />
religiöse Änlage der Wahrheit offen. Es<br />
war noch zweifelhaft, welche Richtung für die
Folgezeit die herrschende werden sollte; doch<br />
bald sollte es sich entscheiden.<br />
Der theure P[astor] Rinck 38 , dessen Catechumenen-Unterricht<br />
ich damals besuchte,<br />
übte durch seine einfachen aber geist-gesalbten<br />
Zeugnisse wie auch durch seine persönl[iche]<br />
Haltung einen mächtigen Einfluß auf mich aus.<br />
Zu einer vollen u[nd] bleibenden Hingabe an<br />
den Herrn kam es aber zu der Zeit u[nd] am<br />
Tage der Confirmation, die übrigens von<br />
großem Segen für mich war, nicht.<br />
Zwei Jahre verflossen, ohne besondere Verändrung.<br />
Ich erlernte das Drechslerhandwerk<br />
bei meinem Vater u[nd] besuchte in den Feierst<strong>und</strong>en<br />
den Jünglingsverein. Es war im Jahre<br />
1861, da entstand in diesem Verein eine Erweckung.<br />
Mit 5 Fre<strong>und</strong>en zusammen entschloß<br />
ich mich den Herrn zu suchen. Meine Fre<strong>und</strong>e<br />
kamen auch bald der Reihe nach u[nd] bezeugten<br />
es unter vielem Jubel, daß sie den Herrn gef<strong>und</strong>en<br />
haben. Ich selbst konnte mich dessen<br />
nicht erfreuen. Doch die Fre<strong>und</strong>e zogen mich<br />
mit fort u[nd] hielten mich für gläubig,<br />
während mein Herz doch noch keineswegs zur<br />
Festigkeit gekommen war. Es dauerte nicht<br />
lange, so trat eine Reaktion ein, u[nd] ich zog<br />
mich allmählich aus der Gemeinschaft der<br />
Gläubigen wieder zurück; das war in meinem<br />
18. Jahre.<br />
Bis zum 20[ste]n Jahre blieb ich im Vaterhause,<br />
dann wollte ich reisen, die Welt sehen<br />
u[nd] mich in meinem Geschäfte ausbilden.<br />
Mein Vater willigte ein, u[nd] nun wurden die<br />
Städte Hannover[?], Berlin u[nd] Dresden<br />
meine Aufenthaltsorte. Der Herr hat mich w<strong>und</strong>erbar<br />
bewahrt in dieser Zeit, daß ich nicht in<br />
den allgemeinen Strom der Sünde mit hineingerissen<br />
wurde.<br />
In Folge der Mobilmachung 1866 kehrte<br />
ich zurück nach Elberfeld. Und kaum waren einige<br />
Wochen verflossen, als der Herr wiederum<br />
mächtig bei mir anklopfte. Es ging<br />
durch mancherlei Kämpfe hindurch, bis<br />
endl[ich] mit dem Worte: „Laß dir an meiner<br />
Gnade genügen“ 39 u.s.w. der erste Licht strahl<br />
des Glaubens in mein Herze hineinfiel.<br />
Was nun meinen Missionstrieb anbetrifft,<br />
so wurde er erst in dem Jahre 67 recht lebendig<br />
u[nd] bewußt. Das Ev[angelium] zu predigen<br />
war längst mein Ideal; aber ich wußte nicht,<br />
wie ich es realisieren sollte. Bei einer Abordnungsfeier<br />
wurde mein Herz durch die Schilderung<br />
der Nothstände in Brasilien mächtig ergriffen,<br />
u[nd] ich bat den Herrn mich doch<br />
auch zum Zeugen Seiner Wahrheit auszurüsten;<br />
doch war es mir noch ungewiß ob ich<br />
mich zur Mission melden dürfe. Nach vielem<br />
Harren u[nd] Berathen mit meinem Vater u[nd]<br />
Onkel gab endl[ich] Herr P[astor] Rinck, der<br />
uns besuchte, den Auschlag. Mit Freudigkeit<br />
<strong>und</strong> dem Glauben an die Berufung des Herrn<br />
konnte ich mich melden u[nd] wurde nach einjähriger<br />
Warte- u[nd] Prüfungszeit im Jahre<br />
1868 in die Vorschule des Missions hauses aufgenommen.<br />
Jetzt stehe ich im Begriff aus der engeren<br />
Gemeinde des Missionshauses zu scheiden.<br />
Mein Weg führte durch viel Trübsal u[nd]<br />
Angst hindurch, aber auch Gottes Gnade ist<br />
reich gewesen über mir, des Segens u[nd] der<br />
Freude ist mehr, als ich hier niederzuschreiben<br />
vermag. Wie der Herr mir bisher so herrlich geholfen<br />
hat, so wird er mich auch weiter führen<br />
bis zur Vollendung in ihm.<br />
Barmen, d[en] 18. Aug[ust] 1873.<br />
Friedrich Wilhelm Staudte wurde 1873 als<br />
Missionar nach Sumatra ausgesandt, wo er<br />
zunächst am Gehilfenseminar in Prausorat<br />
tätig war, gleichzeitig jedoch als Evangelist<br />
mehrere Reisen ins Innere der Insel unternahm.<br />
Ein Augenleiden machte ihm die Arbeit<br />
bald unmöglich, so daß eine Rückkehr nach<br />
Deutschland erwogen wurde. Erst nach einer<br />
erfolgreichen Behandlung in Padang konnte er<br />
im Herbst 1876 seine neue Tätigkeit in Pangaloan<br />
aufnehmen, wo er bis 1882 stationiert<br />
war. Am 22. März 1877 heiratete er Lina Kind<br />
(1851–1933), die Tochter eines Schweizer<br />
Pfarrers. Das Paar hatte vier Kinder: Wilhelm<br />
(* 1878, Buchhändler, gefallen 1917), Anna<br />
(* 1879), Paul (* 1881) <strong>und</strong> Fritz (* 1883). Da<br />
Lina Staudte „seit mehreren Jahren körperlich<br />
schwer leidend“ 40 war, bemühte sich Staudte<br />
um die Versetzung in eine gesündere Gegend.<br />
Im Herbst 1882 wurde er Missionar in Sipirok.<br />
Während seine Frau sich dort erholte, erkrankte<br />
Staudte selbst an Dysenterie, der er am<br />
43
Friedrich Wilhelm Staudt<br />
8. April 1884 erlag. Nach dem Tod ihres Mannes<br />
blieb Lina Staudte noch ein Jahrzehnt in<br />
Sumatra, bevor sie 1895 mit ihren Kindern<br />
nach Deutschland zurückkehrte. Seit 1907<br />
lebte sie in Bethel, wo sie am 12. Februar 1933<br />
starb.<br />
Emilie Irle, geb. Schweißfurth (1839–1888)<br />
Emilie Schweißfurth [verheiratet am 21.<br />
Januar 1872 mit Missionar Johann Jakob Irle]<br />
Den 29sten Juli 1839 bin ich in Elberfeld<br />
geboren. Mein seliger Vater war Schreiner, daneben<br />
betrieb er Acker bau. Von den sieben<br />
Töchtern meiner lieben Eltern bin ich die<br />
zweitjüngste. Wir wurden in der Zucht <strong>und</strong><br />
Vermahnung zum Herrn erzogen. Von meinem<br />
siebenten Lebensjahre an besuchte ich die reformirte<br />
Pfarrschule, <strong>und</strong> als später meine Eltern<br />
eine andre Wohnung, außerhalb der Stadt,<br />
bezogen, 2 Jahre lang die Nützenberger<br />
Schule. Im Jahre 1850 starb mein lieber Vater –<br />
meine Mutter entschloß sich, die unruhige<br />
44<br />
Ackerwirth schaft, der sich der Vater in den<br />
letzten Jahren ausschließlich gewidmet hatte,<br />
niederzulegen. Sie zog wieder in die Stadt, <strong>und</strong><br />
etablirte ein Spezereigeschäft 41 , wobei meine<br />
beiden älteren Schwestern Sie nach Kräften<br />
unterstützten – die älteste Schwester war damals<br />
schon verheirathet. Nachdem ich im Jahr<br />
1854 von Herrn Pastor Feldner 42 konfirmirt<br />
war, wünschte meine liebe Mutter mich als<br />
Lehrerin ausbilden zu lassen, dazu war aber<br />
mein Körper, wie der Arzt erklärte, nicht kräftig<br />
genug, <strong>und</strong> blieb ich deßhalb in unserm<br />
kleinen Haushalt beschäftigt, daneben lernte<br />
ich die weibl[ichen] Handarbeiten, <strong>und</strong> es war<br />
dieseThätigkeit für meine Ges<strong>und</strong> heit recht zuträglich.<br />
Unser Geschäft segnete der Herr augenscheinlich,<br />
sodaß, als im Jahr 1862 auch<br />
meine zweitälteste Schwester heirathete, wir<br />
viele fremde Hülfe nöthig hatten, wodurch ich<br />
in den Umgang mit allerlei Leuten kam. Nur<br />
etwas stiller ist es wieder in unserm Hause geworden<br />
durch die Geschäftsveränderung welche<br />
meine Mutter durchführte im Jahr 1870<br />
nachdem Sie zu der Bitte, meines jetzigen lieben<br />
Bräutigams, J[akob] Irle, um meine Hand,<br />
Ihre Zustimmung zu geben hatte, dies war im<br />
Herbst 68. Statt Spezerein haben wir jetzt nur<br />
ein Kurzwaren-Geschäft.<br />
In meinem 11ten Jahr, sobald ich den Religionsunterricht<br />
besuchte, fing der Herr sein<br />
Gnadenwerk in mir an; bis dahin hatte ich in<br />
jugendlichem Leichtsinn dahingelebt, nun<br />
konnte ich nicht mehr mit Ruhe sündigen, ich<br />
mußte bitten um Vergebung der Sünden <strong>und</strong><br />
um ein neues Herz. Mehrere Jahre vergingen,<br />
ehe ich mich der fühlbaren Erhörung freuen<br />
durfte, doch schenkte mir der Herr zugleich ein<br />
so reiches Maß seiner Liebe, das ich oft meinte,<br />
ich könnte auch mein Leben für ihn lassen.<br />
Aber ich erkannte noch nichts von den verborgenen<br />
Banden der Sünde, mit denen ich geb<strong>und</strong>en<br />
war, darum führte mich der Herr durch die<br />
Zucht seines Heiligen Geistes <strong>und</strong> die Entziehung<br />
seiner fühlbaren Gnade, viele Jahre hindurch<br />
in tiefe Demüthigungen <strong>und</strong> Ängste, so,<br />
daß ich oft wünschte, ich hätte den Weg der<br />
Gerechtig keit nie erkannt, als in solchem Zustande<br />
zu sein. Der Herr erbarmte sich meiner<br />
aufs Neue, durch innere <strong>und</strong> äußere Gnadener-
weise lernte ich endlich mich unbedingt <strong>und</strong><br />
völlig ihm zu überlassen, was auch heute noch<br />
mein herzlichstes Begehren, <strong>und</strong> wozu ich mir<br />
täglich neue Gnade <strong>und</strong> Kraft erflehe von meinem<br />
Heiland.<br />
Emilie Schweißfurth heiratete am 21. Januar<br />
1872 den ehemaligen Schreiner Jacob Johann<br />
Irle aus Hatzfeld/Hessen, der seit 1869 in<br />
Südwest-Afrika (Hereroland 43 ) als Missionar<br />
wirkte, zuerst in Otjikango <strong>und</strong> Okahandja,<br />
schließlich wurde er Missionar der Station Otjosazu,<br />
wo er bis 1903 tätig war. Das Paar<br />
hatte sechs Kinder: Emilie (* 1872), Maria<br />
(* 1875), Jakob (* 1878), Otto (* 1879), Luise<br />
(* 1880) <strong>und</strong> Bertha (1881–1918). Der älteste<br />
Sohn Jakob war später ebenfalls als Missionar<br />
im Hereroland tätig (gestorben 1954 in Elberfeld),<br />
die Tochter Bertha heiratete 1907 den<br />
Missionar Eduard Müller. 44 Im Nachruf auf<br />
Emilie Irle, geb. Schweißfurth 45 wird ein ausführlicher<br />
Brief ihres Mannes wiedergegeben,<br />
in dem er vermerkt, seine Frau habe schon vor<br />
der Aussendung gewußt, „daß dieser Weg ein<br />
Sterbeweg für sie sei“ 46 , dennoch sei sie mit<br />
„freudigem Herzen“ 47 dem Ruf des Herrn gefolgt.<br />
Irle würdigt den Einsatz der Verstorbenen,<br />
die sich in den letzten Jahren besonders<br />
um die Sonntagsschule gekümmert hätte, <strong>und</strong><br />
schildert die Trauer über den Tod der Missionarsfrau:<br />
„Die Leute hingen an ihr mit der<br />
größesten Liebe, <strong>und</strong> der Schmerz aller, die in<br />
den Tagen ihrer Krankheit herzueilten, war tief<br />
ergreifend.“ 48 Emilie Irle war offenbar schon<br />
längere Zeit kränkelnd gewesen (Wassersucht?).<br />
Auf einer Reise nach Otjimbingue kam<br />
eine Lungenentzündung hinzu, sie konnte noch<br />
nach Otjosazu zurückgebracht werden, wo sie<br />
am 3. August 1888 starb. Jacob Johann Irle<br />
heiratete am 7. Juli 1890 Hedwig von Rohden,<br />
die Tochter des Barmer Missionsinspektors, 49<br />
mit der er drei Kinder hatte. Hedwig Irle wurde<br />
vor allem durch ihre Publikation „Wie ich die<br />
Herero lieben lernte“ 50 bekannt. Irle selbst entwickelte<br />
sich zu einem Sprecher für die Herero<br />
<strong>und</strong> verteidigte sie nach dem Aufstand von<br />
1904 51 in Zeitungsartikeln, obwohl „seine“<br />
Station Otjosazu, die inzwischen ein Nachfolger<br />
übernommen hatte, wegen der Kämpfe auf-<br />
gegeben werden mußte. In seinen letzten Lebensjahren<br />
publizierte er wissenschaftliche<br />
Werke über Sprache, Gebräuche <strong>und</strong> Religion<br />
der Herero. Er starb am 7. September 1924 in<br />
Witten.<br />
Agnes Pabst, geb. Neumann (1854–1896)<br />
Agnes Neumann<br />
Braut von Missionar Pabst [verheiratet am<br />
17. Februar 1880]<br />
[spätere Notiz:] gestorben 20.6.1906 in<br />
Stellenbosch<br />
Am dritten März 1854 bin ich in Elberfeld<br />
geboren. Mein Vater war zu der Zeit Lehrer an<br />
der städt[ischen] Töchterschule wurde aber im<br />
Jahre 1856 von der ländlichen Schulgemeinde<br />
Fingscheid im Langenbergischen zum Lehrer<br />
gewählt, <strong>und</strong> folgte diesem Ruf insonderheit<br />
um seiner Ges<strong>und</strong>heit willen. Daher kam es<br />
daß ich den größten Theil meiner Kindheit auf<br />
dem Lande verlebte. Dieselbe war eine recht<br />
glückliche. – Unsere Verhältnisse verlangten es<br />
das der Haushalt so spar sam wie möglich gehalten<br />
werden mußte, wenn Nahrungssorgen<br />
fern gehalten werden sollten. Und da war<br />
meine 1[iebe] sel[ige] Mutter so recht an ihrem<br />
Platze. Sie hatte in ihrer Jugend oft Zeiten<br />
schwerer äußerer Bedrängnisse durchmachen<br />
müssen, aber auch zugleich das Glück gehabt<br />
unter der Zucht frommer Eltern das „Bete<br />
u[nd] arbeitete“ 52 gründlich zu lernen. Es war<br />
nun auch ihre einzige Sorge, daß auch ihre<br />
Kinder des Segens theil haftig werden möchten<br />
den sie selbst in so reichem Maße an ihrem<br />
Herzen erfahren hatte. Selbstverständlich besuchte<br />
ich die Schule meines Vaters. Im Jahre<br />
1866 zogen wir wieder nach Elberfeld woselbst<br />
mein 1[ieber] Vater zum Hauptlehrer einer<br />
Armenschule gewählt war. Damit beginnt[?]<br />
die Zeit worin die 1[ieben] Eltern<br />
u[nd] wir Kinder durch Krankheiten aller Art<br />
oft u[nd] schwer heimgesucht wurden. Im<br />
Jahre 1869 bin ich durch Herrn Pastor Lichtenstein<br />
53 hier konfirmirt worden, nachdem ich 2<br />
Jahre durch ihn in den Heilswahrheiten unterrichtet<br />
war. Diese Zeit des Unterrichts ist eine<br />
besondere Segenszeit für mich gewesen sowie<br />
45
auch die Konfirmation selbst. – Ein Jahr später<br />
traf mich u[nd] die Meinen ein sehr schwerer<br />
Schlag. Binnen wenigen Tagen war unsere gute<br />
Mutter ges<strong>und</strong> u[nd] todt. Bei ihrem Sterben<br />
verherrlichte sich der Herr ganz besonders indem<br />
er sie, wiewohl sie meinen schon seit 4<br />
Jahren kränkelnden Vater u[nd] außer mir noch<br />
8 Kinder (hinterließ) u[nd] ihre eigene Mutter<br />
hinterließ, fast wie im Triumph heimgehen<br />
hieß. Für einen jeden hatte sie ein besonderes<br />
Trostwort. Unvergeßlich wird mir der Augenblick<br />
bleiben da sie sich aufrichtete u[nd] sich<br />
von ihrer 1[ieben] Mutter mit dem Segen des<br />
dreieinigen Gottes einsegnen ließ fürs Grab.<br />
Die letzten Worte, die wir von ihr hörten kurz<br />
vor dem Hinscheiden waren die des 23te[n]<br />
Ps[a]l[m]: Und ob ich schon wanderte usw.<br />
Von dieser Zeit an war meine Jugend eine<br />
schwere da nämlich eine ältere Schwester sich<br />
einen geschäftlichen Beruf u[nd] eine jüngere<br />
Schwester damals sehr kränklich, so lag das<br />
Gewicht des großen Haushaltes fast allein auf<br />
meinen Schultern, ich erfuhr aber in dieser<br />
schweren Zeit oftmals in besonderer Weise die<br />
Hülfe des Herrn u[nd] dadurch wurde ich näher<br />
gezogen. Zwei Jahre später ging auch meine<br />
1[iebe] Großmutter heim wonach sie sich so<br />
lange gesehnt; nachdem sie noch die Freude erlebt<br />
hatte daß der Herr eine 1[iebe] neue Mutter<br />
ins Haus führte. Im Jahre 1879 hatten wir<br />
neue Heimsuchungen u[nd] wohl der schwersten<br />
Art. 6 Geschwister erkrankten nacheinander<br />
am Typhus worunter ich diejenige war die<br />
am schwersten krank war. Eines derselben ein<br />
herzensliebes Schwesterchen ging selig heim;<br />
ich jedoch wofür menschlich geredet keine<br />
Hoffnung auf Besserwerden war genaß noch<br />
einmal. Die Krankheit ist ein besonderes Liebesseil<br />
gewesen wodurch mich der Herr ganz<br />
zu sich zog u[nd] mit der wiederkehrenden<br />
körperlichen Kraft wurde der Wunsch dem<br />
Herrn treuer zu dienen wie bisher in mir lebendiger.<br />
Als nun am 31ten Okt[o]b[e]r desselbigen<br />
Jahres mein jetziger 1[ieber] Bräut[igam]<br />
mir seine Hand antrug ihm zu folgen in die<br />
Wüste konnte ich durch Gottes Gnade am dritten<br />
November ja sagen nachdem mich u[nd]<br />
die 1[ieben] Eltern der Herr deutlich darauf<br />
hinwies daß es sein Wille sei.<br />
46<br />
Agnes Pabst, geb. Neumann<br />
Auch heute am Tage des Abschieds aus<br />
dem 1[ieben] Elternhause u[nd] Missionshaus<br />
darf ich dem Herrn danken für seine w<strong>und</strong>erbaren<br />
Führungen: Ihm sei die Ehre!<br />
Barmen d[en] 10.10.79.<br />
Agnes Neumann heiratete am 17. Dezember<br />
1880 den ehemaligen Schuhmacher Heinrich<br />
Pabst (1847–1917) aus Biebernheim bei<br />
St. Goar. Pabst war unter anderem in der Missionierung<br />
der Bastards54 in Südwestafrika<br />
tätig. Seit 1878 war er als Missionar im Namaland<br />
stationiert, zunächst in Grootfontein (bei<br />
Bethanien) <strong>und</strong> Warmbad, ab 1885 in Rietfontein,<br />
am Rand der Kalahari, bereits auf britischem<br />
Gebiet gelegen. Das Paar hatte acht<br />
Kinder: Toni (* 1881), Heinrich (* 1882), Wilhelm<br />
(* 1884), Johannes (* 1886), Agnes (*<br />
1887), Margarete (* 1889), Heinrich (* 1890)<br />
(?) <strong>und</strong> Otto (* 1896). Anna Pabst, geb. Neumann,<br />
starb am 20. Juni 189655 im Hospital<br />
von Stellenbosch im Kindbett. Heinrich Pabst<br />
heiratete 1899 Caroline Saure (1864–1902)<br />
aus Düsseldorf. 1913 kehrte er nach Deutschland<br />
zurück. Er starb am 21. Juli 1917 im Missionarsheim<br />
in Borken bei Kassel.
Ludwig Heine (1855–1884)<br />
Ludwig Heine [Notiz:] Postbeamter Gemeinschaft<br />
Jünglingsverein<br />
Am 22. März 1855 wurde ich zu Elberfeld<br />
als Sohn der Eheleute Seilermacher Ludwig<br />
Heine <strong>und</strong> Friedericke, geb. Schneider geboren.<br />
Mein Vater wurde bereits am 13. März<br />
1856 aus diesem Leben abgerufen, <strong>und</strong> meine<br />
Mutter verehelichte sich im Jahre 1858 zum<br />
zweiten Male mit dem Spezereiwarenhändler 56<br />
Wilhelm Freyer zu Elberfeld. Von meinem siebenten<br />
Jahre ab besuchte ich die Elementarschule<br />
<strong>und</strong> seit dem zwölften Jahre den Religionsunterricht<br />
bei Herrn Pastor Lichtenstein 57 in<br />
Elberfeld. Da mein Stiefvater auch am 14.<br />
April 1866 gestorben war, <strong>und</strong> meine Mutter<br />
sich <strong>und</strong> ihre Kinder mit Näharbeiten durchbringen<br />
mußte, so wurde es nöthig, daß ich seit<br />
November 1867 als Bureau gehülfe bei Herrn<br />
Adv[okat] Anwalt Neuhaus in Elberfeld Arbeit<br />
<strong>und</strong> Verdienst suchte. Bis zu meiner Confirmation<br />
– am 7. März 1869 – geschah dies<br />
während der Nachmittage, wobei ich Vormittags<br />
noch die Schule besuchte. Bei Herrn Neuhaus<br />
arbeitete ich bis zum Januar 1873. Von da<br />
ab trat ich durch Vermittlung eines Verwandten<br />
in den Dienst der Kaiserl[ichen] Telegraphen-<br />
Station zu Straßburg i[m] Els[ass]. Gelegentlich<br />
der Verschmelzung der Bezirks-Verwaltungen<br />
von Post <strong>und</strong> Telegraphie wurde ich<br />
Anfangs 1876 der Kaiserl[ich] Ober[en] Post.<br />
Direction zu Metz überwiesen. An beiden Orten<br />
fand ich meine Beschäftigung in der Depeschen-Registratur<br />
<strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen<br />
Revisions-Arbeiten. Meine Stellung in Metz<br />
verließ ich Ende September 1876 <strong>und</strong> trat am<br />
7. des folgenden Monats in die Missions-Vorschule<br />
ein. – In Bezug auf die Militairpflicht<br />
hat die Sache bei mir sich derartig gestaltet,<br />
daß ich nach zweimaliger Zurückstellung im<br />
Früh-Jahr 1877 wegen Hornhautflecken 58 zur<br />
Ersatzreserve II. Klasse 59 geschrieben wurde.<br />
Was die Entwicklung des inneren Lebens<br />
betrifft, so habe ich Folgendes anzugeben:<br />
Schon in die Zeit des Knabenalters fallen einzelne<br />
Eindrücke der Wirkungen des Geistes<br />
Gottes. Indeß im Großen <strong>und</strong> Ganzen ließ die<br />
Erziehung des Elternhauses, der Unterricht <strong>und</strong><br />
die Confirmation kaum etwas Anderes als einen<br />
dem Guten wenigstens durch Vorsätze zugewandten,<br />
aber auch für das Böse empfänglichen<br />
Sinn zurück. Eine tiefer gehende Anregung<br />
fand statt im Herbste 1870 durch eine<br />
Predigt des seligen Herrn Pastor Rinck 60 . Mein<br />
Gewissen regte sich <strong>und</strong> ich trachtete nach der<br />
Gerechtigkeit aus dem Gesetz. Es verliefen<br />
nun drei Jahre des inneren Kampfes. Es stritten<br />
um die Herrschaft einestheils eine peinliche<br />
Genauigkeit im Wandel, oder vielmehr das<br />
Trachten darnach, <strong>und</strong> anderen theils eine völlige<br />
Gleichgültigkeit. Während dieser Zeit war<br />
ich ein unglücklicher Mensch. Meine Uebersiedelung<br />
nach Straßburg geschah mit der<br />
Hoffnung <strong>und</strong> dem Wunsche, daß der Herr<br />
mich Frieden finden lasse. Aber mein Suchen<br />
war noch nicht das Rechte. Erst mußte ich dahin<br />
kommen, mich ohne alles eigene Können<br />
dem Heiland in die Gnadenarme zu werfen.<br />
Endlich konnte ich glauben, daß Jesus auch<br />
mein Heiland sei. Durch Anfechtungen, Zweifel,<br />
Mängel <strong>und</strong> Gebrechen ging der Weg weiter,<br />
aber der Herr half in Gnaden hindurch. Es<br />
wurde mir dabei die Evangelische Gemeinschaft<br />
in Straßburg, der ich mich angeschlossen<br />
hatte, zum Segen. Auch die Jünglings -Vereins<br />
61 - <strong>und</strong> Sonntagsschul-Sache half mir auf<br />
meinem Wege voran. – Durch das Bekanntwerden<br />
mit Missionsfre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> der Sache des<br />
Reiches Gottes unter den Heiden wurde in mir<br />
der Wunsch rege, in den Missionsdienst einzutreten.<br />
Als meine äußeren Verhältnisse es möglich<br />
machten – meine Mutter, die meiner Unterstützung<br />
bedurfte, wurde am 5. März 1876<br />
vom Herrn nach diesem Leben abgerufen –,<br />
meldete ich mich behufs Aufnahme in das Missionshaus<br />
zu Barmen. Gott erhörte mein Gebet,<br />
die Rheinische Missionsgesellschaft erfüllte<br />
meine Bitte <strong>und</strong> ließ mich im Herbste 1876 in<br />
ihre Vorschule ein treten. Seitdem habe ich die<br />
Ausbildung in hiesiger Anstalt genossen. Jahre<br />
der Weiterbildung waren es in reichem Maße<br />
nach Innen <strong>und</strong> Außen. Die Segensströme der<br />
Gnade unseres Gottes, väterliche Liebe seitens<br />
meiner geschätzten Lehrer <strong>und</strong> herz liche Gemeinschaft<br />
im Bruderkreise durfte ich genießen.<br />
Gebe der Herr, daß die Erfahrungen,<br />
die ich hier gemacht, nicht vergeblich sein mö-<br />
47
Ludwig Heine<br />
gen. In der Selbsterkenntnis durfte ich wachsen,<br />
aber auch einen volleren <strong>und</strong> besseren Einblick<br />
in die Schätze des Heils <strong>und</strong> der Gnade<br />
erlangen. Als einen großen Vorzug betrachte<br />
ich es, daß ich in <strong>und</strong> durch das Missionshaus<br />
gehen durfte. – Am 10. August d[ieses] J[ahres]<br />
wurde ich ordinirt <strong>und</strong> einige Zeit darnach<br />
bestimmt, als Missionar nach Borneo zu gehen.<br />
Die letzten Wochen haben noch mancher lei<br />
(betrübende <strong>und</strong> erfreuliche) Erfahrungen gebracht,<br />
doch der Herr war nahe. Ja bei einem<br />
Gesammtblick über mein Leben darf ich sagen:<br />
Der Herr hat mich fre<strong>und</strong>lich geleitet, Ihm sei<br />
Dank <strong>und</strong> Preis! Zum Schlusse befehle ich<br />
mich auch weiter hin der liebevollen Führung<br />
meines Herrn; meine Bitte ist, daß Er mir zu<br />
völligem Glaubensgehorsam helfe <strong>und</strong> die<br />
Gewiß heit schenke, daß meine ferneren Wege<br />
solche sind, die Er mich leitet.<br />
Der Herr ist mein Hirte. 62<br />
Missionshaus Barmen, den 13. Oktober<br />
1881.<br />
48<br />
Ludwig Heine wurde 1881 nach Borneo<br />
ausgesandt <strong>und</strong> war dort zunächst als Missionar<br />
auf der Station Kuala Kapuas tätig. Bereits<br />
während seiner Ausbildung im Barmer Missionshaus<br />
litt er an einem „nicht unbedenklichen<br />
Brustleiden“ 63 , das sich nach einer Operation<br />
jedoch besserte. Heine bestand das Examen<br />
mit Bravour, <strong>und</strong> man entschied sich, ihn trotz<br />
seiner schwachen Ges<strong>und</strong>heit nach Indonesien<br />
zu senden, da „gerade Borneo mit seinem<br />
feuchten warmen Klima für ihn heilsam“ 64 sein<br />
würde. Schon nach kurzem Aufenthalt auf der<br />
Missionsstation kehrte Heines Krankheit (offensichtlich<br />
Tuberkulose) zurück. Nach erfolglosen<br />
Behandlungsversuchen in Bandjermasin<br />
<strong>und</strong> auf Mandomai rieten Ärzte zu einer Luftveränderung.<br />
Anfang 1884 reiste Heine nach<br />
Java, wo er im Seminar von Depok aufgenommen<br />
wurde. Da sich keine Besserung zeigte,<br />
schiffte sich Heine am 29. Mai nach Europa<br />
ein, doch erlitt er am 14. Juni einen schweren<br />
Blutsturz. Ludwig Heine starb am 16. Juni<br />
1884 auf dem Indischen Ozean.<br />
Missionare <strong>und</strong> Missionarsfrauen aus Barmen<br />
Johann Friedrich Becker (1811–1849)<br />
Beckers Lebensgeschichte [es handelt sich<br />
um Johannes Friedrich Becker, der seinen Lebensbericht<br />
auf Auffor derung von Inspektor<br />
von Rohden an diesen aus Borneo schickte,<br />
<strong>und</strong> zwar in Form eines Briefes]<br />
Palingkau, den [Datum nicht mehr erkennbar]<br />
Sehr geschätzter Herr von Rohden! 65<br />
In Ihrem werthen Schreiben vom Monat<br />
Feb[ruar] vorigen Jahres haben [Wort nicht<br />
mehr erkennbar] ersucht, Ihnen unsre Le -<br />
bensbeschrei bung zusenden zu wollen, – <strong>und</strong><br />
damit wir auf keine Einwen dungen <strong>und</strong> Ausflüchte<br />
sinnen möchten, sind Sie selbst uns in<br />
dieser Sache mit gutem Beispiel vorangegangen.<br />
Ich will mich denn auch gerne bereit zeigen,<br />
Ihren Wunsch zu erfüllen <strong>und</strong> Ihnen hier<br />
einige Bemerkungen über mein armes (um<br />
nicht mit Herder zu sagen: verfehltes) Leben
mitzutheilen. Nehme ich hiebei Ihre eigene Lebensbeschrei<br />
bung, die, wie ansprechend, <strong>und</strong>,<br />
das fühlt man, der Wahr heit gemäß auch, nur<br />
eine Quartseite beschlägt: so bin ich schnell<br />
mit dieser Arbeit fertig, was mir um so lieber<br />
ist, da ein längeres Stehenbleiben bei einigen<br />
einzelnen Ereignissen meines Lebens mein Inneres<br />
in keine geringen Bewegung <strong>und</strong> Wallung<br />
bringen <strong>und</strong> mir auch manche schöne<br />
St<strong>und</strong>e Zeit rauben möchte. Mit dem Anfange<br />
also fange ich an.<br />
Wurde geboren auf dem Loh in der Nähe<br />
des jetzigen Rh[einischen] Missionshauses, im<br />
Jahr 1811 den 4. April. Mein Vater, ein Bleicher,<br />
hieß wie sein ältester Sohn, J[ohann]<br />
F[riedrich] Becker (oder eigentlich Bäcker),<br />
<strong>und</strong> meine fromme Mutter, mit ihrem Jungfrauennamen,<br />
Maria von Hemd[?]. Auf dem<br />
Loh wohnten meine Eltern nur kurze Zeit; ich<br />
war noch kein Jahr alt, so verzogen sie nach<br />
Riescheidt, einem kleinen Weiler eine halbe<br />
St<strong>und</strong>e seitwärts von Gemarke; hier aber blieben<br />
wir wohnen, bis zum Tode meines Vaters,<br />
welcher erfolgte im Jahre 1826. Meine Mutter<br />
war schon 9 Jahre früher in die Ewigkeit abgerufen<br />
worden, was für meinen Vater mit seinen<br />
3 kleinen Kindern ein herber Verlust war. Ihr<br />
Ende soll sehr erbaulich gewesen sein, wie ich<br />
mich auch selbst noch ziemlich deutlich zu erinnern<br />
weiß. Bis zu ihrem letzten Athemzuge<br />
behielt sie ihren vollen Verstand, sprach, so<br />
laut sie konnte, von dem Vorgeschmack der Seligkeit,<br />
die sie bereits, wie sie erklärte, im Angesicht<br />
des Todes empfinde, <strong>und</strong> als sie endlich<br />
scheiden wollte: so ermahnte sie alle Umstehenden,<br />
nicht über sie zu weinen, sondern sich<br />
vielmehr mit ihr zu freuen, denn sie sehe schon<br />
die Engel Gottes in der Ecke des Zimmers bereitstehen,<br />
sie abzuholen zu ihrem Heilande.<br />
Ihr Sterben machte einen tiefen Eindruck auf<br />
mich, <strong>und</strong> dieser Eindruck wurde nie ganz wieder<br />
aus meinem Gemüthe verwischt. Wenn ich<br />
später oft als Knabe draußen im Felde einsam<br />
umherging: so erhoben sich meine Augen unwillkührlich<br />
gen Himmel, während ich dabei in<br />
meinem Herzen [Wort nicht mehr erkennbar]<br />
<strong>und</strong> sprach: Dort oben ist meine liebe selige<br />
Mutter, möchte ich doch bei ihr sein, <strong>und</strong> Thränen<br />
der Wehmuth <strong>und</strong> Sehnsucht rollten in<br />
demselben Augenblicke über meine Wangen. –<br />
Acht Jahre lang hielt mich mein Vater strenge<br />
zur Schule; doch brachte ich es in den gewöhnlichen<br />
Elementarkenntnissen nur zu einer mittelmäßigen<br />
Fertigkeit. Mit dem Französischen<br />
hatte ich kaum den Anfang gemacht, als mein<br />
Vater, nach einer 5tägigen Krankheit, plötzlich<br />
zu sterben kam. Sein Plan, mich studiren zu<br />
lassen, konnte jetzt nicht in Aus führung gebracht<br />
werden, was mir damals auch wenig<br />
Kummer verursachte, da meine Lust zum Studiren<br />
sehr geringe war. Bei meiner Confirmation,<br />
die noch kurz vor dem Tode meines Vaters<br />
Statt fand, wurde ich durch die herzlichen<br />
Ermah nungen des theuern Pastor Dr. Gräber 66<br />
tief ergriffen, <strong>und</strong> ich faßte unter vielen Thränen<br />
den ernsten Vorsatz, mich ganz dem Herrn<br />
ergeben <strong>und</strong> in Zeit <strong>und</strong> Ewigkeit sein Eigen -<br />
thum sein zu wollen. Doch lange währte diese<br />
ernste Stim mung nicht; jugendlicher Leichtsinn<br />
bekam bald wieder die Oberhand bei mir,<br />
<strong>und</strong> riß mich zu allerlei Thorheiten <strong>und</strong> Sünden<br />
fort, – <strong>und</strong> als ich ein halbes Jahr später nach<br />
Elberfeld zu einem Riethmacher, Friedrichs, in<br />
die Lehre kam, in dessen Hause nicht die geringste<br />
Gottesfurcht herrschte: so kam ich mit<br />
schnellen Schritten immer weiter <strong>und</strong> weiter ab<br />
vom rechten Ziel, <strong>und</strong> machte mir zuletzt gar<br />
meine eigenen Gr<strong>und</strong>sätze, nach denen ich leben<br />
<strong>und</strong> handeln wollte; oder bekannte mich<br />
vielmehr entschieden zu den all gemeinen<br />
Gr<strong>und</strong>sätzen der Welt, indem ich bei mir selbst<br />
dachte, die große Mehrzahl muß es doch wohl<br />
am besten wissen, mit ihr will ich es halten,<br />
<strong>und</strong> mir nicht durch die Paar frommen Kopfhänger<br />
das Konzept verrücken lassen In dieser<br />
Gesinnung verlebte ich zwei volle Jahre; dann<br />
aber hieß es: „Bis hieher <strong>und</strong> nicht weiter.“<br />
Eine Predigt von Pastor Niethmann über den<br />
verlorenen Sohn brachte mich zur Be sinnung,<br />
<strong>und</strong> obschon es bei mir noch nicht gleich zu einer<br />
gründlichen Bekehrung kam: so hatte ich<br />
doch keinen Gefallen mehr an meinem bisherigen<br />
Leben, nahm oft im Gebete meine Zuflucht<br />
zu Gott, bekannte meine Sünden, <strong>und</strong> suchte<br />
Gnade. Auch ging ich von da an fleißig zur<br />
Kirche, schloß mich später an den Jünglingsverein<br />
67 an <strong>und</strong> besuchte die Versamm lung des<br />
sel[igen] Vater Diederich, auf welche Weise<br />
49
ich dann mehr <strong>und</strong> mehr mit den christlichen<br />
Wahrheiten bekannt <strong>und</strong> darin befestiget<br />
wurde. In dieser Zeit entstand auch das Verlangen<br />
in mir, Missionar zu werden, um den Heiden<br />
das Evangelium bringen zu können. Mein<br />
Umgang mit einigen der damaligen Missions-<br />
Zöglinge, namentlich Wachtendonk 68 <strong>und</strong> Terlinden<br />
69 , bestärkte dies Verlangen, <strong>und</strong> als ich<br />
nun eines Tages nach Gemarke kam: so wagte<br />
ich es, nach vorhergegangenem langen <strong>und</strong><br />
heftigen Streite mit mir selbst, Pastor Gräber<br />
zu besuchen, <strong>und</strong> ihm mein Inneres auszuschütten.<br />
Damit war ein Stein von meinem<br />
Herzen gefallen, <strong>und</strong> ich unterzog mich gerne<br />
der anempfohlenen Selbstprüfung. Bald darauf<br />
verließ ich das Riethmachergeschäft, <strong>und</strong> begab<br />
mich zu [?] Schul lehrer Mühlenweg auf<br />
dem Hatzfelde, um mich hier auf den Missionsberuf,<br />
oder auch, im Fall ich bei der bevorstehenden<br />
Aufnahme von Zöglingen fürs Missionshaus<br />
sollte abgewiesen werden, auf den<br />
Schuldienst vorzubereiten. Nachdem ich mehrere<br />
Monate bei [?] Mühl[enweg] zugebracht,<br />
wurde ich von [?] Wülfing zu Gemarke ersucht,<br />
als Lehrer-Gehülfe bei ihm einzutreten<br />
<strong>und</strong> seine dritte Klasse zu übernehmen, welches<br />
Anerbieten ich ohne Weiteres annahm. Es<br />
währte jetzt etwa noch ein starkes halbes Jahr,<br />
als die erwähnte Aufnahme von Miss[ions]-<br />
Zöglingen Statt fand, <strong>und</strong> ich war nicht wenig<br />
erstaunt, erfreut <strong>und</strong> beängstiget zugleich, als<br />
ich an einem Nachmittage in der Schule die<br />
Nachricht erhielt, daß ich mit unter der Zahl<br />
der Aufgenommenen sei. Im Juny 1831 traten<br />
wir, unsrer sechs, zur Diekerstraße ins Seminar<br />
ein, <strong>und</strong> mein Aufenthalt in demselben währte<br />
5 Jahre, bis zur Aussendung im Monate Mai<br />
1836. Dem Äußern nach gingen diese 5 Jahre<br />
ziemlich ruhig <strong>und</strong> angenehm für mich dahin,<br />
im Inneren aber hatte ich manchen harten<br />
Kampf zu bestehen, wozu meine besondere,<br />
resp[ektive] reformirte 70 Ansichten von einigen<br />
Glaubenspunkten, die ofte ritterlich angegriffen<br />
wurden, viel mochten bei tragen, <strong>und</strong> ich<br />
darf wohl bekennen, daß ich einige Male auf<br />
dem Punkte stand, das Seminar zu verlassen.<br />
Das hatte der Herr nun zwar anders beschlossen;<br />
nachdem ich volle 5 Jahre also in der Esse<br />
gewesen, erging der Ruf an mich <strong>und</strong> zugleich<br />
50<br />
an zwei meiner Gefährten: Vaterland <strong>und</strong><br />
Fre<strong>und</strong>schaft zu verlassen, <strong>und</strong> hinauszugehen<br />
an die Enden der Erde, den Namen des Herrn<br />
zu predigen. Damit war nun zwar aller Anfechtung<br />
<strong>und</strong> Noth noch keine Grenze gesetzt, im<br />
Gegentheil ging es jetzt erst recht aus einer<br />
Esse in die andere, die eine noch heißer als die<br />
andere, <strong>und</strong> Gott gebe nur, daß nicht etwa die<br />
heißeste mir noch bevor stehe. Kaum waren wir<br />
der heimathlichen Erde entflohen, <strong>und</strong> eilten<br />
mit vollen Segeln unserem Bestimmungsorte<br />
ent gegen, so stellten plötzlich neue Hindernisse<br />
sich in den Weg; der Wind der uns die ersten<br />
Tage so schnell von dannen geführt,<br />
sprang unerwartet nach der entgegen gesetzten<br />
Himmelsgegend, <strong>und</strong> warf uns 14 Tage lang im<br />
Engl[ischen] Kanal 71 von einer Seite auf die<br />
andere, <strong>und</strong> eines Morgens fehlte sogar nicht<br />
viel: so hätten wir schon an der Franz[ösischen]<br />
Küste unser Schiff <strong>und</strong> somit vielleicht<br />
auch unser Leben verloren. Aber wie im<br />
Äußern die Elemente sich gegen uns verschworen<br />
zu haben schienen, <strong>und</strong> uns in kein<br />
klein Gedränge brachten, so hieß es auch in<br />
meinem Innern: Wind, Regen stürmen auf<br />
mich zu, mein matter Geist find’ nirgends<br />
Ruh’.“ Wäre ich in diesen trüben Tagen, wo die<br />
miserabele Seekrankheit mich ganz melancholisch,<br />
miß muthig, ja lebenssatt gemacht, ans<br />
Land gekommen: so fürchte ich, hätte ich mit<br />
Moses ausgerufen: ,,Herr, sende, wen du<br />
willst.“ 72 Doch dieß Alles war nur erst ein kleines<br />
Vorspiel; das eigentliche Examen nahm<br />
beim Cap der guten Hoffnung seinen Anfang,<br />
<strong>und</strong> währte, mit wenigen Unterbrechungen, einen<br />
ganzen langen Monat. 13 Reisen, sagte unser<br />
Kapitän, habe er nach Indien gemacht, aber<br />
noch keine wie diese. Mehrere Male erging es<br />
uns buch stäblich nach den Worten Pauli: ,,Und<br />
ließen das Gefäß (die Segel) herunter, <strong>und</strong><br />
schwebten also.“ 73 Da taumelten wir, wie die<br />
Trunkenen; konnten weder liegen, sitzen noch<br />
stehen, ohne uns aus aller Macht fest zu halten,<br />
<strong>und</strong> mitunter, wenn unsre krachende Wohnung<br />
völlig auf der Seite lag, <strong>und</strong> die mächtigen Wogen<br />
brausend über uns hinrollten: so wollte es<br />
nicht wenig den Anschein für uns gewinnen,<br />
als wollte der Abgr<strong>und</strong> uns lebendig verschlingen.<br />
Aber auch diese Noth ging glücklich vor -
über, <strong>und</strong> wir landeten den 19. Sept[ember]<br />
1836 wohlbehalten zu Batavia. 74 -<br />
Seitdem sind nun wieder 11 oder beinah 12<br />
Jahre dahin geschw<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> wollte ich Ihnen<br />
all mein Wiederfahren in diesem Zeitraume<br />
umständlich beschreiben: so fürchte ich,<br />
würde, wenn auch nicht grade Ihr Archiv mit<br />
lesens werthen Folianten angefüllt, so doch<br />
eine kleine Zahl meiner noch etwa rückständigen<br />
Lebenstage mit lästiger <strong>und</strong> wohl auch<br />
unnützer Arbeit beladen werden. Meine eingesandten<br />
Tagebuch-Auszüge <strong>und</strong> Briefe enthalten<br />
jedoch auch schon das Hauptsäch lichste<br />
meiner bisherigen Erfahrungen, <strong>und</strong> haben sich<br />
auch, wie Sie mit Recht voraussetzen, meine<br />
Ansichten über das Eine <strong>und</strong> Andere im Laufe<br />
der Zeit verändert: so muß ich dabei doch zugleich<br />
bekennen, daß ich im Allgemeinen bei<br />
ähnlichen Vorkommenheiten, wie die verlebten,<br />
nicht wohl wüßte, wie anders zu urtheilen<br />
<strong>und</strong> zu handelen, gleich geschehen. Ich bin<br />
mir, was meine Wirksamkeit anbetrifft, im<br />
Ganzen bewußt, daß ich alles, was ich gethan,<br />
im Aufsehen auf den Herrn <strong>und</strong> in guter, d[as]<br />
h[eißt] wohlgemeinten Absicht gethan habe;<br />
daß aber dabei dennoch Manches verkehrt war<br />
<strong>und</strong> verkehrt abgelaufen ist, sehe ich von hinten<br />
nach nur zu deutlich ein. Dessen ungeachtet<br />
hat der barmherzige Gott sich in Gnaden zu<br />
mir bekannt, mir in aller Angst <strong>und</strong> Noth treu<br />
zur Seite gestanden <strong>und</strong> mich auch da, wo,<br />
wenn nicht immer mein eigener, so doch meiner<br />
Wirksamkeit Untergang fest beschlossen<br />
zu sein schien, seine Hülfe mächtiglich lassen<br />
erfahren. Übrigens glaube ich auch, was meine<br />
Person anbe trifft, nicht grade anmaßend zu<br />
handelen, wenn ich einige von Pauli Worten zu<br />
den meinigen mache, <strong>und</strong> spreche: „Ich bin oft<br />
in Gefahr gewesen auf den Flüssen, in Gefahr<br />
unter den Mördern, in Gefahr in den Städten, in<br />
Gefahr in der Wüste, in Gefahr auf dem<br />
Meere.“ 75 Aber noch immer stehe ich wenn<br />
auch als halber Invalide, auf dem Plane, trete,<br />
gestützt auf Gottes Verheißungen, aller Gefahr<br />
<strong>und</strong> allen meinen [Wort nicht mehr erkennbar]<br />
Tücken getrost unter die Augen, <strong>und</strong> bleibe,<br />
trotz aller noch immer hier häufig [?Statt finden]den<br />
heidnischen Greuel, trotz alles abgeschmackten<br />
Aberglaubens, <strong>und</strong> trotz aller<br />
[Wort nicht mehr erkennbar], Teufel <strong>und</strong><br />
schändlichen, lüderlichen [?], die schlimmsten<br />
aller unserer sichtbaren [Wort nicht mehr erkennbar],<br />
der guten Zuver sicht, daß die Hand<br />
des Herrn endlich herrlich siegen, <strong>und</strong> Er auch<br />
dies tief gesunkene Volk der Dajacken 76 , sich<br />
zum Raube nehmen wird. Noch vor einigen Tagen<br />
erklärte mir ein Dajacke aus unserm Kamponge<br />
77 , daß es mit ihren Festen <strong>und</strong> ihren Sitten<br />
<strong>und</strong> Gebräuchen bald würde geschehen<br />
sein; denn unsre Schüler (<strong>und</strong> deren Anzahl beträgt<br />
gegenwärtig gegen 350) würden später<br />
von all diesen Sachen nichts mehr wissen<br />
wollen; ein Beispiel, fügte er hinzu, sei<br />
Nik[olaus?] Tomogong; Niemand auf ganz<br />
Poe lo petak habe früher so viele [Wort nicht<br />
mehr erkennbar] geopfert <strong>und</strong> so viele Feste<br />
gemacht, wie gerade er, <strong>und</strong> nun, nachdem er<br />
unterrichtet <strong>und</strong> getauft sei, habe dieses Alles<br />
ein Ende.<br />
Erlauben Sie mir, hier für dießmal abzubrechen.<br />
Sollten Sie <strong>und</strong> die geehrte Deputation[?]<br />
nach Empfang dieser Zeilen, noch immer der<br />
Ansicht bleiben, daß ich einen ausführlichen<br />
[Wort nicht mehr erkennbar] über meinen Auffenthalt<br />
in Indien ausfertigen möge: so will ich,<br />
wenn die neuen [Wort nicht mehr erkennbar]<br />
hier sind, <strong>und</strong> ich mehr Zeit bekomme, zusehen,<br />
was ich thun kann. Viel [?] [Wort nicht<br />
mehr erkennbar] wäre es mir, Sie machten dort<br />
nach den eingegangenen Briefen <strong>und</strong> Tagebüchern<br />
[Wort nicht mehr erkennbar] auch<br />
noch mit aus dem Gr<strong>und</strong>e, weil mir das Schreiben<br />
gar nicht schnell von [der Hand?] geht. Lesen<br />
wir auch, wenigstens in der letzten Zeit, wo<br />
uns Kirchenzeitung [?<strong>und</strong> son]stige Schriften,<br />
dieß sei hier dankbar aner kannt, reichlich aus<br />
dem Vaterlande gesandt werden, wieder Manches<br />
in deutscher Sprache: so bleibt doch immer<br />
unsre [Spra?]che das Dajacksche. Deutsch<br />
Sprechen kommt in unserem Hause nur dann<br />
vor [im?] [Wort nicht mehr erkennbar] kreise<br />
holländisch, wenn grade Einer der Brüder auf<br />
einige St<strong>und</strong>en zu [Besuch da?] ist. -Erfreuen<br />
Sie uns oft durch solche ausführ liche Briefe,<br />
<strong>und</strong> wollen [Wort nicht mehr erkennbar] außerdem<br />
noch (wie Sie in Ihrem Briefe zu erkennen<br />
geben) durch Ausrich[tung von Bei?] trägen<br />
Ihnen verpflichten: so bitte ich Sie vor läufig<br />
51
Johann Friedrich Becker<br />
um eine gute Klavier[schule?] [Wort nicht<br />
mehr erkennbar] älteste Tochter Elise. Ist eine<br />
bessere <strong>und</strong> ausführlichere als die [vorige?]<br />
[her]ausgekommen, dann diese neuere.<br />
Empfangen Sie hiebei nebst Ihren mir zwar<br />
unbekannten, ver ehrten [Gattin?] [die?] herzlichsten<br />
Grüße<br />
Ihres geringen Fre<strong>und</strong>es J[ohann] F[ried -<br />
rich] Becker.<br />
Johann Friedrich Becker wurde 1836 nach<br />
Borneo ausgesandt <strong>und</strong> war bis 1840 in Bandjermasin<br />
als Missionar stationiert. Von 1840–<br />
49 war er Missionar auf der Station Palingkau.<br />
Gemeinsam mit Missionar August Hardeland<br />
(1814–1891) verfaßte er ein dajakisches Lesebuch<br />
<strong>und</strong> übersetzte das Neue Testament. 78 Bei<br />
seinen Bemühungen um die Missionierung der<br />
Dajaken griff Becker auf die Hilfe der holländischen<br />
Kolonialmacht zurück. So wurde ein<br />
missionsfeindlicher Häuptling abgesetzt <strong>und</strong><br />
der gesetzliche Sonntag eingeführt. 79 Becker<br />
war seit dem 13. November 1839 mit Maria<br />
52<br />
Brückner (Lebensdaten unbekannt) aus Samarang<br />
verheiratet. Das Paar hatte sieben Kinder,<br />
von denen vier das Säuglingsalter überlebten:<br />
Maria Elisabeth (1841–1849), Anna (*<br />
1843, verheiratet mit Carl v. Hoefen 80 ), Fritz (*<br />
1847) <strong>und</strong> Cornelius (* 1848). Becker starb am<br />
27. September 1849 in Bandjermasin. 81 Im<br />
Nachruf wurde er als „unser tüchtigster Arbeiter<br />
im Pulopetak auf Borneo“ bezeichnet. 82<br />
Henriette Beinecke, geb. Kannegießer<br />
(1818–1880)<br />
Henriette Kannegießer [verheiratet mit<br />
Friedrich Wilhelm Beinecke]<br />
Den 3 Januar 1818 wurde ich in Wupperfeld<br />
geboren das Geschäft meines Vaters war<br />
Mackler; er starb den 15 Nov[ember] 1832,<br />
hinterließ 9 Kinder, wovon 5 noch nicht confirmirt<br />
waren, da nun kein Vermögen vorhanden<br />
war, so nahm mein ältester Bruder uns zu sich<br />
der treulich an uns die älterliche Pflichten erwies.<br />
Meine Mutter starb den 25 Jan[uar] 1837.<br />
Confirmirt wurde ich von Herrn Pastor Heuser<br />
83 den 25 Ockt[ober] 1833 in Wupperfeld<br />
Kurz nach der Confirmation kam ich im Spezerei-Geschäft<br />
84 <strong>und</strong> Haushaltung. Nacheinige<br />
Jahre kam ich auf eine kurze Zeit zu meiner<br />
Schwester, in Elberfeld, wo ich eines Sonntags-Abends<br />
den Herrn Pastor Sander 85 pre -<br />
digen hörte über das Eine, was noth thut, wo -<br />
rinn er unter andern bemerkte, daß es nicht<br />
möglich sei ohne die neue Geburt ins Reich<br />
Gottes zu kommen. Er ließ das Lied singen:<br />
Eins ist noth ach Herr dies eine 86 u.s.w. Diese<br />
Predigt bewegte mich so, daß ich unter Thränen<br />
nach Hause ging; In dieser Bewegung <strong>und</strong><br />
Unruh meines Herzens wandte ich mich zu<br />
dem Heilande, wo Herr Pastor mir hin wies. Da<br />
nun mein sündlich <strong>und</strong> verdorbenes Herz mir<br />
immer mehr auf gedeckt wurde, so hatte ich am<br />
Geschäft keine Freude mehr, sondern suchte<br />
die Stille, was mir der Herr dann auch bald gewährte,<br />
indem ich aufgfefodert wurde eine<br />
Haushaltung zu übernehmen in der ich 2 Jahr<br />
thätig war; in dieser Zeit hörte ich den Herrn<br />
Pastor Sander predigen über den Text: Wenn<br />
meine Sünden gleich blutroth sollen sie doch
Schneeweiß werden 87 p p Diese Predigt vermehrte<br />
die Unruh meines Herzens so, daß ich<br />
weder Tag noch Nacht ruhe fand; in dieser Unruh<br />
meines Herzens konnt ich nur mit Jakob<br />
die Worte ausrufen Herr! ich lasse dich nicht<br />
du segnest mich denn! 88 In dieser Noth <strong>und</strong><br />
Verlegenheit ließ mich nun auch der treue Heiland<br />
nicht lange mehr stecken; sondern er<br />
wandte sein fre<strong>und</strong>lich Angesicht zu mir, unter<br />
den Worten Sei getrost mein Kind deine Sünden<br />
sind dir vergeben. 89 In dieser Freudigkeit<br />
meines Herzens mußte ich öft die Worte ausrufen:<br />
Wenn sie Jesu Liebe wüßten alle Menschen<br />
würden Christen p p Diese Sehnsucht<br />
auch andern die Liebe des Heilandes mitzutheilen<br />
wurde in mir so groß, daß mir mein Innerstes<br />
drängte, dem Herrn zu bitten, wenn er<br />
es nach seiner Weißheit zu lassen könne, mir<br />
doch in einen solchen Beruf zu setzen, worinnen<br />
ich nur für ihn wirken könne, auch diese<br />
Bitte erhörte der Herr, indem er mir den Weg<br />
bahnte, eine Kleinkinderschule zu beginnen,<br />
dieser Wirkungskreis aber brachte mein Herz<br />
nicht zur völligen Ruhe; sondern die Sehnsucht<br />
zu den armen Heiden wurde immer aerger in<br />
mir. Ich mußte mich aber mit den Worten zufriden<br />
geben: Was ich jetzt thue das siehest du,<br />
waß ich aber hernach thue wirst du erfahren. 90<br />
Mit diesen Worten wirkte ich nu ruhig in meinem<br />
Berufe fort, mit der gewissen Zuversicht,<br />
wenn der Herr mir zu etwas Anderem gebrauchen<br />
wolle dann auch Wege bahnen würde; In<br />
diesem Vertrauen hat mich der Herr auch nicht<br />
zu schanden werden lassen, sondern er hat den<br />
Weg gebahnt, indem er mir den Missionar Beineke<br />
zu führte, der mich aufforderte mit ihm<br />
unter den armen Heiden zu wirken so lange es<br />
des Herrn Wille sei. Mit dieser gewissen Hoffnung,<br />
zu dem lebendigen Gott, der allein alle<br />
Thoren <strong>und</strong> Thüren zu seiner Zeit öfnen kann<br />
<strong>und</strong> will, wodurch wir gehen sollen, habe ich<br />
bis hieher geduldig warten können, <strong>und</strong> warte<br />
so lange bis derselbe sagt: Stehe auf, du hast einen<br />
großen Weg vor dir. 91 Wohl weiß ich es,<br />
aber noch mehr werde ich es erfahren, das der<br />
Weg nicht leicht sein wird; sondern ich bin gewiß,<br />
daß es nicht selten Tage geben wird, von<br />
denen ich sagen möchte sie gefallen mir nicht;<br />
aber im Hinblick auf den Herrn, wage ich mich<br />
getrost mit dem Petrus auf dem Meere92 , <strong>und</strong><br />
mit dem Beistande des dreieinigen Gottes gehe<br />
ich freudig alle Gefahren entgegen die meiner<br />
dort warten. Mein einziges Begehren, <strong>und</strong><br />
meine dringende Bitte ist nun daß dieser Weg<br />
nicht anders, als zu meiner <strong>und</strong> andern seelen<br />
Seeligkeit gereichen möge. Mit meiner Kraft<br />
<strong>und</strong> mit meinem Wissen würde ich freilich<br />
nicht weit kommen, aber die freudige Erfahrung<br />
habe ich machen dürfen, daß der Herr es<br />
den Aufrichtigen gewiß gelingen läßt, <strong>und</strong><br />
auch allezeit Weisheit <strong>und</strong> Verstand schenkt,<br />
wenn es uns nöthig ist. Der wolle mir nur die<br />
Freudigkeit erhalten, <strong>und</strong> das Volbringen mir<br />
schenken nach seiner großen Barmherzigkeit.<br />
Mit diesem innigen Wunsche, <strong>und</strong> herzlichen<br />
Gebete zu dem Herrn der allein helfen kann,<br />
helfen muß <strong>und</strong> helfen will, legt nu getrost die<br />
Feder nieder. –<br />
Henriette Kannegießer<br />
July 1848<br />
Henriette Kannegießer heiratete am 13.<br />
Februar 1849 den ehemaligen Kellner <strong>und</strong><br />
Krankenwärter Friedrich Wilhelm Beinecke<br />
(1813– 1877) aus Höntrup/Lippe. Beinecke<br />
war 1844 zuerst als Lehrer in die Kapregion<br />
gesandt worden, erst 1846 wurde er in den Verband<br />
der Gesellschaft aufgenommen. Beinecke<br />
war von 1845–58 in Amandelboom als Lehrer<br />
<strong>und</strong> Missionsgehilfe von Missionar Lutz93 tätig.<br />
Erst 1858 wurde er ordiniert <strong>und</strong> zum Leiter<br />
der Station Ebenezer berufen. Das Ehepaar<br />
hatte sechs Kinder, von denen nur vier ein<br />
höheres Alter erreichten: Maria (* 1850, verheiratet<br />
am Kap), Friedrich (* 1851), Wilhelm<br />
(* 1853) <strong>und</strong> Luise (* 1855). Beinecke verstarb<br />
unerwartet am 3. Februar 1877. Seine Frau<br />
Henriette starb drei Jahre später, am 9. Oktober<br />
1880, in Ebenezer.<br />
Emma Hofmeister, geb. Rau (1828–1859)<br />
Einige kurze Züge aus meinem Leben<br />
Emma Rau wurde geboren den 7. März<br />
1828. Mein Vater Georg Jacob Rau, u[nd]<br />
meine Mutter, Johanne Jacobine geb. Osterwind,<br />
ließen mich einen guten Unterricht ge-<br />
53
nießen. – Von meinem Leben ist nicht viel zu<br />
sagen, als das Eine große Wort: ,,Er hat mich<br />
zu sich gezogen aus lauter Güte-“ 94 ,,Er hat<br />
mich gesucht u[nd] gef<strong>und</strong>en.“ Schon in meiner<br />
Kindheit ging diese suchende Liebe des<br />
Herrn mir nach; ich hörte auch oft seine<br />
Stimme, plagte mich aber immer, wie ich doch<br />
recht fromm, ja ohne Sünde werden wolle, betete<br />
auch oft recht ernstlich, daß der Herr Jesus<br />
mich doch ja selig machen wolle. Die letzten<br />
Jahre vor meiner Confirmation ging ich wieder<br />
recht leichtsinnig u[nd] in die Welt verstrickt<br />
dahin. Der 23te April 1843 war m[ein] Confirmationstag.<br />
Den Vor bereitungs-Unterricht er -<br />
theilte d[er] sel[ige] Herr P[astor] Balke 95 . Der<br />
treue Herr faßte mich durch denselben wieder<br />
recht mächtig an, u[nd] jene Zeit war mir eine<br />
reich gesegnete. Der Herr führte mich nun von<br />
einer Klarheit zur andern, ließ mich einen<br />
Blick nach dem andern in d[as] tiefe Elend, in<br />
d[as] gänzliche Verderben meines Herzens<br />
thun, ließ mich aber auch zugleich erkennen<br />
ihn als meinen einigen Heiland u[nd] Erlöser,<br />
so daß ich immer mehr lernte: Aus Noth u[nd]<br />
Liebe zu ihm zu blicken. Oft, gar oft ist m[ein]<br />
Herz abgewichen von s[ei]n[en] Wegen, ist<br />
kalt u[nd] lau geworden gegen ihn – aber Er hat<br />
mich nicht gelassen, mich immer auf’s Neue<br />
wieder gesucht u[nd] mich keine Ruhe finden<br />
lassen als an s[ei]n[em] Herzen. Den 13ten<br />
Juni 1846 – 14ten Juni 1847 weilte ich in Wesel.<br />
Der Aufenthalt daselbst in einem dem<br />
Ev[angelium] feindlich gesinnten Hause diente<br />
viel zu meiner Befestigung u[nd] reichlich erfuhr<br />
ich d[ie] Güte meines Herrn. Im Frühjahr<br />
1848 folgte ich einem Rufe an d[as] Waisenhaus<br />
in Coblenz. Mit einem unaussprechlich<br />
frohen Herzen zog ich hin, d[en] Herrn preisend,<br />
daß er mir ein Plätzchen in s[eine]m<br />
Weinberge gegeben. Meine Zeit theilte ich<br />
theils in die Pflege u[nd] Beaufsichtigung d[er]<br />
Kinder, theils in d[ie] Besorgung d[es] Hauswesens;<br />
auch leitete ich eine Arbeitsschule.<br />
Ende Oct[o]b[e]r 1849 kehrte ich wieder hierher<br />
zurück, um meinen 1[ieben] Eltern eine<br />
Stütze zu sein, die d[er] Herr jetzt willig gemacht<br />
hat, mich in d[as] Arbeits feld d[er] Mission<br />
ziehen zu lassen. Ihm sei Dank dafür! Ein<br />
lang gehegter heißer Wunsch, den ich schon<br />
54<br />
Emma Hofmeister<br />
d[em] lieben sel[igen] Balke mitgetheilt hätte,<br />
wenn es nicht bei mir geheißen: Du taugst nicht<br />
zur Missionarin, wird damit erfüllt. Der Herr<br />
hat jetzt selbst Bahn gebrochen. Der 21 Juli 51<br />
ist d[er] Tag meiner Verlobung mit E[duard]<br />
Hofmeister, rh[einischer] Missionar u[nd]<br />
d[er] 17. Aug[ust] der Tag meiner Verheirathung<br />
mit demselben. Ich sehe es an als d[ie]<br />
herrlichste Offenbarung Gottes in meinem unscheinbaren<br />
Leben, daß er mich d[er] hohen<br />
Gnade würdigt, meine schwachen Kräfte ihm<br />
im Dienst d[er] Mission weihen zu dürfen,<br />
u[nd] hoffe, er werde mich auch fernerhin leiten<br />
nach s[eine]s Namens Wohlgefallen u[nd]<br />
helfen, daß ich ihm treu bleibe bis an d[as]<br />
Ende meiner Tage.<br />
Emma Hofmeister geb. Rau<br />
Barmen, d. 19 Aug. 1851<br />
Am Tage meiner Abreise nach Borneo<br />
Emma Rau heiratete am 17. August 1851<br />
den ehemaligen Seminaristen Ernst Eduard<br />
Hofmeister (1822–1859) aus Altenroda, der
von 1852–59 in Borneo als Missionar tätig<br />
war, zuerst in Bandjermasin <strong>und</strong> ab 1854 in<br />
Penda Alei am Kajahan-Fluß. Die dortige Station<br />
war 1845 wegen des Widerstandes eines<br />
lokalen Herrschers aufgegeben worden,<br />
konnte durch Hofmeister jedoch neu gegründet<br />
werden. Das Ehepaar hatte vier Kinder: Johanne<br />
(* 1852), Christian (* 1853), Ernst (*<br />
1857) <strong>und</strong> Maria (* 1859). Als es 1859 zu einem<br />
gewaltsamen Thronfolgestreit unter der<br />
Bevölkerung des Sultanats kam – die holländische<br />
Kolonialmacht hatte einen bestimmten<br />
Herrscher favorisiert – richtete sich der Zorn<br />
der Gegenpartei auch gegen die europäischen<br />
Missionare. Anfang Mai wurden drei Missionare<br />
in Tanggohan niedergemetzelt, Frauen<br />
<strong>und</strong> Kinder ebenfalls ermordet oder in die Gefangenschaft<br />
verschleppt 96 . Ernst Eduard Hofmeister<br />
<strong>und</strong> seine Frau Emma wurden am 9.<br />
Mai 1859 in Penda Alei ermordet 97 . Die vier<br />
Kinder wurden verschleppt, schließlich nach<br />
Bandjermasin ausgeliefert, wo sie von Fre<strong>und</strong>en<br />
aufgenommen wurden. „Und nun sind sie<br />
in Barmen unter guten Händen in einem bessern<br />
Vaterland.“ 98<br />
Friedrich Wilhelm Weber (1830–1904)<br />
Friedr[ich] Wilh[elm] Weber<br />
[Notiz:] Jünglingsverein Schmied u[nd]<br />
Magazinverwalter<br />
In Jesu Namen – Amen!<br />
Ich wurde am 11 Sept[em]b[e]r 1830 in<br />
Wichlinghausen geboren u[nd] am 4.<br />
Oct[o]b[e]r durch Herrn Pastor Sander 99 getauft.<br />
Mein Vater ist ein Bandwirker <strong>und</strong> heißt<br />
Johann Friedrich u[nd] meine Mutter heißt<br />
Christiane geb. Bockmühl. Beide Eltern hat<br />
mir der Herr bis jetzt ges<strong>und</strong> erhalten, wofür<br />
Sein Name gelobet sei. Nachdem ich das 4te<br />
Lebensjahr erreicht hatte, zogen meine Eltern<br />
u[nd] ich nach Warendorf b[ei] Münster, woselbst<br />
mein Vater als Werkführer in einer Bandfabrik<br />
engagirt wurde. Der Aufenthalt in Warendorf<br />
sollte jedoch nicht von langer Dauer<br />
sein, indem der Kaufmann, bei dem mein Vater<br />
war, fallirte <strong>und</strong> da sonst keine passende Arbeit<br />
für meinen Vater zu finden war u[nd] zudem,<br />
meine Großmutter W[it]we Bockmühl um<br />
diese Zeit gestorben war, so kehrten wir wieder<br />
in die Heimath zurück. – Unser erster Wohnsitz<br />
nach der Rückkehr aus W[arendorf] wurde in<br />
der Oede – Gemeinde Langerfeld – aufgeschlagen.<br />
Die guten Fortschritte, welche ich in der<br />
evangel[ischen] Schule zu Warendorf gemacht<br />
hatte wurden jetzt durch den weiten Schul weg,<br />
durch Krankheit <strong>und</strong> durch Armuth, vielfach<br />
wieder redu ziert; auch lernte ich manches Böse<br />
u[nd] hatte überhaupt die Neigung mich leicht<br />
zum Bösen verführen zu lassen, so daß oft das<br />
mütterliche, ernst ermahnende Wort keinen<br />
Eingang bei mir zu finden schien. Meine Mutter<br />
legte es von je her darauf an, mich in rechter<br />
u[nd] wahrer Gottesfurcht zu erziehen. –<br />
Als ich 10 Jahr alt war, zogen meine Eltern, ich<br />
u[nd] meine Ge schwister nach Heckinghausen<br />
in die Wupperfelder Gemeinde, wo ich alsdann<br />
unausgesetzt, abgerechnet der durch die<br />
Krankheit meiner Mutter versäumten Schulzeit,<br />
die Schule wieder besuchen konnte. Der<br />
Lehrer H[er]r Weber nahm sich meiner mit vieler<br />
Liebe an, was ich hier dankend erwähne. Im<br />
14 Jahre besuchte ich den Confirmanden Unterricht<br />
bei Herrn Pastor Heuser 100 , jedoch nur<br />
ein halbes Jahr lang, indem der H[er]r Pastor in<br />
dem Jahr wegen der durch den Tod des Herrn<br />
Pastor Feldhoff 101 eingetretenen Vacanz 2 Mal<br />
zu confirmiren hatte. Da ich zu gleicher Zeit in<br />
die Knopfabrik ging, so ging der Unterricht ja<br />
auch die Confirmation selber ohne besonderen<br />
Eindrücke an mir vorüber. In der Knopfabrik<br />
lernte ich manche Unarth, welche mir später<br />
sehr viel zu schaffen machte. Als ich 16 Jahre<br />
alt war trat ich auf Verwendung des vorhin genannten<br />
Lehrers bei Herrn C. L. Wesenfeld in<br />
den Dienst; zuerst als Handlanger in der<br />
Schmiede, danach als Handlanger auf’m<br />
Comptoir u[nd] zuletzt bekleidete ich b[ei]<br />
Herrn W[esenfeld] die Stelle eines Magazin-<br />
Verwalters im Magazin. – In meinem 17 Jahre<br />
wurde ich im Missions-Verein aufgenommen,<br />
u[nd] besuchte die 4wöchentlichen Versammlungen,<br />
welche b[ei] Frau Riese gehalten wurden<br />
regelmäßig; sie waren mir von Anfang an<br />
gesegnete St<strong>und</strong>en. Um diese Zeit u[nd] von da<br />
an wurde ich um das Heil meiner Seele sehr<br />
bekümmert u[nd] es ging auch etwas mit vor,<br />
55
allein es kam noch nicht zum Durchbruch<br />
u[nd] auch eben zu dieser Zeit fühlte ich einen<br />
großen Trieb zum Missionsdienste. Ich gedenke<br />
hier der 1[ieben] Br[üder], namentlich<br />
der Mitglieder des Missionsvereins, welche<br />
sich meiner mit vieler u[nd] warmer Liebe annahmen.<br />
Wie schon früher in meinem damals<br />
eingereichten Lebenslaufe vermerkt habe, so<br />
bleibe ich auch jetzt dabei, einen Zeitpunkt zu<br />
bestimmen, wo es auf einmal mit mir anders<br />
geworden wäre, kenne ich nicht, aber das weiß<br />
ich fest u[nd] glaub’s auch ohne Scheu, daß der<br />
Herr mein Heiland ist u[nd] daß ich in Seinem<br />
Blute die Vergebung meiner Sünden gef<strong>und</strong>en<br />
habe. – Doch zurück zum Missionsdienste. Ich<br />
bat den Herrn von meinem 19 Jahre an oft <strong>und</strong><br />
viel: Er möge mir doch in dieser wichtigen Sache<br />
Seinen heiligen Willen zu erkennen geben:<br />
ob ich zum Missionsdienste bestimmt sei oder<br />
nicht. Einige male war ich schon im Begriffe<br />
mich zu melden, aber aus Furcht schob’s ich<br />
noch immer auf, wie denn die Furcht d[er] Befangenheit<br />
überhaupt eine ziemlich große<br />
Rolle bei mir spielte. Doch endlich im Mai<br />
1853 reifte in mir der Entschluß, mich dem<br />
Missiondienste zu widmen u[nd] meldete mich<br />
zu dem Ende eines Abends beim H[errn] In -<br />
spector 102 an. Nach einer beinahe 11monatlichen<br />
Wartezeit wurde ich ins liebe Missionshaus<br />
aufgenommen. Die überschwenglichen<br />
Ideen u[nd] Hoffnungen, die ich vom Missionsleben<br />
hatte, mußten erst abgekühlt werden.<br />
– Wenn ich nun so auf die hier im Missionshaus<br />
verlebten 2 Jahre zurückblicke, u[nd] der<br />
Heilswege u[nd] Führungen meines Gottes gedenkend,<br />
Seiner Langmuth u[nd] Geduld, so<br />
muß ich unwillkührlich ausrufen: Herr ich bin<br />
viel zu gering aller Barmherzigkeit u[nd] Treue<br />
die du an mir Armen erwiesen hast. 103 Meinen<br />
lieben theuren Lehrern bin ich zu großem Dank<br />
verpflich tet für ihre Liebe u[nd] Nachsicht, die<br />
sie mit mir gehabt haben. – Der Herr vergelte<br />
es ihnen!<br />
So will ich denn fröhlich u[nd] getrost<br />
meine Straße ziehen u[nd] gerne Alles daran<br />
geben um des Herrn Willen, um zu dienen Seiner<br />
armen Welt.<br />
In Jesu Namen – Amen!<br />
Missionshaus in Barmen<br />
56<br />
Friedrich Wilhelm Weber<br />
geschrieben in der frühen Morgenst<strong>und</strong>e<br />
des Tages der Abreise nach Süd. Africa<br />
den 15. Mai 1856.<br />
Friedrich Wilhelm Weber wurde im Jahre<br />
1856 nach Südwestafrika ausgesandt <strong>und</strong><br />
wirkte dort bis zu seinem Tod auf verschiedenen<br />
Stationen. Bis 1860 war er auf der Station<br />
Berseba tätig, im gleichen Jahr wurde er ordiniert.<br />
Von 1860–65 war er Missionar in Gobabis,<br />
von 1867–80 in Warmbad, dann in der<br />
Kapkolonie in Tulbagh <strong>und</strong> Saron bis 1898, am<br />
Ende in Sarepta. Weber war seit dem 7. Mai<br />
1860 mit Julie Schäfer (1827–1904) aus Barmen<br />
verheiratet. Das Paar hatte sieben Kinder:<br />
Fritz (* 1861, Arzt), Maria (* 1862), Ferdinand<br />
(*1864), Johanne (* 1866), Julie (*<br />
1868), Caroline (* 1869) <strong>und</strong> Johann Georg (*<br />
1872). Friedrich Wilhelm Weber starb am 11.<br />
März 1904 in Sarepta an einem Herzschlag,<br />
kaum einen Monat nach dem Tod seiner Frau<br />
Julie am 14. Februar.<br />
Elisabeth Ködding, geb. von Rohden
(1847–1878)<br />
Elisabeth von Rohden. [verheiratet am 14.<br />
Januar 1874 mit Missionar Ködding]<br />
Geboren am 7. März 1847 in Barmen, wo<br />
mein 1[ieber] Vater Missionsinspector 104 ist,<br />
als die älteste von 7 Geschwistern. In meinem<br />
fünften Lebensjahr starb meine Mutter, so daß<br />
mein Vater mich auf einige Zeit nach Lübeck in<br />
das Haus seines Bruders brachte, wo mir von<br />
Seiten der Tanten viel herzliche Liebe zu Theil<br />
wurde. Dort besuchte ich eine Privatschule, trat<br />
alsdann, nach Barmen zuruckgekehrt, in die<br />
höhere Töchterschule zu Unterbarmen ein, die<br />
ich vom 7. bis zum 14. Jahre besuchte. Die<br />
häusliche Erziehung wurde durch eine zweite<br />
Mutter <strong>und</strong> den Vater geleitet, doch blieb ich<br />
bis zu meinem 15. Jahre ein unartiges, widerwilliges<br />
Mädchen, das den liebenden, theuren<br />
Eltern viel Noth <strong>und</strong> Herzweh bereitete. In der<br />
Schule dagegen erntete ich viel Lob von dem<br />
vortrefflichen Lehrer Herrn Holthausen, dem<br />
ich die Gr<strong>und</strong>lage meiner Bildung verdanke.<br />
Den Konfirmations unterricht ertheilte mir Herr<br />
Pastor Taube 105 , nachdem ich schon ein Jahr<br />
zuvor den Katechismusunterricht von Pastor<br />
Thümmel 106 genossen. Diese beiden Jahre sind<br />
mir zu großem Segen geworden, besonders da<br />
die häusliche Erziehung die aller beste zum<br />
Herrn <strong>und</strong> seinem Wort war. Außer der Eltern<br />
Vor bild zeigte sich mir das Christenthum in<br />
dem Wandel der beiden Hausgenossinnen, unserer<br />
gläubigen Magd Lenchen Rabanus aus<br />
Wichlinghausen <strong>und</strong> der 2. Tochter des<br />
Miss[ionars] Kleinschmidt 107 , Elisabeth, aus<br />
Afrika, die meiner Mutter im Haushalt eine<br />
gute Stütze war. Durch viel Zweifel <strong>und</strong> Widerstreben,<br />
durch Werke eigener Gerechtig keit<br />
wurde mir endlich die eigene Sünde offenbar,<br />
im Konfirmationsjahr 61, welches mir ein Jahr<br />
des Suchens <strong>und</strong> Wollens gewesen ist,<br />
schenkte mir der Herr am 19. Nov[ember] den<br />
Trost der Sündenvergebung, so daß ich fröhlich<br />
rühmen konnte: Mir ist Erbarmung widerfahren<br />
108 , Erbarmung, deren ich nicht werth.<br />
Von da an gestaltete sich auch, mein Ver hältniß<br />
als älteste Tochter besser. Nachdem ich mit<br />
vieler Freude die Nähst<strong>und</strong>en der Fr[äu]l[ein]<br />
Beierlein besucht, brachte mich der Papa ein<br />
Jahr zur Schwester meiner Mutter nach Celle,<br />
wo ich als jüngste unter 3 Cousinen <strong>und</strong> in dem<br />
geselligen Hause des Onkels w<strong>und</strong>erschöne<br />
Zeit verlebte, mich in häuslicher Arbeit sowie<br />
im Umgang mit Anderen etwas ausbildete. Der<br />
Tod meiner 2. Mutter fiel um diese schöne Zeit,<br />
doch durfte ich noch bis zur Abreise der 1[ieben]<br />
E. Kleinschmidt in Celle bleiben, die wieder<br />
zu ihren Eltern nach Afrika ging. Von<br />
Okt[o]b[e]r 62 bis jetzt fiel mir die Aufgabe zu,<br />
den Haushalt des Vaters zu führen, in Gemeinschaft<br />
mit der treuen vorgenannten Magd, die<br />
meine Herzensfre<strong>und</strong>in in Christo wurde. Nach<br />
ihrer Heirath half mir der Herr in Gnaden weiter,<br />
obwohl mir das Zusammenleben mit den<br />
beiden Töchtern des Miss[ionars] Zimmer 109<br />
aus Borneo zuerst viel Noth machte. Diese<br />
Jahre führten mich immer tiefer in die Erkenntniß<br />
meines bösen Herzens, so daß ich dem<br />
Herrn von Herzen danke für alles, was Er in<br />
Seiner Treue an mir gethan. Unser häusliches<br />
Leben gestaltete sich mit dem Heranwachsen<br />
der 1[ieben] Geschwister, durch die enge<br />
Verb<strong>und</strong>en heit mit dem Miss[ions]haus, durch<br />
die öfteren Besuche der Miss[ions]geschwister,<br />
durch die Pflege von Gemeinschaft <strong>und</strong><br />
Fre<strong>und</strong> schaft von Jahr zu Jahr schöner, das<br />
Haupt des Hauses der theure Papa, der warme<br />
Mittelpunkt die geistig frische Großmutter, die<br />
seit dem Tode ihrer Tochter bei uns wohnte <strong>und</strong><br />
die Pflege der jüngsten Geschwister übernommen<br />
hatte. Da nun die einzige Schwester auch<br />
herangewachsen ist, scheide ich um so leichteren<br />
Herzens von meinem theuern Vaterhause,<br />
da ich meinen Beruf nach Sumatra aus Gottes<br />
Hand annehmen darf. Schon[durchgestrichen?]<br />
im 16. Jahr sprach ich kindischer Weise<br />
den Wunsch aus, unter den Heiden wirken zu<br />
dürfen, ob wohl mir durchaus nichts vom Ernst<br />
dieses Berufs klar war. Der Herr hat mir<br />
während der 10 verflossenen Jahre alle<br />
falschen Ideale zerstört, bis ich gar nichts mehr<br />
vom Miss[ions]dienst wissen wollte, so offenbarte<br />
sich das Herz als trotziges <strong>und</strong> verzagtes<br />
Ding. Als Gottes Werk muß ich’s erkennen,<br />
daß ich mit voller Freude der Bitte des Br[uder]<br />
Ködding, seine Gehül fin zu werden, entsprechen<br />
kann. Der Herr wolle ferner mir helfen,<br />
wie Er bisher gethan <strong>und</strong> Gnade geben, daß ich<br />
57
Elisabeth Ködding, geb. von Rohden<br />
Ihn verherrliche in guten <strong>und</strong> bösen Tagen.<br />
Barmen, 15. Sept[ember] 1873.<br />
Elisabeth von Rohden heiratete am 14. Januar<br />
1874 den ehemaligen Fabrikarbeiter Wilhelm<br />
Ködding (1865–1897) aus H<strong>und</strong>shausen,<br />
der seit 1865 auf Nias als Missionar tätig war,<br />
zunächst in Gunung Sitoli <strong>und</strong> Fagulö. Von<br />
1870–1881 war er Missionar der Station Siboga<br />
auf Sumatra. Das Paar hatte drei Kinder:<br />
Heinrich (1874–1956, Pfarrer in Laubach,<br />
Oberhessen), Hans (* 1876) <strong>und</strong> Mathilde<br />
(1878–1951). Elisabeth Ködding, geb. von<br />
Rohden, starb am 5. Februar 1878 in Siborga<br />
(im Kindbett?). Wilhelm Ködding verließ Sumatra<br />
im Jahre 1881 <strong>und</strong> übernahm ein Pfarr -<br />
amt in Deutschland. Mathilde Ködding wurde<br />
1912 als Missionsschwester erneut nach Sumatra<br />
ausgesandt, wo sie bis 1918 in Simorangkir<br />
<strong>und</strong> Huta Barat tätig war.<br />
Laura Hendrich, geb. Böckmann<br />
58<br />
(1844–1903)<br />
[Laura Böckmann, am 10.3.1871 verheiratet<br />
mit Missionar Hendrich]<br />
Im Jahre 1844, den 9ten März wurde ich zu<br />
Barmen (Lichtenplatz) geboren. Mein Vater<br />
hieß Johann Abraham Böckmann meine Mutter<br />
Johanne Arrenberg. Vater war Bäcker u[nd]<br />
Landwirth. Von meinen 4 Geschwistern war<br />
ich die Älteste. In der h[ei]l[i]g[en] Taufe erhielt<br />
ich den Namen Laura.<br />
Meine Jugendjahre waren recht glückliche;<br />
da hier in unserer Nähe eine Kleinkinderschule<br />
errichtet ward, schickte meine liebe Mutter<br />
meinen Bruder Ernst <strong>und</strong> mich hin.<br />
Von meinem 5ten Lebensjahr an besuchte<br />
ich die Elementarschule. Lust zum Lernen <strong>und</strong><br />
Liebe zum Lehrer machten das mir die Schul -<br />
zeit die liebste war.<br />
Durch einen frühen Tod, verlor ich schon in<br />
meinem 8ten Lebensjahr meinen theuern Vater.<br />
Seidem wurde mir meine Liebe Mutter Alles,<br />
ja das Liebste das ich auf der Welt hatte. Die<br />
Bäckerei gab Mutter dran, <strong>und</strong> betrieb nur die<br />
Landwirthschaft. Da es nun an Arbeit nicht<br />
fehlte, so führte mich meine liebe Mutter zu aller<br />
Arbeit an, die meine Kräfte erlaubten. Unsere<br />
liebe Mutter ging uns mit einem guten<br />
Beispiel voran gegründet auf das Wort Gottes.<br />
„Alle eure Sorge lasset mit Bitte, Gebet u[nd]<br />
Danksagung vor Gott k<strong>und</strong> werden.“ 110 Wenn<br />
ich ausging, oder sonst etwas ver richtete, sagte<br />
Mutter vergiß nicht, den lieben Heiland zu bitten,<br />
das er mit dir ist, u[nd] dir Rath, Kraft,<br />
Weisheit gibt, ohne Ihn wird dir nichts gelingen.<br />
Von meinem 10ten Lebensjahr an besuchte<br />
ich den Unterricht bei dem sel[i]g[en] Herrn<br />
Pastor Banning 111 in Barmen. In mancher<br />
Unterrichts st<strong>und</strong>e ist der Herr mit seiner Gnade<br />
mächtig an mir gewesen. In meinem 14ten<br />
Jahre wurde ich von Herrn Pastor Taube 112 confirmirt.<br />
Am h[ei]l[i]g[en] Confirmatzions-Tage<br />
bekam ich den Denkspruch mit auf den künftigen<br />
Lebensweg Ps[a]lm 32, 2. Wohl dem Menschen<br />
dem der Herr die Missetat nicht zurechnet,<br />
in des Geist kein Falsch ist. Seid der Confirmatzion<br />
hatte ich tiefere Eindrücke über<br />
meinen inneren Herzenszustand, mußte sehr
fühlen, das mein Thun umsonst wär, auch in<br />
dem besten Leben. Was täglich mein Begleiter<br />
war, waren einige Verschen aus dem Liede<br />
welches wir in den letzten St<strong>und</strong>en der Confirmationszeit<br />
lernten:<br />
Drum so tödt’ u[nd] schlachte hin, meinen<br />
Willen meinen Sinn, Reiß mein Herz aus meinem<br />
Herzen; solls auch sein mit tausend<br />
Schmerzen Trage Holz auf den Altar u[nd] verbrenn<br />
mich ganz u[nd] gar. O! Du Allerliebste<br />
Liebe wenn doch nichts mehr von mir bliebe.<br />
Nach der Confirmation kam ich nach Ronsdorf<br />
in den Hand arbeitsunterricht. Durch<br />
Fre<strong>und</strong>innen kam mir der Tractat vom<br />
sel[i]g[en] Goßner 113 zur Hand. (der Titel) ,,Die<br />
Seligkeit eines Gläubigen in dessen Herzen Jesus<br />
wohnt. Durch Gottes Gnade kam ich dadurch<br />
zur Erkenntniß meiner Sünden, u[nd] erkannte<br />
das es doch bisher nur ein Flickwerk<br />
mit mir gewesen, wie Tersteegen 114 singt: Vermischtes<br />
Wesen u[nd] Gutmeinen vergnügt<br />
nicht mich, noch dich den Reinen, wie abgeschmackt<br />
ist Menschenwerk. Nun wurde ich<br />
von einem schweren Nervenfieber heimgesucht,<br />
nach längerer Zeit durfte ich das Bett<br />
verlassen, blieb aber seid der Zeit über ein Jahr<br />
sehr nervöß, doch war es eine große Segenszeit<br />
für mich, ich bekam Frieden in den W<strong>und</strong>en<br />
JEsu. Der Friede wurde mir fester durch den<br />
Spruch, der mir im Innern klar wurde. 2 Korinter<br />
4, 8, 10. Uns ist bange aber wir verzagen<br />
nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden<br />
nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber<br />
wir kommen nicht um. Und tragen nun allezeit<br />
das Sterben des HErrn JEsu an unserm Leibe,<br />
auf das auch das Leben des HErrn JEsu an unserm<br />
Leibe offenbar werde. Seidem war ich in<br />
einem ganz andern Licht wie bisher über mich<br />
selbst. Vieles sah ich an mir was vor Gottes Augen<br />
verwerflich war, nun hieß es: Kämpfe bis<br />
aufs Blut u[nd] Leben. Besonders war mir das<br />
wichtig. Niemand wird gekrönet, er kämpfe<br />
denn recht. 115 Nun mußte ich erfahren das daß<br />
Leben durchs Kämpfen u[nd] Ringen ginge.<br />
Doch durfte ich auch erfahren das es bei Allen<br />
Mängeln u[nd] Schwächen sich an mir bewahrheitete:<br />
Gott ist getreu, Er läßt euch nicht versuchen<br />
über euer[verbessert aus: über] Vermögen.<br />
116 In unserer Familie gings durch man-<br />
cherlei Krankheit u[nd] Leiden. Doch die ge -<br />
hörten auch mit in den Erziehungsplan unseres<br />
Gottes. In meinem 18ten Jahre erhielt ich von<br />
einem jungen Mann in Berlin einen Antrag.<br />
Mit der l[ieben] Mutter nahm ich Rücksprache,<br />
doch die rieth mich nicht dazu, sagte, ich möge<br />
den Herrn bitten, Er möge mir selbst Klahrheit<br />
geben, ich kam zur Gewißheit das es gegen des<br />
Herrn Wille sei, vielmehr das es eine Versuchung<br />
sei, wo es von hieß: Wachet u[nd] betet<br />
daß ihr nicht in Anfechtung fallet. Noch gewisser<br />
wurde es mir durch das Beispiel von Mose<br />
Ebräer 11,25;26. Und er erwählte viel lieber<br />
mit dem Volke Gottes Ungemach zu leiden,<br />
denn die zeitliche Ergötzung der Sünde zu haben,<br />
u[nd] achtete die Schmach Christi höher<br />
den die Schätze Egiptens denn er sahe an die<br />
Belohnung. Von je her hegte ich den Wunsch,<br />
Mutter möge mich zur Lehrerin ausbilden lassen<br />
doch meine 1[iebe] Mutter sagte, für meine<br />
Ges<strong>und</strong>heit sei es nicht zuträglich u[nd] weil<br />
ich keine Schwestern hätte wär es ihr lieber,<br />
wenn ich bei ihr bliebe. Der treue Herr u[nd]<br />
Heiland gab mir auch hierdrin Klahrheit u[nd]<br />
machte mich ruhig, das auch dieser Wunsch<br />
ganz aufgehoben ward.<br />
Nun führte es der Herr so, das ich im Anfang<br />
des Jahres 1867 aufgefordert wurde, hier<br />
eine Sonntagsschule anzu fangen. Wiewohl ich<br />
Anfangs sehr ängstlich war gab mir der Herr<br />
Kraft, Muth u[nd] Freudigkeit, wenn auch in<br />
großer Schwachheit darf ich doch dem Herrn<br />
zu Lob u[nd] Preis bekennen, Er war mit mir.<br />
Im Monat September 1867 bat Missionar<br />
Hendrich meine l[iebe] Mutter mich mit ziehen<br />
zu lassen nach Borneo. Mutter war dieses sehr<br />
schwer, doch abschlagen konnte sie es ihm<br />
auch nicht, weil es zu ihr hieß: Wer nicht absagt,<br />
Allem was er hat, kann nicht mein Jünger<br />
sein. Wo mir es Mutter sagte, war mir es auch<br />
schwer, doch der ewig treue B<strong>und</strong>es-Gott, gab<br />
mich auch hierin Seinen guten Willen zu erkennen,<br />
nach längerem Beten u[nd] Ringen<br />
hieß es zu mir: Geh aus deinem Vaterlande,<br />
u[nd] aus deiner Fre<strong>und</strong>schaft u[nd] aus deines<br />
Vatershause in ein Land das ich dir zeigen<br />
will. 117 Doch mir war es noch immer schwer,<br />
der Herr war auch da so fre<strong>und</strong>lich u[nd] tröstete<br />
mich wie einst den Josua: Sei getrost<br />
59
u[nd] unverzagt, sei getrost u[nd] sehr freudig.<br />
118 So darf ich den gewiß sein der Herr wird<br />
durch Alles helfen. Ja wie JEsus Christus gestern<br />
u[nd] heute war, so wird Er auch bleiben<br />
bis in alle Ewigkeit. Ihm sei Lob, Preis u[nd]<br />
Ehre von nun an bis in Ewigkeit.<br />
Barmen Lichtenplatz d[en] 18. 29/8. W. [?]<br />
Laura Böckmann<br />
Laura Böckmann heiratete am 10. März<br />
1871 den ehemaligen Böttcher Christian Carl<br />
Hendrich (1837–1894) aus Wiehe/Thüringen.<br />
Hendrich war seit 1868 als Missionar auf Borneo<br />
tätig, bis 1870 in Kuala Kapuas <strong>und</strong> 1870–<br />
1894 in Mandomai am Kapuas-Fluß. Das Paar<br />
hatte acht Kinder: Johanna (* 1872), Johannes<br />
(* 1873), Laura (* 1875), Sophie<br />
(* 1876), Karl (* 1878, später Missionar der<br />
Rheinischen Mission), Hulda (* 1880), Adelheid<br />
(* 1881) <strong>und</strong> Stephan (* 1884). Hendrichs<br />
Aufgabe war es, die im Massaker von 1859 untergegangene<br />
christliche Gemeinde in Tanggohan119<br />
wiederzubeleben. Hendrich wirkte nicht<br />
nur als Seelsorger, er initiierte auch die Anpflanzung<br />
von Kokospalmen <strong>und</strong> anderen<br />
Nutzpflanzen, deren Erträge jedoch gering<br />
blieben. Als erster Rheinischer Missionar erforschte<br />
er den Katingan-Fluß120 . Laura Hendrich<br />
leitete in Mandomai Kleinkinderschule,<br />
Sonntagsschule <strong>und</strong> Frauenverein. Ihr Mann,<br />
schon längere Zeit lungenkrank, starb am 12.<br />
April 1894, nachdem noch eine schwere Wassersucht<br />
hinzugekommen war.<br />
Im Nachruf auf Laura Hendrich, geb.<br />
Böckmann, wird vermerkt, sie sei „wie wenige<br />
Missionarsfrauen121 eine Dajakkin<br />
geworden.“ 122 Als sie nach dem Tod ihres Mannes<br />
nach Deutschland zurückkehrte, habe sie<br />
sich „kaum noch in die heimischen Verhältnisse<br />
zurecht finden“ 123 können. 1897 kehrte sie<br />
als Missionschwester nach Borneo zurück, wo<br />
sie in Pulau Kaladan bis zu ihrem Tod wirkte.<br />
„Nach ihrer ganzen Eigenart konnte man ihr<br />
nur eine ziemlich selbstständige Arbeit zuweisen<br />
[…] Kurz sie hat die Arbeit eines Missionars<br />
getan <strong>und</strong> manchem mag sie zu ‘männlich’<br />
gewesen sein.“ Anfang 1903 erkrankte sie<br />
– möglicherweise durch Überarbeitung – <strong>und</strong><br />
mußte nach Bandjermasin gebracht werden,<br />
60<br />
wo sie am 10. März starb. „[…] sie wird weder<br />
in der Heimat noch vor allem in Borneo vergessen<br />
bleiben als die selbstlose, sich selbst<br />
aufopfernde Dajakkenmutter, ein Name, den<br />
sie wie keine andere verdient.“ 124<br />
Johanna Heider, geb. Werbeck (1843–1921)<br />
[Notiz:] Johanna Werbeck, Braut von<br />
E[duard] Heider<br />
Lebenslauf<br />
Am 31ten August 1843 wurde ich an der<br />
Schimmelsburg in der Nähe von Wichlinghausen,<br />
geboren. Die Jahre meiner Kindheit verlebte<br />
ich im [Hause] meiner l[ieben] gottesfürchtigen<br />
Eltern <strong>und</strong> meiner l[ieben] Geschwister<br />
froh <strong>und</strong> glücklich. im Alter von 5<br />
Jahren wurde ich in die Elementarschule zu<br />
Wichlinghausen geschickt, [die] ich bis zum<br />
14ten Lebens jahre regelmäßig besuchte. Mein<br />
l[ieber] Lehrer, Herr Griese, ist mir recht zum<br />
Segen geworden. In den freien St<strong>und</strong>en mußte<br />
ich als ältestes der Kinder der lieben Mutter in<br />
den häuslichen Arbeiten fleißig zur Hand gehen.<br />
Außer mir [hatten?] meine lieben Eltern<br />
noch 4 Kinder, 3 Söhne <strong>und</strong> 1 Tochter. Letzere<br />
ist die jüngste meiner Geschwister. Mein lieber<br />
Vater war Bandwirker. Waren meine l[ieben]<br />
Eltern auch [nicht] vermögend, so hatten sie<br />
doch reichlich ihr Auskommen. Als Hauptsache<br />
galt es ihnen ihre Kinder in der Zucht <strong>und</strong><br />
Vermahnung zum Herrn zu erziehen, <strong>und</strong> habe<br />
ich im Hause meiner l[ieben] Eltern das theure<br />
Wort Gottes kennen <strong>und</strong> lieben gelernt. Da<br />
[die?] Eltern auch das Barmer Missionsblatt,<br />
sowie später den kl[einen] Missionsfre<strong>und</strong> 125<br />
erhielten, so wurde schon frühe das Missionsinteresse<br />
in mir geweckt, da es mir jedesmal<br />
eine Freude war, wenn der liebe Vater aus denselben<br />
vorlas. Und so durfte ich manchen<br />
[Tag?] im elterlichen Hause genießen. Doch<br />
bald wurden die lieben Eltern so recht vom<br />
Herrn in die Kreuzesschule geführt. Der liebe<br />
Vater erkrankte an einer heftigen [Unter]leibs -<br />
entzündung, so daß Alle um sein Leben be sorgt<br />
waren. Jedoch gefiel es dem Herrn, ihm die<br />
Ges<strong>und</strong>heit wieder zu schenken. Doch kaum<br />
genesen, erkrankte meine liebe Mutter an der
Brustkrankheit. Die Ärzte zweifelten an ihrem<br />
Aufkommen[?] <strong>und</strong> weiß ich mich noch sehr<br />
gut zu erinnern, wie mein theurer Vater zum<br />
Herrn flehte um [das] Leben meiner lieben<br />
Mutter. Endlich nach 1 1 /2 Jahren genaß<br />
sie zu unser aller Freude. Dann folgten noch einige<br />
Jahre des glücklichsten Familienlebens.<br />
Doch wieder zogen [?] Wolken über unserm<br />
Haupte zusammen. Mein 1[ieber] Vater erkrankte<br />
heftig an [einer?] Lungenentzündung.<br />
Die Krankheit nahm von Tage zu Tage zu. Eine<br />
dunkle Ahnung [?] unsere Herzen, es könne<br />
wohl dem Herrn gefallen, den th[euren] Gatten<br />
<strong>und</strong> Vater abzurufen. Wie haben da die 1[ieben]<br />
Eltern zum Herrn gefleht sie doch willenlos<br />
<strong>und</strong> stille zu machen. (Und so?] schwer es<br />
dem l[ieben] Vater wurde sich von der l[ieben]<br />
Mutter <strong>und</strong> 5 unmündigen Kindern zu [trennen],<br />
so konnte er doch ruhig dem Tode ins<br />
Auge schauen, weil er wußte daß sein Erlöser<br />
[lebe?]. Nie werde ich vergessen als ich ihm<br />
mal Ev[angelium] Joh[anni] Kap[itel] 15,16<br />
u[nd] 17 vorlesen mußte <strong>und</strong> ich [zu dem?]<br />
Vers kam: ,,In der Welt habt ihr Angst<br />
u.s.w.“ 126 , er zu mir sagte: ,,Ja Kind dieses Wort<br />
des Heilandes ent hält eine solche Fülle des<br />
Trostes für mich, daß ich ruhig sterben <strong>und</strong><br />
euch alle [den?] treuen Vaterhänden anvertrauen<br />
kann. Noch hatte die Krankheit nicht<br />
ganz drei Wochen [gedauert?], da fühlte er sein<br />
Ende herannahen. Auf seinen Wunsch sangen<br />
wir noch am Abende vor [seinem] Tode das<br />
schöne Lied: ,,Es ist noch eine Ruhe vorhanden<br />
127 u.s.w. Dann ließ er uns Kinder [jedes?]<br />
Einzelne an sein Bett kommen <strong>und</strong> ermahnte<br />
uns, doch Jesu nachzufolgen. Daß sich die<br />
Worte meines sterbenden Vaters tief in mein<br />
junges Herz eingruben, brauche [ich] nicht zu<br />
sagen. Ich war damals noch keine 13 Jahre alt.<br />
Am folgenden Morgen des [?] Mai 1856 durfte<br />
mein l[ieber] Vater eingehen zur ewigen Ruhe.<br />
Von jetzt an mußte [meine] l[iebe] Mutter einsam<br />
ihre Straße ziehen <strong>und</strong> ist ihr das sicher<br />
nicht leicht geworden. [Den?] Catechumenen<br />
<strong>und</strong> Confirmanden Unterricht ertheilte mir der<br />
theure Herr Pastor Voswinkel 128 . Es war mir<br />
vergönnt, 4 Jahre am Unterricht theilnehmen<br />
zu dürfen. Viel Segen durfte [ich aus] der Catechesierstube<br />
mit nach Hause <strong>und</strong> mit ins Leben<br />
nehmen. Um die Zeit war es [?], als mich der<br />
treue Herr ganz zu sich zog <strong>und</strong> ich ganz gewiß<br />
wußte: ich hatte Vergebung [meiner] Sünden<br />
im Blute Jesu gef<strong>und</strong>en. Der Tag meiner Confirmation<br />
war ein Freudentag <strong>und</strong> von ganzer<br />
Seele war es mein fester Ent schluß, mit des<br />
Herrn Gnade <strong>und</strong> Hülfe treu zu bleiben. Einige<br />
Zeit vorher fand eine Erweckung unter den<br />
Kindern [?] statt, <strong>und</strong> sonntäglich kamen wir<br />
zusammen um uns durch Gebet <strong>und</strong> Wort<br />
Gottes [?]. Die Versammlungen gereichten<br />
Vielen von uns zum Segen. Bis zum 21ten<br />
Jahre blieb [ich bei] meiner l[ieben] Mutter. Im<br />
Frühjahr 1867 erkrankte ein l7jähriger Bruder<br />
von [mir an?] Nervenfieber. Die l[iebe] Mutter<br />
pflegte denselben mit aller Liebe <strong>und</strong> Treue.<br />
[Mehrere Male?] schwebte das Leben des l[ieben]<br />
Bruders in Gefahr. Doch end lich war die<br />
Krankheit [?] besonderen Freude der Mutter.<br />
Während dem der Bruder langsam genaß [?]<br />
liebe Mutter legen. Das Nervenfieber war in<br />
vollem Anzuge. Noch bei vollem Bewußtsein<br />
fühlte sie ihr Ende nahen. Nach einigen Tagen<br />
jedoch wurde sie bewußtlos. Nach einer kaum<br />
8 tägigen Krankheit entschlief sie am ersten<br />
Pfingstmorgen des Jahres 1864 am 15ten Mai<br />
sanft <strong>und</strong> selig. Das war ein schwerer Schlag<br />
für meine l[ieben] Geschwister <strong>und</strong> mich als<br />
auch das treue Mutterherz aufgehört hatte zu<br />
schlagen. Meine l[iebe] Schwester zählte erst 9<br />
Jahre. Dazu war der kranke Bruder noch lange<br />
nicht wieder hergestellt. Wie es mir damals an<br />
der Bahre meiner sel[i]g[en] Mutter zu Muthe<br />
war, läßt sich nicht beschreiben. Nach 6 Wochen<br />
wurde alles was den 1[ieben] Eltern zugehört<br />
hatte, verkauft, da noch alle Kinder<br />
minderjährig waren. Inzwischen hatte sich der<br />
kranke Bruder ziemlich erholt. Wir Geschwister.wurden<br />
nun alle zerstreut. Die kleine<br />
Schwester nahm die liebe Tante Bernsmann in<br />
Wichlingh[ausen] zu sich, wie es die sel[i]g[e]<br />
Mutter vorher gewünscht. Der jüngste der Brüder<br />
war schon seit seinem 4ten Lebensjahre als<br />
Pflegesohn bei einem 1[ieben] Fre<strong>und</strong>e meines<br />
sel[i]g[en] Vaters Herrn Busch in Wichlinghausen.<br />
Der krank gewesene Bruder ging wieder<br />
zu seinem früheren Lehrherrn in die Lehre. Der<br />
älteste der Brüder fand eine gute Stelle bei einem<br />
christlichen Meister. Nur wußte ich noch<br />
61
nicht wo meines Bleibens sein werde. Die<br />
1[iebe] Frau Westkott in Wichlingh[ausen] war<br />
so fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> nahm mich in ihr Haus bis<br />
sich eine passende Stelle für mich fand. Ich<br />
wurde dort als Kind im Hause behandelt, welches<br />
mir nach dem herben Verluste um so<br />
wohler that. In Wupperfeld fand sich dann nach<br />
5 Wochen eine passende Stelle bei einer l[ieben]<br />
christlichen Familie. Dort war ich 2 Jahre.<br />
Nachdem veränderte ich meine Stellung <strong>und</strong><br />
war noch 5 Jahre bei Frau C. Barthels in Wupperfeld.<br />
Doch noch ein schwerer Verlust stand<br />
mir bevor. Der l[iebe] Bruder, welcher vor 6<br />
Jahren von der gefährlichen Krankheit genesen<br />
war, starb am 16ten August 1870 bei Mars La<br />
Tour 129 den Heldentod im Alter von 23 Jahren.<br />
Wie mich u[nd] meine lieben Geschwister die<br />
K<strong>und</strong>e von seinem Tode erschütterte, vermag<br />
ich nicht zu sagen. Sein liebster Fre<strong>und</strong> fiel mit<br />
ihm an demselben Tage. Kurz vorher hatte er<br />
mir noch von seiner baldigen Heimkehr nach<br />
Hause geschrieben, da er seine dreijährige<br />
Dienstzeit bald beendet hatte. Doch waren wir<br />
nicht wie die, die keine Hoffnung haben. Der<br />
sel[i]g[e] Bruder hatte seinen Heiland lieb gehabt<br />
<strong>und</strong> waren ihm die Dienstjahre zu einem<br />
rechten Segen geworden, wie es wohl selten<br />
der Fall ist. Die Gewißheit, ihn beim Herrn zu<br />
wissen, milderte unsern herben Schmerz. Im<br />
Jahre 1871 zog ich nach Bonn. Dort traten mir<br />
besonders mancherlei Versuchungen entgegen.<br />
Doch wurde ich durch des Herrn Gnade bewahrt,<br />
wofür ich ihm von Herzen danke. Ein<br />
Jahr später hielt mein 1[ieber] Bräutigam,<br />
Ed[uard] Heider, um meine Hand an, welche<br />
ich ihm auch gerne gab. Die letzten 2 1 /2 Jahre<br />
brachte ich im 1[ieben] Wichlinghausen zu,<br />
woselbst sich eine passende Stelle als Haushälterin<br />
für mich fand. Am 14ten Ockt[ober] trat<br />
ich meine Reise nach Süd-Afrika mit den Missionsgeschwistern<br />
an, aufschauend zu dem der<br />
mich gerufen. Ihm, meinem lieben Herrn <strong>und</strong><br />
Heiland als eine geringe Mit arbeiterin in der<br />
großen Missionssache zu dienen, ist mein<br />
sehnlichster Wunsch <strong>und</strong> Gebet. – Nach einer<br />
glücklichen Reise, auf welcher wir in besonderem<br />
Maaße die treue Aus hülfe unseres Gottes<br />
erfahren durften, kam ich gestern den 18ten<br />
Dec[em]b[e]r mit den lieben Geschwistern hier<br />
62<br />
Johanna Heider, geb. Werbeck<br />
an, <strong>und</strong> wurden wir, Schwestern Paschen <strong>und</strong><br />
ich, zum Dank gegen den Herrn gestimmt, als<br />
wir unsere Lieben ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> wohlbehalten<br />
hier antrafen. Der treue Herr aber geleite uns<br />
auch ferner wie Er verheißen.<br />
Walfischbay, d[en] 19ten Dec[em]b[e]r<br />
1874.<br />
Maria Johanna Werbeck.<br />
Johanna Werbeck heiratete am 20. Dezember<br />
1874 den ehemaligen Tischler Eduard<br />
Heider (1846–1881), der seit 1873 in Berseba/Südwestafrika<br />
als Missionar tätig war.<br />
Von 1874–1881 war Heider in Hoachanas stationiert,<br />
nachdem man eine Zeitlang gezögert<br />
hatte, ihn als „Reformierten“ mit dieser Aufgabe<br />
zu betrauen130 . Das Ehepaar hatte vier<br />
Kinder: Eduard (* 1876), Johanne (1877–<br />
1966, verheiratet mit Missionar Karl August<br />
Hanke, in Neu-Guinea tätig), Maria (* 1879)<br />
<strong>und</strong> August (* 1880). In diesem Jahr geriet die<br />
Station in die Kämpfe zwischen Namas131 <strong>und</strong><br />
Herero132 , so daß ein Teil der umliegenden
Nama-Bevölkerung zerstreut wurde. Am 16.<br />
Juni 1881 starb Heider unerwartet an einer<br />
Fieberkrankheit. Johanna Heider, geb. Werbeck,<br />
kehrte nach Deutschland zurück, wo sie<br />
am 29. März 1921 in Bremen an den Folgen eines<br />
Treppensturzes starb. „Sie war bis zuletzt<br />
von erstaunlicher geistiger Frische […]“. 133<br />
Peter Friedrich Bernsmann (1845–1920)<br />
Peter Friedrich Bernsmann. [Notiz:] Bandwirker<br />
Jünglingsverein<br />
Ich bin geboren am 23. Juni 1845 zu Wichlinghausen.<br />
Die Taufe empfing ich durch Pastor<br />
Dr. R. Stier. Geschwister habe ich vier,<br />
zwei ältere u[nd] zwei jüngere.<br />
Mein Vater, jetzt wegen eines Lungenleidens<br />
arbeitsunfähig, war früher Arbeiter in einer<br />
Bandfabrik, hatte aber nebenbei Bandstühle<br />
im Betrieb. Vater <strong>und</strong> Mutter sind gläubig,<br />
u[nd] deßwegen war es ihr Bestreben,<br />
mich u[nd] meine Geschwister in der Zucht<br />
u[nd] Vermahnung zum Herrn zu erziehen. Der<br />
Herr hat sich denn auch zu ihrer Zucht u[nd] zu<br />
ihren Gebeten bekannt, denn alle ihre Kinder<br />
haben den schmalen Weg zu gehen erwählt.<br />
Ihre Zucht unterstützte auch wesentlich meine<br />
Schul-Bildung <strong>und</strong> -Erziehung die ich vom 4.<br />
Jahre an in der Kleinkinderschule u[nd] vom 6.<br />
an in der Elementarschule genoß, so daß ich<br />
meinen Lehrern wenig Anlaß zur Klage gegeben<br />
habe.<br />
Gegen Ende meines 14. Lebensjahrs verließ<br />
ich die Schule u[nd] kam in den Confirmandenunterricht<br />
bei Herrn Pastor Vos -<br />
winkel 134 . Den Katechumenenunterricht hatte<br />
ich schon seit meinem 8. Jahre genossen. Die<br />
Lehre meines treuen Seelsorgers war das Mittel,<br />
durch welches mir der Herr das Herz auf -<br />
that, daß ich mich <strong>und</strong> meinen Heiland erkannte.<br />
In freudiger Glaubenszuversicht<br />
konnte ich am Tage meiner Confirmation, den<br />
29. April 1860, dem Herrn Treue geloben, <strong>und</strong><br />
seine Barmherzigkeit hat mich denn auch gehalten<br />
bis auf diesen Tag.<br />
Nachdem mir Barmherzigkeit widerfahren<br />
war, stieg bald der Wunsch in mir auf, Missionar<br />
zu werden. Mit der rheinischen Mission<br />
war ich seit meinem 10. Lebensjahre besonders<br />
durch den „kleinen Missionsfre<strong>und</strong>“ 135 ziemlich<br />
bekannt geworden. Um der Erfüllung meines<br />
Wunsches näherzukommen, wollte ich<br />
Lehrer werden. Allein da mein Vater eine Abneigung<br />
gegen diese Berufswahl zeigte, fügte<br />
ich mich seinen Wunschen u[nd] wurde Bandwirker,<br />
obwohl mir die Bandwirkerei nicht zusagte.<br />
Den Wunsch, Missionar zu werden, hielt<br />
ich zuerst noch zurück, weil ich noch zu jung<br />
war. Als ich in der Folge damit herausrückte,<br />
meinte mein Vater, derselbe würde wohl nicht<br />
eher erfüllt werden, als bis ich Soldat gewesen<br />
wäre. So war ich also aufs Warten gewiesen.<br />
Diese Wartenszeit war eine Zeit schwerer innerer<br />
Kämpfe, unter welchen ich tiefe Blicke<br />
thun konnte in mein von den Lüsten des Fleisches<br />
noch sehr hingenommenes Herz. Doch<br />
die starke Hand des Herrn hielt mich, daß ich<br />
auf dem schmalen Pfade des Lebens ausharrte.<br />
Zudem fand ich viel Trost, Stärke u[nd] Erquickung<br />
in der Gemeinschaft lieber Fre<strong>und</strong>e,<br />
deren ich besonders manche im Jünglingsverein<br />
gef<strong>und</strong>en hatte. Eine Krankheit, in die ich<br />
Anfang des Jahres 65 verfiel, bestimmte meine<br />
Eltern, mir die Erlaubniß zur Meldung für<br />
den Missionsdienst zu ertheilen. W<strong>und</strong>erbare<br />
Winke des Herrn, die noch hinzukamen, gaben<br />
mir die feste Gewißheit, daß mich der Herr berufen<br />
habe, diesen Weg zu gehen. Zuerst hieß<br />
es aber auch dann wieder: Warten. Nach einjähriger<br />
Probezeit mußte ich Anfang August<br />
1866 Soldat werden. – Auch eine Schule –. Der<br />
Herr half mir, daß ich seinem. Namen unter einem<br />
ungeschlachten Geschlecht keine Schande<br />
bereitet habe, sondern daß ich in der Achtung,<br />
sowohl der Vorgesetzten als der Kameraden<br />
stand. Gegen Ende Sept[ember] 1868 wurde<br />
ich auf Disposition beurlaubt, u[nd] trat 8 Wochen<br />
später am 21. Nov[ember] in die Vorschule<br />
im Kinderhause ein. Im folgenden Jahre<br />
vertrat ich auf 10 Wochen einen alten Lehrer in<br />
der Schule auf dem Dohr bei Kronenberg.<br />
Weihnachten 69 trat ich ins Missionshaus ein,<br />
<strong>und</strong> Mitte 70 wurde ich mit einberufen u[nd]<br />
machte dann den ganzen Feldzug als Gefreiter<br />
im 57. Reg[iment] mit. Ganz besonders habe<br />
ich da in den tausend Gefahren, Beschwerden<br />
u[nd] Strapatzen, in 14 Schlachten u[nd] Ge-<br />
63
fechten u[nd] auf Märschen bis über Tours hinaus<br />
die schützende u[nd] erhaltende Hand<br />
Gottes über mir erfahren dürfen, so daß ich<br />
ganz unversehrt geblieben bin. – Ende Juni 71<br />
konnte ich mit dankerfülltem Herzen die unterbrochenen<br />
Studien im Missionshause wiederaufnehmen<br />
u[nd] nachdem Er mich nun zubereitet<br />
u[nd] verordnet hat, ein Bote des Friedens<br />
unter den Heiden zu sein, gehe ich hinaus<br />
mit der festen Gewiß heit, daß er mich berufen<br />
hat, aber auch mit dem freudigen Vertrauen,<br />
daß er mir in allen ferneren Wegen beistehen<br />
wird nach seiner Verheißung.<br />
Barmen, den 18. August 1873.<br />
Peter Friedrich Bernsmann wurde 1873<br />
nach Südwestafrika ausgesandt, wo er, von einem<br />
Aufenthalt in Deutschland 1896–98 abgesehen,<br />
47 Jahre als Lehrer <strong>und</strong> Missionar auf<br />
den Stationen Otjimbingue (1874–1888 <strong>und</strong><br />
1905–1920), Otjikango (1888–1890) <strong>und</strong> Omburo<br />
(1890–1904) tätig war. Am 26. Dezember<br />
1875 heiratete er Emilie Westkott (1842–<br />
1880), die wie er aus Wichlinghausen stammte.<br />
Das Paar hatte fünf Kinder: Emilie (* 1877),<br />
Fried rich (* 1877), Pauline (* 1879) <strong>und</strong> die<br />
Zwillinge Auguste <strong>und</strong> Johanne (* 1880).<br />
Bernsmann litt in seiner Jugend an schwerem<br />
Asthma, außerdem, wie Missionspräses Olpp<br />
in seinem Nachruf vermerkt, an einem „oft unerträglich<br />
werdende[n] Hautleiden“ 136 <strong>und</strong> einer<br />
chronischen Dysenterie. Olpp schildert den<br />
verstorbenen Missionar als selbstdisziplinierten<br />
<strong>und</strong> peniblen Mann (“Ich habe ihn gesehen,<br />
wie er st<strong>und</strong>enlang vor dem Ochsenwagen<br />
wanderte, jeden größeren Stein mit einem<br />
Fußtritt aus dem Wege befördernd, – wie er an<br />
der Raststelle mitten in der afrikanischen Wildnis<br />
abgepellte Eierschalen sorgsam mit Sand<br />
zudeckte: ‘Ich kann die Unordnung nicht leiden!’“)<br />
137 Auch Bernsmanns Bruder August<br />
war nach Südwestafrika gegangen <strong>und</strong> als Verwalter<br />
des Hälbischen Geschäftes in Otjimbingue<br />
tätig.<br />
Bernsmanns Tätigkeit als Missionar wurde<br />
immer wieder durch kriegerische Unruhen beeinträchtigt,<br />
die ihn unter anderem zwangen,<br />
die Station Omburo während des Hereroaufstandes<br />
von 1904138 aufzugeben. Drei Jahre<br />
64<br />
nach dem Tod seiner ersten Frau (28. Dezember<br />
1880) heiratete er am 7. Juni 1883 Charlotte<br />
Neumann (1847–1901) aus dem brandenburgischen<br />
Pasewalk. Das Paar hatte drei Kinder:<br />
Ernst (geb. 1884), Bertha (geb. 1886) <strong>und</strong><br />
Helene (1889–1973). Helene heiratete 1913<br />
den Missionar Herrmann Gehlmann (1881–<br />
1952), der von 1918–24 in Tsumeb/Südwestafrika<br />
stationiert war, wohin Bernsmann nach<br />
seiner Pensionierung 1919 zog. Auf einer Reise<br />
zu seinem Schwiegersohn Irle, der in Otjimbojo<br />
lebte, erkrankte er <strong>und</strong> starb am 23. November<br />
1920 in seiner alten Station Otjimbingue.<br />
Emilie Bernsmann, geb. Westkott<br />
(1842–1880)<br />
Emilie Westkott [Notiz:] Frau Bernsmann<br />
wurde geboren zu Wichlinghausen in Barmen<br />
den 11. Juli 1842. Mein Vater, welcher<br />
Kaufmann war, starb schon als ich 6 Jahre alt<br />
Emilie Bernsmann, geb. Westkott
war plötzlich. Nun stand meine Mutter mit fünf<br />
Kindern allein. Aber sie erzog uns in der Furcht<br />
Gottes <strong>und</strong> hielt uns fleißig an zur Kirche, Kinderlehre<br />
u[nd] Schule. Daher kam es, daß ich<br />
früh Gottes Wort liebgewann, <strong>und</strong> als eines Tages<br />
das Wort: Laßet uns Ihn lieben denn Er hat<br />
uns zuerst geliebt139 , mir durchs Herz ging,<br />
konnte ich nicht anders, als mich dem Herrn<br />
ganz zu ergeben. In meinem fünfzehnten Jahr<br />
wurde ich Confirmirt von Herrn Pastor Voswinkel.<br />
140 Nach der Confir mation half ich meiner<br />
Mutter im Hauswesen u[nd] um dasselbe<br />
noch etwas besser zu lernen, kam ich ein Jahr<br />
in eine Familie nach Solingen. Von da zurück<br />
gekehrt unterstützte ich wieder meine Mutter,<br />
da eine ältere Schwester heirathete. Unterdeßen<br />
aber war meine größte Sorge dem Herrn<br />
treu zu bleiben u[nd] wenn es Ihm gefallen,<br />
Ihm auch zu dienen im Reich Gottes. Als nun<br />
der Beruf zur Mission an mich kam, kostete es<br />
mir viel Kampf, aber der Herr hat durchgeholfen<br />
u[nd] mir gewiß gemacht daß es Sein Wille<br />
ist. Bin deßhalb auch getrost, da ich nun hinaus<br />
ziehen darf nach Afrika u[nd] glaube der Herr<br />
werde auch weiter helfen. Möge Er mich denn<br />
mehr u[nd] mehr zu dem Dienst tüchtig machen<br />
u[nd] meine ganze[?] Arbeit, an der Seite<br />
meines zukünftigen Gatten des Missionars<br />
Bernsmann, auch segnen.<br />
Wichlinghausen, den 20. October 1875.<br />
Zu Emilie Bernsmanns weiterer Biographie<br />
siehe Peter Friedrich Bernsmann.<br />
Missionare <strong>und</strong> Missionarsfrauen aus dem<br />
übrigen Bergischen Land<br />
Johann Heinrich Külpmann (1806–1887)<br />
Joh[ann] Heinr[ich] Külpmann [Notiz]:<br />
Rietmacher, früher Katholik<br />
geb[oren] zu Lennep 1806 am 27ten<br />
Feb[ruar] von den Eheleuten Heinr[ich] Külpmann<br />
u[nd] Mar[ia] Elisabeth Büchler, welche<br />
der Röm[isch]-Kathol[ischen] Kirche zugethan<br />
waren. Meine Mutter verlor ich bald im 3ten<br />
Jahre meines Lebens; mein Vater erzog mich<br />
jedoch in der Furcht des Herrn, welches Gott<br />
auch segnete, wie mir das aus mehreren guten<br />
Herzenseindrücken aus meiner Kindheit noch<br />
bekannt ist. In meinen Knabenjahren gerieth<br />
ich jedoch in Verbindung mit anderen Jugendgenossen<br />
in manchen Leichtsinn u[nd] Sünde,<br />
die mich noch oft mit David Ps[alm] 25,7 141<br />
seufzen machen. Aus diesen Verbindungen<br />
heraus brachte mich der Herr in das Haus u[nd]<br />
die Gemeinschaft der lieb[en] christl[ichen]<br />
Familie Haasen in Elberfeld, wo ich das Riethmacher-Handwerk<br />
erlernte, u[nd] wo der Herr<br />
Jesus durch den Umgang dieser Leute, so wie<br />
durch das Lesen seines h[ei]l[igen] Wortes mit<br />
seiner mächtigen Gnade zum Leben sich an<br />
mir bewieß. Ich wurde vor u[nd] nach erweckt,<br />
von der Wahrheit u[nd] Heiligkeit des Gesetzes,<br />
u[nd] dadurch von meiner Sündigkeit<br />
überhaupt, u[nd] fing so an Vergebung meiner<br />
Sünden u[nd] Gnade zu suchen; Vor <strong>und</strong> nach<br />
offenbarte sich mir der Herr Jesus auch als<br />
mein Heiland, durch sein köstliches[?] Evangelium,<br />
u[nd] durch verschiedene kräftige Versicherungen<br />
derselben in meiner Seele, wodurch<br />
der Friede Gottes zuerst in mein bekümmertes<br />
Herz kam. Zu dieser Zeit erwachte auch<br />
zuerst der Missions trieb in mir, der sich jedoch<br />
jetzt bloß auf Drängen zur Bekehrung an meine<br />
Anverwandten beschränkte, welches diese jedoch<br />
nicht gut aufnahmen, besonders, da ich<br />
brieflich manches über das Schriftwidrige in<br />
der Römischen Kirche u[nd] das Unzulängliche<br />
ihrer Anweisungen, um die Seligkeit, Vergebung<br />
der Sünden u[nd] G[otte]s Gnade zu<br />
erlangen, mit hatte einfließen lassen. Sie fingen<br />
bald an, öffentlich gegen mich in Opposition<br />
zu treten, suchten mich mit List von Elberfeld<br />
wegzuholen, mir schwer zu drohen, oder mich<br />
durch Hinführen zur Darlegung u[nd] Beweisung<br />
meiner aus Gottes Wort erwachsenen Gesinnung<br />
vor katholischen Priestern, u[nd]<br />
durch Vorstellungen u[nd] Bitten bewegen, den<br />
Weg aller Welt u[nd] meiner Väter wieder einzuschlagen,<br />
wobei ich dann ja glauben könnte,<br />
was ich wollte, wie sie sagten. Doch der Herr<br />
bewahrte mich, befestigte mich durch alles dieses,<br />
was mir geschah, nur desto mehr in Seiner<br />
Wahr heit u[nd] ich wurde recht zum Gebet<br />
u[nd] zur völligen entschiedenen Uebergabe an<br />
meinen Herrn <strong>und</strong> Heiland gebracht. Dadurch,<br />
65
daß sich endlich meine Verwandten ganz von<br />
mir abwandten <strong>und</strong> mich als einen unheilbaren<br />
Ketzer eine Zeitlang verließen, erhielt ich nun<br />
völlige Freiheit, das lautere u[nd] reine Wort<br />
Gottes in den evan gelischen Kirchen des Wupperthals<br />
nach Herzenslust predigen hören zu<br />
können, was mir zum unaussprechlichen Segen<br />
reichte. Als mein Vater einige Jahre nach diesem<br />
gestorben, u[nd] kein Hinderniß mehr für<br />
mich im Wege stand, trat ich endlich im Jahr<br />
1825 mit innigster Herzensüberzeugung öffentlich<br />
zur evangelisch-reformirten Kirche<br />
über, welcher Schritt, da er schon jahrelang<br />
überlegt u[nd] durch alleinigen Besuch des<br />
protestantischen Gottesdienstes eigentlich<br />
schon[?] faktisch geschehen war, mich auch<br />
später keinen Augenblick gereut, sondern mich<br />
im Gegenteil mit Dank gegen Gott für diese<br />
empfangene Gnadenwohlthat erfüllt hat. Um<br />
diese Zeit offenbarte ich auch den Trieb <strong>und</strong><br />
[Wort nicht mehr erkennbar] meines Herzens<br />
zum Missionsdienste einigen Gliedern der<br />
Elber felder Missions-Gesellschaft 142 , welche<br />
[mich?] jedoch auf rechte Selbstprüfung u[nd]<br />
ruhiger Erwartung des Willens u[nd] Winkes<br />
Gottes zu diesem Berufe [ermahnten?]. Dieser<br />
Trieb wurde zwar in den Jahren 1826 bis 1831<br />
durch manche Untreue meines Herzens gegen<br />
den Herrn, durch heimliches Hangen u[nd]<br />
Nachgehen der Lüste meines bösen Herzens,<br />
durch heimliches Gleichstellen mit der Welt<br />
u[nd] durch Stricke u[nd] Netze der Sünde,<br />
worin ich mich verflechten ließ, wodurch ich<br />
auch eine Zeitlang in Dürre, Gebetslauigkeit,<br />
Trägheit etc. gerieth, sehr geschwächt, doch<br />
ging er nie unter, sondern wurde mir immer<br />
mehr ein Stachel in der Seite, u[nd] als ich endlich<br />
im Jahr 1831 aufs neue kräftig zum Herrn<br />
gezogen wurde, u[nd] nach langem schweren<br />
Kampf mit Unglauben u[nd] halber Ver -<br />
zweiflung, als sei für mich, vom Herrn Jesu<br />
Abtrünnigen keine Gnade mehr übrig, unter<br />
aufrichtigem Bekenntnis aller meiner Sünde<br />
der völligen Vergebung u[nd] Gnade, ja Liebe<br />
meines Gottes u[nd] Vaters in [?] u[nd] um seinetwillen,<br />
versichert wurde, hatte ich nun<br />
keine Ruhe mehr, bis ich der Miss[ions]-<br />
Gesellsch[aft] meinen Wunsch, als Missions-<br />
Zögling auf genommen zu werden, schriftlich<br />
66<br />
überreicht hatte. Doch fand es der Herr für gut,<br />
mir noch längere Zeit zur reiferen Prüfung<br />
u[nd] Geduldsübung, so wie zur völligen Uebergabe<br />
meines Willens an Ihn zu schenken.<br />
Die Deputation hatte nämlich auf meine<br />
schriftliche Erklärung hin allein nicht Freudig -<br />
keit, mich so bald aufzunehmen, welches wohl<br />
theils daher kam, daß ich mich, in allzugroßer<br />
Aengstlichkeit nicht gehorig überzeugend klar<br />
in Bezug auf meinen wahren Herzenstrieb ausgesprochen<br />
hatte, u[nd] dann auch, um mich,<br />
da ich gerade für die Zeit ohne Condition<br />
stand, noch näher zu prüfen. Endlich nach<br />
1jährigem Harren geschah meine Auf nahme<br />
im Sommer 1832 als Zögling im Missionshaus.<br />
Auch hier wurde ich nach einiger Zeit wieder<br />
über meinen Beruf ins Dunkel gestellt, u[nd]<br />
bei mehrerer Erkenntnis meines großen Sündenelends<br />
auch selbst mir mein Aufenthalt im<br />
Missionshause als Zögling unter den Brüdern<br />
(die ich Alle tüchtig u[nd] vom Herrn berufen<br />
mich aber untüchtig, unwürdig u[nd] nicht<br />
vom Herrn zu diesem h[ei]l[igen] Werke berufen<br />
ansah) zur Sünde, so daß ich dachte, um<br />
Ruhe des Gewissens zu bekommen, wieder<br />
austreten zu müssen, damit nicht der Fluch, um<br />
der Scherflein der Armen willen, die zur Mission<br />
auf den Altar des Herrn gelegt wurden,<br />
u[nd] an mich unwürdig angewandt würden,<br />
über mich käme. Hierdurch wurde ich dann<br />
wieder recht ins demüthige Gebet, um Aufschluß<br />
u[nd] gewisse Mit theilung des Willens<br />
Gottes über mir getrieben, u[nd] der Herr erhörte<br />
mich auch bald nachher, als ich durch<br />
uns[eren] lieb[en] H[er]rn Inspector 143 hören<br />
durfte, daß der Herr auf diese Weise zerschlüge<br />
u[nd] demüthige, u[nd] nur durch wahrhaft<br />
zerschlagene u[nd] wirklich demüthige Werkzeuge<br />
u[nd] Gefäße etwas zum Heil Anderer<br />
thäte. Meine große Herzensangst verlor sich<br />
dadurch etwas, u[nd] mein Herzensunglaube<br />
bekam bald, als ich, da die erste Classe so gering<br />
an Anzahl war, u[nd] ich darin aus der 2ten<br />
versetzt wurde, u[nd] bei meiner wieder neuen<br />
Angst, als würde ichs nicht ausführen können<br />
etc., dadurch einen gewaltigen Segensstoß, daß<br />
der treue Heiland kräftig, so daß ich auch nicht<br />
anders konnte noch wollte, mir in die Seele<br />
sprach: ,,Und setzet eure Hoffnung ganz auf
die Gnade etc.“ 144 , welche Worte mir das allersüßeste<br />
Evangelium wurden. Von dieser Zeit<br />
an gings besser, obschon die Angstlichkeit<br />
u[nd] Verzagtheit noch oft versucht, wieder unter<br />
dem Schutz des Unglaubens die Herrschaft<br />
in meiner Seele zu gewinnen… Durch die<br />
theuren Unterweisungen uns[eres] lieb[en]<br />
H[er]r[n] In spectors habe ich unaussprechlich<br />
viel Segen<br />
in Bezug auf das rechte Theilen des<br />
göttl[ichen] Wortes, so wie auf rechte Erkenntnis<br />
der Sünde u[nd] Gnade, des Gesetzes u[nd]<br />
Evangeliums, u[nd] besonders über die Rechtfertigung<br />
durch [Christus?] in ihren beiden<br />
vollen Theilen erlangt u[nd] empfangen. Durch<br />
die Art u[nd] Weise, wie der Ruf, um jetzt in<br />
die Heidenwelt mit aus zugehen durch das Zusammentreten<br />
u[nd] freudige Verlangen, daß<br />
noch Einer mehr mit ausgehen möchte, so wie<br />
durch den völlig einstimmigen u[nd] freudigen<br />
Beschluß der Deputation am 9ten Juny, daß ich<br />
dieser sein sollte, vom Herrn an mich gekommen<br />
ist, hat Er sich aufs neue zu meiner<br />
Schwachheit bekannt, u[nd] mein Vertrauen<br />
auch nicht beschämt, sondern mir im Examen<br />
glücklich durchgeholfen, u[nd] mich nun unter<br />
feierlicher Auflegung der Hände in das Amt,<br />
das die Ver söhnung predigt, eingesetzt. So<br />
gehe ich dann nun in Deinem Namen u[nd] auf<br />
Dein Geheiß, Herr Jesu, wohin Du mich sendest.<br />
Gehe Du mir voran, leite u[nd] bewahre<br />
mich an u[nd] unter Deiner starken Hand, laß<br />
deine Verheißung Matt[häus] 28,18–20 mich<br />
erfahren, u[nd] folge mir nach, damit ich so in<br />
deinem Dienste Dir zur Ehre, den Heiden zum<br />
Segen u[nd] meinen lieb[en] Lehrern der Deputation<br />
u[nd] allen deinen Miss[ions]-Fre<strong>und</strong>en<br />
zur Freude, so wie auch selbst treu u[nd]<br />
allezeit selig erf<strong>und</strong>en werde. Darauf spreche<br />
ich Amen, Herr Jesu, laß auch mich Dein Amen<br />
alle Tage meines Lebens reichlich u[nd] selig<br />
erfahren Amen.<br />
Geschrieben in der letzten Nacht vor unserer<br />
Abreise nach Africa.<br />
Miss[ions]-Haus am 24ten July, 1834.<br />
Joh[ann] Heinr[ich] Külpmann.<br />
Johann Heinrich Külpmann wurde im August<br />
1834 nach der Kapregion ausgesandt, wo<br />
er zunächst zwei Jahre in Stellenbosch verbrachte<br />
<strong>und</strong> später auf den Stationen Worcester<br />
(1836–45), Ebenezer (1845–46) <strong>und</strong> Saron<br />
(1846–52) tätig war. Am 15. Januar 1835 hatte<br />
er Christine Vos aus Tulbagh geheiratet, die<br />
nach nur fünf Ehejahren, am 11. Oktober 1840,<br />
starb. Am 30. Januar 1843 heiratete Külpmann<br />
Henriette von der Brake (1814–1852) aus Altena,<br />
mit der er die Kinder Christine (* 1844),<br />
Johannes (*1848), Marie (* 1850, verheiratet<br />
mit Stadtmissionar Schmidt, Elberfeld) <strong>und</strong><br />
Wilhelm (* 1851) hatte. Kurz vor der Rückkehr<br />
des Paares nach Deutschland erkrankte Henriette<br />
Külpmann an Brustkrebs <strong>und</strong> starb am<br />
11. Juni 1852 in Worcester. Külpmann war bis<br />
1859 im Heimatdienst der Rheinischen Mission<br />
tätig, bevor er ein Pfarramt übernahm.<br />
1871 ging er in den Ruhestand. 145 Er starb am<br />
9. Januar 1887 in Barmen.<br />
Ferdinand Juffernbruch (1819–1893)<br />
Lebenslauf v. F[erdinand] Juffernbruch<br />
[Notiz:] Schreiner<br />
Ich wurde im Jahr 1819 d[en] 15ten März<br />
auf der Beugers[?] in der Gemeinde Ratingen<br />
geboren, <strong>und</strong> am 20sten dieses M[onats] von<br />
dem Herrn Pastor Petersen 146 getauft. Mein Vater,<br />
Joh[ann] Wilh[elm] im Jahr 1766 den 27ten<br />
October auf dem Juffernbruch in Erkrath geboren,<br />
lebt noch; meine Mutter aber, geborene<br />
Vosbein, ist schon seit 8 Jahren entschlafen.<br />
Weil meine lieben Eltern verarmten, so mußten<br />
sie mich frühe in Arbeit stellen, <strong>und</strong> ich konnte<br />
nur kurze Zeit den Schul-Unterricht genießen.<br />
Und weil ich meinen Eltern oft sehr un -<br />
gehorsam war, ihnen manches Herzeleid verursachte,<br />
so daß sie oft mit betrübtem Herzen, namentlich<br />
meine liebe Mutter, zu mir sagte:<br />
„Kind! Kind! Was soll noch aus dir werden!<br />
Du artest ganz aus! so sahen sie sich genöthigt,<br />
mich bei andere Leute zu thun was dann auch<br />
geschah. Erst vermie theten sie mich 1 Jahr<br />
nach Brunnenhaus[?], in der Nähe von Mettmann.<br />
Da mußte ich, außer dem Kühehüten,<br />
tüchtig arbeiten, so daß ich wenige Augenblicke<br />
frei hatte. Auch war ich da abge schnitten<br />
von allem Umgang mit leichtfertigen Knaben;<br />
67
<strong>und</strong> dieses alles war mir eben recht heilsam.<br />
Oft fielen mir die oft mit Tränen begleiteten<br />
Worte meiner lieben Eltern ein, ich mußte über<br />
meinen Ungehorsam gegen meine lieben <strong>und</strong><br />
so gutmeinenden Eltern weinen; aber dies waren<br />
noch nicht die rechten Thränen; die noch<br />
nicht göttliche Traurigkeit, welche zur Seligkeit<br />
eine Reue gewinnt, die niemand gereut.<br />
Diese trat erst nach 1 /2 Jahr ein. Vom Herbste an<br />
mußte ich bei Herrn Pastor Müller 147 in die<br />
Kinderlehre gehen, <strong>und</strong> der Herr segnete diesen<br />
Catechisationsunterricht so an meinem<br />
Herzen, so daß ich mein verdorbenes Herz,<br />
meinen verdammungs würdigenden Zustand<br />
allmählich kennen lernte [<strong>und</strong>?] oft schmerz -<br />
lich fühlte. Aber zu einem Durchbruch kam es<br />
mit mir noch nicht. Dies geschah erst im März.<br />
Herr Pastor Müller predigte nämlich über die<br />
Schächer am Kreuz, <strong>und</strong> durch diese Predigt<br />
wurde ich so ergriffen, so daß ich vor Angst<br />
über meine Sünde nicht zu bleiben wußte. Sobald<br />
die Kirche aus war, eilte ich mit über<br />
meine Sünde tief betrübtem <strong>und</strong> nach Gnade<br />
<strong>und</strong> Rettung schreiendem Herzen nach Hause,<br />
um da ein verborgenes Plätzchen zu suchen,<br />
wo ich meine Knie vor dem Herrn beugen <strong>und</strong><br />
ihm meine Noth klagen konnte. Diese Noth,<br />
diese Sünden-Angst, dieses Schreien nach Erbarmung<br />
<strong>und</strong> Rettung dauerte mehrere Tage, so<br />
daß ich weder essen noch trinken konnte, <strong>und</strong><br />
die Leute im Hause nicht wußten, was mir war,<br />
bis ich’s ihnen endlich sagen mußte. Endlich<br />
aber erhörte der Herr mein Flehen, <strong>und</strong> verwandelte<br />
die Traurigkeit in Freude <strong>und</strong> Jauchzen.<br />
Ich war gerade am Vormittag in der Stube<br />
um Kartoffeln zu schälen, als auf einmal das<br />
Wort des Herrn wie ein Blitz in mein verw<strong>und</strong>etes<br />
Herz fuhr: „Sei getrost mein Sohn, dir<br />
sind deine Sünden vergeben!“ 148 Was ich da<br />
empfand, ist mir unmöglich niederzuschreiben.<br />
Ich mußte mit dem[?] Dichter jauchzend sagen:<br />
„Ach, was hör’ ich? Gnade! Gnade!<br />
Gnade schallet in mein Ohr: Ach, mich Sündenwurm,<br />
mich Made hebt ein sanfter Zug empor.<br />
Gott spricht: Sünder, du sollst leben, deine<br />
Schuld ist dir vergeben; Sei getrost, mein lieber<br />
Sohn! Komm zu meinem Gnaden -Thron!“<br />
u.s.w.<br />
Gern hätte ich nun einen jeden so glücklich<br />
68<br />
gesehen, wie ich war durch die freie Gnade<br />
[des?] treuen Herrn, <strong>und</strong> als ich aus den Missions-Blättern<br />
ersah, daß noch so viele tausende<br />
von armen Heiden in den Zorn dahin gingen,<br />
ohne etwas von diesem alleinigen Retter <strong>und</strong><br />
Seligmacher hören zu können: so bekam ich<br />
den heißen Wunsch, das herzliche <strong>und</strong> sehnliche<br />
Verlangen, diesen armen Seelen dasselbe<br />
Heil anzupreisen, das mir wider fahren. Wenn<br />
ich aber den Blick auf mich, den armen Jungen,<br />
auf meine Unwürdigkeit richtete: so suchte ich<br />
dieses Ver langen zu unterdrücken.<br />
Am 1. Mai, als ich mein Jahr ausgedient<br />
hatte, zog ich vom Armenhaus nach Groß-<br />
Menninghof, auch in der Nähe von Mett mann,<br />
wohin meine Eltern mich wieder ein Jahr vermiethet<br />
hatten, <strong>und</strong> dieselben Dienste tun<br />
mußte, wie zu Brunnenhaus[?]. Hier wohnte<br />
ich nun bei wahrhaft frommen Leuten, die sich<br />
meiner leiblich <strong>und</strong> geistlich recht liebreich annahmen.<br />
Auch ließen sie mich bei Herrn Pastor<br />
Müller confirmiren, was mir viel werth <strong>und</strong><br />
große Freude war. Als ich nun zu Groß-Menninghofen<br />
mein Jahr ausgedient hatte, <strong>und</strong> confirmirt<br />
war, da thaten mich meine Eltern bei<br />
Herrn Beikerhoff, Schreinermeister in Mettmann,<br />
auf drei Jahre in die Lehre, um die<br />
Schreinerei zu erlernen. Sooft ich auch das<br />
eben erwehnte Verlangen, oder richtiger, den<br />
Missionstrieb zu unterdrücken suchte, weil ich<br />
mich für zu unfähig ansah: so war es mir doch<br />
un möglich, diesen Trieb zu unterdrücken, ja, er<br />
wurde immer sterker <strong>und</strong> ich beim Unterdrücken<br />
desselben immer unruhiger, so daß ich<br />
zuletzt in meinem letzten Lehrjahre den Herrn<br />
Pastor Müller hierüber in Kenntnis setzte, der<br />
mir sagte, es könne[?] vielleicht geschehen,<br />
daß die Deputation mich als Kolonist, oder<br />
höchstens als Schullehrer der armen Heiden-<br />
Kinder aussenden könnte, <strong>und</strong> so theilte Herr<br />
Pastor Müller dies[?] der ehrw[ürdigen] Deputation<br />
mit. Vorläufig mußte ich, wie alle Missions-Aspiranten,<br />
im Wupperthale arbeiten, <strong>und</strong><br />
zwar 1 1 /2 Jahre, auf daß die ehrwürdige Deputation<br />
mich näher kennen lernte. Dann wurde<br />
ich aufgenommen, um im Missions -Hause zum<br />
Missionsdienste vorbereitet zu werden. Meine<br />
Vor bereitungszeit im Missions-Hause währte 2<br />
1/2 Jahre, welche Zeit mir zum großen Segen
Ferdinand Juffernbruch<br />
gereichte. Namentlich hat sich mein Herz oft in<br />
den mir unvergeßlichen Bibelst<strong>und</strong>en geweitet[?],<br />
welche unser lieber Herr Inspector Dr.<br />
Richter149 ertheilte. Dann wurde mir der Ruf<br />
von[?] der General-Versammlung nach Borneo<br />
zu gehen, <strong>und</strong> den armen Bornesen das süße<br />
Evangelium, die theure Botschaft von Christo<br />
zu bringen. Am 1. Juni wurde ich mit den anderen<br />
Brüdern in der luth[e rischen] Kirche zu<br />
Elberfeld abgeordnet, <strong>und</strong> am 25ten Juni traten<br />
wir die Reise zu den armen Verlorenen an. Der<br />
Herr wolle mit uns sein <strong>und</strong> bleiben; uns recht<br />
in die Niedrig keit <strong>und</strong> Einfalt des Herzens hineinführen,<br />
darin erhalten <strong>und</strong> uns zu seinen<br />
treuen Friedens-Boten machen! Ihm, dem ewig<br />
Treuen, sei Dank für Alles!<br />
Atlantischer-Ocean den 14ten September<br />
1842<br />
Ferdinand Juffernbruch wurde im Juni<br />
1842 nach Borneo ausgesandt, wo er auf der<br />
Station Kahajan als Missionar tätig war. Wegen<br />
Erkrankung seiner Frau, Adelheid von Ha-<br />
gen aus Lennep, die er am 21. Juni 1842 geheiratet<br />
hatte, mußte das Paar die Station 1844<br />
verlassen. Ab 1845 war Juffernbruch auf der<br />
Station Ebenezer/Kapregion tätig. Wegen erneuter<br />
schwerer Krankheit seiner Frau kehrte<br />
die Familie 1856 nach Deutschland zurück. In<br />
den nächsten sieben Jahren war Juffernbruch<br />
als Reiseprediger der Rheinischen Mission in<br />
ganz Deuschland unterwegs, bevor er 1863<br />
Gefängnisprediger in Elberfeld wurde. Erst<br />
nach dem Tod von Adelheid Juffernbruch<br />
(7.März 1873), die „19 Jahre fast beständig<br />
krank zu Bett gelegen hatte“ 150 , sah sich Juffernbruch<br />
in der Lage, seine Arbeit als Missionar<br />
wieder aufzunehmen. Seit 1874 war er zur<br />
Unterstützung von Paulus Daniel Lückhoff auf<br />
der Station Stellenbosch tätig.<br />
Mit seiner ersten Frau hatte Juffernbruch<br />
acht Kinder gehabt, von denen nur zwei ein<br />
höheres Alter erreichten: Carl (* 1846, Prediger<br />
am Kap) <strong>und</strong> Maria (* 1857). Am 9. Juni<br />
1875 heiratete Juffernbruch Friederike Schröder<br />
(1842–1913) verw. Kupferbürger, aus<br />
Wupper thal, mit der er drei Kinder hatte: Johanne<br />
(* 1876), Ferdinand (* 1878) <strong>und</strong> Lucie<br />
(* 1879). Durch ein „schmerzvolles Fußleiden“<br />
151 sah Juffernbruch sich im Jahre 1888<br />
gezwungen, in den Ruhestand zu treten. Er<br />
starb am 26. September 1893 in Stellenbosch.<br />
Anna Rath, geb. Jörris (1822–1859)<br />
Anna Jörris geb[oren] den 2 Juni 1822.<br />
Mein Vater Gerhard Jörris <strong>und</strong> meine Mutter<br />
Chatharina Jörris geb. Banert[?] nebst 8 Geschwistern<br />
leben noch jetzt in meinem<br />
Geburts ort in Eversael Gemeinde Budberg bei<br />
Rheinberg woselbst sie sich vom Ackerbau<br />
ernähren. In meinem 5 Jahre zogen meine Eltern<br />
in der nähe von Mettmann auf einem<br />
Ackergut u[nd] ich blieb zurück bei der<br />
Großmutter <strong>und</strong> besuchte den dortigen Schulunterricht<br />
von Herr [?] in meinem 9 lebensjahre<br />
folgte ich meinen Eltern nach Mettmann<br />
wo ich den ferneren Schul-Unterricht vom<br />
Lehrer Kaulen[?] in der Herrschaft[?] Diepensiepen<br />
genoß <strong>und</strong> im 12 Jahre die Catechisation<br />
von Herr Kandidat Ball besuchte. Nach-<br />
69
dem ich nun auch noch 2 Jahre den Confirmanden<br />
Unter richt von Herr Pastor Müller 152 besucht<br />
hatte wurde ich vom Letzteren in Mettmann<br />
Confirmirt. Während dem Con fir man -<br />
den Unterricht wurde ich erweckt <strong>und</strong> die liebevollen<br />
mit großem Ernst verb<strong>und</strong>enen Ermahnungen<br />
des Herrn Pastors waren die Mittel<br />
welche der Herr an meinem Herzen segnete.<br />
Nun war es zwar mein ernstlicher Vorsatz mich<br />
ganz dem Herrn hin zugeben u[nd] ihn zu leben,<br />
<strong>und</strong> mein inniger Wunsch dem Herrn in<br />
der Heidenwelt zu dienen, aber es war leider<br />
dies Alles auf eigene Kraft gegründet <strong>und</strong><br />
konnte deshalb nicht bestehen. Zwei Monate<br />
vor meiner Confirmation zogen meine Eltern<br />
auf ihren jetzigen Eigenthum nach Eversael<br />
<strong>und</strong> gleich nach der selben folgte ich dorthin<br />
wo ich von mehreren Verwandten u[nd] Fre<strong>und</strong>en<br />
fre<strong>und</strong>lich aufgenommen <strong>und</strong> zu ihren<br />
weltlichen Treiben <strong>und</strong> Vergnügungen hingerissen<br />
wurde, denn auch im Elterlichen Hause<br />
hörte ich wenig Christliches weil die Eltern damals<br />
auch noch ungläubig waren. Ruhe hatte<br />
ich seitdem ich erweckt war aber nie mehr;<br />
auch in den größten weltlichen Vergnügen,<br />
denn der treue Herr der immerdar die verlorenen<br />
Schafe nachgeht, konnte auch mich nicht<br />
lassen <strong>und</strong> verfolgte mich bis ich nicht weiter<br />
mehr konnte. Von meinem 17 Jahre an war ich<br />
1 1 /2 Jahr in Mettmann bei mein Ohm u[nd]<br />
Tante um denen im Laden u[nd] in der Haushaltung<br />
behülflich zu sein, diese Zeit lebte ich<br />
ganz einsam u[nd] zurückgezogen nur im<br />
Kreise der Familie, ich hatte keine einzige<br />
Fre<strong>und</strong>in u[nd] glaubte nun so mir selbst u[nd]<br />
den gesetzlichen Forderungen die an mir ergingen<br />
in meinem Innern genug zu thun doch auch<br />
hier fand ich keine Beru higung <strong>und</strong> erst im<br />
Jahre 1842 als ich wieder nach Eversael<br />
zurückkam <strong>und</strong> es sich dort während meiner<br />
Abwesenheit sehr lieblich gestaltet hatte, denn<br />
es war dort reges Christliches Leben unter<br />
mehreren Dorfbewohnern u[nd] auch bei meinen<br />
lieben Eltern u[nd] meiner Schwester gekommen,<br />
dies erschütterte mich heftig <strong>und</strong> erst<br />
da fühlte ich wie weit ich vom Herrn entfernt<br />
war. Centnerschwer fiel mir besonders auf die<br />
Seele, daß ich meinen Vorsatz bei der Confirmation<br />
so untreu geworden war u[nd] ich<br />
70<br />
glaubte es sei jetzt mit mir gar aus u[nd] keine<br />
Gnade mehr für mich, bis es dann endlich nach<br />
manchen schweren Kämpfen die fast ein<br />
ganzes Jahr währten dem Herrn gefiel mir der<br />
Vergebung der Sünden gewiß zu machen wozu<br />
nächst Gotteswort die Predigten von Krumacher153<br />
über’s Hohelied Salomo u[nd] Missionars<br />
Empfindungen[?] auf dem Himmelswege<br />
mir geseg nete Mittel waren in des Herrn Hand.<br />
Jetzt erwachte aber auch wieder ganz lebendig<br />
der Trieb in mir dem Herrn in der Heidenwelt<br />
zu dienen, doch wie sollte ich dazu gelangen;<br />
ich war zu wenig mit der h[ei]l[igen] Missionssache<br />
bekannt, u[nd] hatte auch keine Freiheit<br />
mich zu melden, ja nicht einmal mich anders<br />
als vor dem Herrn u[nd] einer mir sehr vertrauten<br />
Fre<strong>und</strong>in auszusprechen. Ich mußte nur immer<br />
den Herrn bitten mir doch, wenn es sein<br />
Wille wäre den Weg zu bahnen um mich als ein<br />
geringes Werkzeug in seiner Hand zu gebrauchen<br />
wo es ihm wohlgefiele, doch zu seiner<br />
Ehre u[nd] zum Preise seines h[ei]l[igen] Namens.<br />
Vor beinah zwei Jahre wurde ich durch ein<br />
besonderes Verhältnis veranlaßt meinen Trieb<br />
zur Mission gegen meine Eltern u[nd] einigen<br />
Missionsfre<strong>und</strong>en auszusprechen u[nd] vor<br />
stark 6 Monate von der Frau Inspektorin Richter154<br />
gebeten sie als Missionsfre<strong>und</strong>in einmal<br />
zu besuchen woher der Geehrte Herr Inspector<br />
u[nd] seine liebe Frau meine Nei gung zum<br />
Missionsdienst wußten ist mir unbekannt, das<br />
aber weiß ich <strong>und</strong> bins gewiß daß der Herr es<br />
so geführt hat; Er ist es ja auch nur allein der<br />
jetzt der geehrten Rheinischen Missionsgesellschaft<br />
oder doch den geehrten Herren Deputirten<br />
Freudigkeit gegeben hat mich in ihren<br />
Dienst zu nehmen um mich nach Stellenbosch<br />
in Südafrika zu schicken. Und so schließe ich<br />
mich denn so der Herr will morgen getrost den<br />
andern 5 Missions-Geschwister an <strong>und</strong> wir treten<br />
mit Gottes Hülfe gemeinschaftlich die<br />
Reise an. Ich bin ganz gewiß daß der Herr der<br />
das Werk angefangen es auch vollführen wird<br />
zu seines Namens Ehre<br />
Barmen den 3ten September 1846<br />
Anna Jörris wurde 1846 nach Stellenbosch<br />
entsandt, wo sie zunächst als Gehilfin der
„Witwe Kähler“ tätig war. 1848 reiste sie nach<br />
Südwestafrika, wo sie am 21. März 1848 den<br />
ehemaligen Seidenweber Johannes Rath<br />
(1816–1903) aus Wien heiratete, der seit 1844<br />
als Missionar bei den Herero tätig war,<br />
zunächst auf den Stationen Otjikango (1845–<br />
49) <strong>und</strong> Otjimbingue (1849–61). Im Oktober<br />
1858 brach die inzwischen achtköpfige Familie<br />
auf, um die beiden ältesten Kinder, Catharine<br />
(* 1849, verheiratet am Kap) <strong>und</strong> Anna (*<br />
1851, Lehrerin am Kap), zur Erziehung in die<br />
Kapregion zu bringen. Auf der Rückreise lief<br />
das Schiff am 1. April 1859 in der Walfischbai<br />
auf Felsen auf. Anna Jörris <strong>und</strong> ihre vier Kinder<br />
ertranken, nur der Familienvater überlebte<br />
das Unglück. 155 Von 1862–93 war Rath Missionar<br />
der Station Sarepta in der Kapregion, danach<br />
lebte er als Emeritus in Stellenbosch, wo<br />
er am 6. Juni 1903 starb.<br />
Wilhelm Lobscheid (1822–1898)<br />
[Notiz:] Schumacher<br />
W[ilhelm] Lobscheid wurde 1822 d[en] 19.<br />
März zu Lobscheid, Gemeinde Gummersbach,<br />
Bürgermeisterei Gimborn von J[?] W[?] Lobscheid,<br />
Branntweinbrenner u[nd] Ackersmann<br />
daselbst u[nd] Wilhelmine Mohrenstecher, geboren.<br />
Nach dem frühen Tode meiner Mutter<br />
[am Rand: + 1829] war ich mehr mir selbst<br />
u[nd] der Willkür unseres Gesindes überlassen,<br />
bis 1831 mein Vater in eine zweite Ehe mit einer<br />
Wittwe auf dem Hülsenbusch einging, welche<br />
aber durch den Leichtsinn meines Vaters<br />
nicht glück lich geführt wurde. 1830–17<br />
Sep[ember]. wurde er ein Opfer des Grames<br />
u[nd] Schmerzes, nachdem er vorher durch<br />
Reue u[nd] Schmerz sich auf seinen Tod vorbereitet<br />
hatte. Ich kam zu meinem Ver wandten<br />
in Bernberg[?] wo ich bei meinem Vetter Viebahn<br />
3 Jahre zubrachte, bis mancherlei Verhältnisse<br />
mich dem Kaufmanns tande [am Rand: zu<br />
dem ich bestimmt war] entsagen u[nd] das<br />
Schuhmacherhandwerk erlernen hießen. 1837<br />
trat ich in der Letmathe[?] in die Lehre, zog mit<br />
meinem Meister nach Freudenberg, von wo aus<br />
ich 1839 wieder nach Gummersbach reiste, daselbst<br />
in Derschlag 11 M[ona]t[e] arbeitete<br />
u[nd] 1840 im Sept[ember] nach Lennep reiste.<br />
Bis dahin hatte ich keinen christl[ichen] Umgang<br />
gehabt, nur war mir durch das Lesen von<br />
Stillings Schriften (u[nd] später auch Missions-Blättern)<br />
mancher Lichtstrahl in mein<br />
Herz gekommen, der aber erst da durch die<br />
Finsternis brach, da ich 1841 das Wupperthal<br />
betrat, u[nd] durch eine lebendige Gemeinschaft<br />
geweckt u[nd] genährt wurde. Hier sah<br />
ich zum ersten Mal Missionare abordnen, welches<br />
mich auch zum ersten Mal veranlaßte,<br />
meine Knie vor dem Herren zu beugen, damit<br />
er auch mich in seinen Dienst nehmen möchte.<br />
Die mir entgegentretenden Schwierigkeiten<br />
veranlaßten mich, mich vorher durch kleine<br />
Reisen zu prüfen, ob dieser Ruf auch wirklich<br />
von Gott sei. Daher machte ich 1842 eine Reise<br />
nach Neuwied, Koblenz, St. Goar etc. von da<br />
nach Detmold, Osnabrück, kehrte 1843 im<br />
Febr[uar] wieder zurück nach Elberfeld, wo<br />
ich 1843 den 12. November als Rekrut nach<br />
Saarlouis eingefordert wurde. Auf diesem<br />
Wege dachte ich meinen Missionberuf lösen zu<br />
können – aber – schon nach 2 Monaten konnte<br />
ich wieder umkehren; u[nd] die Erfahrungen<br />
während dieser Zeit gaben mir die Versicherung,<br />
daß auch mich der Herr in seinen Dienst<br />
nehmen wollte, u[nd] zugleich die Freudig keit,<br />
mich im Okt[ober] 1844 bei der geehrten Deputation<br />
der Rh[einischen] Missions-Gesellschaft<br />
(zunächst bei dem Insp[ektor] der -<br />
selben) zu melden, u[nd] nach Verlauf von acht<br />
Tagen wurde meine Freudigkeit zu diesem Berufe<br />
durch das mir ge schenkte Vertrauen seitens<br />
der geehrten Deputation ge stärkt, indem<br />
mir die Versicherung zur Aufnahme gegeben<br />
wurde. Nach beinah l4tägigen Aufenthalten in<br />
der Schule bei Herrn Peters in Gemarke konnte<br />
ich durch Gottes Gnade in das mir unvergeßliche<br />
Missionshaus treten um unter der Leitung<br />
der jetzt schon entschlafenen Brüder, Herrn W.<br />
Richter u[nd] Insp[ektor] Dr. Heinr[ich] Richter<br />
156 mich zu dem wichtigen Amte: den Heiden<br />
das Ev[angelium] zu verkündigen, vorzubereiten.<br />
So schwer mir auch das Scheiden aus<br />
diesem Hause wird, da ich den Mann nicht<br />
mehr darin finde, zu dessen Füßen ich mich zuerst<br />
setzen durfte: so freudig gehe ich aber<br />
auch, da ich weiß, daß uns der Herr noch Einen<br />
71
Mann gelassen, den er mit Kraft, Gaben u[nd]<br />
vor allem mit tragender Liebe ausgerüstet hat.<br />
Möge der Herr ihn u[nd] alle Vertreter unserer<br />
Gesellschaft noch lange erhalten u[nd] immer<br />
reichlicher segnen, damit sie auch mir in dem<br />
mir anvertrauten Amte ferner (wie bisher) mit<br />
väterlichem Rathe beistehen können.<br />
Mein Ziel u[nd] Wunsch: „Die Erkenntniß<br />
des Herrn soll die Erde bedecken, wie das Wasser<br />
den Gr<strong>und</strong> des Meeres“ 157 ; Das[?] mein<br />
Streben, mein Gebet.<br />
W[ilhelm] Lobscheid<br />
Wilhelm Lobscheid wurde 1847 nach China<br />
ausgesandt, wo er nach einem Aufenthalt in<br />
Hongkong von 1849–51 in Saiheong als Missionar<br />
tätig war. 1851 kehrte er nach Deutschland<br />
zurück. Im Jahre 1852 schied er aus der<br />
Rheinischen Missionsgesellschaft aus <strong>und</strong><br />
schloß sich der britischen „Medico-Missionsgesellschaft“<br />
für China an. Warum Lobscheid<br />
den Dienst quittierte, hat er in einem Brief aus<br />
Hongkong an Ludwig von Rohden vom 10.<br />
März 1872 geschildert. Rohden hatte in seiner<br />
Geschichte der Rheinischen Mission mehrere<br />
kritische Bemerkungen über Lobscheid eingeflochten,<br />
auf die dieser mit einer ungeschminkten<br />
Schilderung der damaligen Umstände reagierte.<br />
Auch Entstellungen seiner späteren Arbeit<br />
in Rohdens Geschichte kritisierte er<br />
scharf. (Siehe Personalakte, B/h 3). Lobscheids<br />
späterer Lebenslauf ist noch nicht zu<br />
Ende recherchiert.<br />
Wilhelm Kind (1830–1859)<br />
W[ilhelm] Kind. [Notiz:] Anstreicher Tapezierer<br />
Jünglingsverein Wupperfeld<br />
1830 d[en] 7 Juni wurde ich zu Elbach in<br />
der Gemeinde Hülsenbusch geboren. Mein Vater<br />
war Gerber, starb aber schon in meinem<br />
zehnten Jahre, März 1840. Das Sterbebett meines<br />
sel[igen] Vaters, indem er wenige Tage vor<br />
seinem Ende zu einer gründlichen Erkenntniß<br />
seiner Sünden, aber auch bald zu der freudigen<br />
Gewißheit der Vergebung derselben gelangte,<br />
machte auf mich einen tiefgreifenden unvergeßlichen<br />
Eindruck. Im Frühjahr 1844 hei-<br />
72<br />
rathete meine Mutter meinen jetzt noch lebenden<br />
Stiefvater Chr[istian?] Brüning, welcher<br />
mir bald behülflich war, daß ich nach meiner<br />
Confirmation bei Herrn Pastor v[on] Scheven<br />
158 , zu einem Tapezierer u. Anstreicher-<br />
Meister in Gummersbach auf 3 Jahre, von 1845–<br />
1848 in die Lehre kam. Die guten Eindrücke,<br />
welche ich theils im elterlichen Hause, (meine<br />
1[iebe] Mutter hielt mich immer zum Gebet<br />
u[nd] zu Gottes Wort an,) theils am Sterbebett<br />
des Vaters, theils im Unterricht u[nd] der Confirmation<br />
bekommen hatte, begleiteten mich<br />
auch durch meine Lehrjahre hindurch, so daß<br />
ich vor groben Sünden bewahrt blieb, was ich<br />
gern als die vorlaufende Gnade ansehe. Uebrigens<br />
ging ich bis zu Ende meiner Lehrzeit immer<br />
noch ohne den Herrn u[nd] seinen Frieden<br />
dahin. Erst als ich im März 1848 in Nümbrecht<br />
auf einige Wochen arbeitete u[nd] dort am<br />
Bußtage eine Predigt von H[errn] Pastor<br />
Thümmel 159 über die liebliche ernste Geschichte<br />
vom verlorenen Sohn hörte, so gebrauchte<br />
der Herr den theuren Mann als ein<br />
Werkzeug, um mich zu sich zu ziehen. Von<br />
Nümbrecht kehrte ich dann bald wieder nach<br />
Gummersbach zurück, wo ich nun bald um<br />
Jesu u[nd] seines Namens willen Schmach<br />
u[nd] Spott tragen mußte, weil man merkte,<br />
daß ich anders von N[ümbrecht] zurück -<br />
gekommen als hingegangen war. Von Frühjahr<br />
1849 bis Herbst 1850 arbeitete ich als Geselle<br />
in Wupperfeld, wo ich bei einem alten treuen<br />
Christen im Logis war, u[nd] manche gesegnete<br />
St<strong>und</strong>e bei demselben verlebte. Auch war<br />
ich in den 2 Jahren Mitglied des Wupperf[elder]<br />
Jünglings-Vereins, was auch nicht ohne<br />
Segen für mein inneres Leben blieb. Auch<br />
wurde ich nach u[nd] nach mit der lieben Missionssache<br />
bekannt, jedoch den ersten bereitwilligen<br />
Entschluß, mich selbst in eigener Person<br />
dem Herrn zum Dienst unter den armen<br />
Heiden hinzugeben, erregte in mir eine Missionsst<strong>und</strong>e,<br />
welche unser lieber Herr Insp[ektor]<br />
Wallmann 160 eines Abends in Wupperfeld<br />
hielt, wo er über den Mangel an Arbeitern im<br />
Weinberg des Herrn unter den Heiden sprach.<br />
Ich theilte H[errn] Insp[ektor] eines Tages<br />
meine Gedanken mit, u[nd] nach Verlauf von<br />
8 –10 Wochen, d[en] 18 Nov[em]b[e]r 1850
trat ich als Zögling ins liebe Missionshaus ein.<br />
Nachdem ich ungefähr 1 Jahr im Hause war,<br />
mußte ich Soldat werden, u[nd] diente also in<br />
Wesel beim 13 Inf[ante]r[ie] Reg[iment] von<br />
Oct[o]b[e]r 1851 – Oct[o]b[e]r 1853. – Als ich<br />
erst einberufen wurde, wußte u[nd] verstand<br />
ich nicht, warum ich nun noch Soldat werden<br />
sollte; später habe ich’s eingesehen u[nd] dem<br />
Herrn dafür gedankt. Von Oct[o]b[e]r 1853 bis<br />
heute bin ich dann wieder als Zögling hier im<br />
lieben unvergeßlichen Missionshaus gewesen.<br />
Stehe ich nun heute bei diesem Scheidewege<br />
still u[nd] überdenke so Alles, u[nd] namentlich<br />
den schönen gesegneten Aufenthalt<br />
hier im Hause so muß ich in tiefer Demuth<br />
u[nd] Beschämung vor dem Herr niedersinken<br />
u[nd] ausrufen: Herr! Herr! Ich bin nicht werth<br />
aller Barmherzigkeit u[nd] großen Treue, die<br />
du an mir gethan hast! 161 Und wenn ich nun<br />
meinen mir gestellten Beruf ansehe, so rufe ich<br />
auf Gr<strong>und</strong> der vielen herrlichen Beweise der<br />
großen Treue meines Gottes u[nd] Heilandes<br />
getrost aus: Getreu ist Er, der auch mich rufet,<br />
Er wird es auch thun! 162 Amen.<br />
Missionshaus<br />
d[en] 13. Febr[uar] 1857<br />
geschrieben den Morgen vor meiner Abreise<br />
von hier nach Borneo<br />
Wilhelm Friedrich Kind wurde 1857 nach<br />
Borneo ausgesandt, wo er auf der Station<br />
Behtabara tätig war. Kinds Plan, eine neue<br />
Station „am oberen Kapuas“, nördlich von<br />
Tanggohan, zu errichten, wird Anfang 1859 in<br />
den „Berichten der Rh. Mission“ erwähnt. 163<br />
Am 7. Mai 1859 fiel Kind dem Blutbad von<br />
Tanggohan zum Opfer, bei dem die meisten<br />
Rheinischen Missionare im Gebiet ermordet<br />
wurden (siehe Emma Hofmeister). Ebenfalls an<br />
diesem Tag getötet wurde Sybilla Wilhelmina<br />
Margarete Steinfarz (* 1830) aus Jüchen bei<br />
Grevenbroich, die nur einen Monat zuvor, am<br />
2. April, Kinds Frau geworden war.<br />
Friedrich Ernst Braches (1844–1922)<br />
Fr[iedrich] E[rnst] Braches. [Notiz:] Pa-<br />
pierfabrik Kaufmann Jünglingsverein<br />
Ich wurde geboren am 10 Aug[ust] 1844 in<br />
Gräfrath, im Kreis Solingen, wo meine Eltern<br />
ein kleines Ackergütchen besaßen. Meine Erziehung<br />
lag vorzugsweise meiner theuren Mutter<br />
Carol[ine?] L[ui]s[e?], geborene Ramus ob;<br />
doch überwachte mein Vater Friedr[ich]<br />
[Paul?] dieselbe stets. Namentlich war er darauf<br />
bedacht, mich durch Schulunterricht für<br />
mein späteres Leben vorzu bilden. Diesem<br />
Zweck widmete er gern die stillen Winter -<br />
abende, in welchen er mir selber Unterricht<br />
gab; auch ließ er mir durch den Lehrer Hager<br />
Privatst<strong>und</strong>en geben. Meine Jugend bis zum<br />
11. Jahre verlief ziemlich still; doch fehlte es<br />
nicht an tiefen Eindrücken, welche die Wahrheit<br />
des Evang[eliums] auf mein Gemüth<br />
machte. Dieser mit Zweifel entgegenzutreten<br />
galt mir stets für die größte Sünde. So waren<br />
mir gottlose Leute ein Greuel, während ich vor<br />
Frommen große Achtung hatte. Die Versuchungen<br />
u[nd] Schleichgänge des Argen<br />
kannte ich aber nicht. Als nun in meinem 12<br />
Jahre meine Eltern ihr Eigenthum verkauften<br />
u[nd] in der Nähe von Elberfeld ein größeres<br />
Bauerngut mietheten, kam ich in Berührung<br />
mit vielen Jungens, meines Alters, denen ich<br />
ohne Weiteres traute u[nd] weil ich den Warnungen<br />
meiner sorgsamen Mutter kein Gehör<br />
schenkte, war ich bald ein Verführter. Eine<br />
schwere Zeit begann für mich, welche den<br />
festen Entschluß ein wahrhaft frommer<br />
Mensch zu werden, bei mir zur Reife brachte.<br />
Mit dem Entschluß ists aber nicht viel geworden.<br />
Es kann Niemand sein eigener Heiland<br />
sein, oder durch Gesetzes Werk gerettet werden.<br />
Die Schulzeit ging zu Ende, ebenso die Zeit<br />
meines Religions unterrichtes, welchen ich bei<br />
Herrn Pastor Lichtenstein 164 erhielt, ohne daß<br />
etwas Wesentliches vorgefallen sei. Das Ziel<br />
meines Strebens war etwas zu finden, worinnen<br />
ein Menschenherz Frieden u[nd] Genügen<br />
hat. Das Gut der Güter aber lernte ich erst nach<br />
meiner Confirmation ernstlicher suchen. Durch<br />
schwere Schläge welche meine Familie trafen,<br />
war mir nachgerade unmöglich geworden, was<br />
ich bis dahin stets verschmäht hatte, entweder<br />
ein Handwerk zu erlernen, oder mich fur ir-<br />
73
gend einen anderen Lebensberuf vor zubilden.<br />
Eine zeitlang that ich gewöhnliche Handarbeit<br />
in einer Papierfabrik. Später schloß mein Vater,<br />
da er auf keine andere Weise etwas thun konnte<br />
für meine Zukunft, einen Contrakt mit meinem<br />
bisherigen Principal165 in welchem derselbe[?]<br />
sich verpflichtete mich die Papierfabrikation<br />
zu lehren. In jener Zeit fallen die stärksten<br />
Züge der Gnade, durch welche ich befähigt<br />
wurde ernstlicher wie je, Gnade Friede u[nd]<br />
ewiges Leben zu suchen. Damals kam auch<br />
zum ersten Male, soviel ich weiß, der Gedanke<br />
in mir auf, u[nd] sprach ich ihn als Bitte vor<br />
dem Herrn aus, [?] er mich doch als einen Boten<br />
seines herrlichen Evangeliums zu den Heiden<br />
senden wolle. – Im März des Jahres 1862<br />
erkrankte ich am Nervenfieber, u[nd] es schien,<br />
um nicht wieder zu genesen. In dieser Krankheit<br />
gab mir der Herr die Gewißheit, daß ich selig<br />
werden solle. Aber ich hatte keine Früchte<br />
gebracht; deshalb begehrte ich, im Falle der<br />
Herr mir dazu Gnade geben wolle, wieder ges<strong>und</strong><br />
zu werden, was auch geschah. Meine<br />
frühere Stellung konnte ich nicht wieder einnehmen,<br />
wegen meiner Ges<strong>und</strong> heit. Durch<br />
Vermittlung eines theuern väterlichen Fre<strong>und</strong>es<br />
in Elberfeld fand ich Stelle in einem Fabrikgeschäft,<br />
wo ich mit einem Zeugkammerposten[?]<br />
betraut wurde, welchen ich etwa 31 /4<br />
Jahr versah, nach welcher Zeit ich meine Aufnahme<br />
ins Kinderhaus in Barmen erhielt. Im<br />
Jahre 1866 im Oktober wurde ich ins Seminar<br />
aufgenommen. Der Durchgang durch dasselbe<br />
hat mir verhältnismäßig wenig Schweres, aber<br />
viele, viele Segnungen gebracht, so daß ich mit<br />
Freuden u[nd] dankbarem Herzen auf die Jahre<br />
meiner Vorbereitung zum Dienst am ,,Evangelium<br />
der Herr lichkeit“ zurücksehe.<br />
Der Barmherzige, Gnädige u[nd] Treue<br />
wolle wie bisher so ferner mit mir sein, u[nd]<br />
meinen Gang ordnen nach den Gedanken[?]<br />
seiner Barmherzigkeit!<br />
Barmen d[en] 16 Aug[ust] 1870.<br />
Friedrich Ernst Braches wurde 1870 nach<br />
Borneo ausgesandt, wo nach dem Blutbad im<br />
Jahre 1859 die Mission wieder Fuß zu fassen<br />
versuchte. Ab 1871 war Braches in Kuala Kapuas<br />
stationiert, wo er bei Missionar Georg<br />
74<br />
Friedrich Ernst Braches<br />
Zimmer 166 in seine Arbeit <strong>und</strong> in die Dajak-<br />
Sprache eingeführt wurde. Als Zimmer Borneo<br />
im Jahre 1882 verließ, wurde Braches Leiter<br />
der Station <strong>und</strong> gleichzeitig Präses der Rheinischen<br />
Mission in Borneo, ein Amt, das er 30<br />
Jahre innehaben sollte. 1885 wurde er nach<br />
Bandjermasin versetzt, wo er, unterbrochen<br />
von einem Aufenthalt in Deutschland (1889–<br />
91), bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1914<br />
tätig war. Trotz Braches’ <strong>und</strong> anderer Missionare<br />
Bemühungen blieben die Erfolge der Mission<br />
in Borneo gering. Neben seiner Missionstätigkeit<br />
war Braches auch als Seelsorger<br />
für die holländische Gemeinde in Bandjermasin<br />
tätig. Er engagierte sich besonders auf dem<br />
Gebiet der Militärseelsorge. 1896 gründete er<br />
das Soldatenheim „Militair te huis“ sowie einen<br />
Enthaltsamkeitsverein.<br />
Braches hatte am 25. März 1873 Hulda Buchenau<br />
(1843–1897) aus Elberfeld geheiratet.<br />
Das Paar hatte acht Kinder: Johanna (* 1874,<br />
verheiratet mit Miss. A. Kuhlmann), Johannes<br />
(* 1875), Caroline (*1876, verheiratet mit
Pfarrer Johannsen, Essen), Emma (* 1878),<br />
Auguste (* 1879, verheiratet mit Miss. Wilkening),<br />
Friedrich (* 1882), Gottfried (* 1884),<br />
Maria (*1887). Hulda Braches, geb. Huldenau,<br />
starb am 17. August 1897 in Bandjermasin.<br />
Am 12. Oktober 1898 heiratet Braches<br />
die Holländerin Henriette van der Eyck (1872–<br />
1944) aus Pontianak/Indien, mit der er sechs<br />
Kinder hatte, von denen die meisten schon<br />
im Säuglingsalter starben: Hulda Henriette<br />
(* 1901), Gottfried (* 1903), Christine (* 1904),<br />
Karl Theodor (* 1906), Paul (* 1908) <strong>und</strong> Johannes<br />
(* 1912).<br />
Seine letzten Lebensjahre verbrachte Braches<br />
auf Java, wo er zunächst als Leiter des Seminars<br />
in Depok einsprang. Später lebte er in<br />
Meester Cornils bei Batavia, wo er sich weiter<br />
der Militärseelsorge <strong>und</strong> der holländischen<br />
Gemeinde widmete. Außerdem revidierte er im<br />
Auftrag der holländischen Bibelgesellschaft<br />
die „Dajakbibel“. Friedrich Ernst Braches<br />
starb am 12. November 1922 in Meester Cornils.<br />
Eduard Heider (1846–1881)<br />
Eduard Heider [Notiz:] Kaufmann Jünglingsverein<br />
Ich bin geb[oren] d[en] 4ten Oct[o]b[e]r<br />
1846 im Langensiepen bei Düssel<br />
Sohn des Joh[ann] Carl Heider. Schon in<br />
meinem 4ten Lebensjahre zogen meine Eltern<br />
von hier nach Elberfeld, wo ich in der Zucht<br />
u[nd] Vermahnung zum Herrn erzogen wurde.<br />
In meinem 7ten Jahre wurde ich in die Schule<br />
geschickt. In dieser Zeit betrieb mein Vater<br />
Ackerbau. Als ich 8 Jahre alt war, starb meine<br />
1[iebe] Mutter Wilhelmine Halfmann. Nach einigen<br />
Jahren vermählte sich mein Vater wieder<br />
mit Scharlotte Velz[?]. Diese uns vom Herrn<br />
geschenkte Mutter, sowie auch mein Vater versäumten<br />
es nicht, uns 4 Kindern den Weg des<br />
Lebens zu zeigen. In dieser Zeit verkaufte mein<br />
Vater sein Ackergut u[nd] etablirte ein kl[eines]<br />
Fabrikgeschäft, welches ich auch später<br />
gründlich gelernt habe. In meinem 14ten Jahr<br />
kam ich aus der Schule, wurde ich ba1d darauf<br />
confirmirt von H[errn] Pastor Krafft 167 . In mei-<br />
Eduard Heider<br />
ner frühesten Jugend hatte ich bereits ein Verlangen,<br />
ein Eigenthum des Herrn Jesu zu werden,<br />
weshalb ich mich auch nach meiner Confirmation<br />
in einen christl[ichen] Jünglings Verein<br />
168 begab. Nach langem hin u[nd] her<br />
schwanken, <strong>und</strong> nach vielen Kämpfen u[nd]<br />
Nöthen, durfte ich mich endlich meines Heilandes<br />
freuen, weshalb ich auch getrieben<br />
wurde, den wieder zu lieben, der mich zuerst<br />
geliebt. 169 – Da mir nun meine l[iebe]. Mutter<br />
früher Vieles von der Heiden-Mission erzählt<br />
hatte, so erwachte in mir das Verlangen auch<br />
Missionar zu werden, weil ich aber noch keine<br />
Klarheit über solches Verlangen hatte, ob es<br />
der Herr sei, oder nicht, bewegte ich dasselbe<br />
im Stillen vor ihm. Der Herr, der ein Gott des<br />
Lichtes ist, ließ mich nicht im Dunkeln über<br />
dasselbe, u[nd] über diesen schweren u[nd]<br />
verläugnungsvollen Weg, weshalb ich mich<br />
auch zum Missionsdienst meldete. Bis zu meinem<br />
21 Lebensjahr arbeitete ich in dem Geschäft<br />
meines Vaters; vom Militairdienst wurde<br />
ich in dieser Zeit frei, weshalb ich auch am 23<br />
75
Oct[o]b[e]r 1867 in die Vorschule des Missionshauses<br />
aufgenommen wurde. Nach einjährigem<br />
Studium hierselbst trat ich ins Missionshaus.<br />
Die vergangenen 4 Jahre in demselben,<br />
sind für mich von Innen u[nd] Außen, was<br />
ich zum Preise des Herrn bekennen darf, von<br />
großem Segen gewesen. Möge der Herr mich<br />
ferner segnen, u[nd] zum Segen Vieler setzen!<br />
Missionshaus 31/11[?] 72<br />
Zur weiteren Biographie Eduard Heiders<br />
siehe Johanne Heider.<br />
Pauline Kramer, geb. Garschagen (1849–<br />
1888)<br />
Pauline Garschagen.<br />
Am 23. Mai 1849 bin ich zu Radevormwald<br />
geboren. Schon frühe wurde ich von meinen<br />
1[ieben] Eltern auf den Herrn Jesus hingewiesen,<br />
weil sie Beide aus Erfahrung wußten,<br />
wie gut man es bei Ihm hat. Von meinem 4t[en]<br />
bis zum 14ten Jahre besuchte ich die Elementarschule<br />
u[nd] ein Jahr lang die Rektoratsschule.<br />
Die letzten 4 Jahre auch den Confirmanden<br />
Unterricht. Aus dieser Zeit ist mir nur<br />
noch in Erinnerung daß ich im 12ten Jahre sehr<br />
an den Augen litt u[nd] mehrere Monate die<br />
Schule nicht besuchen konnte. Meine liebe<br />
Mutter war zu der Zeit auch sehr leidend, u[nd]<br />
saß ich bei ihr in einem dunklen Zimmer. Um<br />
mir nun die Zeit zu vertreiben kam meine Mutter<br />
auf den Gedanken, mir Lieder vorzusagen<br />
die ich lernen mußte. Unter andern lernte ich<br />
auch das Verschen: Alles was mein Thun u[nd]<br />
Anfang ist, das gescheh’ in Namen Jesu Christ<br />
u.s.w. Meine Mutter bat mich dies täglich zu<br />
beten u[nd] in der ersten Freude über die Bessurung<br />
meiner Augen hielt ich dies Versprechen,<br />
aber nachher vergaß ich es wieder. Der<br />
14te Mai 1863 war der Tag meiner Confirmation.<br />
Herr Pastor Müller gab mir bei der Einsegnung<br />
den Denkspruch Joh[annes] 21,17:<br />
Herr du weißt alle Dinge, du weißt daß ich dich<br />
lieb habe!<br />
Ich war an dem Tage sehr bewegt, beantwortete<br />
mit schwerem Herzen die mir vorgelegten<br />
fragen u[nd] bat Gott mir Kraft zu geben<br />
76<br />
mein Versprechen zu halten. Ein Jahr später<br />
kam ich zu einer Tante um den Haushalt u[nd]<br />
das sonst Nöthige zu lernen u[nd] kehrte 1865<br />
zu meinen Eltern zurück. Es war deren<br />
herzl[icher] Wunsch u[nd] tägliches Gebet, daß<br />
ich ein Eigenthum des Heilandes würde. Der<br />
Herr erhörte ihr Gebet. Zu Ostern in Jahr 1867<br />
hörte ich eine Predigt von Herrn Pastor Voswinkel<br />
170 , die mich sehr ergriff. Er bat wir<br />
möchten uns dem Herrn Jesu an den Hals hängen<br />
u[nd] ihn nicht eher lassen, bis er uns gesegnet<br />
hätte. Ich fing nun an ernstlich um Vergebung<br />
meiner Sünden zu beten. Der Herr<br />
deckte mir die Tiefe meiner Sünde auf u[nd]<br />
schenkte mir bald Frieden. Ist es nun auch oft<br />
wieder dunkel in meiner Seele geworden u[nd]<br />
hat der Feind mir den Frieden wieder rauben<br />
wollen, so hat der Herr doch den Sieg behalten.<br />
Im Aug[ust] 1869 verlobte ich mich mit<br />
Missionar Aug[ust] Götsch 171 . Es wurde mir<br />
nicht leicht, doch erkannte ich nach genauer<br />
Prüfung den Willen des Herrn darin u[nd] ging<br />
darauf ein. Am 4t[en] Sept[ember] fand die Abreise<br />
nach Indien statt. Am 6t[en] März erhielt<br />
ich den ersten Brief von dort daß alles gut gegangen.<br />
Aber am 19t[en] April bekam ich die<br />
Nachricht daß mein Bräutigam am 15<br />
Feb[ruar] selig heimgegangen sei.<br />
So erschütternd die Nachricht nun auch<br />
war, so durfte ich doch nach einiger Zeit erkennen,<br />
daß es Liebe vom Herrn war, der mich dadurch<br />
nur noch fester an sein Herz ziehen<br />
wollte. Im Anfang drängte sich oft die Frage in<br />
meinem Herzen auf: Herr warum? Hättest du<br />
mir diesen Schmerz nicht ersparen können?<br />
Aber ich mußte mir die Antwort genügen lassen:<br />
Des Herrn Rath ist w<strong>und</strong>erbar aber er führt<br />
es herrlich hinaus. Allmählich wurde ich dankbar<br />
daß ich bei den 1[ieben] Meinigen bleiben<br />
durfte. Indessen des Herrn Wille war anders!<br />
Im Jahre 1872 bekam ich einen Antrag von<br />
Miss[ionar] F[riedrich] Kramer. Ich bat den<br />
Herrn, er möge mir die Gnade schenken Seinen<br />
Willen zu thun. Er gab mir abermals Freudigkeit.<br />
Anfangs Mai 1875 wurde ich sehr krank.<br />
Diese Zeit war mir von großem Segen. Ich<br />
lernte die Größe meines Gottes kennen. Er wird<br />
mich auch ferner[?] führen. – Den 20t[en] [11?]
Pauline Kramer, geb. Garschagen<br />
werde ich so Gott will nach Nias abreisen.<br />
Missionshaus Barmen d[en] 15/11 1875.<br />
Pauline Garschagen heiratete am 29. Januar<br />
1876 den Missionar Friedrich Kramer<br />
(1844–1920) aus Oerlinghausen bei Detmold,<br />
der seit 1873 auf der Station Gunung Sitoli auf<br />
Nias tätig war. Das Paar hatte fünf (laut dem<br />
Nachruf, Berichte 1888, 306, sechs) Kinder:<br />
Maria (* 1877), Fritz (* 1879), Walter (* 1886)<br />
<strong>und</strong> die Zwillinge Luise (1888–1958) <strong>und</strong><br />
Charlotte. An den Folgen dieser letzten Geburt<br />
starb Pauline Kramer, geb. Garschagen, am<br />
23. April 1888 in Gunung Sitoli. Friedrich<br />
Kramer heiratete am 4. April 1891 Lina Krönlein<br />
aus Windsheim/Bayern, mit der er drei<br />
weitere Kinder hatte. Bis 1908 war er in Gunung<br />
Sitoli tätig, seit 1902 als Präses der Nias-<br />
Mission. Seine letzten Lebensjahre verbrachte<br />
er in Gütersloh, wo er am 24. April 1920 starb.<br />
Louise Simoneit, geb. Kraus (1853–1936)<br />
Louise Kraus<br />
Am 23 Januar 1853 wurde ich als viertes<br />
Kind zu Hübender[?] Gemeinde Wiehl geboren.<br />
Meine Kindheit habe ich mit meinen lieben<br />
Eltern <strong>und</strong> fünf Geschwistern verlebt. Ich<br />
hatte die große Gnade von meinen gläubigen<br />
Eltern mit vieler Liebe <strong>und</strong> Sorgfalt erzogen zu<br />
werden. Besonders wichtig war es meinen Eltern,<br />
uns schon früh das Wort Gottes lieb <strong>und</strong><br />
theuer zu machen; wodurch ich zu der Ueberzeugung<br />
kam, daß es auch mit mir anders werden<br />
müßte, aber zu einer Entscheidung kam es<br />
noch nicht. Die Schule besuchte ich vom 6. bis<br />
14. Lebensjahre in Driesch Gemeinde Nüm -<br />
brecht. Vom 12. bis 14. Jahre erhielt ich den<br />
Unterricht in der Religion von Herrn Pfarrer<br />
Falk 172 in Wiehl, bei welchem ich im Jahr 1867<br />
konfirmirt wurde <strong>und</strong> dadurch[?] das heilige<br />
Abendmahl empfing. Die Zeit vom 14. bis 17.<br />
Jahre habe ich zu Hause theils in häuslicher<br />
<strong>und</strong> ländlicher Thätigkeit zugebracht. In den<br />
Jahren besuchte ich häufig die Gottesdienste<br />
<strong>und</strong> Bibelst<strong>und</strong>en des Herrn Pfarrer Engels 173<br />
in Nümbrecht. Ich wurde nun durch den Geist<br />
Gottes dahin geführt, daß es mir klar wurde,<br />
daß nur das Blut Jesu Christi mich ganz frei<br />
machen könne <strong>und</strong> fand Frieden in meinem<br />
Heilande. Im 19. Jahr ging ich nach Ronsdorf<br />
zur Erlernung der Küche <strong>und</strong> Haushaltung. Der<br />
Aufenthalt war mir in der Familie worin ich<br />
kam recht zum Segen auch für mein inneres<br />
Leben. In Ronsdorf wurde ich mit einer Kleinkinder<br />
so wie Sonntagsschule bekannt, <strong>und</strong><br />
auf[?] Wunsch eines christlichen Fre<strong>und</strong>es be -<br />
theiligte [ich?] mich an dem Unter richt der<br />
Sonntagsschule. Die Arbeit gereichte mir zum<br />
Segen <strong>und</strong> zur Freude so, daß ich mich entschloß<br />
mich ganz den Kindern zu widmen <strong>und</strong><br />
mich als Kleinkinder-Lehrerin ausbilden zu<br />
lassen. Ich kam dann ein Jahr nach Kaiserswerth<br />
ins Seminar, wo ich in jeder Beziehung<br />
eine gute Vorbildung erhielt für den Kleinkinderschul-Beruf.<br />
Meine erste Stelle trat ich im<br />
Jahr 1875 in Neuwied an, woselbst ich eine<br />
Kleinkinderlehrstelle 2 Jahre bekleidete. Da<br />
die Zahl der Kinder in meiner Klasse über 80<br />
betrug, <strong>und</strong> ich dauernd halsleidend war<br />
bemühte ich mich um eine leichte Stelle <strong>und</strong><br />
erhielt eine solche im Jahre 1877, in der Familie<br />
Vopelius[?] in Sulzbach, wo ich 2 Kinder zu<br />
77
unterrichten <strong>und</strong> zu erziehen hatte. Durch eine<br />
schwere Krankheit war ich genöthigt auch<br />
diese Stelle zu verlassen <strong>und</strong> wieder zu meinen<br />
Eltern zu ziehen. Nachdem sich mein Leiden<br />
wieder gehoben trat ich anfangs 1879 hier in<br />
Barmen eine neue Schulstelle an. Beinahe zwei<br />
Jahre bin ich hier thätig gewesen. In meinem<br />
Berufe habe ich manches Schwere erlebt, aber<br />
auch viel Segen <strong>und</strong> Freude ist mir in demselben<br />
zutheil geworden, daß ich sagen muß: „Ich<br />
bin viel zu geringe aller Barmherzigkeit <strong>und</strong><br />
Treue die der treue Gott mir hat zu theil werden<br />
lassen! 174 Ende August habe ich meinen Beruf<br />
niedergelegt um dem Ruf des Missionar August<br />
Simoneit auf Sumatra zu folgen. Mein<br />
ernster Wunsch <strong>und</strong> Gebet ist, daß der treue<br />
Herr mich für den wichtigen <strong>und</strong> schweren Beruf<br />
als Missionarin ausrüsten wolle mit Sanftmuth,<br />
Demuth u[nd] Geduld; er gebe Gnade,<br />
daß ich meinem Bräutigam eine rechte Gehülfin<br />
werden möge im Hause <strong>und</strong> in der Gemeinde.<br />
Es ist mir schwer geworden mich für<br />
diesen Beruf zu entschließen, der Herr aber hat<br />
mir gezeigt, daß es sein Weg ist den er mich gehen<br />
heißt, <strong>und</strong> mich tröstet das Wort: Laß dir an<br />
meiner Gnade genügen denn meine Kraft ist in<br />
den Schwachen mächtig! 2. K[ori]nt[her] 12.<br />
Barmen 2. Nov[em]b[er] 1881<br />
Luise (oder: Louise) Kraus heiratete am<br />
13. Januar 1882 (im Nachruf steht: 1881) den<br />
ehemaligen Schreiner August Simoneit (1842–<br />
1886) aus Kirchsteinen/Ostpreußen, der 1873<br />
zusammen mit Friedrich Wilhelm Staudte<br />
nach Sumatra ausgesandt worden war. Das<br />
Paar hatte drei Kinder: Fritz (* 1882), Paula<br />
(* 1883) <strong>und</strong> Agnes (* 1884). Seit 1875 war Simoneit<br />
Leiter der Station Simorangkir, wo er<br />
zehn Jahre lang wirkte, bis eine sich rapide<br />
verschlimmernde Tuberkulose ihn zur Aufgabe<br />
zwang. Er konnte noch mit der Familie nach<br />
Deutschland zurückkehren, wo er am 26. April<br />
1886 starb. Luise Kraus starb am 31. März<br />
1936 in Barmen.<br />
Amalie Meyer, geb. Schoel (1845–1914)<br />
78<br />
Amalie Schoel. Braut von Missionar<br />
Meyer.<br />
Im Jahre 1845 den 11 März wurde ich in<br />
Drevenack bei Wesel geboren. Meine 1[ieben]<br />
Eltern die den Herrn Jesus lieb haben, weiheten<br />
mich ihm von frühester Kindheit an, u[nd] ihr<br />
tägliches Gebet war, daß wir Geschwister alle<br />
möchten, nützliche Erdenbürger <strong>und</strong> einst selige<br />
Himmelserben werden. Um uns nun dazu<br />
auch zu erziehen mit Gottes Hülfe, verließen<br />
sie ihr Gut, wie einst Moses den Hof Pharaos<br />
175 , mit äußerlich schwerem Verlust u[nd]<br />
zogen nach Gruiten im Jahre 1849. Der<br />
Großvater war nämlich, den Christen nicht<br />
hold, u[nd] haßte besonders die Missionare, die<br />
theure Großmutter hingegen liebte den Herrn<br />
u[nd] Seine Sache von Herzen. Nachdem ich in<br />
Gruiten die Schule besucht wurde ich zur weiteren<br />
Ausbildung nach Radevormwald gebracht,<br />
<strong>und</strong> dort im Jahre 1859 von Herrn Pastor<br />
Krummacher konfirmirt. Leider blieb<br />
mein Herz ohne Rührung, u[nd] nie stieg ein<br />
Gebet aus meinem Herzen auf. Im Herbst besuchte<br />
uns die 1[iebe] Großmutter, u[nd] bat<br />
mich, vor dem Abschied doch Jesus zu suchen,<br />
u[nd] ihren letzten Wunsch zu erfüllen: eine<br />
Missionsfre<strong>und</strong>in zu werden. Aus Liebe versprach<br />
ich es ihr, mit vielen Thränen u[nd]<br />
wurde dann feierlich gesegnet. Bald darauf<br />
ging sie selig heim u[nd] ich vergaß Alles. Da<br />
gefiel es dem guten Hirten der das Verlorene<br />
sucht, durch einen Tractat mir die Größe meiner<br />
Sünden zu zeigen, u[nd] fand ich dann nach<br />
langem Bitten u[nd] Forschen in der Bibel,<br />
endlich Frieden in Jesu Blut. Eine Predigt von<br />
H[er]r Pastor Rink 176 über die Wirkungen u[nd]<br />
Kennzeichen des Geistes Gottes bestätigten es<br />
in meinem Herzen, daß ich angenommen sei.<br />
Von nun an mein Alles für Ihn hinzugeben, der<br />
sich für uns zu Tode geliebt, war nun Hauptsache.<br />
So durfte ich denn die 1[ieben] Kinder in<br />
der Sonntagsschule, u[nd] später die Jungfrauen<br />
im Verein bitten u[nd] ermahnen, sich<br />
auch so glücklich <strong>und</strong> selig machen zu lassen,<br />
u[nd] der Herr gab Gnade dazu. Öfters auch<br />
durfte ich meine armen Gebete hinaufschicken<br />
zum Gnadenthron für die armen Heiden, die<br />
mir auch ungesehen immer vor der Seele standen.<br />
Aber meine 1[ieben] Eltern sahen dies lieber<br />
nicht, u[nd] weigerten sich, auf eine An-
frage aus der Mission einzugehen. Als ich darauf<br />
an den Pocken erkrankte, versprachen sie<br />
dem Herrn, wenn Er mich genesen lasse; fortan<br />
zu Allem bereit zu sein. Am 13ten Okt[o]b[e]r<br />
1876 fragte mein 1[ieber] Bräutigam um mich<br />
an, u[nd] erhielt alsbald die Antwort: Um Jesu<br />
willen, <strong>und</strong> zu Seinem Dienst geben wir sie mit<br />
Freuden. So soll denn meine Losung sein: Alles<br />
für meinen Heiland! Der Herr erhöre es in<br />
Gnaden.<br />
Geschrieben am Abend vor der Abreise<br />
nach Neu-Barmen in Afrika<br />
Missionshaus d[en] 12. Sept[ember] 1878.<br />
Amalie Schoel heiratete am 10. Dezember<br />
1878 den ehemaligen Schreiner Freerk Meyer<br />
(1847–1923) aus Emden, der seit 1877 als<br />
Herero-Missionar auf der Station Otjikango<br />
(Neu-Barmen) tätig war. Von 1888–1900 war<br />
Meyer dann Missionar der Station Otjimbingue.<br />
Seine Missionstätigkeit wurde immer wieder<br />
durch die Kämpfe zwischen Namas <strong>und</strong><br />
Herero schwer beeinträchtigt. 177 Das Ehepaar<br />
hatte drei Kinder: Maria (* 1880, verheiratet<br />
mit Missionar Meisel), Albert (* 1881) <strong>und</strong><br />
Ella (* 1887, verheiratet mit Missionar Werner).<br />
1899 überließ Meyer die Station seinem<br />
Gehilfen <strong>und</strong> Nachfolger Johannes Olpp <strong>und</strong><br />
kehrte mit seiner schwer gichtleidenden Frau<br />
nach Deutschland zurück. Bis 1913 war er<br />
Hausvater des Barmer Missionshauses (der<br />
Name „Hausvater Meyer“ war geläufig).<br />
Amalie Meyer, geb. Schoel, starb am 14. September<br />
1914 im Barmer Missionshaus. Freerk<br />
Meyer starb am 16. März 1923.<br />
Gustav Stursberg (1853–1916)<br />
Gustav Stursberg. [Notiz:] Schreiner Jünglingsverein<br />
Am 7. Nov[ember] 1853 wurde ich den<br />
Eheleuten Friedrich Stursberg u[nd] Caroline<br />
Beck in Garschagen, einem Bauernhofe in der<br />
Gemeinde Lüttringhausen geboren. Meine Eltern,<br />
die schon länger gläubige Christen waren,<br />
sahen es als ihre höchste Pflicht an, ihre Kinder<br />
zu erziehen in der Zucht u[nd] Ver mahnung<br />
zum Herrn. Besonders war es die Mutter, da<br />
der Vater seinen täglichen Arbeiten als Bandwirker<br />
nachgehen mußte, die meine beiden<br />
jüngeren Geschwister u[nd] mich beten lehrte<br />
zu Jesus u[nd] die uns die Geschichten von<br />
Jesu erzählte. Ruhig u[nd] ohne Störung vergingen<br />
die ersten Jahre meiner Kind heit. Noch<br />
war ich nicht 6 Jahre alt, als mich meine Eltern<br />
in eine Elementarschule der Nachbarschaft<br />
schickten, die ich bis zu meinem 14. Lebensjahre<br />
besucht habe. Den Bitten u[nd] Gebeten<br />
u[nd] den täglichen Ermahnungen meiner Eltern,<br />
allezeit Gott vor Augen u[nd] im Herzen<br />
zu haben, verdanke ich es, daß ich vor manchem<br />
Bösen u[nd] vor manchen Gefahren bewahrt<br />
geblieben bin. Oft, wenn ich von den<br />
Schulkameraden aufgefordert wurde, mit ihnen<br />
böswillige Thaten auszuführen, hat mich eine<br />
Stimme in meinem Innern ermahnt, nicht auf<br />
die lockenden Ver suchungen zu achten. Und<br />
wenn auch nicht immer dieser Mahnruf von<br />
mir beachtet wurde, so fühlte ich doch meistens<br />
nach geschehener That, wie mein Gewissen<br />
mich strafte, u[nd] ich fand erst dann wieder<br />
Ruhe, wenn ich mein Vergehen geklagt<br />
u[nd] Verzeihung erhalten hatte.<br />
Als ich 12 Jahre alt war, wurde ich bei<br />
Herrn Pfarrer Kleinschmidt 178 in Lüttringhausen<br />
in den Katechumenenunterricht auf -<br />
genommen, bei dem ich auch im folgenden<br />
Jahre den Confirmanden unterricht besuchte.<br />
Obgleich ich nun in diesen letzten Jahren besonders<br />
in Gottes Wort unterwiesen u[nd] zu<br />
einem Gott wohl gefälligen Leben ermahnt<br />
wurde, so traten doch auch die Ver suchungen<br />
des Bösen immer stärker an mich heran, denen<br />
ich zuletzt nicht mehr zu widerstehen vermochte;<br />
ich wurde lässig im Gebet u[nd] achtete<br />
immer weniger auf die Ermahnungen der<br />
Eltern. Als ich aber im April 1868 in der Kirche<br />
zu Lüttring hausen confirmirt wurde u[nd] noch<br />
mehr an dem darauffolgenden Sonntage, als<br />
ich mit meinen Eltern zum ersten mal das heilige<br />
Abendmahl feierte, da wurde wieder die<br />
Stimme in meinem Innern lebendig u[nd] ich<br />
empfand es tief, daß ich ein anderer Mensch<br />
werden müsse, wenn ich selig werden wolle,<br />
u[nd] ich gelobte es auch vor dem Herrn, von<br />
nun an mein sündliches Leben zu bessern u[nd]<br />
in seinen Geboten zu wandeln. Doch diese<br />
79
guten Vorsätze waren bald wieder vergessen,<br />
ich verfiel wieder in das frühere Leben u[nd]<br />
unterschied mich in nichts von meinen Jugendgenossen.<br />
Aber der Herr nahm sich jetzt meiner<br />
an u[nd] führte mich aus jenen Versuchungen,<br />
denen ich nicht hatte widerstehen können, heraus.<br />
Es war für mich die Zeit gekommen, daß<br />
ich mich entscheiden mußte, welch einen Lebensberuf<br />
ich erwählen wollte. In die Arbeit<br />
meines Vaters einzutreten, fühlte ich keine Neigung,<br />
wohl aber hatte ich schon lange den<br />
Wunsch gehegt, ich möchte das Schreinerhandwerk<br />
erlernen. So kam ich denn zu einem<br />
christlichen Onkel, der eine St<strong>und</strong>e von dem<br />
elterlichen Hause entfernt wohnte, in die<br />
Lehre, wo der Geist der Liebe u[nd] des Friedens,<br />
der hier im Hause u[nd] in der Umgebung<br />
wehte, sehr wohlthuend auf mich wirkte.<br />
Während meiner dreijährigen Lehrzeit geschah<br />
es nun, daß ich durch die Predigten u[nd] Bibelst<strong>und</strong>en<br />
des Herrn Pastor C[?] in der Nachbargemeinde<br />
R[?] 179 , wohin ich oft mit meinen<br />
Verwandten zur Kirche ging, erweckt u[nd]<br />
durch den persönlichen Umgang mit demselben<br />
u[nd] anderen Christen zum Glauben an<br />
Christum Jesum geführt wurde. Von da an besuchte<br />
ich auch den Jünglingsverein zu K[?] in<br />
der Gemeinde R[emscheid?], dem ich 5 Jahre<br />
als Mitglied angehört habe. Auch durfte ich<br />
eine Zeit lang bei dem Herrn Pastor C. an dessen<br />
Sonntagsschule mit thätig sein, bis mein<br />
Onkel in seinem Hause eine solche einrichtete,<br />
die ich bis zu meinem Fortgange von dort nach<br />
dem Tode meines Onkels 1873 gehalten habe.<br />
Noch einmal, nachdem ich ein halbes Jahr in<br />
Barmen gearbeitet hatte, kam ich für eine kurze<br />
Zeit wieder zurück in das Haus meines seligen<br />
Onkels, um in Abwesenheit eines kranken Vetters<br />
das Geschäft zu leiten. Dann arbeitete ich<br />
im Sommer 1875 wieder in Barmen, während<br />
welcher Zeit ich die Aspirantenst<strong>und</strong>en besuchte.<br />
Schon damals, als ich noch dem Jünglingsverein<br />
in K[?] ange hörte, war durch Pastor<br />
C[?] in mir die Liebe zur Mission erwacht<br />
u[nd] angeregt worden, u[nd] ich hatte mich<br />
schon bereits im 18. Jahre zur Aufnahme ins<br />
Missionshaus gemeldet, hatte aber, da ich noch<br />
80<br />
zu jung war, nicht aufgenommen werden können.<br />
Anfangs waren auch meine Eltern mit<br />
meinem Vorhaben, mich dem Missionsdienst<br />
zu widmen, nicht einverstanden. Besonders<br />
war es mein Vater, der mir einmal scharf ent -<br />
gegentrat, so daß ich es für meine schuldige<br />
Pflicht hielt, mich des Gedankens, in die Mission<br />
einzutreten, zu entschlagen. Es verging<br />
nun eine längere Zeit, daß ich keine weiteren<br />
Schritte that, obwohl in meinem Innern der<br />
Trieb zum Dienst in der Mission keineswegs<br />
erloschen war. Da geschah es eines Sonntages,<br />
daß mich mein Vater, mit dem ich seit einem<br />
Jahr nichts wieder über Mission gesprochen<br />
hatte, fragte, ob ich denn noch Freudigkeit<br />
hätte, in die Mission einzutreten u[nd] ob ich<br />
glaube, daß solches des Herrn Wille sei. Als ich<br />
darauf erwiderte, daß ich noch immer dieselbe<br />
Freudigkeit u[nd] denselben Trieb zur Mission<br />
verspüre, wie vor einem Jahre u[nd] früher, da<br />
gab er denn auch seine Einwilligung indem er<br />
sagte, daß er nichts gegen den Willen Gottes<br />
thun könne u. wolle. Darauf hin entschloß ich<br />
mich denn, aufs neue mein Gesuch zur Aufnahme<br />
ins Missionshaus zu erneuern, in der<br />
Gewißheit, wenn mich der Herr in seinem<br />
Dienst gebrauchen wolle, so werde er auch die<br />
Wege bahnen.<br />
Doch ich mußte auch jetzt noch ein Jahr<br />
warten, ehe ich aufgenommen wurde. Wenn<br />
ich auch oft ungeduldig werden wollte, daß<br />
mich der Herr aufs warten u[nd] stille sein ver -<br />
wies, so war doch diese Zeit auch eine Segenszeit<br />
für mich; ich lernte mich fragen u[nd] prüfen,<br />
ob ich meine eigenen Wege gegangen sei<br />
oder ob mich der Herr gerufen habe. Im Jahre<br />
1875 wurde ich dann in die Vorschule des Missionshauses<br />
aufgenommen, nachdem ich bereits<br />
in dem vergangenen Frühjahr vom Militairdienst<br />
freigesprochen u[nd] in die Ersatz-<br />
Reserve 2. Klasse 180 eingetragen worden war.<br />
Die 2 Jahre, die ich in der Vorschule verlebt<br />
habe, sind mir zum großen Segen geworden,<br />
u[nd] ich habe viel Liebe von den theuren<br />
Haus eltern, wie im Kreise der Brüder erfahren<br />
dürfen. Nicht weniger gesegnet sind mir dann<br />
aber auch die 4 Jahre gewesen, die ich im Missionshause<br />
wohnen durfte. Ich bin zu einer tieferen<br />
Erkenntniß meiner selbst u[nd] des für
Gustav Stursberg<br />
den Menschen in Christo erschienenen Heiles<br />
gekommen, ich habe die Treue u[nd] Barmherzigkeit<br />
Gottes u[nd] seine gnädige Durchhülfe<br />
in diesen Jahren reichlich erfahren dürfen;<br />
auch erkenne u[nd] rühme ich es als eine<br />
Gnade Gottes, daß ich mich, abgerechnet ein<br />
halbes Jahr, das ich beinah ohne jegliche Arbeit<br />
zubringen mußte, in den verflossenen 6 Jahren<br />
einer beständigen Ges<strong>und</strong>heit u[nd] Frische<br />
habe erfreuen dürfen.<br />
Wenn ich zum Schluß auf mein bisheriges<br />
Leben zurückblicke, so kann ich es nicht anders<br />
als mit Dank gegen den Herrn für seine<br />
Fre<strong>und</strong>lichkeit u[nd] Liebe, womit er mich bis<br />
auf diese St<strong>und</strong>e getragen u[nd] geführet hat.<br />
Ihm vertraue ich auch meinen weiteren Lebensweg<br />
an. Er wolle, das ist meine Bitte, wie<br />
er mich aus Gnaden angenommen hat zu seinem<br />
Eigen thum, mich auch in seiner Gnade bewahren,<br />
befestigen u[nd] gründen.<br />
Missionshaus Barmen, den 13ten Oktober<br />
1881<br />
[Notiz:] + 9. Oktober 1916 in Moers a/Rh.<br />
Gustav Stursberg (1853–1916) wurde Ende<br />
1881 nach Borneo ausgesandt, wo er gemeinsam<br />
mit Missionar Michel auf der Station Sampit<br />
tätig war. Die chronische Erfolglosigkeit<br />
der Borneo-Mission führte dazu, daß diese Station<br />
1884 aufgegeben wurde. Stursberg war<br />
anschließend – von einem Heimataufenthalt<br />
1894–96 abgesehen – bis 1900 auf Kuala Kapuas<br />
stationiert. Eine Erkrankung während eines<br />
Heimaturlaubes machte eine Rückkehr<br />
nach Borneo unmöglich, so daß Stursberg<br />
fortan im Heimatdienst tätig war, besonders<br />
bei der Gestaltung von Missionsfesten. Seit<br />
dem 13. Mai 1884 war er mit Emilie Beck<br />
(1854–1945) verheiratet, die wie er aus Lütt -<br />
ringhausen stammte. Das Paar hatte fünf<br />
Kinder: Friedrich Ernst (1885–1887), Emilie<br />
(* 1887), Friedrich Wilhelm (* 1889), Richard<br />
(* 1890) <strong>und</strong> Luise (* 1892). Seine letzten Lebensjahre<br />
verbrachte Stursberg in Moers, wo<br />
er am 9. Oktober 1916 starb.<br />
Literaturverzeichnis<br />
Archivalische Quellen<br />
Lebenslaufbuch der Rheinischen Missionsgesellschaft,<br />
Bd. 1, 1829–1881. Archiv d. Vereinten<br />
Evangelischen Mission – A/f 2.<br />
Personalakten <strong>und</strong> -karten der Mitarbeiter der Rheinischen<br />
Missionsgesellschaft, Archiv d. Vereinten<br />
Evangelischen Mission – Abt. B.<br />
Zeitschriften<br />
Allgemeine Missionszeitschrift, 1874–1923.<br />
Berichte der Rheinischen Mission, 1828–1965.<br />
Der Kleine Missionsfre<strong>und</strong>, 1855–1927.<br />
Kollekten-Blätter für die Rheinische Mission,<br />
1859–1922.<br />
Missionsblatt/Barmer Missionsblatt, 1826–1939.<br />
Nachschlagewerke<br />
Evangelisches Kirchenlexikon: Internationale theologische<br />
Enzyklopädie. Göttingen 1986 ff. 3 .<br />
Meyers Conversations-Lexikon, Leipzig 1904 6 .<br />
Realencyclopädie für protestantische Religion <strong>und</strong><br />
Kirche, Leipzig 1900 3 .<br />
Gedruckte Quellen, Literatur<br />
81
Robert Cribb, Historical Dictionary of Indonesia,<br />
London 1992 (Asian Historical Dictionaries<br />
No. 9).<br />
Bill Dalton, Indonesien-Handbuch, Bremen 1987 2 .<br />
(Originalausgabe: Indonesia Handbook,<br />
Chico/USA, o.J.)<br />
John J. Grotpeter, Historical Dictionary of Namibia,<br />
Metuchen N.J. & London 1994 (African Historical<br />
Dictionaries No. 57).<br />
Hans Helmich, Die Kirchengemeinde Wichlinghausen<br />
in Wuppertal 1744–1994. Wuppertal 1994.<br />
Peter Herkenrath, 140 Jahre Geschichte der Vereinigt-Evangelischen<br />
Gemeinde Unterbarmen<br />
1822–1962, Wuppertal 1963.<br />
H. Höhler, B. G. Locher u. U. Smidt (Hrsg.), Besinnung:<br />
Gemeindebuch der Evangelisch-reformierten<br />
Gemeinde Elberfeld.<br />
J. F. Knapp, Geschichte, Statistik <strong>und</strong> Topographie<br />
der Städte Elberfeld <strong>und</strong> Barmen im Wupper -<br />
thale, Iserlohn/Barmen 1835.<br />
Eduard Kriele, Geschichte der Rheinischen Mission,<br />
Bd 1: Die Rheinische Mission in der Heimat,<br />
Barmen 1928.<br />
John S. Malan, Die Völker Namibias, Göt tin gen/<br />
Winkhoek 1998. (Originalausgabe: Peoples of<br />
Namibia, o.O, o.J.)<br />
Gustav Menzel, Die Rheinische Mission, Wuppertal<br />
1978.<br />
Heinrich Niemöller, Zeugen aus der Geschichte der<br />
lutherischen Gemeinde Elberfeld, Wuppertal<br />
1932.<br />
Ernst Pfeifer, Leben <strong>und</strong> Sterben des Missionars<br />
Ernst Eduard Hofmeister, Barmen 1861.<br />
Albert Rosenkranz (Hrsg.), Das Evangelische<br />
Rheinland: ein rheinisches Gemeinde- <strong>und</strong> Pfar -<br />
rer buch. 2 Bd., Düsseldorf 1956.<br />
Tania Unlüdag (Hrsg.), Historische Texte aus dem<br />
Wupperthale: Quellen zur Sozialgeschichte des<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>erts, Wuppertal 1989.<br />
August Witteborg, Geschichte der evangelisch-lutherischen<br />
Gemeinde Barmen-Wupperfeld von<br />
1777 bis 1927. Barmen 1927.<br />
Anmerkungen<br />
82<br />
1 Archiv der Vereinten Evangelischen Mission,<br />
Wuppertal, A/f 2.<br />
2 Zur Entstehungsgeschichte siehe Gustav Menzel,<br />
Die Rheinische Mission, Wuppertal 1978.<br />
3 Siehe den von ihm verfaßten Lebenslauf.<br />
4 Sammelbegriff für Erneuerungsbemühungen<br />
in den Kirchen des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
besonders im Protestantismus. Ausgehend von<br />
England, konnte sich die Erweckungsbewegung<br />
vor allem in der Form des Pietismus in<br />
Deutschland verbreiten, besonders im rheinisch-westfälischen<br />
Raum <strong>und</strong> in Württemberg.<br />
Die Erweckungsbewegung führte zu einer<br />
Blüte des christlichen Vereinswesens.<br />
Siehe: Evangelisches Kirchenlexikon, Göttingen<br />
1986 3 , Bd. 1, S. 1082 ff.<br />
5 Sander (1797–1859) war Pfarrer in Wichlinghausen<br />
(1822–38) <strong>und</strong> Elberfeld (1838–54).<br />
Seit 1828 gehörte er zur Deputation der Rheinischen<br />
Missionsgesellschaft <strong>und</strong> fungierte bis<br />
1842 als ihr erster Präsident. Von 1854 bis zu<br />
seinem Tod war Sander Superintendent in Wittenberg.<br />
Siehe: Heinrich Niemöller, Zeugen<br />
aus der Geschichte der lutherischen Gemeinde<br />
Elberfeld, Wuppertal 1932, S. 92ff.<br />
6 Zum Lehrplan <strong>und</strong> den verwendeten Büchern<br />
siehe: Eduard Kriele, Geschichte der Rheinischen<br />
Mission, Barmen 1928, Bd. 1, S. 66ff.<br />
7 „Ein ernstes Wort der Deputation für die ordinierten<br />
Brüder“. Archiv der Vereinten Evangelischen<br />
Mission, A/f 33. Zitiert nach Menzel,<br />
Mission, S. 132. Man merkt, daß zu dieser Zeit<br />
bereits eine größere Freiheit in der Wahl der<br />
Lebenspartnerin herrschte.<br />
8 Bei diesen Schriftstellern fällt wieder der biographische<br />
Bezug zur Region auf.<br />
9 Hintergr<strong>und</strong> des Briefes war, daß Lobscheid<br />
sich durch bestimmte Stellen in Rohdens Missionsgeschichte<br />
verunglimpft fühlte. Der Brief<br />
trägt die Angaben „Hongkong, März 10.,<br />
1872“. Archiv der Vereinten Evangelischen<br />
Mission, B/h 3.<br />
10 Ebd.<br />
11 Die Jahre 1816 <strong>und</strong> 1817 waren durch Fehlernten<br />
gekennzeichnet, denen schwere Hungers -<br />
nöte folgten. Im Wuppertal kam noch die Bedrohung<br />
durch die Pocken hinzu, die ein durchziehendes<br />
Hannoveraner Regiment in die Stadt<br />
getragen hatte. Vom 13. Januar bis zum 3. August<br />
1816 erkrankten 89 Personen, von denen<br />
23 starben. Als sich die Mangelernte Mitte<br />
1816 abzeichnete, gründeten Bürger unter der<br />
Leitung des Kaufmanns Jakob Aders einen<br />
„Kornverein“, der durch den Großaufkauf von<br />
Getreide aus Holland <strong>und</strong> Norddeutschland die<br />
Brotpreise in der Stadt auf einem erträglichen<br />
Niveau halten konnte. Siehe: J. F. Knapp, Geschichte,<br />
Statistik <strong>und</strong> Topographie der Städte<br />
Elberfeld <strong>und</strong> Barmen im Wupperthale, Iser-
lohn/Barmen 1835, S. 79ff.<br />
12 Bezeichnung für Läden, in denen Gewürze <strong>und</strong><br />
Kolonialwaren verkauft wurden.<br />
13 Psalm 72, 19<br />
14 Mit Lückhoff ausgesandt wurden Gottlieb Leipoldt,<br />
Gustav Adolf Zahn <strong>und</strong> Theobald von<br />
Wurmb mit seiner Frau Johanne, die eine<br />
Schwester Zahns war. Lückhoffs Aussendung<br />
erscheint umso erstaunlicher, als er noch kein<br />
Jahr im Seminar war. Siehe: Menzel, Mission,<br />
S. 95.<br />
15 Offenbarung 3, 16.<br />
16 Vergleichbar den Bibelst<strong>und</strong>en.<br />
17 Siehe Anmerkung 5.<br />
18 Matthäus 11, 12.<br />
19 Gemeint ist offenbar die zweite Frau Heinrich<br />
Richters. Richter (1799–1847) war der erste Inspektor<br />
des Seminars der Rheinischen Missionsgesellschaft.<br />
Aufgabe der Inspektoren war<br />
vor allem „die specielle Beaufsichtigung der<br />
Zöglinge, ein vertrauliches Verhältnis mit denselben,<br />
<strong>und</strong> eine väterliche Seelsorge über sie<br />
[…]“, wie es in Richters Berufungsurk<strong>und</strong>e<br />
heißt. Siehe: Menzel, Mission, S. 46.<br />
20 „Deine Ohren werden hinter dir das Wort<br />
hören: ‘Dies ist der Weg; den geht! Sonst weder<br />
zur Rechten noch zur Linken!’“ (Luthertext)<br />
21 Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft,<br />
Barmen 1859, S. 366.<br />
22 Ludwig von Rohden (1815–1889) war seit<br />
1846 für die Rheinische Missionsgesellschaft<br />
tätig, zuerst als theologischer Lehrer, seit 1857<br />
als 2. Inspektor des Seminars. Seine theologische<br />
Ausbildung hatte er unter anderem in Berlin<br />
bei Schleiermacher erhalten. Für v. Rohden<br />
war die Heirat mit Agathe Schumacher die<br />
zweite Ehe; seine erste Frau, Luise Wachsmuth,<br />
war zwei Jahre zuvor gestorben. Obwohl<br />
fast 70jährig, wurde v. Rohden 1884 noch mit<br />
dem Posten des 1. Inspektors betraut, den er bis<br />
zu seinem Tod bekleidete. Siehe: Menzel, Mission,<br />
S. 209ff.<br />
23 Gefeiert wurde nicht das 25jährige Bestehen<br />
der Missionsgesellschaft, die bereits 1828 gegründet<br />
worden war, sondern der 25. Jahrestag<br />
der Einweihung des Missionshauses im Jahre<br />
1832.<br />
24 Carl Krafft (1814–1898) war von 1856–85<br />
Pfarrer der reformierten Gemeinde zu Elberfeld.<br />
Neben seiner Tätigkeit als Seelsorger<br />
machte er sich einen Namen als Kirchenhistoriker<br />
(u. a. Quelleneditionen zur Reformations-<br />
zeit). Krafft gehörte außerdem zu den Initiatoren<br />
des Bergischen Geschichtsvereins. Siehe:<br />
Realencyclopädie für protestantische Theologie<br />
<strong>und</strong> Kirche, Leipzig 19003, Bd. 11, S. 60.<br />
25 Johan S. Malan, Die Völker Namibias, Göttingen/Windhoek<br />
1998, S. 144. (Originalausgabe:<br />
Peoples of Namibia, o.O., o.J.)<br />
26 Siehe Anmerkung 5.<br />
27 Beim Choleraausbruch 1859 in Elberfeld starben<br />
fast 1000 Menschen (Tania Ünlüdag, Historische<br />
Texte aus dem Wupperthale, Quellen<br />
zur Sozialgeschichte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
Wup pertal 1989, S. 297). Seit Mitte des 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts kam es in Elberfeld mehrmals zu<br />
Choleraepidemien, die durch die unhygienischen<br />
Wohnverhältnisse der unteren Schichten<br />
begünstigt wurden. Über die Seuche im Jahre<br />
1849 schrieb der Arzt Pagenstecher sen.: „[…]<br />
E[ine] Stadt von 50000 Einwohnern, welche<br />
mit einem zahllosen Fabrikproletariat in den<br />
unges<strong>und</strong>esten Wohnungen bevölkert ist, wo<br />
außerdem enge, winklige Straßen, stationäre<br />
Feuchtigkeit <strong>und</strong> des Climas <strong>und</strong> Bodens, <strong>und</strong><br />
andere üble Localverhältnisse vorwalten,<br />
mußte als besonders empfänglich für die Ausbildung<br />
der Seuche erachtet werden.“ (K. Pagenstecher,<br />
Die asiatische Cholera in Elberfeld<br />
vom Herbst 1849 bis zum Frühling 1850, Elberfeld<br />
1851, S. 5/6 <strong>und</strong> 41/42.) Im Jahr 1859<br />
wurde Elberfeld neben der Cholera auch von<br />
den Pocken heimgesucht, ebenso in den Cholerajahren<br />
1866/67, in denen über tausend Menschen<br />
starben. Siehe: Ünlüdag, S. 223–25.<br />
28 Nathanael Köllner (1821–1873) wurde 1859<br />
Pfarrer der lutherischen Gemeinde zu Elberfeld.<br />
„Er kam in die Schrecken der Cholerazeit<br />
hinein. Den ganzen Tag, so erzählt eine, die das<br />
miterlebt hat, fuhren die Totenwagen <strong>und</strong> oft<br />
kehrte Köllner erst in später Nachtst<strong>und</strong>e von<br />
seinen Amtsgängen zurück.“ (Niemöller,<br />
S. 140). Köllner hatte ursprünglich selber Missionar<br />
auf Borneo werden wollen, doch mußte<br />
er sein Vorhaben aus ges<strong>und</strong>heitlichen Gründen<br />
aufgeben. Er blieb jedoch in engem Kontakt<br />
zu Missionskreisen. 1866 verließ er die Elberfelder<br />
Gemeinde, um einem Ruf nach Berlin<br />
zu folgen.<br />
29 Matthäus 28, 20.<br />
30 Nachruf Anna Mohri, Berichte der Rheinischen<br />
Missions-Gesellschaft 1893, S. 133.<br />
31 Albert Sigism<strong>und</strong> Jaspis (1809–1885) war<br />
1845–55 Pfarrer der lutherischen Gemeinde zu<br />
Elberfeld. Von 1855 bis zu seinem Tod wirkte<br />
83
er als Generalsuperintendent von Pommern in<br />
Stettin. In zeitgenössischen Werken wird Jaspis<br />
besonders als charismatischer Prediger beschrieben.<br />
Siehe: Realencyclopädie für protestantische<br />
Theologie <strong>und</strong> Kirche, Leipzig<br />
1900 3 , Bd. 8, S. 608.<br />
32 Siehe Anmerkung 28.<br />
33 Galater 5, 24.<br />
34 Diese Zeit beschrieb Thomas in: Drei Jahre in<br />
Südnias: Erlebnisse, Barmen 1892 (Rheinische<br />
Missions-Traktate 46).<br />
35 Nachruf J. W. Thomas, Berichte 1900, S. 102.<br />
36 1848 hatten sich die Jünglingsvereine von Elberfeld,<br />
Barmen, Ronsdorf, Remscheid, Düsseldorf,<br />
Cronenberg, Schwelm, Ruhrort <strong>und</strong><br />
Mülheim/Ruhr zum „Rheinisch-Westphälischen<br />
Jünglings-B<strong>und</strong>“ zusammengeschlossen.<br />
Vorläufer waren die Bibelst<strong>und</strong>en für<br />
Jünglinge des lutherischen Pastors Karl August<br />
Döring gewesen. Beim oben genannten Jünglingsverein<br />
handelt es sich offenbar um den<br />
Barmer Missionsjünglingsverein, den der<br />
Blechschläger <strong>und</strong> spätere Missionar Carl Wilhelm<br />
Isenberg im Jahre 1823 gegründet hatte.<br />
Siehe Ünlüdag, S. 471/472.<br />
37 Offenbar ist Staudte ein Flüchtigkeitsfehler unterlaufen.<br />
Laut Personalkarte wurde er im Jahre<br />
1845 geboren.<br />
38 Heinrich Wilhelm Rinck (1822–1881) war<br />
1855–1881 Pfarrer der lutherischen Gemeinde<br />
zu Elberfeld.<br />
39 2. Korinther 12, 9.<br />
40 Nachruf Staudte, Berichte 1884, S. 201. Dort<br />
findet sich eine ausführliche Schilderung von<br />
Staudtes Tod <strong>und</strong> Begräbnis.<br />
41 Siehe Anmerkung 12.<br />
42 Friedrich Wilhelm Paul Ludwig Feldner (1805–<br />
1890) wurde 1847 Pfarrer der lutherischen Gemeinde<br />
zu Elberfeld. Weil er sich gegen die von<br />
der preußischen Regierung verfügte Union der<br />
lutherischen <strong>und</strong> reformierten Kirchen wandte,<br />
mußte er 1858 auf Druck des Presbyteriums<br />
von seinem Amt zurücktreten. Feldner wurde<br />
daraufhin Pfarrer einer separiert-lutherischen<br />
Gemeinde. Siehe: Niemöller, S. 110–116.<br />
43 Die Herero gehören zur Bantu-Völkerfamilie<br />
<strong>und</strong> sind traditionell Rinderzüchter. Ihre Wohngebiete<br />
liegen im nördlichen Bereich der Kalahari.<br />
Siehe John J. Grotpeter, Historical Dictionary<br />
of Namibia, London 1994, S. 192ff. (African<br />
Historical Dictionaries 57).<br />
44 Eduard Müller (1879–1942) war von 1907 bis<br />
1940 als Missionar in Sumatra tätig. 1940<br />
84<br />
wurde er zusammen mit anderen Missionaren<br />
von den Niederländern interniert. Er starb am<br />
19. Januar 1942 beim Untergang des von Japanern<br />
angegriffenen Schiffes „Imhoff“.<br />
45 Nachruf Emilie Irle, Berichte 1888, S. 342–45.<br />
46 Ebd.<br />
47 Ebd.<br />
48 Ebd.<br />
49 Siehe Anmerkung 22.<br />
50 Erschienen Gütersloh 1909.<br />
51 Im Januar 1904 erhoben sich die Herero unter<br />
der Führung von Samuel Maharero gegen die<br />
deutsche Kolonialmacht, über h<strong>und</strong>ert Deutsche<br />
wurden ermordet. In der Schlacht am Waterberg<br />
(August 1905) wurden die Herero vernichtend<br />
geschlagen, die anschließenden Vergeltungsmaßnahmen<br />
der Deutschen führten nahezu<br />
zur Ausrottung des Volkes (Von 80.000<br />
Herero vor dem Krieg blieben 15.000 übrig).<br />
Die Rheinische Mission richtete drei Lager ein,<br />
in denen Flüchtlinge versorgt wurden. Im Oktober<br />
1905 wurde das gesamte Land der Herero<br />
von deutschen Behörden beschlagnahmt, die<br />
Rinderzucht verboten. Die meisten Herero<br />
mußten sich von da an ihren Lebensunterhalt<br />
als Tagelöhner auf Farmen verdienen. Siehe:<br />
Grotpeter, S. 194 <strong>und</strong> Malan, S. 76.<br />
52 Ora et labora, Ordensregel der Benediktiner.<br />
53 August Lichtenstein (1820–1891) wurde 1854<br />
Pfarrer der lutherischen Gemeinde zu Elberfeld,<br />
als Nachfolger von Immanuel Friedrich<br />
Sander, der als Superintendent nach Wittenberg<br />
ging. Lichtenstein blieb Pfarrer bis 1888, als<br />
ges<strong>und</strong>heitliche Gründe ihn zwangen, das Amt<br />
niederzulegen.<br />
54 Siehe Lebenslauf Ida Eick u. Anmerkung 25.<br />
55 Die Notiz im Lebenslaufbuch ist nicht korrekt.<br />
56 Siehe Anmerkung 12.<br />
57 Siehe Anmerkung 53.<br />
58 Macubae cornae, Trübung der Augenhornhaut<br />
durch Flecken (leukomae) als Folge von Hornhautentzündungen.<br />
Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert behandelbar<br />
durch Massage, Dampfbäder, Salben, in<br />
schweren Fällen auch operativ. Siehe Meyers<br />
Conversations-Lexikon, Leipzig 1904 6 , Bd. 9,<br />
S. 563.<br />
59 „Die Ersatzreservisten werden im Frieden nur<br />
für besondere Zwecke <strong>und</strong> in kurzen Übungen<br />
zum Dienst ohne Waffe eingezogen <strong>und</strong> z. B.<br />
im ersten Jahrgang 10, im zweiten 6 <strong>und</strong> im<br />
dritten 4 Wochen lang als Krankenträger ausgebildet.<br />
Im Kriege dient die Ersatzreserve zur<br />
Ergänzung des Heeres, zunächst in Ersatztrup-
penteilen. Nach zwölfjähriger Ersatzreservezeit<br />
treten die Ersatzreservisten, die geübt haben,<br />
bis 31. März des Kalenderjahres, in dem<br />
sie 39 Jahre alt werden, zur Landwehr zweiten<br />
Aufgebots, die übrigen zum Landsturm.“ Meyers<br />
Conversations-Lexikon, Leipzig 1904 6 , Bd.<br />
6, S. 75.<br />
60 Siehe Anmerkung 38.<br />
61 Siehe Anmerkung 36.<br />
62 Psalm 23, 1.<br />
63 Nachruf Heine, Berichte 1884, S. 375.<br />
64 Ebd.<br />
65 Zu Rohden siehe Anmerkung 22. Die Korrespondenz<br />
mit den Missionsgebieten im Fernen<br />
Osten lag in Rohdens Händen, während Inspektor<br />
Wallmann für die afrikanischen Missionen<br />
zuständig war. Menzel, Mission,<br />
S. 211/12.<br />
66 Franz Friedrich Gräber (1784–1857) war von<br />
1820 bis 1847 Pfarrer der reformierten Gemeinde<br />
Gemarke (heute Barmen-Gemarke).<br />
Von 1835 bis 1847 war Gräber zudem Präses<br />
der rheinischen Provinzialsynode, danach bis<br />
1856 Generalsuperintendent der westfälischen<br />
Kirchenprovinz.<br />
67 Siehe Anmerkung 36.<br />
68 Gerhard Wachtendonk (1805–1834) wurde<br />
1832 als Missionar zum Kap ausgesandt, wo er<br />
bereits nach einjährigem Aufenthalt in Stellenbosch<br />
starb.<br />
69 Gerhard Terlinden (1807–1872) wurde 1831<br />
als Missionar zum Kap gesandt, wo er auf den<br />
Stationen Worcester (1832–35, 1844–48),<br />
Eben ezer (1836–42) <strong>und</strong> Stellenbosch (1848–<br />
1872) tätig war.<br />
70 Konfessionelle Unterschiede <strong>und</strong> die Frage<br />
nach einer Union mit Abendmahlsgemeinschaften<br />
führten mehrmals zu Spannungen innerhalb<br />
der Missionsgesellschaft, so im Falle<br />
von Carl Hugo Hahn (1818–1895), der als Missionar<br />
in Südwestafrika wirkte <strong>und</strong> auf einem<br />
dezidiert lutherischen Bekenntnis bestand. Infolge<br />
dieses Streits kam man 1860 zu einem<br />
Kompromiß: Die Union wurde gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
bestätigt, doch den Missionaren vor Ort ein gewisser<br />
Freiraum gelassen. Siehe Menzel, Mission,<br />
S. 100ff.<br />
71 Der Ärmelkanal.<br />
72 2. Mose 4, 13.<br />
73 Apostelgeschichte 27, 40 (?).<br />
74 Djakarta, die heutige Hauptstadt Indonesiens.<br />
Die holländische Bezeichnung rührt vom<br />
Stamm der Batavier, der „Vorfahren“ der Nie-<br />
derländer, her.<br />
75 2. Korinther, 11, 26.<br />
76 Ureinwohner von Borneo, die sich in mehrere<br />
Stämme aufteilen: Im Norden die Dusun <strong>und</strong><br />
Murut, die Ngaju im Süden <strong>und</strong> die Kenyah<br />
<strong>und</strong> Iban im Zentrum. Viele Dajaks bekennen<br />
sich zum Islam, doch scheint ihre ursprüngliche<br />
Religion (Kaharingan) ein Zweig des Hinduismus<br />
zu sein. Siehe Stichwort „Dayaks“ in:<br />
Robert Cribb, Historical Dictionary of Indonesia<br />
(Asian Historical Dictionaries No. 9), London<br />
1992, S. 155/156.<br />
77 Dorf, Dorfgemeinschaft, Gr<strong>und</strong>stück einer Familie.<br />
Siehe Bill Dalton, Indonesien-Handbuch,<br />
Bremen 1987 (2. Auflage), S. 793. (Originalausgabe:<br />
Indonesia Handbook, Chico/<br />
USA, o.J.)<br />
78 Eduard Kriele, „75 Jahre Dajakmission“, Allgemeine<br />
Missions-Zeitschrift 1912, S. 165,<br />
Anm. 1.<br />
79 Ebd. S. 167. Die Einführung des Sonntags<br />
wurde durch die Regierungsverordnung „seltsam<br />
genug“ (Kriele) begründet: „Wir haben<br />
das Wesen <strong>und</strong> die Sitten der Dajaks untersucht<br />
<strong>und</strong> gef<strong>und</strong>en, daß alles verkehrt <strong>und</strong> unverständig<br />
ist <strong>und</strong> auch kein Tag unter ihnen besteht,<br />
an dem sie an Gott denken <strong>und</strong> ihn verehren,<br />
weshalb wir für gut bef<strong>und</strong>en haben, den<br />
Dajak selbst einen solchen Tag festzusetzen,<br />
<strong>und</strong> zwar nach unserer eigenen Ordnung den<br />
Sonntag.“<br />
80 Beamter in Java, Sohn des Missionars Carl von<br />
Hoefen (1817–1890), der von 1843–90 in Borneo<br />
stationiert war.<br />
81 Laut Personalkarte bereits am 23. September.<br />
82 Nachruf Becker, Berichte 1860, S. 6.<br />
83 Wilhelm Heuser (1790–1868) wurde 1820 zum<br />
Hilfsprediger der Gemeinde Wupperfeld gewählt<br />
<strong>und</strong> rückte nach dem Tod von Pfarrer Johann<br />
Burchard Bartels 1827 in die erste Pfarrstelle<br />
auf. Heuser wurde zweimal zum Super -<br />
intendenten der Elberfelder Kreissynode gewählt.<br />
Aus Ges<strong>und</strong>heitsgründen legte er 1860<br />
sein Amt nieder. Seine letzten Lebensjahre verbrachte<br />
er in Neuwied, Wiesbaden <strong>und</strong> Düsseldorf.<br />
Siehe: August Witteborg, Geschichte der<br />
evangelisch-lutherischen Gemeinde Barmen-<br />
Wupperfeld von 1777–1927, Barmen 1927,<br />
S.152ff.<br />
84 Siehe Anmerkung 12.<br />
85 Siehe Anmerkung 5.<br />
86 Kirchenlied von Johann Heinrich Schröder<br />
(166–1699) nach Lukas 10, 41.<br />
85
87 Jesaja 1, 18.<br />
88 1. Mose 32, 27.<br />
89 Matthäus 9, 2.<br />
90 Johannes 13, 7.<br />
91 1. Könige 19, 7.<br />
92 Matthäus 14, 22–32.<br />
93 Siehe Lebenslauf Caroline Seringhaus.<br />
94 Jeremias 31, 3.<br />
95 Gerhard Heinrich Wilhelm Balke (1807–1848)<br />
wurde 1842 zum Pfarrer der evangelischen Gemeinde<br />
Unterbarmen gewählt. Balke war zu<br />
diesem Zeitpunkt bereits kränkelnd <strong>und</strong> mußte<br />
seinen Dienst wegen „Entkräftung“ mehrmals<br />
unterbrechen. Nach kaum sechs Jahren im Amt<br />
starb er, gerade 40 Jahre alt. Siehe: Peter Herkenrath,<br />
140 Jahre Geschichte der Vereinigt-<br />
Evangelischen Gemeinde Unterbarmen 1822–<br />
1962, 1963, S. 52ff.<br />
96 Ein ausführlicher Bericht über diese Ereignisse<br />
in: Berichte 1859, S. 191–234.<br />
97 Die Todesumstände des Paares werden geschildert<br />
in: Ernst Pfeifer, Leben <strong>und</strong> Sterben des<br />
Missionars Ernst Eduard Hofmeister, 1861.<br />
98 Ebd., S. 29.<br />
99 Siehe Anmerkung 5.<br />
100 Siehe Anmerkung 83.<br />
101 August Feldhoff (1800–1844), gebürtiger Elberfelder,<br />
betreute die deutsche Gemeinde im<br />
niederländischen Nimwegen, als er 1828 zum<br />
zweiten Prediger der Gemeinde Wichlinghausen<br />
gewählt wurde, der er bis zu seinem frühen<br />
Tod blieb. Witteborg, Geschichte Gemeinde<br />
Barmen-Wupperfeld, S. 155–57.<br />
102 Es ist nicht ganz klar, wer gemeint ist, möglicherweise<br />
Ludwig v. Rohden (Siehe Ida Eick,<br />
Anm. 1). Rohden war damals allerdings noch<br />
nicht „offiziell“ zum Inspektor ernannt worden,<br />
dies folgte erst 1857. Gemeint sein könnte<br />
auch Johann Christian Wallmann (1811–1865),<br />
der von 1848–1857 Inspektor der Rheinischen<br />
Missions-Gesellschaft war. Siehe: Menzel,<br />
Mission, S. 47–52 u. 209–214.<br />
103 1. Moses 32, 11.<br />
104 Ludwig von Rohden. Siehe Anmerkung 22.<br />
105 Heinrich Emil Taube (1819–1892) war von<br />
1849–64 Pfarrer der evangelischen Gemeinde<br />
Unterbarmen. Siehe Herkenrath, S. 58/59.<br />
106 Ernst Hermann Thümmel (1815–1887) war<br />
von 1851–84 Pfarrer der evangelischen Gemeinde<br />
Unterbarmen. Thümmel publizierte<br />
eine Reihe religiöser Schriften, auch eine „Geschichte<br />
der Vereinigt-Evangelischen Gemeinde<br />
Unterbarmen vom Jahre 1822 bis zum<br />
86<br />
Jahre 1872“. Siehe Herkenrath, S. 59/60.<br />
107 Franz Heinrich Kleinschmidt (1812–1864) war<br />
seit 1840 Missionar der Rheinischen Mission<br />
in Südwestafrika, so in Windhoek, Rehoboth<br />
<strong>und</strong> Otimbingue. Seine Tochter Elisabeth<br />
wurde am 13. September 1844 geboren.<br />
108 1. Timotheus 1, 13.<br />
109 Georg Zimmer (1826–1901) war seit 1855<br />
Missionar der Rheinischen Mission in Borneo.<br />
Er war unter anderem auf den Stationen Palingkau<br />
<strong>und</strong> Kuala Kapuas tätig. Zimmer hatte<br />
drei Töchter: Elisabeth (*1861, laut Personalkarte<br />
verheiratet mit „Dr. von Rohden“, vermutlich<br />
einem der beiden Söhne Ludwigs v.<br />
Rohden), Emilie (1855–1885) <strong>und</strong> Auguste<br />
(*1857).<br />
110 Philipper 4, 6.<br />
111 Hermann Moritz Banning (1799–1866) war<br />
seit 1843 Pfarrer der evangelischen Gemeinde<br />
Unterbarmen. Er galt als Verfechter der preußischen<br />
Union. Herkenrath, S. 55/56.<br />
112 Siehe Anmerkung 105.<br />
113 Johannes Evangelista Goßner (1773–1858)<br />
war katholischer Priester (Schüler Sailers), bevor<br />
er 1826 zur evangelischen Kirche übertrat.<br />
Seit 1827 war er Prediger an der Bethlehems -<br />
kirche in Berlin. Goßner war Förderer der Heidenmission<br />
(„Goßnerscher Missionsverein“,<br />
vor allem in Ostindien tätig) <strong>und</strong> schrieb erbauliche<br />
Schriften, die zu seiner Zeit viel gelesen<br />
wurden. Siehe Stichwort „Goßner“ in Meyers<br />
Conversations-Lexikon.<br />
114 Gerhard Tersteegen (1697–1769), Bandwirker<br />
in Mülheim/Ruhr, seit 1728 Prediger <strong>und</strong> religiöser<br />
Schriftsteller. Ein Hauptvertreter des<br />
Pietismus, der besonders als Liederdichter hervortrat<br />
(z. B. „Geistliches Blumengärtlein“,<br />
Frankfurt/Leipzig 1729). Siehe Stichwort „Tersteegen“<br />
in Meyers Conversations-Lexikon.<br />
115 2. Timotheus 2, 5.<br />
116 1. Korinther 10, 13.<br />
117 1. Mose 12, 1.<br />
118 Josua 10, 25.<br />
119 Siehe Emma Hofmeister.<br />
120 Berichte 1885, S. 364–380.<br />
121 Siehe Anmerkung 76.<br />
122 Nachruf Laura Hendrich, Berichte 1903,<br />
S. 179.<br />
123 Ebd.<br />
124 Ebd. S.180.<br />
125 Der „Kleine Missionsfre<strong>und</strong>“ war die Kinder<strong>und</strong><br />
Jugendzeitschrift der Rheinischen Mission.
126 Johannes 16, 33.<br />
127 Kirchenlied von Johann Sigism<strong>und</strong> Kunth<br />
(1700–1779) nach Hebräer 4, 9.<br />
128 Friedrich Florenz Voswinckel (1818–1886)<br />
war von 1847–84 Pfarrer der Wichlinghauser<br />
Gemeinde. Siehe Hans Helmich, Die Gemeinde<br />
Wichlinghausen in Wuppertal 1744–<br />
1994, Wuppertal 1994.<br />
129 Dorf in Lothringen (Departement Meurthe-et-<br />
Moselle, Arrondissement Briey). Die Schlacht<br />
zwischen französischen <strong>und</strong> deutschen Truppen<br />
am 16. August 1870 forderte auf beiden<br />
Seiten hohe Verluste. Auch als „Schlacht von<br />
Voindville“ bezeichnet. Siehe Meyers Conversations-Lexikon,<br />
Stichwort „Mars-la-Tours“.<br />
130 Nachruf Heider, Berichte 1881, S. 330ff. Zu<br />
den konfessionellen Spannungen innerhalb der<br />
Rheinischen Mission siehe Menzel, Mission,<br />
S. 100ff.<br />
131 Bedeutender Stamm, der zur Völkerfamilie der<br />
Khoi-Khoin gehört (früher „Hottentotten“ genannt).<br />
Von den Herero, die zur Bantugruppe<br />
gehören, unterscheiden sie sich auch durch den<br />
helleren Hautton. Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert kam es zu<br />
insgesamt vier Kriegen zwischen beiden Völkern.<br />
Meist war Streit um Land der Auslöser.<br />
Die Kämpfe in den Jahren 1880–1802 waren<br />
besonders blutig. Interventionsversuche von<br />
Missionaren <strong>und</strong> deutschen Behörden blieben<br />
weitgehend vergeblich. Grotpeter, Historical<br />
Dictionary of Namibia, S. 195–197 u. 329.<br />
132 Siehe Anmerkung 43.<br />
133 Nachruf Johanna Heider, Berichte 1921, S. 112.<br />
134 Siehe Anmerkung 128.<br />
135 Siehe Anmerkung 125.<br />
136 Nachruf Bernsmann, Berichte 1921, S. 60.<br />
137 Ebd.<br />
138 Siehe Anmerkung 51.<br />
139 1. Johannesbrief 4, 19.<br />
140 Siehe Anmerkung 128.<br />
141 „Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend <strong>und</strong><br />
meiner Übertretungen, gedenke aber meiner<br />
nach deiner Barmherzigkeit, Herr, um deiner<br />
Güte willen!“ (Luthertext).<br />
142 Die Elberfelder Missionsgesellschaft wurde<br />
am Pfingstmontag 1799 gegründet <strong>und</strong> gilt als<br />
erster Vorläufer der späteren Rheinischen Mission.<br />
Ihre stärkste Wirkung enfaltete die Gesellschaft<br />
in den Jahren 1818–1828. Parallel<br />
mit der Elberfelder begann ab 1818 die Barmer<br />
Missionsgesellschaft zu wirken, die ebenfalls<br />
1828 in der Rheinischen Missionsgesellschaft<br />
aufgehen sollte. Siehe Menzel, Mission, S. 18ff.<br />
143 Wahrscheinlich Heinrich Richter. Siehe Anmerkung<br />
19 <strong>und</strong> die Einleitung.<br />
144 1. Petrus 1, 13.<br />
145 Die Personalkarte Külpmanns vermerkt zum<br />
Schluß: Anstaltsgeistlicher im Diakonissenhaus<br />
Carlsruhe. Es ist nicht klar, ob er diese<br />
Funktion während des Pfarrdienstes oder nach<br />
seiner Pensionierung ausgeübt hat.<br />
146 Gottfried Heinrich Petersen war seit 1809 Pfarrer<br />
der lutherischen, von 1817–53 der unierten<br />
evangelischen Gemeinde in Ratingen. Evangelisches<br />
Rheinland, S. 214.<br />
147 Johann Ludwig Müller war von 1828–73 Pfarrer<br />
der unierten Gemeinde Mettmann. Evangelisches<br />
Rheinland, Bd. 1, S. 211ff.<br />
148 Matthäus 9, 2.<br />
149 Siehe Caroline Seringhaus Anm. 5<br />
150 Nachruf Juffernbruch, Berichte 1894, S. 14.<br />
151 Ebd.<br />
152 Siehe Anmerkung 147.<br />
153 Friedrich Wilhelm Krummacher (1796–1868),<br />
Sohn des Theologen Friedrich Adolf Krummacher<br />
(1767–1845), war von 1825–35 Pfarrer<br />
der reformierten Gemeinde Gemarke <strong>und</strong> von<br />
1835–47 der reformierten Gemeinde Elberfeld.<br />
Krummacher, der 1817 am Wartburgfest teilgenommen<br />
hatte, war auch als religiöser Schriftsteller<br />
tätig, sein Werk „Blicke in das Reich der<br />
Gnade“ (1828) wurde unter anderem von<br />
Goethe rezensiert. 1847 folgte er einem Ruf an<br />
die Dreifaltigkeitskirche in Potsdam, 1853<br />
wurde er zum Hofprediger ernannt. Bei den<br />
von Anna Jörris genannten „Predigten“ handelt<br />
es sich vermutlich um Krummachers Schrift<br />
„Salomo <strong>und</strong> Sulamith“ (1827). Realencyclopädie<br />
für protestantische Theologie <strong>und</strong><br />
Kirche, Bd. 11, S. 152ff.<br />
154 Siehe Anmerkung 19.<br />
155 Nachruf Anna Rath geb. Jörris, Kollektenblatt<br />
1859, Nr. 4.<br />
156 Siehe Caroline Seringhaus, Anm. 5. Heinrich<br />
Richters Bruder Wilhelm (1804–1845) war<br />
Lehrer am Missionsseminar.<br />
157 Jesaja 11, 9<br />
158 Johann Peter von Scheven war von 1832–88<br />
Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Hülsenbusch.<br />
Evangelisches Rheinland, S. 52ff.<br />
159 Siehe Anmerkung 106. Bevor er Pfarrer in<br />
Unterbarmen wurde, war Thümmel 1846–51<br />
Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Nüm -<br />
brecht. Evangelisches Rheinland, S. 56ff.<br />
160 Joh. Chr. Wallmann (1811–1865), Inspektor<br />
der rheinischen Mission von 1848 bis 1857<br />
87
161 1. Mose 32, 11.<br />
162 1. Thessalonicher 5, 24<br />
163 Berichte 1859, S. 71.<br />
164 Siehe Anmerkung 53.<br />
165 Geschäftsführer, Lehrherr<br />
166 Siehe Anmerkung 109.<br />
167 Siehe Anmerkung 24.<br />
168 Siehe Anmerkung 37.<br />
169 Siehe 1. Johannesbrief 4, 19.<br />
170 Siehe Anmerkung 128.<br />
171 August Götsch (1844–1870) aus Benz in Pommern<br />
wurde 1869 nach Sumatra ausgesandt. Er<br />
starb am 15. Februar 1870 in Sigonpulan.<br />
172 Wilhelm Falk war 1864–76 Pfarrer der evangelischen<br />
Gemeinde in Wiehl. Evangelisches<br />
88<br />
Rheinland, S. 62ff.<br />
173 Jakob Engels war von 1851–97 Pfarrer der<br />
evangelischen Gemeinde in Nümbrecht. Evangelisches<br />
Rheinland, S. 56ff.<br />
174 1. Mose 32, 11<br />
175 2. Moses 2, 15<br />
176 Siehe Anmerkung 38.<br />
177 Siehe Anmerkung 131.<br />
178 Eduard Kleinschmidt war 1840–89 Pfarrer der<br />
evangelischen Gemeinde in Lüttringhausen<br />
(heute Remscheid-Lüttringhausen). Evangelisches<br />
Rheinland, S. 417ff.<br />
179 Vermutlich handelt es sich um Johannes Conrad,<br />
der von 1866–77 Pfarrer in Remlingrade<br />
war. Die ebenfalls benachbarten Gemeinden<br />
August von Wille: Ansicht von Barmen, 1870 (Aus: H. Pogt: Historische Ansichten aus dem<br />
Wuppertal, 2. Aufl. 1998).
Werner Schmitz<br />
Zum 80. Todestag Ingwer Ludwig Nommensens<br />
In Unterbarmen an der Gronaustraße, dem<br />
alten Arbeitsamt gegenüber, führt ein Weg zur<br />
Hardt, der Nommensenweg. Viele Wuppertaler<br />
gehen tagaus, tagein dort vorbei, aber wohl nur<br />
die wenigsten werden mit diesem Namen noch<br />
etwas anzufangen wissen. Wer war dieser<br />
Mann, den unsere Stadt auf diese Weise geehrt<br />
hat?<br />
Ingwer Ludwig Nommensen ist in die Geschichte,<br />
speziell in die Kirchengeschichte eingegangen<br />
als der „Apostel der Batak“, als der<br />
Verkünder der biblischen Heilsbotschaft an<br />
dieses früher den Kannibalismus prakti zie -<br />
rende Volk auf der südostasiatischen Insel Sumatra.<br />
Den Anstoß zu dieser Tätigkeit gab ein<br />
Gelübde, das er im Alter von zwölf oder dreizehn<br />
Jahren, nachdem er infolge eines Unfalls<br />
längere Zeit krank gewesen war, ablegte. Liest<br />
man den Bericht über die ersten beiden Jahrzehnte<br />
seines Lebens, so muß man sich w<strong>und</strong>ern,<br />
daß es Nommensen trotz denkbar ungünstiger<br />
Voraussetzungen geschafft hat, das geleistete<br />
Versprechen zu erfüllen.<br />
Geboren wurde er am 6. Februar 1834 als<br />
Sohn eines armen Ehepaares auf der Insel<br />
Nordstrand, nicht weit von Husum, der Heimat<br />
Theodor Storms. Über die Zeit seiner Kindheit<br />
<strong>und</strong> Jugend lassen wir ihn am besten selbst zu<br />
Wort kommen. Er schreibt:<br />
„Ich war ein Junge wenig bemittelter,<br />
kränklicher Eltern, der bei trockenem Brot <strong>und</strong><br />
Salz, Pferdebohnen <strong>und</strong> trockenen Kartoffeln<br />
groß geworden ist, der oft des Abends beim<br />
Deichgrafen an der übriggebliebenen Grütze,<br />
nachdem die Knechte gegessen hatten, seinen<br />
Hunger stillte, (…) der 13jährig krank zu<br />
Hause liegen mußte, fast ohne Hoffnung, jemals<br />
wieder seine Beine gebrauchen zu können;<br />
14jährig, eben wieder genesen, seinen Vater<br />
durch den Tod verlor <strong>und</strong> als Großjunge im<br />
Kooge (durch Deiche geschütztes Land, d.Vf.)<br />
beim Bauern diente, 15jährig konfirmiert, dann<br />
als Unterknecht <strong>und</strong> Knecht auf einer kleinen<br />
Hallig arbeitete, dort krank <strong>und</strong> als wahnsinnig<br />
zur Mutter zurückgebracht wurde, darauf nach<br />
der Genesung Eisenbahnarbeiter war <strong>und</strong> die<br />
erste Eisenbahn in Schleswig (von Husum<br />
nach Rendsburg) anlegen half, dann wieder als<br />
Knecht bei einem Bauern diente“. 1<br />
Der Vater Peter Nommensen war von Beruf<br />
Schleusenwärter. Seine Vorfahren stammten<br />
von der Hallig Nordstrandischmoor. Die Ahnen<br />
der Mutter, sie hieß Antje geborene Carstens,<br />
waren in Fahretoft <strong>und</strong> Ockholn zu<br />
Hause 2 . Während der junge Nommensen nach<br />
seiner Schilderung von einem Arbeitgeber zum<br />
anderen buchstäblich herumgestoßen wurde<br />
<strong>und</strong> dabei oft Tätigkeiten verrichten mußte, die<br />
die Kräfte seines Alters bei weitem überstiegen,<br />
wurde er unmerklich auf seinen spä teren<br />
Beruf vorbereitet. „Hier gewann er den praktischen<br />
Blick, den genügsamen Sinn, der sich in<br />
Ingwer Ludwig Nommensen(Archiv- <strong>und</strong> Museumsstiftung<br />
Wuppertal der VEM)<br />
89
alle Lebenslagen zu schicken wußte, die geschickten<br />
Hände, die es verstanden, überall,<br />
wo es galt, anzugreifen“. 3<br />
Um ihm die Zeit seines Krankenlagers zu<br />
erleichtern, gab ihm die Mutter das einzige im<br />
Haus befindliche Buch zu lesen, eine Bibel.<br />
Nommensen las <strong>und</strong> klammerte sich an das<br />
Gotteswort. Er genas <strong>und</strong> erhielt im Alter von<br />
20 Jahren die mütterliche Erlaubnis, Missionar<br />
zu werden. Er kaufte sich Bibel, Gesangbuch<br />
<strong>und</strong> Katechismus <strong>und</strong> begab sich nach Föhr,<br />
um dort auf einem Schiff anzuheuern <strong>und</strong> in<br />
Afrika oder Asien an Land gehen zu können.<br />
Aber er hatte Pech. Kein Kapitän wollte ihn haben.<br />
Niedergeschlagen kehrte er nach Hause<br />
zurück <strong>und</strong> suchte sich eine Stelle als Schulgehilfe<br />
bei einem Lehrer in Risum. Nachdem er<br />
vor dem Propst in Tondern eine kleine Prüfung<br />
abgelegt hatte, konnte er diese bescheidene<br />
Stelle antreten.<br />
Einige Zeit später übernahm man ihn als<br />
Lehrer an einer bäuerlichen Privatschule in<br />
Gotteskoog. Dort wiesen ihn der zuständige<br />
Schulinspektor, der Pfarrer von Niebüll, sowie<br />
der Propst Versmann in Itzehoe auf die Rheinische<br />
Mission hin. An dieser Stelle begann die<br />
Beziehung zum Wuppertal 4 .<br />
Nommensen machte sich auf den Weg nach<br />
Barmen, ohne einen Aufnahmebescheid ab zu -<br />
warten. Aber dort konnte er nicht sofort auf -<br />
genommen werden, man verwies ihn vorerst an<br />
den Lehrer Kamphausen am Neuenteich, der<br />
ihn eineinhalb Jahre als Hilfslehrer be schäf -<br />
tigte. Während dieser Zeit erhielt Nommensen<br />
– zusammen mit anderen Missionsaspiranten –<br />
abends Unterricht bei Elberfelder Lehrern, um<br />
sein Allgemeinwissen zu fördern <strong>und</strong> auszubauen.<br />
Zusätzlich erteilte Missionsinspektor<br />
Wallmann ihm noch Privatst<strong>und</strong>en in Latein. In<br />
dieser Zeit sammelte Nommensen auch erste<br />
Erfahrungen im Dienst der Verkündigung, er<br />
hielt Bibelst<strong>und</strong>en <strong>und</strong> gewann dadurch die<br />
Gewißheit des eigenen Glaubens 5 .<br />
Im Sommer 1857 konnte Nommensen in<br />
das Barmer Missionshaus eintreten. Daneben<br />
betätigte er sich in der evangelischen Vereinsarbeit<br />
<strong>und</strong> gründete am Ostersbaum einen<br />
„Jünglingsverein“, den Vorläufer des heutigen<br />
CVJM 6 .<br />
90<br />
Aus der Zeit auf dem Seminar ist wenig<br />
überliefert. Doch scheint festzustehen, daß<br />
Nommensen weniger durch große Begabung<br />
als vielmehr durch Beharrlichkeit <strong>und</strong> Zähigkeit<br />
glänzte. Im Jahre 1861 wurde er in der Unterbarmer<br />
Hauptkirche ordiniert. Kurz vor seiner<br />
Aussendung nach Südostasien besuchte<br />
Nommensen noch einmal seine Heimat <strong>und</strong><br />
hielt erbauliche Versammlungen auf Nordstrand,<br />
in Husum <strong>und</strong> Schleswig. Sein schlichtes<br />
biblisches Zeugnis wurde dort Anlaß zu einer<br />
Erweckungsbewegung, obwohl man sich in<br />
Norddeutschland mit solchen Dingen in der<br />
Regel etwas schwer tut. Doch es fehlte auch<br />
nicht an Widerspruch. So konnte man in Husum<br />
hören: „Dat is man good, dat de Keerl weg<br />
is; denn he hat jo man all Lüd dösig makt,<br />
wenn he wat länger blewen war“. 7<br />
Im Dezember 1861 ging Nommensen in<br />
Amsterdam an Bord des Seglers „Pertinax“.<br />
Der Suezkanal war zu der Zeit noch nicht gebaut,<br />
<strong>und</strong> so brauchte das Schiff 142 Tage, bis<br />
es schließlich am 14. Mai 1862 in Padang, einer<br />
Hafenstadt an Sumatras Westküste, anlegte.<br />
Auf hoher See hatte Nommensen sein<br />
Gelöbnis noch einmal in der Form eines Gebetes<br />
bekräftigt. Ob die Schiffsbesatzung dabei<br />
Zeuge war, ist strittig 8 .<br />
Schon in Holland hatte Nommensen kurz<br />
vor seiner Abreise bei dem Sprachgelehrten<br />
van der Tuuk die Anfangsgründe der batakschen<br />
<strong>und</strong> der malaiischen Sprache gelernt. 9<br />
Um seine Kenntnisse zu erweitern, nahm er<br />
nach seiner Ankunft auf Sumatra zwei bataksche<br />
Jungen zu sich <strong>und</strong> ließ sich mit ihnen in<br />
dem Hafenort Barus nieder, anstatt sich an<br />
seine Missionarskollegen zu wenden <strong>und</strong> mit<br />
ihnen seinen Einsatz zu besprechen. Nommensen<br />
ging dabei von der Erwartung aus, auf<br />
diese Weise rasch die sprachlichen Kenntnisse<br />
zu erwerben, die für eine erfolgversprechende<br />
Arbeit mit den Einwohnern notwendig waren.<br />
In dieser Zeit wollte er keinen Weißen sehen,<br />
um sich ganz auf die fremde Sprache zu konzentrieren.<br />
Ein derartige Art der Sprachdidaktik mutet<br />
uns heute sehr modern an. Auch in anderer<br />
Hinsicht nahm Nommensen Erkenntnisse unserer<br />
zeitgenössischen Pädagogik vorweg. So
trug er sich etwa mit dem Plan, Batak als Lehrer<br />
auszubilden, denn „die batakschen Christen<br />
finden viel leichter Glauben als wir“. 10<br />
Aus der sechs<strong>und</strong>fünfzigjährigen Tätigkeit<br />
Nommensens auf Sumatra bei den Batak sind<br />
zahlreiche Anekdoten überliefert, darunter Ereignisse,<br />
die an die Mission etwa iroschottischer<br />
Mönche in Mitteleuropa im frühen Mittelalter<br />
erinnern <strong>und</strong> die manchmal für den<br />
Missionar auch einen tödlichen Verlauf hätten<br />
nehmen können. So zum Beispiel jenes Opferfest<br />
1864, bei dem ein wild stampfender Büffel<br />
dem Geist der Ahnen geopfert werden sollte.<br />
Der heidnische Opferpriester tötete das Tier<br />
nach ekstatischem Tanz, aus dem Gestammel<br />
des Mannes vernahm die Menschenmenge, daß<br />
der Ahnengeist die Rückkehr des Stammes zu<br />
den alten Sitten <strong>und</strong> Gebräuchen verlange <strong>und</strong><br />
das Opfer des Missionars fordere. Nommensen<br />
war in hoher Gefahr. Er rief in die Menge: „Ein<br />
Geist, der nur will, daß ihr euch gegenseitig<br />
totschlagt, kann doch nicht der Geist eurer Ahnen<br />
sein. Ein Großvater ist doch stolz auf seine<br />
Enkel <strong>und</strong> hat sie lieb“. Die Versammelten<br />
wurden unsicher, ein aus der Ferne heranziehendes<br />
schweres Gewitter tat das Seine, <strong>und</strong><br />
als die Widersacher Nommensens kurz darauf<br />
von Stammesfeinden überfallen <strong>und</strong> verw<strong>und</strong>et<br />
wurden, hatte der christliche Missionar gesiegt.<br />
Wenn wir heute das Wort „Mission“ hören,<br />
reagieren viele Zeitgenossen allergisch, <strong>und</strong><br />
das nicht zu Unrecht. Denn europäische Überheblichkeit,<br />
Geschäftemachrei <strong>und</strong> Skrupellosigkeit<br />
waren immer Begleiterscheinungen der<br />
europäischen Kolonisation; Umweltzerstö -<br />
rung, Zivilisationskrankheiten <strong>und</strong> Alkoholismus<br />
waren es auch. Wie nun nimmt sich vor<br />
diesem Hintergr<strong>und</strong> Nommensen aus?<br />
In einem bedeutenden theologischen Nachschlagewerk<br />
ist zu lesen: „Alle seine Verkündigung<br />
war frei von verletzender Polemik“. 11 Allerdings<br />
ist dies eine Stimme aus dem eigenen<br />
Lager. Wie sehen es heute die unmittelbar Betroffenen,<br />
die Batak selbst? Was haben sie zu<br />
Nommensen <strong>und</strong> seiner Tätigkeit zu sagen?<br />
Der bataksche Pfarrer Songti H. Siregar<br />
drückte seine Auffassung mit folgenden Worten<br />
aus: „Nommensen hat sein Heimatland ver-<br />
lassen, um unter den Batak zu leben. Er hat in<br />
batakschen Hütten gewohnt. Er ist zu Fuß gegangen,<br />
um das Evangelium zu verkünden <strong>und</strong><br />
er hat viele Leiden dort, wo er lebte, erfahren.<br />
Er hat eine Welt verlassen, in der er verhältnismäßig<br />
gut leben konnte, <strong>und</strong> ist in die Welt des<br />
Heidentums gegangen. Seine Absicht war<br />
nicht, bei den Batak Geld zu machen, sondern<br />
die Heilsbotschaft zu bringen in der Bereitschaft,<br />
sein Gefühl, sein Geld <strong>und</strong> seine Zeit zu<br />
investieren. Er hat sein Leben für die Batak geopfert<br />
<strong>und</strong> ist bei ihnen gestorben.“ 12<br />
Ich glaube, für Nommensens Erfolge war<br />
wesentlich, daß er mitten unter den Eingeborenen,<br />
als Gleicher unter Gleichen, lebte, <strong>und</strong> daß<br />
er früh einheimische Mitarbeiter gewann <strong>und</strong><br />
sie einsetzte, was durchaus nicht den Ansichten<br />
mancher seiner Missionarskollegen entsprach.<br />
Hier sei er noch einmal zitiert: „Ich bin dafür,<br />
daß man die europäischen Missionare reduziert<br />
<strong>und</strong> durch Inländer ersetzt. In der Verantwortung<br />
wachsen die batakschen Mitarbeiter hinein<br />
zu neuen, hohen Aufgaben. Wenn tüchtige<br />
Leute da sind, dann können sie wahrlich mehr<br />
ausrichten als wir.“ 13<br />
Welche Früchte aus einer derartigen Einstellung<br />
erwuchsen, zeigt die Tatsache, daß<br />
man auf der Weltmissionskonferenz 1938 die<br />
Batakkirche als mustergültiges Beispiel einer<br />
Kirche entdeckte, „die sich selbst erhielt, selbst<br />
verwaltete <strong>und</strong> selbst ausbreitete. Daß es dazu<br />
kam, liegt in den ges<strong>und</strong>en Prinzipien des Aufbaus,<br />
die Nommensen verfolgte“. 14 Auch im<br />
Wirtschaftsleben Indonesiens spielen die<br />
christlichen Batak eine nicht zu unterschätzende<br />
Rolle, obwohl sie eine ethnische Minderheit<br />
sind. Die Batakkirche leistet hier Entwicklungshilfe<br />
für das eigene Volk, was ohne<br />
den Gr<strong>und</strong>, den Nommensen legte, kaum denkbar<br />
ist.<br />
Ein weiterer wichtiger Gr<strong>und</strong> für den Erfolg<br />
Nommensens war die Art seiner Frömmigkeit.<br />
Nommensen war kein Rationalist, er vertrat<br />
<strong>und</strong> predigte ein schlichtes, von exegetischen<br />
Problemen wenig berührtes Christentum.<br />
Weiter nahm er die Glaubensvorstellungen<br />
der Batak ernst <strong>und</strong> bemühte sich, auf dieser<br />
Ebene eine Brücke zum christlichen Glauben<br />
zu schlagen. Man wird unwillkürlich an<br />
91
den Apostel Paulus erinnert, der auf ähnliche<br />
Weise versuchte, den Athenern den christlichen<br />
Glauben nahezubringen (Apg. 17, 22 ff.).<br />
Als Vertreter der Batakkirche einmal darauf<br />
aufmerksam gemacht wurden, daß Nommensen<br />
eigentlich kein Deutscher, sondern ein<br />
Däne sei, weil die Insel Nordstrand, als Nommensen<br />
dort lebte, zu Dänemark gehörte, war<br />
ihre Antwort: „Für uns war er ein Batak“. 15<br />
Auf bataksche Initiative geht die Errichtung<br />
von zwei Gedenksteinen auf Nommensens<br />
Heimatinsel zurück. Ein Findling steht<br />
vor der Odenbüller St.-Vinzenz-Kirche <strong>und</strong><br />
trägt die Aufschrift:<br />
„Ingwer Ludwig Nommensen<br />
1834 – 1918<br />
Missionar der Batak<br />
Nordstrand – Sumatra“<br />
Der andere schmückt den Ort, wo einst<br />
Nommensens Elternhaus stand, das vor Jahren<br />
Deichbaumaßnahmen weichen mußte. Nommensen<br />
starb hochgeehrt, unter anderem mit<br />
dem theologischen Ehrendoktor der Universität<br />
Bonn, am 23. Mai 1918 auf Sumatra. Sein<br />
Grab ist heute noch das Ziel vieler Besucher<br />
aus dem Batakland.<br />
Anmerkungen<br />
1 Vgl. Johannes Warneck: D. Ludwig I. Nommensen<br />
– Ein Lebensbild. Wuppertal-Barmen 1934,<br />
S. 9; zit. nach G. Menzel: Ein Reiskorn auf der<br />
Straße – Ludwig I. Nommensen, „Apostel der<br />
Batak“. Wuppertal 1984, S. 9 u. 10<br />
2 Vgl. Hauke Heuck: Der Apostel der Batak. Zum<br />
92<br />
❊ ❊<br />
❊<br />
150. Geburtstag von Ingwer Ludwig Nommensen.<br />
In: Nordfriesland. 18. Bd., Heft 1 (März<br />
1984), S. 11<br />
3 Gottlob M<strong>und</strong>le: Der Gänsejunge von Nordstrand.<br />
Wuppertal 1952, S. 4 f. (Neuauflage einer<br />
bereits vor dem 2. Weltkrieg erschienenen<br />
Schrift)<br />
4 Ebd, S. 7f., vgl. auch wie Anm. 1, S. 10 ff.; E.<br />
Hellmann: Ein Mann kann warten – Aus dem<br />
Leben Ludwig Ingwer Nommensens. Wuppertal<br />
1968, S. 7<br />
5 Vgl. M<strong>und</strong>le (wie Anm. 3), S. 8; Warneck (wie<br />
Anm. 1), S. 6<br />
6 Vgl. J. Müller-Späth: Die Anfänge des CVJM in<br />
Rheinland <strong>und</strong> Westfalen. Köln 1988 (Schriftenreihe<br />
des Vereins für Rhein. Kirchengeschichte,<br />
Bd. 90)<br />
7 Vgl. Menzel (wie Anm 1), S. 10 u. 13; W. Landgrebe:<br />
Ludwig Nommensen – Kampf <strong>und</strong> Sieg<br />
eines Sumatra-Missionars. Gießen u. Basel<br />
1954, S. 16<br />
8 Daß vor allem der Kapitän <strong>und</strong> der Steuermann<br />
von Nommensen beeindruckt waren, berichtet<br />
J. H. Hemmers: L. I. Nommensen, de Apostel de<br />
Batakkers. Den Haag 1935, S. 19; das Gegenteil<br />
bei A.Pagel (Hg.): Er bricht die Bahn. Marburg<br />
1979, S. 11 f.<br />
9 Zit. nach M<strong>und</strong>le (wie Anm. 3), S. 10<br />
10 Vgl. W. Landgrebe (wie Anm. 7), S. 17<br />
11 Vgl. Religion in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart<br />
(RGG), Bd. 4, 3. Aufl., Tübingen 1960, Sp. 1508<br />
12 Vgl. Songti H. Siregar: Ein Leben unter Batak. In:<br />
In die Welt – für die Welt. Berichte der Vereinigten<br />
evangelischen Mission. 20. Jg., Nr. 2/84, S. 47<br />
13 Nach Heuck (wie Anm. 2), S. 12<br />
14 Vgl. G.Menzel: Der Menschenfischer vom Tobasee.<br />
In: In die Welt – für die Welt. 20. Jg.,<br />
2/84, S. 42<br />
15 Vgl. Hauke Heuck: Nordstrand gehört zum<br />
Batak land. In: In die Welt – für die Welt. 20. Jg.,
Reiner Rhefus<br />
Hugo Hillmann (1823–1898)<br />
Die Anfänge der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Wuppertal<br />
Nachtrag <strong>und</strong> Korrekturen<br />
Nach Erscheinen des Artikels über Hugo<br />
Hillmann in „Geschichte im Wuppertal“, Heft<br />
7, 1998, sind dem Autor einige biographische<br />
Hinweise <strong>und</strong> Korrekturen, unter anderem von<br />
einem Nachfahren, zugekommen, die der Erwähnung<br />
wert sind. Darüber hinaus enthält der<br />
Begleitband zur Ausstellung „Michels Erwachen<br />
– Emanzipation durch Aufstand?“ ebenfalls<br />
einige bisher nicht ausgewertete Dokumente.<br />
1 Vor allem die dort abgedruckten Zeitungsberichte<br />
über die „Prozeßverhandlungen<br />
der Maiangeklagten von Elberfeld“, die im<br />
April <strong>und</strong> Mai 1850 im „Täglichen Anzeiger“<br />
in Elberfeld erschienen, bieten eine Fülle von<br />
Hinweisen auf Hugo <strong>und</strong> Otto Hillmann.<br />
Carl Hugo Hillmann wurde als sechstes<br />
von neun Kindern der Eheleute Johann Friedrich<br />
Christian Hillmann <strong>und</strong> seiner Frau Maria<br />
Helena Angerm<strong>und</strong> geboren. Sein Bruder<br />
<strong>und</strong> Kampfgefährte Adolph Otto (12.9.1826 –<br />
3.3.1916) wurde drei Jahre später als nächstes<br />
Geschwisterkind geboren. Der Vater Friedrich<br />
Hillmann war 1811 aus Unna nach Elberfeld<br />
gekommen, um hier die Tochter von Heinrich<br />
Angerm<strong>und</strong>, dem Inhaber einer Metzgerei, zu<br />
heiraten. 2 Der Vater kam aus durchaus wohlhabenden<br />
Verhältnissen. Seine Familie besaß in<br />
Unna eine Brauerei <strong>und</strong> Schnapsbrennerei, <strong>und</strong><br />
eine Reihe Familienmitglieder übte die Berufe<br />
des Brauers, des Wirts oder Schnapsbrenners<br />
aus. 3<br />
Zur Zeit der Geburt seines Sohnes Hugo<br />
war der Vater Friedrich Christian Hillmann als<br />
Gendarm tätig. Später betrieb er ein Unternehmen<br />
als Pferdeverleiher <strong>und</strong> „Hauderer“<br />
(Lohnkutscher). Die Toreinfahrt des damals errichteten<br />
Elternhauses in der Untergrünewalder<br />
Straße 10 ist sicherlich ein Hinweis auf<br />
dieses Unternehmen. 4 Hugo Hillmann setzte<br />
die Familientradition fort <strong>und</strong> wurde Brauer.<br />
Sein Bruder Otto Hillmann erlernte zunächst<br />
das Handwerk des Kupferschlägers. Nach seiner<br />
Rückkehr aus dem Exil betrieb er in Unterbarmen<br />
eine Schnapsbrennerei.<br />
Der Begleitband zur Ausstellung „Michels<br />
Erwachen – Emanzipation durch Aufstand?“<br />
enthält einen Brief des Landrates Melbeck an<br />
die Königliche Regierung in Düsseldorf, datiert<br />
vom 7./8. Mai, 3:00 Uhr. Der Landrat<br />
schreibt: „Die Ordre zur Verhaftung des Hillmann<br />
habe ich an diesem Abend spät erhalten;<br />
will ich aber nicht die größte Gefahr heraufbeschwören,<br />
so muß ich Anstand (soll heißen Abstand)<br />
nehmen, der Requisition zu folgen, solange<br />
nicht militärische Hilfe ansteht“. 5 Weiter<br />
heißt es, die „Aufregung würde sonst zum<br />
höchsten Aufruhr gesteigert werden <strong>und</strong> die<br />
wenigen Gendarmen der bewaffneten Übermacht<br />
erliegen“. 6<br />
Hillmann war zu diesem Zeitpunkt der einzige<br />
der oppositionellen Landwehrmänner, der<br />
als Einberufener unter Militärgesetz stand <strong>und</strong><br />
durch den Aufruf vom 3. Mai den Kriegsdienst<br />
verweigert hatte. Er setzte sich als erster der<br />
drohenden Strafe aus <strong>und</strong> kann somit als eine<br />
zentrale Person bei der Auslösung des Aufstandes<br />
angesehen werden. Auch sein Bruder Otto<br />
übernimmt zu Beginn des Aufstandes eine aktive<br />
Rolle. So gibt der Brauer Jakob Scharpenack<br />
an, daß Otto Hillmann bei der Versammlung<br />
der Landwehrmänner am 6. Mai<br />
zum Präsidenten der Versammlung gewählt<br />
wurde. Hier wurde beschlossen: „Wir wollen<br />
der Nationalversammlung, nicht unserem Ministerium<br />
folgen“. 7<br />
Die oben angesprochenen Zeitungsberichte<br />
über die Prozeßverhandlungen gegen die 242<br />
„Maiangeklagten“ enthalten viele Hinweise<br />
auf die beiden Brüder. Sowohl Zeugen als auch<br />
Angeklagte berichten über Ereignisse <strong>und</strong> Vorfälle,<br />
in denen Hugo <strong>und</strong> Otto Hillmann als<br />
verantwortliche Personen in Erscheinung tre-<br />
93
ten. Da die beiden Beschuldigten auf der<br />
Flucht waren <strong>und</strong> zu den Vorwürfen nicht Stellung<br />
nehmen konnten, ist natürlich vorstellbar,<br />
daß sie auch zur Entlastung anderer beschuldigt<br />
wurden. Trotzdem wird aus den Berichten<br />
ihre aktive <strong>und</strong> tragende Rolle bei der militärischen<br />
Verteidigung der Stadt deutlich.<br />
Von einigen Angeklagten <strong>und</strong> Zeugen wurden<br />
die beiden Brüder beschuldigt, am 9. Mai,<br />
dem Tag, als das preußische Militär anrückte,<br />
als Anführer einer 40 Mann starken Einheit den<br />
Barrikadenbau <strong>und</strong> militärischen Widerstand<br />
am Engelnberg , auf dem das Quartier des<br />
Landwehrkomitees lag, organisiert zu haben.<br />
In den Verteidigungsreden der Angeklagten,<br />
die uns als Quellen hierzu zur Verfügung stehen,<br />
heißt es verständlicherweise, die Gebrüder<br />
Hillmann hätten diese Maßnahmen erzwungen.<br />
So forderte Hugo Hillmann bei der<br />
Gaststätte „Finger“ den Chef der Schützen J.<br />
A. Thiel unter Drohungen auf, sich am Kampf<br />
gegen das Militär zu beteiligen. 8 Hillmann<br />
hätte gerufen: „Schützen heraus! Zeigt daß ihr<br />
noch Schützen seid!“. 9 Einem weiteren Gefährten<br />
wurden die Worte „Wollt ihr zusehen,<br />
wie unsere Nachbarjungen auf dem Engelnberg<br />
totgeschossen werden?“ in den M<strong>und</strong> gelegt.<br />
10<br />
Der Angeklagte Wilhelm Krükert aus Velbert<br />
gab an, im Auftrag von Hillmann 20 Pf<strong>und</strong><br />
Pulver in Velbert gekauft zu haben. 11 Die<br />
Gruppe um Hillmann wurde beschuldigt, fünf<br />
der acht Kanonen in der Gesellschaft „Genügsamkeit“<br />
beschlagnahmt zu haben. 12 Zwei der<br />
erbeuteten Kanonen wurden auf Anweisung<br />
des Barrikadeninspektors Friedrich Engels an<br />
der Haspeler Brücke zur Verstärkung der Barrikade<br />
gegen das königstreue Barmen aufgestellt.<br />
13 Der preußische Unteroffizier Gustav<br />
Wessel berichtet, wie Hillmann mit dem Major<br />
an der Barrikade am Jägerhof verhandelte. 14<br />
Friedrich Herring, der Kutscher der Familie<br />
Daniel von der Heydt, sagt aus, daß Hillmann<br />
Kommandant der Wache war, die den Bankier<br />
Daniel von der Heydt in seinem Haus am<br />
Laurentiusplatz als Geisel des Sicherheits -<br />
ausschußes zu bewachen hatte. Als der Gefangene<br />
auf das Rathaus gebracht werden sollte,<br />
weigerte sich Hillmann zunächst, dies zuzulas-<br />
94<br />
sen.<br />
Später, so berichtet der Kaufmann Rudolf<br />
Jung, war Hillmann maßgeblich an den Verhandlungen<br />
um die Freilassung des Bankiers<br />
beteiligt <strong>und</strong> nach einigen Verhandlungen mit<br />
der reichen Kaufmannschaft bereit, Daniel von<br />
der Heydt gegen eine Summe von 1000 Talern<br />
frei zu lassen. 15<br />
Am 17. Mai, als der Zusammenbruch des<br />
Aufstandes abzusehen war, kam es in der Gaststätte<br />
Hasenclever in Iserlohn zu einem Treffen<br />
der Abgeordneten aus den aufständischen<br />
Städten Iserlohn, Elberfeld, Hagen <strong>und</strong> Limburg.<br />
Es wurde vermutlich über einen geordneten<br />
Rückzug der Aufständischen, über Wege<br />
der Flucht <strong>und</strong> den Anschluß an die badischen<br />
Revolutionsarmee beraten. Hierbei ist möglicherweise<br />
erstmals der Kontakt zwischen Wilhelm<br />
Hasenclever, dem Führer des Aufstandes<br />
in Iserlohn, <strong>und</strong> Hugo Hillmann zustande gekommen.<br />
13 Jahre später, nachdem in Leipzig<br />
der allgemeine deutsche Arbeiterverein<br />
(ADAV) gegründet worden war, warb Hugo<br />
Hillmann seinen ehemaligen Kampfgenossen<br />
für diese neue Bewegung. 1871 sollte Hasenclever<br />
Präsident des Vereins <strong>und</strong> einer der ersten<br />
sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten<br />
werden.<br />
Für diesen 17. Mai ist auch die Vollmacht<br />
datiert, die Hugo Hillmann seinem Vater ausstellte<br />
<strong>und</strong> mit der er den Erhalt von 3000 Talern<br />
quittierte. 16 Diese nicht unbedeutende<br />
Summe war ihm von Elberfelder Bürgern, unter<br />
anderem von dem Friedensrichter <strong>und</strong> stellvertretenden<br />
Abgeordneten der preußischen<br />
Nationalversammlung, G. Brüning, zugesagt<br />
worden. Sein Vater mußte das Geld für seinen<br />
Sohn zu einem späteren Zeitpunkt in Empfang<br />
nehmen. Tausend Taler erhielt der Vater im November<br />
tatsächlich zurück. Es ist denkbar, daß<br />
die noch ausstehenden 2000 Taler vom Vater<br />
als Voraberbe berechnet wurden. Hugo Hillmann<br />
berichtet später, er habe für seine politische<br />
Überzeugung sein gesamtes Erbe verwendet.<br />
Am 19. Mai rückte das Militär in Elberfeld<br />
ein <strong>und</strong> der Belagerungszustand wurde verhängt.<br />
Zu diesem Zeitpunkt hatten Hugo <strong>und</strong><br />
Otto Hillmann schon ihre Heimatstadt verlas-
sen. Hugo Hillmann schrieb im April 1850<br />
in London zum Jahrestag der Elberfelder Ereignisse<br />
einen Aufruf an die Elberfelder Arbeiter.<br />
Dieser Aufruf gelangte auf illegalen Wegen<br />
nach Deutschland <strong>und</strong> wurde in der Zeitschrift<br />
„Der Volksmann“ von Hermann Püttmann in<br />
Elberfeld veröffentlicht. 17 Seine Hoffnung auf<br />
eine Fortsetzung der Revolution hatte Hillmann<br />
zu diesem Zeitpunkt nicht aufgegeben,<br />
wenn er schreibt: „Darum, Ihr Arbeiter, Ihr<br />
Proletarier, bereitet Euch vor zum nächsten<br />
Kampf, der wahrscheinlich nicht lange mehr<br />
auf sich warten lassen wird; laßt Euch nicht beschwatzen<br />
<strong>und</strong> einlullen von Euren sogenannten<br />
Herren, stellt Euch zusammengeschart unter<br />
die Fahne der Gleichheit <strong>und</strong> Brüderlichkeit<br />
– <strong>und</strong> der Sieg wird Euer sein. Es lebe das Proletariat,<br />
es lebe die soziale Republik!“ 18<br />
Hier wurden die Hoffnung auf die revolutionäre<br />
Kraft der Arbeiter <strong>und</strong> das Ziel einer sozialen<br />
Republik zum erstenmal deutlich von<br />
Hugo Hillmann formuliert. Als dieser Aufruf in<br />
Elberfeld erschien, löste er einiges Aufsehen<br />
aus. „Der Volksmann“ geriet durch diese Veröffentlichung<br />
in Bedrängnis, wurde jedoch erst<br />
zwei Monate später endgültig verboten. In dieser<br />
Zeit fand gerade der oben erwähnte Prozeß<br />
wegen der Elberfelder „Mai-Ereignisse“ statt.<br />
Vor den Gefängnissen standen die Leute <strong>und</strong><br />
bek<strong>und</strong>eten lautstark ihre Sympathien für die<br />
Insassen, die verhafteten Angeklagten. Dies<br />
zeigt, daß die Unruhe in Elberfeld zu diesem<br />
Zeitpunkt noch nicht endgültig besiegt war,<br />
doch zu der von Hillmann erhofften sozialen<br />
Revolution kam es nicht.<br />
Was wurde aus Otto Hillmann?<br />
Auch er war einer der 242 „Maiangeklagten“<br />
in Elberfeld. Doch er <strong>und</strong> sein Bruder waren<br />
zu diesem Zeitpunkt flüchtig <strong>und</strong> konnten<br />
nicht verurteilt werden. Doch während auf einer<br />
Liste der preußischen Polizei in Koblenz<br />
Hugo Hillmann neben anderen Elberfeldern als<br />
politischer Flüchtling aufgeführt wurde, ist<br />
dort der Name Otto Hillmann nicht zu finden. 19<br />
Während Hugo bis zur Amnestie 1861 in<br />
London im Exil blieb, war sein Bruder Otto<br />
schon 1858 wieder im Adressbuch seiner Heimatstadt<br />
aufgeführt.<br />
Otto Hillmann heiratete 1867 Augusta Paul -<br />
sen, mit der er drei Kinder hatte. In Barmen<br />
übernahm er, sicherlich mit Unterstützung der<br />
Familie oder seines Erbteils, eine alteingesessene<br />
Schnapsbrennerei an der Straße „In der<br />
Mauer“, der heutigen Bendahler Straße. Aus<br />
dem einstigen Revolutionär von 1849 wurde<br />
nun ein erfolgreicher Unternehmer.<br />
In dem Artikel der „Freien Presse“ über die<br />
Beerdigung Hugo Hillmanns im Januar 1898<br />
findet sich auch ein Hinweis auf seinen Bruder.<br />
Hier heißt es: „Mehrere Wagen, in denen<br />
Angehörige der Familie, sowie Vertreter der<br />
Firma des Bruders des Verstorbenen Platz genommen<br />
hatten, bildeten den Schluß. Der<br />
ebenfalls schon hochbetagte Bruder unseres<br />
Hillmanns hatte sich entschuldigen lassen, da<br />
er wegen hartnäckigen Leidens am Begräbnisse<br />
nicht Theil nehmen konnte“. 20<br />
Seinen demokratischen Idealen hielt Otto<br />
Hillmann im Gegensatz zu seinem verstorbenen<br />
Bruder zu diesem Zeitpunkt vermutlich<br />
nicht mehr die Treue. Eine familiäre Anekdote<br />
erzählt: Als im Jahr 1900 das Kaiserpaar die<br />
Stadt Elberfeld besuchte, durfte Otto Hillmann<br />
seine Pferde, angeblich die schönsten der<br />
Stadt, für die Kutsche der hohen Gäste zur<br />
Verfügung stellen. Da die Kinder andere Berufe<br />
gewählt hatten, verkaufte Otto Hillmann<br />
1910 seinen Besitz am Bendahl an die<br />
Wicküler Brauerei <strong>und</strong> seine Brennrechte an<br />
die bekannte Elberfelder Schnapsbrennerei<br />
Knappertsbusch. 21 Deshalb wird dort heute<br />
noch die Marke „Hillmann’s Wacholder“ vertrieben.<br />
22<br />
Drei Korrekturen:<br />
Über die von mir erwähnte Gaststätte in<br />
Ronsdorf, in der Ferdinand Lassalle seine bekannte<br />
„Ronsdorfer Rede“ hielt, liegen unterschiedliche<br />
Angaben vor. Manche Autoren gehen<br />
von der Gaststätte „Kimpel“, andere von<br />
der Gaststätte „Wesenholl“ auf der Remscheider<br />
Straße aus. Der in dem Artikel fälschlicherweise<br />
angegebene „Rheinische Hof“ wurde in<br />
späteren Jahren für die in Ronsdorf abgehaltenen<br />
„Lassalle-Feiern“ genutzt.<br />
Der von mir erwähnte Begründer der katholischen<br />
Gesellenvereine „Georg“ Breuer<br />
95
hieß tatsächlich Johann Gregor Breuer.<br />
In dem Artikel ist als das Elternhaus der<br />
Gebrüder Hillmann irrtümlich das Haus auf der<br />
Untergrünewalder Straße 12 bezeichnet. Tat -<br />
sächlich ist es die Hausnummer 10. Diese Haus<br />
ist ebenfalls erhalten.<br />
Anmerkungen<br />
1 Knieriem, Michael, Hg, Michels Erwachen –<br />
Emanzipation durch Aufstand ? Studien <strong>und</strong> Dokumente<br />
zur Ausstellung, Wuppertal 1998.<br />
2 Eine Metzgerei gleichen Namens bestand bis<br />
1993 noch in Elberfeld.<br />
3 Nach Angaben von Dr. Joachim Hillmann, Wuppertal,<br />
einem Urenkel von Otto Hillmann.<br />
4 In dem Aufsatz „Hugo Hillmann – die Anfänge<br />
der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im<br />
Wuppertal“, in: Geschichte im Wuppertal, Heft<br />
7, 1998, ist irrtümlicherweise die Hausnummer<br />
12 angegeben.<br />
5 Geheimes Staatsarchiv PK., Berlin Rep 77, Tit.<br />
505 Nr. 3, Bd. 4, S. 128, in: Knieriem (wie Anm.<br />
1), S. 46<br />
6 Geheimes Staatsarchiv PK., Berlin Rep 77, Tit.<br />
505 Nr. 3, Bd. 4, S. 128, in: Knieriem (wie Anm.<br />
1), S. 46<br />
7 Prozeßverhandlungen der Maiangeklagten von<br />
Elberfeld dargestellt im Täglichen Anzeiger Nr.<br />
97 – III; Elberfeld 26. April – 12. Mai 1850; in:<br />
Knieriem (wie Anm. 1), S. 79<br />
8 Ebd., S. 89<br />
9 Ebd., S. 95<br />
10 Ebd., S. 88<br />
11 Ebd., S. 76<br />
96<br />
❊ ❊<br />
❊<br />
12 Ebd., S. 83<br />
13 Knieriem, Michael, Der Prozeß gegen die Mai-<br />
Angeklagten in Elberfeld, in: Knieriem, Michels<br />
Erwachen – Emanzipation durch Aufstand,<br />
Wuppertal 1998, S. 47, vgl. Prozeßverhandlungen,<br />
Knieriem (wie Anm. 7), S. 88<br />
14 Prozeßverhandlungen, Knieriem (wie Anm. 7),<br />
S. 83; Gustav Wessel, Unteroffizier des 16. Regiments<br />
15 Prozeßverhandlungen, Knieriem (wie Anm. 7),<br />
S. 86; Daniel von der Heydt war als Bruder des<br />
preußischen Handels- <strong>und</strong> Finanzministers für<br />
die Aufständischen von besonderem Interesse.<br />
16 Der vollständige Text lautet:<br />
Ich bevollmächtige meinen Vatter Friedrich<br />
Hillmann, meine Verhältniße in Elberfeld zu<br />
ordnen <strong>und</strong> namentlich die mir von einigen Einwohnern<br />
in Elberfeld zugesagten in dem von<br />
meinem Vatter am 17. Mai 1849 über 3 000 Thaler<br />
von ihm ausgestellten Scheinen mit verbürgten<br />
1 000 Thalern zu empfangen. Elberfeld, den<br />
17. Mai 1849<br />
Unterschrieben als Vollmacht, Hugo Hillmann<br />
Vorstehende 1 000 Thaler in Auftrag meines<br />
Sohnes Hugo Hillmann von dem Herrn Richter<br />
Brüning erhalten.<br />
Elberfeld, den 22.11.1849 Friedrich Hillmann<br />
17 Hermann Püttmann (1811–1874) Publizist,<br />
Dichter, Teilnehmer der Revolution 1848/49.<br />
18 Der Volksmann, sozial-demokratisches Volksblatt<br />
für Rheinland <strong>und</strong> Westfalen, Nr. 50 vom<br />
26. April 1850, abgedruckt in: Knieriem (wie<br />
Anm. 7), S. 43<br />
19 Polizeiliste in: Petitionen <strong>und</strong> Barrikaden –<br />
Rheinische Revolutionen 1848/49, Münster<br />
1998, S. 420<br />
20 Freie Presse, 19.1.1898<br />
21 Heute in dem alten Gebäude der Funkstraße
Winfried Herbers<br />
Jagd auf Flugblätter<br />
Die Polizei <strong>und</strong> der Richtungskampf in der SPD 1916/17 im Wuppertal<br />
I.<br />
Im Sommer dieses Jahres, am 13.6.1999,<br />
wurde in Wuppertal-Elberfeld eine Treppe<br />
nach dem sozialistischen Politiker Oskar Hoffmann<br />
(1877–1953) benannt <strong>und</strong> gleichzeitig<br />
eine Ausstellung in der Zentralbibliothek Elberfeld<br />
über sein Leben <strong>und</strong> sein politisches<br />
Wirken eröffnet. Dort bezeichnete sein Sohn,<br />
Prof. Ernst Hoffmann, bei einer Rede die genaueren<br />
Umstände der Verhaftung <strong>und</strong> Verurteilung<br />
seines Vaters 1916/17 als weitgehend<br />
ungeklärt, wenn man von den drei in der Ausstellung<br />
gezeigten kargen Notizen vom 24. <strong>und</strong><br />
25.7.1916 <strong>und</strong> vom 10.2.1917 in der Freien<br />
Presse, dem Parteiorgan der Wuppertaler SPD,<br />
einmal absieht.<br />
Bisher in der lokalen Forschung unbeachtet<br />
blieb eine Akte im Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf.<br />
Der Titel dieser Akte lautet: „Strafverfahren<br />
gegen Dattan <strong>und</strong> Genossen in Elberfeld<br />
wegen versuchten Landesverrats (Verbreitung<br />
verbotener Flugblätter)“: Sie befaßt sich auch<br />
mit Oskar Hoffmanns Verhaftung <strong>und</strong> Ver ur -<br />
teilung 1916/1917. 1<br />
Abgesehen von der Bedeutung für O. Hoffmanns<br />
Biographie bietet das in der Akte teilweise<br />
dokumentierte Verfahren aber auch einen<br />
interessanten Einblick in die Praxis der polizeilichen<br />
Bespitzelung während des Belagerungszustands<br />
im 1. Weltkrieg. Die Polizeiverwaltung<br />
Elberfelds berichtet dem Regierungspräsidenten<br />
in Düsseldorf über diese Angelegenheit.<br />
Es gibt vor allem genaue Berichte über<br />
die Arbeit von Elberfelder Polizisten, die<br />
nachts Verdächtigen nachschleichen <strong>und</strong> Verhörprotokolle<br />
von Festgenommenen anfertigen.<br />
Das außerhalb Wuppertals stattfindende<br />
Gerichtsverfahren wird dagegen nur recht<br />
summarisch dokumentiert. Rückschlüsse auf<br />
die Richtungskämpfe zwischen der so genannten<br />
gemäßigten Mehrheit <strong>und</strong> der radikalen<br />
Minderheit in der Wuppertaler SPD ergeben<br />
sich ebenfalls aus dem Material.<br />
Hintergr<strong>und</strong> des Falls ist die Weitergabe<br />
<strong>und</strong> Verteilung von Flugblättern. In ihnen ging<br />
es vor allem um die Person <strong>und</strong> die Politik von<br />
Karl Liebknecht (1871–1919), dem späteren<br />
Parteiführer der KPD/Spartakusb<strong>und</strong>. Er protestierte<br />
als erster parlamentarisch <strong>und</strong> außerparlamentarisch<br />
gegen die Politik der Mehrheit<br />
der SPD im 1.Weltkrieg.<br />
Einige Tage nach Kriegsbeginn, am 4. August<br />
1914, hatte die SPD nach interner kontroverser<br />
Diskussion einstimmig den Kriegskrediten<br />
zugestimmt. Das entsprach zwar nicht der<br />
traditionellen Haltung der Partei zum Krieg,<br />
wohl aber der damals vorherrschenden nationalen<br />
Hochstimmung. Gestützt wurde die Zustimmung<br />
auch durch die Meinung, durch das<br />
reaktionäre Rußland zum Krieg gezwungen<br />
worden zu sein, <strong>und</strong> die Hoffnung, aus der<br />
Stellung eines Parias in der Gesellschaft herauszufinden.<br />
Damit war die SPD in die gemeinsame<br />
Burgfriedenspolitik aller deutschen<br />
Parteien einbezogen. Die Gemeinsamkeit in<br />
der SPD dauerte aber nicht lange an; als erster<br />
stimmte Liebknecht bereits am 2.12.1914 im<br />
Reichstag gegen die Kriegskredite. Eine<br />
Gruppe um den Reichstagsabgeordneten Hugo<br />
Haase wandte sich ebenfalls zunehmend gegen<br />
die Bewilligung der Kriegskredite, obwohl sie<br />
ideologisch <strong>und</strong> programmatisch gemäßigter<br />
war als Liebknecht <strong>und</strong> seine Anhänger.<br />
Bei einer öffentlichen Protestaktion am<br />
1. Mai 1916 auf dem Potsdamer Platz in Berlin<br />
verhaftete die Polizei Liebknecht. 2 Ein Hochverratsprozeß<br />
folgte am 28. Juni 1916 vor dem<br />
Kommandanturgericht von Berlin: Urteil: zwei<br />
Jahre, sechs Monate Zuchthaus. Der Revisionsprozeß<br />
am 23. August 1916 verschärfte<br />
das Strafmaß: Vier Jahre <strong>und</strong> einen Monat<br />
Zuchthaus <strong>und</strong> der Verlust der bürgerlichen<br />
Ehrenrechte für sechs Jahre. 3 Am 4. November<br />
97
1916 bestätigte das Reichsmilitärgericht endgültig<br />
das Urteil. 4 Auf den ersten Prozeß bezogen<br />
sich die in Wuppertal auftauchenden Flugblätter,<br />
denn die Anhänger Liebknechts wollten<br />
dieses Urteil natürlich nicht akzeptieren.<br />
II.<br />
Auf Gr<strong>und</strong> der Ausrufung des Belagerungszustandes<br />
zu Beginn des Krieges hatten die<br />
stellvertretenden Generalkommandos die vollziehende<br />
Gewalt <strong>und</strong> machten die Zivilbehörden<br />
zu ihren Erfüllungsgehilfen. Da auch die<br />
Meinungsfreiheit durch den Belagerungszustand<br />
eingeschränkt war, konnten die Militärs<br />
Presse <strong>und</strong> Post zensieren.<br />
Am 17. Juli 1916 5 erhielt die Polizeibehörde<br />
in Elberfeld vom stellvertretenden Generalkommando<br />
des VII. Armeekorps in Münster,<br />
in dessen Bereich die Stadt lag, folgenden<br />
Hinweis. Eine gewisse „Frau oder ein Frl.“<br />
Gertrud Kretschmer solle ein Paket mit illegalen<br />
Flugschriften, herausgegeben vom radikalen<br />
Flügel der Sozialdemokratie, durch die<br />
Post bekommen. Als eigentlicher Empfänger<br />
wurde in dem Schreiben der Stadtverordnete<br />
<strong>und</strong> Redakteur der Freien Presse Oskar Hoffmann<br />
6 angesehen.<br />
Gertrud Kretschmer gehörte zweifellos<br />
dem sozialistischen Milieu an, denn ihr Mann,<br />
Otto Kretschmer, zur Zeit Soldat, war Vorstandsmitglied<br />
der Produktionsgenossenschaft<br />
Solidarität, sie reinigte die Räume der Freien<br />
Presse. Über Gertrud Kretschmer wurde daraufhin<br />
von der Polizei die Postüberwachung<br />
angeordnet; auch O. Hoffmann wurde mit dem<br />
Ziel, ihn der Verbreitung der Flugblätter zu<br />
überführen, überwacht.<br />
Aus den Berichten der Polizeibehörde geht<br />
hervor, daß G. Kretschmer tatsächlich am<br />
20.7.1916 ein Paket aus Berlin bekam <strong>und</strong> es<br />
gegen zwei Uhr nachmittags mit zum Geschäftslokal<br />
der Freien Presse nahm, wo sie als<br />
Putzfrau beschäftigt war. Gegen neun Uhr verließ<br />
dann der Redakteur Oskar Hoffmann die<br />
Räume der Freien Presse mit, wie der Berichterstatter<br />
vermutet, dem Paket unter seiner Pelerine<br />
<strong>und</strong> ging zur Berliner Str. 20. 7 Dort, wo<br />
98<br />
auch ein Gewerkschaftsbüro <strong>und</strong> eine von Sozialisten<br />
besuchte Wirtschaft („Stöcker“) untergebracht<br />
waren, erschienen im Verlauf des<br />
Abends mehrere Unbekannte, die sich, so<br />
scheint es dem berichtenden Polizisten, auffällig<br />
benahmen; schließlich verschwand einer<br />
der Männer mit dem Paket <strong>und</strong> begab sich zur<br />
Hardt, wo er zwei weitere Männer traf. Aus den<br />
späteren Verhören stellte sich die Identität von<br />
zwei der drei Männer heraus: Karl Drescher<br />
<strong>und</strong> Paul Sandweg. Die verfolgenden Polizisten<br />
wurden allerdings von ihnen bemerkt, die<br />
drei Männer konnten fliehen, wobei sie aber<br />
das Paket zurückließen, das die Polizisten fanden<br />
<strong>und</strong> beschlagnahmten.<br />
In dem Paket waren folgende Schriften <strong>und</strong><br />
Flugblätter enthalten:<br />
90 Exemplare „Unsere Blätter“ 8<br />
90 Exemplare der Broschüre „Die Herbeiführung<br />
des Friedens“, gedruckt <strong>und</strong> verlegt<br />
von der Schweizerischen Genossenschaftsdruckerei.<br />
9<br />
200 Flugblätter: „Zuchthaus für Friedensarbeit“.<br />
In dieser Nacht bekam die Polizei aber<br />
noch mehr Arbeit. Am gleichen Abend verfolgten<br />
zwei andere Polizisten gegen zehn Uhr eine<br />
weitere Gruppe von Verdächtigen, die sich von<br />
der Berliner Str. 20 auf den Weg nach Barmen<br />
machten.<br />
Die Polizei konnte beobachten, wie die drei<br />
verdächtigen Personen an drei verschiedenen<br />
Stellen Flugblätter anklebten, die für die Ziele<br />
der radikalen Richtung der Sozialdemokratie<br />
warben. Die drei Männer wurden festgenommen<br />
<strong>und</strong> in militärische Sicherheitsverwahrung<br />
genommen. Es handelte sich um den Drogisten<br />
Otto Dattan 10 , den Klempner <strong>und</strong><br />
Schriftsteller Werner Möller 11 <strong>und</strong> den Kaufmann<br />
Max Löwenstein. 12 Plakatiert wurde das<br />
bekannte Flugblatt: „2 1 /2 Jahre Zuchthaus“ mit<br />
dem Schlußsatz: „Hoch Liebknecht! Nieder<br />
mit dem Kriege!“ 13 Das Flugblatt nimmt Bezug<br />
auf Liebknechts Friedensdemonstration am<br />
1. Mai 1916, seine Verhaftung <strong>und</strong> seine Verurteilung<br />
<strong>und</strong>, was die staatlichen Autoritäten<br />
vermutlich am meisten beunruhigte, es wird<br />
von dem Proteststreik Berliner Arbeiter am 28.<br />
Juni 1916 berichtet. Zur Unterstreichung der
Flugblatt gegen die Verurteilung Karl Liebknechts, 1916 (Aus: Udo Achten: Illustrierte Geschichte<br />
des 1. Mai, 1979, S. 181)<br />
99
Glaubwürdigkeit werden sogar die einzelnen<br />
streikenden Betriebe aufgeführt <strong>und</strong> eine Gesamtzahl<br />
von 55.000 Streikenden der „Muni -<br />
tionsindustrie“ gemeldet. Daneben erwähnt<br />
man auch noch entsprechende Streiks in<br />
Braunschweig <strong>und</strong> Stuttgart. Die Arbeiter werden<br />
aufgerufen, sich „zum neuen Handeln“ bereitzuhalten:<br />
„Heraus zum Proteststreik“.<br />
Am nächsten Tag, am 21.7.1916, durchsuchte<br />
die Polizei die Wohnungen von Dattan<br />
<strong>und</strong> von Hoffmann, allerdings fand man kein<br />
weiteres Belastungsmaterial. Dattan, Hoffmann,<br />
Möller, Löwenstein – letzterer wurde<br />
bald allerdings wieder freigelassen – <strong>und</strong> später<br />
weitere Genossen (Jacob Koch, Paul Sauerbrey<br />
14 ) wurden in militärische Sicherheitsverwahrung<br />
genommen. Zusätzlich verhörte man<br />
noch weitere SPD-Mitglieder (Paul Sandweg 15 ,<br />
Karl Drescher 16 ).<br />
In den verschiedenen Verhören gaben am<br />
21.7. (bzw. Verhör Karl Drescher erst am<br />
22.7.1916) die Beschuldigten alles zu, was sie<br />
nicht abstreiten konnten. Sie distanzierten sich<br />
aber z.T. von einzelnen Inhalten der Flugblättern<br />
(Dattan kritisiert die Verwendung von Gewalt<br />
bei Liebknecht), sie bestritten die Mittäterschaft<br />
(Dattan <strong>und</strong> Löwenstein wollen nur<br />
beim Ankleben zugeguckt haben) oder sie gaben<br />
an, nichts vom Inhalt des Pakets gewußt zu<br />
haben (Sandweg <strong>und</strong> Drescher).<br />
Einerseits gibt es Widersprüche in den Verhören,<br />
die zeigen, daß die Verhörten sich vorher<br />
nicht hatten absprechen können. Andererseits<br />
zeigen ihre Aussagen aber auch, daß sie<br />
mit Polizeiverhören umzugehen verstanden.<br />
Die Erfahrungen aus der Zeit der Verfolgung<br />
unter dem Sozialistengesetz waren wohl noch<br />
sehr präsent: an entscheidenden Stellen die<br />
Aussage verweigern bzw. die Hintermänner<br />
nicht nennen. So wurden die Flugblätter anonym<br />
zugeschickt, den Absender <strong>und</strong> den Inhalt<br />
kannte man nicht. Auch hatte man sich in der<br />
Regel zufällig getroffen <strong>und</strong> nicht etwa verabredet,<br />
um etwas Bestimmtes zu tun.<br />
Die meisten Verhörten (Dattan, Möller, allerdings<br />
Löwenstein mit Einschränkung) bekannten<br />
sich zur Minderheitsrichtung in der<br />
SPD (gemeint: Hugo Haase/Karl Liebknecht).<br />
Löwenstein gab auch an, daß sich Dattan „un-<br />
100<br />
umw<strong>und</strong>en zu der Minderheitspartei bekennt,<br />
gleich wie die meisten Genossen des Tales“.<br />
Dagegen fühlte sich Paul Sandweg der Mehrheit<br />
in der SPD zugehörig <strong>und</strong> Hoffmann <strong>und</strong><br />
Karl Drescher machten darüber keine Aussagen<br />
vor der Polizei, tatsächlich wurden sie aber<br />
1918/19 beide für die USPD im Wuppertal<br />
aktiv.<br />
Eine intelligente Verteidigungsstrategie<br />
stammte von Oskar Hoffmann: Bei den Flugblättern<br />
im Paket handle es sich um internes<br />
Material für Funktionäre, die sich über die Ansichten<br />
der Radikalen informieren müßten.<br />
Keineswegs seien sie für die Öffentlichkeit bestimmt<br />
gewesen. Die Information der Funktionäre<br />
sei vor allem deshalb nötig, weil in<br />
Kürze eine Parteikonferenz in Wuppertal mit<br />
dem Führer des rechten Parteiflügels, Ebert,<br />
geplant sei. Außerdem ersuchte er die Polizei<br />
um baldige Freilassung, da sonst das Erscheinen<br />
der Parteizeitung Freie Presse nicht gewährleistet<br />
sei. Der zweite Redakteur, Otto<br />
Niebuhr, müsse eine Gefängnisstrafe antreten.<br />
Wenn er – Hoffmann – auch noch ausfalle,<br />
müsse man das Erscheinen der Zeitung einstellen<br />
<strong>und</strong> das Personal würde der „Armenpflege<br />
zur Last fallen.“<br />
Haft war allerdings nichts Unbekanntes für<br />
Oskar Hoffmann, denn als Redakteur der<br />
Freien Presse hatte er schon öfter Gefängnis<strong>und</strong><br />
Geldstrafen erlitten. 17<br />
Hoffmann blieb in Haft <strong>und</strong> am 24. Juli<br />
1916 berichtete die Freie Presse unter den Parteinachrichten<br />
mit der Überschrift „Ein denkwürdiger<br />
Tag in der Parteigeschichte von Elberfeld-Barmen“<br />
knapp über die Ereignisse:<br />
„In der Nacht zum 21. Juli wurden plötzlich die<br />
Genossen Werner Möller, Otto Dattan <strong>und</strong> Max<br />
Löwenstein, der sich von der russischen Front<br />
den 1. Tag auf Urlaub in der Heimat befand,<br />
verhaftet. Im Laufe des Vormittags wurde Genosse<br />
Hoffmann in militärische Schutzhaft genommen,<br />
in dem Moment, wo der leitende Redakteur<br />
Genosse Otto Niebuhr seine dreimonatige<br />
Gefängnisstrafe wegen Preßvergehens antreten<br />
mußte.“ 18 Die Meldung erschien ohne<br />
Wertung, Kommentar <strong>und</strong> nähere Einzelheiten,<br />
was auf die strenge Zensur der Polizei zurückzuführen<br />
ist.
Indirekt bezog man allerdings schon Stellung.<br />
Am 25.7.1916 berichtete die Freie Presse<br />
von einer Bezirksversammlung des Sozialdemokratischen<br />
Vereines Elberfeld-Barmen, wo<br />
der später ebenfalls verhaftete Paul Sauerbrey<br />
vor 34 Genossen <strong>und</strong> 10 Genossinnen einen<br />
Vortrag vom „Standpunkt der Minderheit“ aus<br />
hielt. Danach verabschiedete die Versammlung<br />
einstimmig eine Sympathieerklärung für die<br />
vier verhafteten Genossen, was natürlich eine<br />
deutliche Kritik an den Behörden war.<br />
Am gleichen Tage wies die Freie Presse auf<br />
die am 30. Juli, nachmittags um drei Uhr im<br />
Saale der „Olympia“ in Barmen stattfindende<br />
Mitgliederversammlung hin, auf der auch, wie<br />
bei Hoffmann im Verhör angegeben, der Parteivorsitzende<br />
Ebert sprechen sollte. Ebert<br />
hatte bei den letzten Reichstagswahlen 1912<br />
den Wahlkreis Elberfeld-Barmen in der Stichwahl<br />
gewonnen <strong>und</strong> wollte verhindern, daß die<br />
radikale Richtung im Wuppertal das Übergewicht<br />
bekam.<br />
Als letztes wurde am 25. Juli in der Freien<br />
Presse gemeldet, daß Niebuhr für einige Zeit<br />
aus dem Gefängnis entlassen worden sei. Da<br />
Hoffmann noch in Haft war, brauchte so das<br />
Erscheinen der Freien Presse nicht eingestellt<br />
zu werden. Offensichtlich erschien den Behörden<br />
das Preßvergehen weniger bedeutsam als<br />
die Liebknecht-Agitation.<br />
Am 31. Juli wurde dann über die am Vortag<br />
abgehaltene angekündigte Parteiversammlung<br />
mit 600 Teilnehmern <strong>und</strong> Ebert berichtet. Eine<br />
2 /3-Mehrheit nahm eine Resolution Karl Dreschers<br />
19 gegen Ebert <strong>und</strong> die Bewilligung der<br />
Kriegskredite an. Dies zeigt, daß im Wuppertal<br />
die von sich selbst so bezeichnete „Minderheit“<br />
der SPD eigentlich die Mehrheit war.<br />
III.<br />
Für die Inhaftierten begannen dann die<br />
Mühlen der Justiz zu mahlen.<br />
Gertrud Kretschmer, die Empfängerin des<br />
Paketes, wurde in einem getrennten <strong>und</strong><br />
nichtöffentlichen Verfahren vor dem Amtsgericht<br />
Elberfeld im August 1916 freigesprochen.<br />
20 Laut Zeitungsbericht war auch sie zuvor<br />
in Schutzhaft.<br />
Am 18.8.1916 wurde das Strafverfahren<br />
gegen „Dattan <strong>und</strong> Genossen“, die am 17. 8.<br />
1916 von der Militär-Sicherungsverwahrung<br />
auf Gr<strong>und</strong> eines Haftbefehls vom 16. 8. 1916 in<br />
das königliche Gefängnis in Elberfeld zur Untersuchungshaft<br />
überführt wurden, eröffnet.<br />
Dattan, Möller, Koch, Sauerbrey 21 <strong>und</strong> Hoffmann<br />
wurden beschuldigt, den „Entschluß<br />
betätigt zu haben“ … „der Kriegsmacht des<br />
Deutschen Reiches Nachteil zuzufügen“. Ihnen<br />
wurde die Verbreitung von Flugblättern, Hoffmann<br />
speziell die Übergabe zur Verbreitung<br />
vorgeworfen. Als Zweck unterstellte man ihnen,<br />
die in Rüstungsbetrieben arbeitenden Arbeiter<br />
zum Streik zu motivieren. Das spielt auf<br />
die Streiks der 55.000 Berliner Metallarbeiter<br />
an, die am 28. Juni zugunsten der Freilassung<br />
von Liebknecht in den Ausstand getreten waren.<br />
22 Dieser erste unmittelbar politische Massenstreik<br />
in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung<br />
war für die Reichsführung beunruhigend,<br />
weil seine Quantität <strong>und</strong> Qualität<br />
weit über die gelegentlichen Streiks der Jahre<br />
1914 <strong>und</strong> 1915 hinausgingen.<br />
Gegen die 4 Beklagten außer Hoffmann<br />
wurde noch ein weiterer Vorwurf erhoben,<br />
nämlich verschiedene Klassen der Bevölkerung<br />
zu Gewalttaten gegeneinander aufgehetzt<br />
zu haben. Der Vorwurf lief auf Landesverrat<br />
<strong>und</strong> Anreizung zum Klassenhaß hinaus.<br />
Gr<strong>und</strong>lage war hier auch noch ein weiteres, in<br />
den oben erwähnten Verhören nicht thematisiertes<br />
Flugblatt „Was ist mit Liebknecht?“.<br />
Aus den Berichten der Elberfelder Polizeiverwaltung<br />
an die Regierung in Düsseldorf ergibt<br />
sich der weitere Verlauf des Verfahrens:<br />
– Das Verfahren wurde vor dem Reichsgericht<br />
in Leipzig durchgeführt.<br />
– Am 1.9.1916 wurde der Angeklagte Sauerbrey<br />
freigelassen, aber sofort danach in militärische<br />
Sicherheitshaft genommen, bis er<br />
am 5.9. zum Heeresdienst eingezogen<br />
wurde. 23<br />
– Am 8.11. war die Voruntersuchung abgeschlossen,<br />
Anfang Dezember erhob die<br />
Staatsanwaltschaft Anklage.<br />
– Am 5. <strong>und</strong> 6. 2. 1917 kam es zur Hauptverhandlung.<br />
Oskar Hoffmann wurde, obwohl<br />
ihn der prominente sozialdemokratische<br />
101
(Minderheit) Reichstagsabgeordnete <strong>und</strong><br />
Anwalt Hugo Haase verteidigte, zu 3 Monaten<br />
Gefängnis verurteilt 24 , die aber bereits<br />
durch die Untersuchungshaft als verbüßt<br />
galten. Dattan, Koch <strong>und</strong> Möller erhielten<br />
je 9 Monaten Gefängnis. Landesverrat<br />
konnte keinem der Angeklagten<br />
nachgewiesen werden, so daß nur der Verstoß<br />
gegen Verfügungen des Generalkommandos<br />
geahndet werden konnte.<br />
Hoffmann mußte ab März 1917 Militärdienst<br />
leisten <strong>und</strong> kam zur Ostfront, Dattan<br />
ebenfalls 25 .<br />
IV.<br />
Auffällig ist, daß Strafverfahren nur gegen<br />
die Anhänger der Minderheit geführt wurden,<br />
drei der vier (außer Hoffmann) waren auch<br />
später Anhänger des Spartakusb<strong>und</strong>es. Die<br />
beiden Männer, die das Paket auf der Hardt abgelegt<br />
hatten (Drescher <strong>und</strong> Sandweg), die<br />
sich nicht zur Minderheit bekannten, hatte<br />
man zwar verhört, nicht aber bestraft, so daß<br />
der politische Zweck des Verfahrens klar auf<br />
der Hand liegt. Die führenden Kriegsgegner in<br />
der SPD sollten isoliert <strong>und</strong> mögliche Gefolgsleute<br />
durch harte Strafen abgeschreckt werden.<br />
Im Gerichtsverfahren ging es um die Flugblätter,<br />
die im Paket waren (200 Flugblätter:<br />
„Zuchthaus für Friedensarbeit“), um das Flugblatt,<br />
das plakatiert wurde: „2 1 /2 Jahre Zuchthaus“<br />
mit dem Schlußsatz: „Hoch Liebknecht.<br />
Nieder mit dem Kriege“ <strong>und</strong> um das nur kurz<br />
erwähnte Flugblatt: „Was ist mit Liebknecht?“.<br />
Alle drei bezogen sich auf die Person <strong>und</strong> die<br />
politische Position von Liebknecht, darüber<br />
hinaus aber vor allem auf den Streit innerhalb<br />
der Sozialdemokraten.<br />
Die Wuppertaler Aktion ist deshalb auf<br />
dem Hintergr<strong>und</strong> des Zielkonflikts <strong>und</strong> des<br />
Machtkampfes in der SPD zu sehen. Seit der<br />
Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD<br />
am 4. August 1914 im Reichstag wurde die innerparteiliche<br />
Diskussion über die Friedenspolitik<br />
<strong>und</strong> den Burgfrieden mit zunehmender<br />
Heftigkeit weitergeführt. Der sich in die Länge<br />
102<br />
ziehende Krieg, die schlechte Versorgungslage<br />
<strong>und</strong> auch die Aktivität von Reichstagsabgeordneten<br />
wie Karl Liebknecht führten dazu, daß<br />
ein wachsender Teil der sozialdemokratischen<br />
Fraktion die Entscheidung für die Kriegskredite<br />
immer kritischer sah. Am 24. März 1916,<br />
anläßlich einer Abstimmung im Reichstag über<br />
einen Notetat, zerbrach zunächst die einheitliche<br />
sozialdemokratische Fraktion, der bald<br />
darauf die Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen<br />
Partei Deutschlands (USPD)<br />
am 6.–8. April 1917 in Gotha folgte. 26 Zum<br />
Parteivorsitzenden wurde Hoffmanns Verteidiger,<br />
Hugo Haase, gewählt.<br />
Die Militärbehörden, die in der inneren Politik<br />
Deutschlands durch Verhängung des Belagerungszustandes<br />
1914 das entscheidende Gewicht<br />
hatten, wollten die innere Geschlossenheit<br />
des Volkes. Deshalb waren sie daran interessiert,<br />
die Kräfte in der SPD, die gegen die<br />
Kriegsführung der Reichsleitung, für einen sofortigen<br />
Frieden ohne Annexionen <strong>und</strong> für eine<br />
radikale sozialistische Umgestaltung Deutschlands<br />
waren, möglichst klein zu halten. Deshalb<br />
war die Aktion gegen die Wuppertaler Sozialdemokraten<br />
aus Sicht der Militärs <strong>und</strong> der<br />
zivilen Behörden von großer Wichtigkeit, um<br />
mögliche Unterstützung für Liebknecht <strong>und</strong><br />
alle Befürworter eines Friedens über die Köpfe<br />
der Herrschenden hinweg im Keim zu ersticken.<br />
Militärische Sicherheitsverwahrung,<br />
Strafprozesse <strong>und</strong> Einziehung zum Heer waren<br />
in diesem Kampf übliche Mittel. Ob hinter einzelnen<br />
dieser Maßnahmen auch „rechte“ Sozialdemokraten<br />
als Mithelfer steckten, geht für<br />
diesen Fall aus den Akten nicht hervor, ist aber<br />
auch nicht völlig unmöglich. 27 Vor allem die<br />
Streiks in der Rüstungsindustrie waren in den<br />
Augen der Militärs gefährliche Anzeichen des<br />
bröckelnden Burgfriedens.<br />
Die „Speerspitze“ der Opposition, Liebknecht,<br />
saß zwar im Gefängnis, aber seine Politik<br />
<strong>und</strong> auch die der etwas gemäßigteren späteren<br />
USPD hatte viele Anhänger, auch im<br />
Wuppertal. Dabei waren die Grenzen zwischen<br />
USPD <strong>und</strong> der Gruppe Internationale um Liebknecht<br />
<strong>und</strong> Rosa Luxemburg trotz unterschiedlicher<br />
Positionen noch nicht verfestigt, wie der<br />
Sprachgebrauch der Verhörten zeigt. Sie be-
zeichneten sich als Anhänger der Mehrheit<br />
oder der Minderheit.<br />
Die Linkstendenz im Wuppertal deutete<br />
sich schon vor dem Krieg so an. Der Bezirk<br />
Niederrhein, zu dem auch Wuppertal gehörte,<br />
hatte auf dem letzten Parteitag in Jena 1913 bezüglich<br />
des politischen Massenstreiks <strong>und</strong> in<br />
der Steuerfrage gegen den Parteivorstand <strong>und</strong><br />
die reformistische Linie gestimmt. Später<br />
schloß sich deshalb auch der größte Teil des<br />
Bezirks der USPD an. 28 Im Wuppertal zeigte<br />
das Parteiorgan der Sozialdemokratie, die<br />
Freie Presse, deutliche Sympathie für die Opposition<br />
gegen den Krieg. Bei der Budgetdebatte<br />
vom 20.3.1915 hatten vor der Abstimmung<br />
30 Abgeordnete der SPD das Plenum des<br />
Reichstags verlassen. Die Freie Presse stellte<br />
dazu fest: „Wir wollen nicht verhehlen, heute<br />
schon zu erklären, daß wir ... auf der Seite derjenigen<br />
stehen, die durch das Verlassen des<br />
Saals ihr Festhalten an den Parteitagsbeschlüssen<br />
(gemeint: gegen den Krieg) dokumentierten.“<br />
29 Diese Haltung lag zunächst in der Einstellung<br />
der verbliebenen Redakteuren Niebuhr<br />
30 <strong>und</strong> Hoffmann begründet, die später zur<br />
USPD gingen, während die eher „rechten“ Redakteure<br />
Quietzau <strong>und</strong> Molkenbuhr bereits<br />
eingezogen waren. Ebert <strong>und</strong> Haase erschienen<br />
mehrfach im Wuppertal, um für ihre jeweilige<br />
Position zu werben. Haase-Anhänger überwogen<br />
1916 erheblich 31 . Die Reichstagswahlkreisorganisation<br />
Elberfeld-Barmen ging nach<br />
Eberts Bericht auf dem Parteitag im Oktober<br />
1917 an die USPD über. 32 Bei der offiziellen<br />
Spaltung 1917 entschieden sich die Mitglieder<br />
4:1 für die Opposition, während bei den Funktionären<br />
nur 2 von 9 SPD-Stadträten zur USPD<br />
wechselten. 33<br />
Die Wähler entschieden sich im Wuppertal<br />
bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919<br />
allerdings anders. Die SPD wurde mit 38%<br />
stärkste Partei, die USPD erreichte nur 11%. 34<br />
Die Verurteilung von vier SPD-Mitgliedern,<br />
die der Minderheit zugerechnet wurden,<br />
hielt im Krieg das Erstarken der Anhänger von<br />
Liebknecht <strong>und</strong> Haase im Wuppertal nicht auf,<br />
denn politische Einstellungen <strong>und</strong> Mentalitäten<br />
sind nicht durch Staatsanwalt <strong>und</strong> Gerichtsverfahren<br />
zu ändern, sondern allenfalls durch indi-<br />
viduelle oder gesellschaftliche Konstruktion<br />
von Wirklichkeit mit Hilfe von Erlebnissen,<br />
Erfahrungen <strong>und</strong> Normen.<br />
Anmerkungen<br />
1 HStAD Bestand 14940; zur Zeit allgemein vgl.<br />
Volker Wittmütz: Der Erste Weltkrieg – zwischen<br />
Siegestaumel <strong>und</strong> Verzweiflung. In: Goe -<br />
bel, Knieriem, Schnöring, Wittmütz (Hrsg.):<br />
Geschichte der Stadt Wuppertal. Wuppertal<br />
1977, S. 122 ff.<br />
2 Ein Bericht von Martha Globig über die Demonstration<br />
<strong>und</strong> die Verhaftung ist abgedruckt in:<br />
Ulrich Cartarius (Hrsg.): Deutschland im Ersten<br />
Weltkrieg. Texte <strong>und</strong> Dokumente 1914–1918.<br />
München 1982 (= dtv dokumente 2931), S. 266.<br />
3 Vgl. Trotnow. Helmut: Karl Liebknecht. Eine<br />
politische Biographie. Köln 1980; TB-Ausgabe<br />
1982, S. 215 ff.<br />
4 Cartarius: Deutschland, S. 167 ff.<br />
5 Knies, Hans-Ulrich: Arbeiterbewegung <strong>und</strong> Revolution<br />
in Wuppertal. Entwicklung <strong>und</strong> Tätigkeit<br />
der Arbeiter- <strong>und</strong> Soldatenräte in Elberfeld<br />
<strong>und</strong> Barmen. In: Rürup (Hrsg.): Arbeiter- <strong>und</strong><br />
Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet.<br />
Studien zur Geschichte der Revolution<br />
1918/1919. Wuppertal 1975, S. 83–153,<br />
hier S. 86, datiert den Vorgang fälschlicherweise<br />
auf Juni.<br />
6 Vgl. dazu Kurt Schnöring: Oskar Hoffmann. In:<br />
Wuppertaler Biographien. 14. Folge. Wuppertal<br />
1984, S. 31–39.<br />
7 Teil der heutigen Straße „Hofkamp“ vom Neuenteich<br />
bis zum Landgericht, fre<strong>und</strong>licher Hinweis<br />
von Dr. U. Eckardt.<br />
8 Nach Susanne Miller: Burgfrieden <strong>und</strong> Klassenkampf.<br />
Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten<br />
Weltkrieg. Düsseldorf 1974, S. 412 waren<br />
das USPD-Flugschriften.<br />
9 In einem Schreiben des Kriegsministeriums<br />
vom 10.8.1916 wies dieses die Generalkommandos<br />
ausdrücklich auf die Möglichkeit hin,<br />
daß die radikale sozialdemokratische Partei<br />
durch Vermittlung des Auslands „die Verbreitung<br />
ihrer hetzerischen Flugblätter <strong>und</strong> Schriften<br />
betreibt.“ Vgl. Ulrich Cartarius (Hrsg.):<br />
Deutschland, S. 164.<br />
10 Der Drogist Dattan, geboren 1875, war nach dem<br />
Polizeiprotokoll dauernd untauglich, wurde aber<br />
nach Verbüßung seiner Strafe zum Militär eingezogen;<br />
nach Kriegsende wurde er Vorsitzender<br />
103
der Wuppertaler Spartakusgruppe <strong>und</strong> später der<br />
KPD. Vgl. H. Weber (Hrsg.): Der Gründungsparteitag<br />
der KPD. Frankfurt 1969, S. 313.<br />
11 W. Möller, geboren 1888, blieb nach der Haft in<br />
Berlin <strong>und</strong> kam beim Spartakusaufstand im Januar<br />
1919 ums Leben (vgl. Knies, S. 140, Anm.<br />
19). Zu Möller vgl. Uwe Eckardt: Werner Möller<br />
(1888–1919). In: Geschichte im Wuppertal<br />
1996, S. 67–76.<br />
12 Löwenstein, geboren 1872. Die im Protokoll angegebene<br />
Firma Hermann Seligmann deutet<br />
darauf hin, daß Max L. mit dem bei Hermann<br />
Herberts: Geschichte der SPD in Wuppertal.<br />
Wuppertal o. J. (1963), S. 123 genannten Gabriel<br />
Löwenstein, der in der Zeit des Sozialistengesetzes<br />
für die SPD eintrat, verwandt ist. 1918<br />
war Max Löwenstein Spitzenfunktionär bei der<br />
USPD in einer „radikalen Position“, vgl. Knies,<br />
S. 113 <strong>und</strong> 123.<br />
13 Abgebildet bei Achten, U. / Krupke, S.: An alle!<br />
Lesen! Weitergeben! Flugblätter der Arbeiterbewegung<br />
von 1848 bis 1933. Berlin 1982, S. 56.<br />
14 Der Zeitpunkt ist nicht zu klären. Für Koch, geboren<br />
1881, Schriftsetzer von Beruf, <strong>und</strong> Sauerbrey,<br />
geboren 1876 <strong>und</strong> Gewerkschaftssekretär,<br />
gibt es in der Akte keine Verhörprotokolle, sie<br />
tauchen erst im Haftbefehl v. 16.8.1916 auf;<br />
Sauerbrey hält am 25. Juli noch eine Rede in<br />
Barmen (s.u.), in der er sich auch als Anhänger<br />
der Minderheit bekennt (später ist er in der Novemberrevolution<br />
einer der Aktivisten der<br />
USPD in politisch „mittlerer Position“, vgl.<br />
Knies, S. 123). Ähnliches trifft auch für Koch,<br />
zu, der 1918/19 bei der USPD im Wuppertal<br />
mitarbeitete, aber dem Spartakusb<strong>und</strong> zuneigte,<br />
vgl. Knies, S. 114 <strong>und</strong> D. Fricke: Handbuch zur<br />
Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung.<br />
Berlin 1982, S. 489.<br />
15 Paul Sandweg, geboren 1875, Kassierer des<br />
Deutschen Metall-Arbeiter-Verbandes, wurde<br />
auch am 21. 7. verhört, er war einer der drei<br />
Männer, die auf der Hardt zunächst der Polizei<br />
entkamen.<br />
16 Karl Drescher, geboren 1880, war Sekretär der<br />
Konsumgenossenschaft Vorwärts <strong>und</strong> wurde<br />
erst am 22.7.1916 verhört. Er war der zweite<br />
Mann auf der Hardt. Er verweigerte die Aussage,<br />
ob er zur Mehrheit oder Minderheit in der<br />
Partei gehöre, tatsächlich schloß er sich der<br />
USPD an <strong>und</strong> verfocht dort eine gemäßigte Position,<br />
vgl. Knies, S. 123.<br />
17 Vgl. die Erinnerungen seiner Söhne Fritz <strong>und</strong><br />
Oskar jun. von 1952 <strong>und</strong> 1953, fre<strong>und</strong>licher<br />
104<br />
Hinweis von Prof. E. Hoffmann.<br />
18 Freie Presse v. 24. Juli 1916, die folgenden Angaben<br />
beziehen sich auf die Berichterstattung<br />
dieser Zeitung.<br />
19 Drescher sprang für den am Morgen des Versammlungstages<br />
wieder verhafteten Otto Niebuhr<br />
ein, vgl. H. Herberts: Zur Geschichte,<br />
S. 159, wo auch der Bericht Dreschers über die<br />
Versammlung abgedruckt ist.<br />
20 Vgl. dazu auch den Bericht der Polizei-Verwaltung<br />
Elberfeld an die Regierung am 4.9.1916 in<br />
HStAD 14940.<br />
21 Die Verhöre von Koch <strong>und</strong> Sauerbrey befinden<br />
sich nicht in der Akte, so daß nicht genau bestimmt<br />
werden kann, was ihnen konkret vorgeworfen<br />
wurde. Möglicherweise haben sie ein<br />
weiteres Flugblatt, das im Haftbefehl erwähnt<br />
wurde, verteilt. Nach Aussagen anderer im Verhör<br />
tauchte Sauerbrey auch am fraglichen<br />
Abend in der Berliner Str. 20 auf.<br />
22 Arno Klönne: Die deutsche Arbeiterbewegung.<br />
Geschichte, Ziele, Wirkungen. 2. Aufl. Düsseldorf<br />
1981, S.144.<br />
23 Im November 1918 kehrte er nach Barmen<br />
zurück <strong>und</strong> wurde im Soldatenrat aktiv. 1920<br />
wurde er für die USPD in den Reichstag gewählt,<br />
wie Oskar Hoffmann schloß er sich 1922<br />
wieder der SPD an, vgl. Kurzbiographie Paul<br />
Sauerbrey in: Der Kapp-Putsch im März 1920<br />
<strong>und</strong> die Geschichte der Gräber auf dem Ehrenfriedhof<br />
Wuppertal Barmen. Wuppertal 1999,<br />
S. 19 ff.<br />
24 Vgl. dazu Kurt Schnöring: Oskar Hoffmann,<br />
S. 33, der von einem Freispruch spricht, was allerdings<br />
nach der Aktenlage nicht richtig ist.<br />
25 Vgl. Knies, S.86 (Anm).<br />
26 Vgl. Miller, S. 133 ff.<br />
27 Ein Beispiel dafür gibt Jürgen Reulecke: Der erste<br />
Weltkrieg <strong>und</strong> die Arbeiterbewegung im<br />
rheinisch-westfälischen Industriegebiet. In: J.<br />
Reulecke (Hrsg.): Arbeiterbewegung an Rhein<br />
<strong>und</strong> Ruhr. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung<br />
im Rheinland-Westfalen. Wuppertal<br />
1974, S. 226.<br />
28 Vgl. Dowe, Dieter: Politische Traditionen der<br />
rheinischen <strong>und</strong> westfälischen Arbeiterbewegung<br />
vor dem Ersten Weltkrieg. In: Niethammer,<br />
Lutz u. a. (Hrsg.): „Die Menschen machen ihre<br />
Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen<br />
sie selbst“. Einladung zu einer Geschichte<br />
des Volkes in NRW. Berlin/Bonn 1984, S. 61–64.<br />
29 Freie Presse Nr. 68 v. 22.3.1915.<br />
30 Niebuhr wurde im Februar 1917 als Redakteur
entlassen <strong>und</strong> zum Militär eingezogen. Kurze<br />
Zeit später starb er (Vgl. H. Herberts: Zur Geschichte,<br />
S. 159).<br />
31 Vgl. Knies: Arbeiterbewegung , S. 86.<br />
32 Vgl. Miller: Burgfrieden, S. 167.<br />
Michael Okroy<br />
„… kann nicht bezweifelt werden, daß er beim Aufbau<br />
eines freien Deutschlands seine Kraft einsetzen wird.“<br />
NS-Täter aus Wuppertal: Auf Umwegen zurück in die ,Normalität‘. 1<br />
Ausgangspunkt der Recherchen über NS-<br />
Täter, deren Biographie mit Wuppertal <strong>und</strong> der<br />
bergischen Region eng verb<strong>und</strong>en ist, war ein<br />
Ausstellungsprojekt der Begegnungsstätte Alte<br />
Synagoge zur Geschichte der Juden im Bergischen<br />
Land. Diese Wanderausstellung mit dem<br />
Titel „Hier wohnte Frau Antonie Giese“ wurde<br />
im November 1996 erstmalig in Wuppertal gezeigt<br />
<strong>und</strong> war seitdem an elf Orten im Bergischen<br />
zu sehen. In diese Ausstellung ist als eine<br />
Art Nebenthema die Biographie eines NS-Täters<br />
integriert: die des früheren Solinger Architekten<br />
<strong>und</strong> SS-Standartenführers Paul Blobel.<br />
Blobel, der an der Kgl. Baugewerkschule Barmen-Elberfeld<br />
am Haspel studiert hatte <strong>und</strong><br />
dessen SS-Laufbahn im bergischen Städtedreieck<br />
begann, führte von Juni 1941 bis Januar<br />
1942 ein Einsatzkommando der Sicherheitspolizei<br />
<strong>und</strong> des SD, das für die Ermordung von<br />
r<strong>und</strong> 60.000 ukrainischen Juden verantwortlich<br />
war. Ab Mitte 1942 organisierte <strong>und</strong> beaufsichtigte<br />
Blobel dann die Enterdungs- <strong>und</strong> Leichenverbrennungskommandos,<br />
die die von den<br />
Einsatzgruppen hinterlassenen Massengräber<br />
im Osten beseitigen sollten <strong>und</strong> deren Tätigkeit<br />
die letzte <strong>und</strong> zugleich abgründigste Variante<br />
der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik<br />
darstellte. 2<br />
Diese in das Hauptthema der Ausstellung<br />
eingeflochtene <strong>und</strong> chronologisch entwickelte<br />
Täterbiographie verfolgte das Ziel, die abstrakte<br />
Dimension des millionenfachen Juden-<br />
33 Vgl. Knies: Arbeiterbewegung, S. 87 Die Mitgliederzahlen<br />
werden dort mit 2575 (Sommer<br />
1917) USPD gegen 739 (Frühjahr 1918) SPD<br />
angegeben. Zum Problem vgl. auch Jürgen<br />
Reulecke: Der erste Weltkrieg, S. 223 ff.<br />
mords über eine unmittelbare Konfrontation<br />
mit einem aus unserer Region stammenden Täter<br />
,begreiflicher‘ zu machen <strong>und</strong> den Ausstellungsbesuchern<br />
näher zu rücken. Einerseits<br />
sollte damit deutlich werden, daß die zahlreichen<br />
Mordaktionen an Juden <strong>und</strong> nichtjüdischen<br />
Zivilisten in den besetzten Ostgebieten<br />
nicht von gesichtslosen <strong>und</strong> anonymen Täterkollektiven<br />
wie z.B. SS oder Gestapo, sondern<br />
von konkreten Individuen ausgeführt wurden:<br />
Paul Blobel (1894–1951), 1935 (B<strong>und</strong>esarchiv<br />
Berlin)<br />
105
Von Menschen aus der Mitte der deutschen Gesellschaft,<br />
Nachbarn oft, mit einer Lebensgeschichte,<br />
die jenseits ihres vom Mord an wehrlosen<br />
Männern, Frauen <strong>und</strong> Kindern geprägten<br />
Alltags lag. Zum anderen sollte eine dichte<br />
Beschreibung der von Blobel <strong>und</strong> seinen Männern<br />
begangenen Verbrechen die historischzeitliche<br />
<strong>und</strong> räumliche Distanz zu einem<br />
fernab, „irgendwo im Osten“ ablaufenden Geschehen<br />
verringern <strong>und</strong> darüber hinaus andere,<br />
weniger bekannte Tat-Orte in den Blickpunkt<br />
rücken. 3<br />
Der Ausstellungskonzeption lag der Gedanke<br />
zugr<strong>und</strong>e, daß mit der Erinnerung an die<br />
Opfer <strong>und</strong> Überlebenden der Shoa zugleich<br />
Fragen nach den Tätern gestellt werden müssen:<br />
Nach deren Herkunft, ihren Motiven <strong>und</strong><br />
nicht zuletzt nach den mentalen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />
Bedingungen, die es möglich<br />
machten, daß sich „ganz normale“ Deutsche in<br />
Mörder <strong>und</strong> Mordgehilfen verwandelten. Fragen<br />
aber auch danach, was mit ihnen nach<br />
1945 geschehen <strong>und</strong> wie die deutsche Nachkriegsgesellschaft<br />
mit ihnen umgegangen ist.<br />
Paul Blobel wurde nach dem Krieg von den<br />
Alliierten im Nürnberger Einsatzgruppenprozeß<br />
angeklagt, zum Tode verurteilt <strong>und</strong> 1951 in<br />
Landsberg hingerichtet. Neben Blobel gab es<br />
aber noch eine ganze Reihe anderer Personen<br />
aus unserer Region, die im Rahmen des nationalsozialistischen<br />
Vernichtungsprogramms –<br />
sei es bei der logistischen Vorbereitung oder<br />
der praktischen Umsetzung – eine verantwortliche<br />
<strong>und</strong> aktive Rolle gespielt haben. Von den<br />
Bekannteren seien hier nur genannt: Adolf<br />
Eichmann aus Solingen, der frühere Gauleiter<br />
<strong>und</strong> Reichskommissar für die Ukraine Erich<br />
Koch aus Elberfeld, die beiden in Auschwitz-<br />
Birkenau tätigen SS-Ärzte Dr. Heinz Thilo <strong>und</strong><br />
Prof. Carl Clauberg sowie Julius Dorpmüller,<br />
als Chef der Deutschen Reichsbahn mitverantwortlich<br />
für die Deportationen in die Ghettos<br />
<strong>und</strong> Vernichtungslager. Hinzu kommen alle<br />
diejenigen, die gleichsam am unteren Ende der<br />
Befehlskette, z.B. als Angehörige der KZ-<br />
Wachmannschaften, Polizeieinheiten oder Leichenverbrennungskommandos,<br />
in das Mordgeschehen<br />
einbezogen waren – häufig aus eigener<br />
Initiative <strong>und</strong> sogar ohne ausdrücklichen<br />
106<br />
Julius Dorpmüller (1869-1945), ca. 1935<br />
(Sammlung Kurt Schnöring)<br />
Befehl. 4 Viele von ihnen kehrten nach 1945 unbehelligt<br />
von Strafverfolgung in unsere Region<br />
zurück. Erst lange nach Kriegsende mußten<br />
sich einige, zum Teil hier in Wuppertal, vor<br />
Gericht für ihre Verbrechen verantworten. 5<br />
Für den vorliegenden Beitrag habe ich aus<br />
einem insgesamt überraschend großen Personenkreis<br />
drei Täter aus Wuppertal ausgewählt,<br />
da diese im Hinblick auf Biographie <strong>und</strong> Werdegang<br />
einige interessante Gemeinsamkeiten<br />
aufweisen <strong>und</strong> das populäre Klischee des typischen<br />
NS-Verbrechers als eines dumpfen Befehlsempfängers<br />
oder sadistischen Exzeßtäters<br />
widerlegen. Im Mittelpunkt stehen vielmehr<br />
solche Personen, die in der SS, im Reichssicherheitshauptamt<br />
oder bei Sicherheitspolizei<br />
<strong>und</strong> Einsatzgruppen leitende Funktionen innehatten<br />
<strong>und</strong> die im Rahmen von Deportations<strong>und</strong><br />
Vernichtungsmaßnahmen über ein hohes<br />
Maß an Verantwortung <strong>und</strong> über individuelle<br />
Entscheidungsspielräume verfügten.
I. „Vergangenheitspolitik“ in der jungen<br />
B<strong>und</strong>esrepublik …<br />
Vorab soll ein kurzer Rückblick auf die<br />
Gründungsphase der B<strong>und</strong>esrepublik zeigen,<br />
wie Politik <strong>und</strong> Gesellschaft seinerzeit mit dem<br />
Erbe der NS-Verbrechen <strong>und</strong> mit den Tätern<br />
umgegangen sind. Der Bochumer Historiker<br />
Norbert Frei hat dieses insgesamt recht deprimierende<br />
Kapitel b<strong>und</strong>esrepublikanischer Geschichte<br />
1996 in seiner vorzüglichen Studie<br />
„Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der B<strong>und</strong>esrepublik<br />
<strong>und</strong> die NS-Vergangenheit“ kritisch<br />
unter die Lupe genommen <strong>und</strong> kommentiert.<br />
Sein Bef<strong>und</strong> dieser ersten Phase b<strong>und</strong>esdeutscher<br />
„Vergangenheitsbewältigung“ ist<br />
ebenso knapp wie treffend:<br />
Mitte der fünfziger Jahre […] hatte sich<br />
aufgr<strong>und</strong> einer ebenso bedenkenlosen wie populären<br />
Vergangenheitspolitik ein öffentliches<br />
Bewußtsein durchgesetzt, das die Verantwortung<br />
für die Schandtaten des „Dritten Reiches“<br />
allein Hitler <strong>und</strong> einer kleinen Clique von<br />
„Hauptkriegsverbrechern“ zuschrieb, während<br />
es den Deutschen in ihrer Gesamtheit den Status<br />
von politisch „Verführten“ zubilligte, die<br />
der Krieg <strong>und</strong> seine Folgen schließlich selbst<br />
zu „Opfern“ gemacht hatte. 6<br />
Herangereift war dieses auf Schuldabwehr<br />
<strong>und</strong> kollektive Entlastung zielende Bewußtsein<br />
allerdings schon, bevor die ersten vergangenheitspolitischen<br />
Weichenstellungen der Ade -<br />
nauer-Regierung vorgenommen wurden <strong>und</strong><br />
dann als Gesetze zumeist einstimmig den B<strong>und</strong>estag<br />
passierten. Bereits 1946/47 hatte es von<br />
deutscher Seite – <strong>und</strong> hier vor allem von den<br />
beiden Kirchen – Ansätze gegeben, das von<br />
den Alliierten angeordnete Entnazifizierungsprogramm<br />
<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen Maßnahmen<br />
zur Ausschaltung <strong>und</strong> Strafverfolgung<br />
von NS-Eliten als falsch <strong>und</strong> schädlich zu kritisieren<br />
<strong>und</strong> deren schleunigste Beendigung zu<br />
fordern. 7 Dieses Programm, das zunächst<br />
durchaus erfolgreich angelaufen war, verfügte<br />
über unterschiedlichste Formen von Sanktionen:<br />
automatischer Arrest für Angehörige von<br />
SS, SD <strong>und</strong> Gestapo, Entlassungen aus dem öffentlichen<br />
Dienst, Internierungslager, Spruchkammern,<br />
zivile <strong>und</strong> militärische Strafpro-<br />
zesse. Der zuerst von den Besatzungsbehörden<br />
selbst durchgeführte <strong>und</strong> dann sukzessive den<br />
Deutschen übertragene Versuch, alle NS-Belasteten<br />
zu überprüfen <strong>und</strong> notfalls zu bestrafen,<br />
war jedoch angesichts der schieren Überforderung<br />
der zuständigen Instanzen kaum zu realisieren.<br />
Das Ergebnis waren vielfach recht<br />
zweifelhafte <strong>und</strong> widersprüchliche Entscheidungen:<br />
Während aus pragmatischen Gründen<br />
oft die „leichteren“ Fälle erledigt <strong>und</strong> häufig<br />
scharf geahndet wurden, kamen die zurückgestellten<br />
Fälle der Schwer- <strong>und</strong> Schwerstbelasteten<br />
entweder nicht mehr zur Verhandlung<br />
oder wurden mit lächerlich niedrigen Einstufungen<br />
versehen. 8 Dazu später ein besonders<br />
eklatantes Beispiel eines NS-Verbrechers aus<br />
Wuppertal.<br />
Die zweifellos unbefriedigende Praxis der<br />
alliierten Säuberungen diente vielen Deutschen<br />
als willkommener Anlaß, die Verfehltheit des<br />
gesamten Entnazifizierungsprogramms anzuprangern.<br />
Die Kritik daran gipfelte etwa in dem<br />
abstrusen Vorwurf, Internierung, Spruchkammern<br />
<strong>und</strong> Entnazifizierung seien nichts anderes<br />
als eine „grausame Verfolgung, die selbst<br />
naziähnliche Methoden anwende, indem sie<br />
Menschen den Prozeß mache <strong>und</strong> sie in ,Konzentrationslagern‘<br />
gefangenhalte.“ 9 Mit der<br />
Gründung der B<strong>und</strong>esrepublik im Mai 1949 erreichte<br />
diese von einem breiten gesellschaftlichen<br />
Konsens getragene Ablehnung der Entnazifizierungspolitik<br />
eine neue Stufe <strong>und</strong> weitete<br />
sich sogar auf den Bereich der juristischen<br />
Strafverfolgung von NS-Verbrechern aus. Prominente<br />
Unterstützung fanden diese Kampagnen<br />
u.a. durch den Kölner Kardinal Frings<br />
<strong>und</strong> den evangelischen Bischof <strong>und</strong> Bekenntnistheologen<br />
Otto Dibelius.<br />
Bereits unmittelbar nach Eröffnung des ersten<br />
B<strong>und</strong>estages im Herbst 1949 verabschiedete<br />
das neue Parlament als eines der ersten<br />
Gesetze der B<strong>und</strong>esrepublik einstimmig das<br />
sogenannte 1. Straffreiheitsgesetz. 10 Es sah die<br />
Amnestierung aller vor dem 15. September<br />
1949 begangenen Straftaten vor, die mit Gefängnis<br />
bis zu sechs Monaten geahndet werden<br />
konnten. Zwar waren davon in der Mehrzahl<br />
nichtpolitische Delikte aus der Schwarzmarktzeit<br />
betroffen; das Amnestiegesetz begünstigte<br />
107
ausdrücklich aber auch die sogenannten „Illegalen“,<br />
die sich nach 1945 durch Annahme einer<br />
falschen Identität der Internierung <strong>und</strong> Entnazifizierung<br />
entzogen hatten. Nach heutigen<br />
Erkenntnissen befanden sich darunter Zehntausende,<br />
zum Teil schwerbelastete NS-Täter.<br />
Ein weiteres vergangenheitspolitisches<br />
Signal mit weitreichenden Folgen setzte das im<br />
April 1951 im B<strong>und</strong>estag einstimmig verabschiedete<br />
sogenannte „131er Gesetz“. Durch<br />
den Gr<strong>und</strong>gesetzartikel 131 wurde nahezu allen<br />
Beamten, die nach 1945 von den Alliierten<br />
aus politischen Gründen aus dem öffentlichen<br />
Dienst entfernt worden waren, nicht nur die<br />
Möglichkeit, sondern sogar das Recht verliehen,<br />
in ihre einstigen Positionen zurückzukehren.<br />
Die Folge war, daß auch das Gros der ehemaligen<br />
Gestapo-Beamten ihren alten Status<br />
zurückerhielt <strong>und</strong> diesen notfalls einklagen<br />
konnte. Von dieser großzügigen Regelung profitierten<br />
auch zahlreiche Angehörige der<br />
Schutz- <strong>und</strong> Ordnungspolizei, die, wie wir seit<br />
längerem wissen, nicht nur die Deportationstransporte<br />
in die Ghettos <strong>und</strong> Vernichtungszentren<br />
begleitet hat, sondern selbst aktiv <strong>und</strong><br />
oft aus eigener Initiative Judenmordaktionen<br />
durchführte.<br />
Ein Beispiel dazu aus unserer Stadt: 1968<br />
wurde der damalige Wuppertaler Hauptkommissar<br />
Rolf-Joachim Buchs wegen seiner Mitwirkung<br />
an der Ermordung von mehr als 1000<br />
Juden in der Stadt Bialystok zu einer lebenslänglichen<br />
Haftstrafe verurteilt. Buchs <strong>und</strong><br />
noch einige andere der im Wuppertaler Bialystok-Prozeß<br />
Angeklagten – insgesamt waren es<br />
14 Personen – gehörten als Offiziere dem Bataillon<br />
309 der Ordnungspolizei an. Mit Hilfe<br />
des „131-Gesetzes“ wurden einige dieser Männer<br />
wieder in den öffentlichen Dienst übernommen<br />
<strong>und</strong> hatten so ungehindert ihre Laufbahn<br />
bei der Polizei fortsetzen können. Rolf-Joachim<br />
Buchs avancierte vom Polizeichef in Solingen<br />
zum Führer einer H<strong>und</strong>ertschaft der Wuppertaler<br />
Bereitschaftspolizei <strong>und</strong> anschließend zum<br />
Fachlehrer <strong>und</strong> Lehrgangsleiter an den Polizeiausbildungsschulen<br />
in Düsseldorf <strong>und</strong> Bork.<br />
Die bevorstehende Beförderung zum Polizeirat<br />
kam dann allerdings im Zuge der gegen ihn geführten<br />
Ermittlungen nicht mehr zustande. 11<br />
108<br />
Durch das sog. 2. Straffreiheitsgesetz von<br />
1954 erhielt das inzwischen immer selbstbewußter<br />
auftretende <strong>und</strong> populäre Schlußstrich-<br />
Denken eine weitere Gesetzeslegitimität. Dieses<br />
Gesetz sah die Amnestierung nun auch<br />
derjenigen Täter vor, deren Tötungsverbrechen<br />
in der Endphase des „Dritten Reichs“<br />
verübt wurden <strong>und</strong> die bei Anklage eine Strafe<br />
von bis zu drei Jahren zu erwarten hatten. Infolge<br />
dieses Gesetzes sank im Jahr 1954 die<br />
Zahl der neu eingeleiteten Ermittlungsverfahren<br />
wegen NS-Verbrechen auf ein Rekordtief:<br />
Auf knapp 200 gegenüber noch r<strong>und</strong> 2500 im<br />
Jahr 1950. Diesen dramatischen Rückgang<br />
hatte aber noch ein anderer Faktor entscheidend<br />
mitverursacht. Denn nicht nur der Justizapparat<br />
selbst, auch die Polizei war in hohem<br />
Maße mit ehemaligen Nationalsozialisten<br />
kontaminiert. Dazu ein Beispiel aus Nordrhein-Westfalen:<br />
Gegen Mitte der 50er Jahre<br />
waren von den 33 leitenden Stellen der Kriminalpolizei<br />
in NRW mehr als 20 von ehemaligen<br />
SS-Sturmbann- <strong>und</strong> Obersturmbannführern,<br />
also höheren SS-Offiziersrängen, besetzt.<br />
12 Kein W<strong>und</strong>er also, daß bei der Ermittlung<br />
<strong>und</strong> Strafverfolgung von NS-Verbrechern<br />
kein sonderlich großer Ehrgeiz entwickelt <strong>und</strong><br />
diese auch des öfteren vorsätzlich behindert<br />
oder verzögert wurde.<br />
Einen besonders deprimierenden Akzent<br />
im Hinblick auf den Umgang mit NS-Tätern<br />
setzten zu Beginn der 50er Jahre die von einem<br />
breiten gesellschaftlichen Konsens getragenen<br />
Bemühungen um die Freilassung der von den<br />
Alliierten verurteilten Kriegsverbrecher. Diese<br />
firmierten in der deutschen Öffentlichkeit in<br />
der Regel unter verharmlosenden Begriffen<br />
wie „Kriegsverurteilte“ oder „Internierte“. Zu<br />
diesem Personenkreis zählten etwa die in den<br />
Nürnberger Nachfolgeprozessen verurteilten<br />
Spitzenbeamten des Reichsaußenministeriums,<br />
führende Industrielle <strong>und</strong> Industriemanager,<br />
Mediziner, hohe Wehrmachtsoffiziere, aber<br />
auch zahlreiche Kommandeure der Einsatzgruppen-<br />
<strong>und</strong> -kommandos, die für millionenfachen<br />
Massenmord verantwortlich waren.<br />
Einflußreiche Exponenten dieser auf eine Generalamnestie<br />
hinwirkenden Kampagne waren<br />
der Essener Rechtsanwalt <strong>und</strong> F.D.P.-Land-
tagsabgeordnete Ernst Achenbach <strong>und</strong> dessen<br />
enger Mitarbeiter Dr. Werner Best, der bis<br />
1940 Heydrichs Stellvertreter im Reichssicherheitshauptamt<br />
war. 13 Anfang der 50er Jahre<br />
fungierte Best dann als Rechtsberater der nordrhein-westfälischen<br />
F.D.P. – nachgerade ein<br />
Sammelbecken ehemaliger NS-Eliten – <strong>und</strong><br />
wechselte anschließend als Justitiar zum Stinnes-Konzern<br />
nach Mühlheim. Dort war Best<br />
bis 1972 tätig. Aber auch führende Vertreter<br />
der evangelischen <strong>und</strong> katholischen Kirche arbeiteten<br />
zielstrebig <strong>und</strong> erfolgreich auf die<br />
Freilassung der in Landsberg, Werl <strong>und</strong> Wittlich<br />
einsitzenden NS-Verbrecher hin <strong>und</strong> übten<br />
gemeinsam mit hochrangigen Politikern massiven<br />
Druck auf die Alliierten aus. Mit Erfolg:<br />
Bereits Ende der 50er Jahre saß von den ursprünglich<br />
zum Tode oder zu lebenslanger oder<br />
langjähriger Haft verurteilten insgesamt 24<br />
Einsatzgruppenkommandeuren niemand mehr<br />
hinter Gittern. 14 Lediglich die Todesurteile der<br />
vier sogenannten „Landsberger Rotjacken“,<br />
darunter Paul Blobel, wurden 1951 unter<br />
großem öffentlichen Protest vollstreckt. Selbst<br />
vor Blobel, einem der fraglos ruchlosesten<br />
Massenmörder, machten diese Mitleids- <strong>und</strong><br />
Begnadigungskampagnen nicht halt. Ein Kommentar<br />
in der „Rheinischen Post“ vom Februar<br />
1951 bringt die damalige Stimmung auf den<br />
Punkt, denn er formulierte offen, was seinerzeit<br />
wohl viele dachten:<br />
Seit mehr als fünf Jahren warten die Verurteilten<br />
in der Festung Landsberg in ständiger<br />
Furcht, ob sie den kommenden Tag noch erleben,<br />
auf ihr Schicksal […] auch der Solinger<br />
Paul Blobel. Die Schuld Blobels ist ohne Zweifel<br />
ungeheuerlich – ebenso wahr ist aber auch<br />
die Tatsache, daß ein Mensch, der fünf Jahre in<br />
der bangen Ungewißheit ,Leben oder Tod‘ sein<br />
Dasein […] fristet, einen Teil dieser Schuld<br />
weitgehend abgetragen hat. 15<br />
… <strong>und</strong> im Wuppertal der 50er <strong>und</strong> 60er<br />
Jahre<br />
Immer wieder kamen derartige Sympathiebek<strong>und</strong>ungen<br />
<strong>und</strong> Initiativen zugunsten von<br />
NS-Tätern auch aus Wuppertal. Dazu zählen<br />
etwa die Aktivitäten des 1951 gegründeten <strong>und</strong><br />
als gemeinnützig eingetragenen Vereins mit<br />
dem harmlos klingenden Namen „Stille Hilfe<br />
für Kriegsgefangene <strong>und</strong> Internierte“. In ihm<br />
waren neben ehemaligen aktiven Nationalsozialisten<br />
<strong>und</strong> Angehörigen der Waffen-SS auch<br />
zahlreiche evangelische <strong>und</strong> katholische Geistliche<br />
aktiv tätig. 16 Die Tatsache, daß der angesehene<br />
Arzt, Theologe <strong>und</strong> Friedensnobelpreisträger<br />
Albert Schweitzer Ehrenpräsident<br />
der „Stillen Hilfe“ war, läßt auf die breite gesellschaftliche<br />
Akzeptanz <strong>und</strong> vermeintliche<br />
moralische Dignität dieses Vereins schließen.<br />
Anfang der 60er Jahre hatten dessen Vorstand<br />
<strong>und</strong> Geschäftsführung für längere Zeit ihren<br />
Sitz in Wuppertal (Lothringerstr. 43) <strong>und</strong> verschickten<br />
von dort aus ihren R<strong>und</strong>brief an<br />
Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Symphatisanten. Seit Sommer<br />
1994 ist die „Stille Hilfe“ erneut unter einer<br />
Wuppertaler Adresse eingetragen. Der Verein,<br />
an dessen Spitze heute die Tochter Heinrich<br />
Himmlers steht, sorgte erst kürzlich wieder für<br />
Schlagzeilen, als bekannt wurde, daß eine<br />
Wuppertalerin seit Jahren die Betreuung der<br />
aus lebenslanger Haft vorzeitig entlassenen<br />
KZ-Aufseherin Hermine Braunsteiner-Ryan<br />
übernommen hatte. 17<br />
Breite Resonanz fand auch ein 1952 im katholischen<br />
Wuppertaler Abendland-Verlag erschienenes<br />
Buch mit dem Titel: „Landsberg.<br />
Henker des Rechts?“ Darin wurden nicht nur<br />
die Kriegsverbrechen zweier zum Tode verurteilter<br />
Marineoffiziere aus Wuppertal in skandalöser<br />
Weise bagatellisiert; der Autor dieser<br />
Publikation, K. W. Hammerstein, verunglimpfte<br />
auch die alliierten Strafverfahren gegen<br />
NS-Verbrecher pauschal als unrechtmäßig<br />
<strong>und</strong> stilisierte die Verurteilten zu Märtyrern<br />
<strong>und</strong> zu Opfern der sog. alliierten „Siegerjustiz“.<br />
Das Vorwort zu diesem Buch schrieb<br />
bezeichnenderweise der Jurist Dr. Rudolf<br />
Aschenauer, der im Nürnberger Einsatzgruppenprozeß<br />
den SS-Führer Otto Ohlendorf verteidigt<br />
hatte. Ohlendorf war wegen seiner Verantwortung<br />
für die Ermordung von mehr als<br />
90.000 Juden zum Tode verurteilt <strong>und</strong> hingerichtet<br />
worden.<br />
Von ganz anderen, mehr an theologischethischen<br />
Paradigmen der Vergebung orientier-<br />
109
Die Angeklagten im Nürnberger Einsatzgruppenprozeß 1947/48. Paul Blobel (mit Vollbart):<br />
1. Reihe, 5. Person von rechts. (Ullstein Bilderdienst)<br />
ten Motiven geprägt waren dagegen die<br />
Bemühungen von Professor Hermann Schlingensiepen<br />
aus Wuppertal, ehemals Ordina -<br />
rius für Praktische Theologie in Bonn <strong>und</strong><br />
lang jähriger Ephorus der Kirchlichen Hochschule<br />
Wuppertal. Auslöser für dessen unmittelbar<br />
praktische <strong>und</strong> publizistische Aktivitäten<br />
war der 1960/61 in Jerusalem geführte <strong>und</strong><br />
weltweites Aufsehen erregende Prozeß gegen<br />
Adolf Eichmann. Mit diesem hatte Schlingensiepen<br />
mehrfach versucht, brieflich in Kontakt<br />
zu treten. 18 In Zeitungs- <strong>und</strong> Zeitschriftenbeiträgen<br />
sowie in etlichen Interviews warb er<br />
für Verständnis <strong>und</strong> Vergebung für einsitzende<br />
NS-Täter, besuchte diese im Gefängnis <strong>und</strong><br />
nahm Kontakt mit deren Familienangehörigen<br />
auf. Im Mai 1965 veröffentlichte Schlingensiepen<br />
aus Anlaß der Verjährungsdebatten im<br />
Deutschen B<strong>und</strong>estag einen Beitrag über die in<br />
110<br />
den deutschen Nachkriegsprozessen verurteilten<br />
NS-Verbrecher im evangelischen „Sonntagsblatt“.<br />
Darin forderte er auf, Frieden zu<br />
schließen mit denen, die „bösen Willens sind“<br />
<strong>und</strong> empfahl, NS-Täter „in der tiefsten Tiefe<br />
unseres Herzens <strong>und</strong> Gewissens als Opfer jener<br />
Tage zu beklagen“. 19 Durch sein gewiß aufrichtig<br />
empf<strong>und</strong>enes <strong>und</strong> theologisch motiviertes<br />
Engagement wurde Hermann Schlingensiepen<br />
nachgerade zu einer Leitfigur im Bereich der<br />
seelsorgerlichen Betreuung von inhaftierten<br />
NS-Verbrechern. Einen Niederschlag seiner<br />
Bemühungen um Vergebung läßt sich etwa<br />
auch in einer umstrittenen Stellungnahme der<br />
„Arbeitsgemeinschaft der Bergischen Gefängnisgemeinde“<br />
zu den NS-Prozessen vom September<br />
1963 finden. 20<br />
Aus alldem läßt sich für die Anfangsjahre<br />
der B<strong>und</strong>esrepublik im Hinblick auf den Um-
gang mit NS-Tätern resümieren: Mitte der 50er<br />
Jahre mußte fast niemand mehr befürchten,<br />
wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit<br />
von Staat <strong>und</strong> Justiz behelligt zu werden.<br />
Innerhalb von nur wenigen Jahren waren<br />
nahezu sämtliche alliierten Säuberungsmaßnahmen<br />
aus den Nachkriegsjahren rückgängig<br />
gemacht <strong>und</strong> die Mehrzahl der nationalsozialistischen<br />
Funktionsträger amnestiert <strong>und</strong> weitgehend<br />
reintegriert worden. Nach Ansicht des<br />
Freiburger Historikers Ulrich Herbert war<br />
diese unverhoffte Gunst der St<strong>und</strong>e für die<br />
Mehrheit der Davongekommenen jedoch an<br />
ein bestimmtes soziales Verhaltensmuster gekoppelt,<br />
nämlich die eigene Vergangenheit<br />
möglichst ganz vergessen zu machen <strong>und</strong> sich<br />
jeder verdächtigen politischen Äußerung zu<br />
enthalten. Die Strategie eines angepaßten <strong>und</strong><br />
unauffälligen Lebens, die soziale Integration<br />
<strong>und</strong> ökonomischen Aufstieg erst garantierte,<br />
führte – so Ulrich Herbert – „zu einer moralisch<br />
gewiß zweifelhaften, aber durchaus effektiven<br />
Einpassung von großen Teilen der<br />
ehemaligen NS-Eliten in den neuen deutschen<br />
Staat <strong>und</strong> seine Gesellschaft.“ 21<br />
Erste Risse bekam diese gleichermaßen auf<br />
Amnestie wie auf Amnesie zielende „Vergangenheitsbewältigung“<br />
mit der in den 60er <strong>und</strong><br />
70er Jahren einsetzenden Welle von NS-Prozessen.<br />
Möglich wurden diese Verfahren durch<br />
die Tätigkeit der Ende 1958 in Ludwigsburg<br />
eingerichteten „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen<br />
zur Aufklärung nationalsozialistischer<br />
Verbrechen“. Obwohl diese Verfahren<br />
nicht selten die Chance zu einer kritischen<br />
Selbstaufklärung boten, wurden sie in<br />
der breiten Öffentlichkeit – von wenigen Ausnahmen<br />
abgesehen – entweder kaum wahrgenommen<br />
oder sogar offen abgelehnt. Ein tieferliegendes<br />
Motiv für diese Haltung war gewiß<br />
auch, daß diese Prozesse schockierend unmittelbar<br />
vor Augen führten, wie schmal der Grat<br />
zwischen Normalität <strong>und</strong> Massenmord in<br />
Wirklichkeit gewesen ist <strong>und</strong> daß an den Verbrechen<br />
weit mehr ganz normale Deutsche beteiligt<br />
waren, als man sich eingestehen wollte.<br />
Anstelle prominenter <strong>und</strong> zumeist längst verstorbener<br />
Nazifunktionäre oder anonymer Tätergruppen<br />
gerieten nun konkret handelnde<br />
Personen ins Blickfeld: Personen mit Namen<br />
<strong>und</strong> Gesichtern, mit politischen Überzeugungen<br />
<strong>und</strong> mit Verantwortung. Die meisten dieser<br />
Personen galten bis zu diesem Zeitpunkt als<br />
angesehene Nachbarn <strong>und</strong> Kollegen, geliebte<br />
Familienväter, respektierte Vorgesetzte oder<br />
gute Bekannte, denen man diese Verbrechen<br />
nicht zugetraut hatte.<br />
II. Auf Umwegen nach Wuppertal: Die Täter<br />
kehren zurück<br />
Vor diesem gesellschaftspolitischen <strong>und</strong><br />
mentalen Hintergr<strong>und</strong> müssen die nun folgenden<br />
<strong>und</strong> in gewisser Hinsicht exemplarischen<br />
Täterbiographien wahrgenommen <strong>und</strong> eingeordnet<br />
werden. Vorab noch einige Informationen<br />
zu den historischen Quellen meiner Recherchen.<br />
Reichhaltiges Material bieten die<br />
zum Teil veröffentlichten Prozeßunterlagen der<br />
Justizbehörden aus den Verfahren der 60er <strong>und</strong><br />
70er Jahre. Dort finden sich detaillierte Beschreibungen<br />
der Verbrechenskomplexe, Aussagen<br />
<strong>und</strong> Verhörprotokolle, aber auch zahlreiche<br />
Angaben zur Person <strong>und</strong> zum Lebensweg<br />
vor <strong>und</strong> nach 1945, die wichtige Daten zur Rekonstruktion<br />
der Rückkehr <strong>und</strong> Integration in<br />
die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft liefern.<br />
22 Einen weitereren wichtigen Quellenbestand<br />
bilden die Unterlagen der Spruchgerichte<br />
<strong>und</strong> Entnazifizierungsbehörden im B<strong>und</strong>esarchiv<br />
Koblenz <strong>und</strong> im NRW-Hauptstaatsarchiv<br />
sowie die im Berliner B<strong>und</strong>esarchiv lagernden<br />
Personaldokumente von SS-Offizieren <strong>und</strong> die<br />
Personenakten des Rasse- <strong>und</strong> Siedlungshauptamtes.<br />
Von besonderem Interesse waren natürlich<br />
auch die mehr oder weniger zahlreichen<br />
Berichte über NS-Prozesse in diversen lokalen<br />
<strong>und</strong> überregionalen Zeitungen <strong>und</strong> Zeitschriften.<br />
1.) Kurt Hans: Zum Opfer alliierter „Siegerjustiz“<br />
verklärt.<br />
Der erste der im folgenden vorgestellten<br />
NS-Täter aus Wuppertal ist der frühere SS-<br />
Hauptsturmführer <strong>und</strong> Kriminalrat Kurt Hans,<br />
111
der als Offizier dem von Paul Blobel geführten<br />
Sondereinsatzkommando 4a der Einsatzgruppe<br />
C der Sicherheitspolizei <strong>und</strong> des SD angehörte.<br />
Dieses Kommando war u.a. an der Ermordung<br />
von mehr als 33.000 ukrainischen Juden in der<br />
Schlucht von Babi Jar bei Kiew Ende September<br />
1941 beteiligt. 23 Kurt Hans führte bei dieser<br />
größten geschlossenen Massenerschießungsaktion<br />
während des 2. Weltkriegs die Aufsicht<br />
über die Exekutionskommandos.<br />
Kurt Hans wurde am 14. April 1911 als<br />
siebter Sohn des Schreinermeisters Robert<br />
Hans in Wuppertal-Barmen geboren. Er besuchte<br />
dort zunächst die evangelische Volksschule,<br />
ab 1924 die Deutsche Oberschule in der<br />
Siegesstraße <strong>und</strong> absolvierte 1930 die Reifeprüfung.<br />
Anschließend studierte Kurt Hans einige<br />
Semester Bergwissenschaften in Tübingen<br />
<strong>und</strong> Köln, mußte aber das Studium im<br />
Frühjahr 1932 wegen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs<br />
des väterlichen Betriebes, der<br />
sich in der Schülkestraße befand, abbrechen<br />
<strong>und</strong> mit Gelegenheitsarbeiten zur Existenzsicherung<br />
der Familie beitragen. Infolge einer<br />
Verletzung, die sich der nationalsozialistische<br />
Aktivist bei einer Schießerei mit Regimegegnern<br />
im Februar 1933 – möglicherweise in der<br />
Elberfelder Nordstadt 24 – zugezogen hatte, war<br />
er zunächst eine zeitlang arbeitsunfähig. Nach<br />
seiner Genesung beschäftigte ihn dann die<br />
Stadtsparkasse Wuppertal für sechs Monate als<br />
Tarifangestellten. 25<br />
Vom 1. Juni 1931 bis zum 1. August 1933<br />
war Hans Mitglied der SA. Mitglied der<br />
NSDAP-Ortsgruppe Wuppertal wurde er im<br />
März 1932, zählte also zu den sog. „Alten<br />
Kämpfern“, die sich bereits vor der Machtübergabe<br />
an Hitler für den Nationalsozialismus<br />
engagierten. Ab Oktober 1932 avancierte er<br />
bereits zum Ortsgruppenamtsleiter der Partei<br />
<strong>und</strong> fungierte von März 1936 bis September<br />
1938 als Parteirichter beim Kreisgericht der<br />
NSDAP. Auf der Suche nach einer außerparteilichen<br />
Festanstellung bewarb sich Hans Anfang<br />
1934 bei der Wuppertaler Polizeibehörde<br />
<strong>und</strong> wurde als Kriminal-Assistenten-Anwärter<br />
zur Probe bei der Kriminalpolizei eingestellt.<br />
1937 erhielt er eine Kriminalkommissar-Anwärterstelle,<br />
<strong>und</strong> nach erfolgreichem Abschluß<br />
112<br />
Kurt Hans (1911–1997), ca. 1938 (B<strong>und</strong>esarchiv<br />
Berlin)<br />
eines Lehrgangs an der Führerschule der Sicherheitspolizei<br />
in Berlin-Charlottenburg erfolgte<br />
die Beförderung zum Kriminalkommissar<br />
<strong>und</strong> seine Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit.<br />
Das Dienststellenverzeichnis des<br />
Wuppertaler Polizeipräsidiums für das Jahr<br />
1940/41 führt Kurt Hans als Leiter des für<br />
Raub, Erpressung <strong>und</strong> Nötigung zuständigen 2.<br />
Kommissariats. 26<br />
In die SS, die 1936 mit der staatlichen Polizei<br />
verschmolzen wurde, trat Kurt Hans im Juli<br />
1938 ein: eigenen Angaben zufolge, um in seinem<br />
Beruf weiterzukommen <strong>und</strong> dort Karriere<br />
zu machen. Den im Zuge der Entkonfessionalisierung<br />
der SS obligatorischen Kirchenaustritt<br />
hatte er bereits 1936 vollzogen, obwohl sich<br />
der Protestant auf audrücklichen Wunsch seiner<br />
Frau noch ein Jahr zuvor katholisch hatte<br />
trauen lassen. Vermutlich tat er diesen Schritt<br />
nicht nur im Sinne einer demonstrativen Identifikation<br />
mit der nationalsozialistischen Ideologie,<br />
sondern auch, um seinen Karriereambi-
tionen auf Himmlers <strong>und</strong> Heydrichs Eliteformation<br />
wirkungsvoll Ausdruck zu verleihen.<br />
Ab 1938 war Hans neben seiner Kripotätigkeit<br />
dann auch verstärkt für den SD, den <strong>Nachrichten</strong>dienst<br />
der SS, tätig. Ihm oblagen in dieser<br />
Funktion im Vorfeld polizeilicher Exekutivmaßnahmen<br />
die Observierung der politischen<br />
Gegner der Nationalsozialisten sowie die Re -<br />
gistrierung <strong>und</strong> Überwachung jüdischer <strong>und</strong><br />
kirchlicher Organisationen in Wuppertal. 27<br />
Darüber hinaus war der SD für die Berichterstattung<br />
über die Stimmungslager in der Bevölkerung<br />
<strong>und</strong> die Beurteilung der politischen Zuverlässigkeit<br />
einzelner „Volks- bzw. Parteigenossen“<br />
zuständig. Die enge personelle Verflechtung<br />
<strong>und</strong> fachliche Abhängigkeit von SD<br />
<strong>und</strong> der aus Gestapo <strong>und</strong> Kripo gebildeten Sicherheitspolizei<br />
führte im September 1939<br />
schließlich zur Zusammenfassung beider Institutionen<br />
im neugegründeten <strong>und</strong> von Reinhard<br />
Heydrich geleiteten Reichssicherheitshauptamt.<br />
Seit April 1940 bekleidete Kurt Hans den<br />
Rang eines SS-Obersturmführers <strong>und</strong> bereitete<br />
sich auf den leitenden Dienst in der Sicherheitspolizei<br />
vor. Als im Mai/Juni 1941 im Zuge<br />
der Vorbereitungen des Überfalls auf die Sowjetunion<br />
die Einsatzgruppen zusammengestellt<br />
wurden, kam Hans in das von Paul Blobel<br />
geführte Sonderkommando 4a, das die 6. Armee<br />
auf ihrem Weg durch Wolhynien <strong>und</strong> die<br />
Ukraine begleiten sollte. Es ist nicht auszu -<br />
schließen, daß die Überstellung von Kurt Hans<br />
in das Blobel-Kommando nicht zufällig, sondern<br />
über persönliche Beziehungen <strong>und</strong> vielleicht<br />
sogar auf ausdrücklichen Wunsch beider<br />
geschehen ist. Möglicherweise kannten sich<br />
beide schon länger, denn Blobel war von 1935<br />
bis 1941 als regionaler SD-Führer u.a. auch für<br />
das bergische Städtedreieck zuständig <strong>und</strong> daher<br />
mit dem Personal der lokalen Dienststellen<br />
von Kripo, SD <strong>und</strong> Gestapo vertraut. 28 Gleich<br />
zu Beginn des Einmarsches in die UdSSR hatten<br />
die Einsatzgruppen, teils in Kooperation<br />
mit Wehrmachts- <strong>und</strong> Polizeieinheiten, damit<br />
begonnen, zunächst alle männlichen Juden, sofern<br />
sie nicht zur Arbeit benötigt wurden, zu<br />
exekutieren. Daneben hatten sie den Auftrag,<br />
sämtliche politischen Kommissare, Funk-<br />
tionäre in Staatsstellungen sowie alle als rassisch<br />
minderwertig stigmatisierten Personen zu<br />
töten. Ab Spätsommer 1941 wurden die Mord -<br />
aktionen sukzessive auch auf jüdische Frauen<br />
<strong>und</strong> Kinder ausgedehnt. Kurt Hans war als befehlsbefugter<br />
Offizier an mehreren dieser Aktionen<br />
unmittelbar beteiligt, so z.B. in Luzk,<br />
Shitomir, Radomyschl <strong>und</strong> in der Schlucht von<br />
Babi Jar bei Kiew. Um deren Effektivität zu erhöhen<br />
<strong>und</strong> die psychische Belastung der Schützen<br />
zu vermindern, wurden in einigen Fällen<br />
auch mobile Gaskammern zur Tötung der Juden<br />
eingesetzt. Ferner war Hans an einer von<br />
Paul Blobel angeordneten <strong>und</strong> als Wirkungstest<br />
für Explosivmunition durchgeführten Exekution<br />
von sowjetischen Kriegsgefangenen in<br />
Shitomir beteiligt.<br />
Anfang Oktober 1941, nur wenige Tage<br />
also nach der Mordaktion von Kiew, wurde<br />
Kurt Hans mit anderen Anwärtern des leitenden<br />
Dienstes von seinem Einsatzort abberufen,<br />
um seine Ausbildung an der Führerschule der<br />
Sicherheitspolizei in Berlin fortzusetzen. Nach<br />
erfolgreichem Abschluß ging er zurück „in die<br />
Praxis“, wurde zunächst stellv. Leiter der<br />
Kripo in Mönchengladbach <strong>und</strong> Anfang 1944,<br />
inzwischen zum SS-Hauptsturmführer <strong>und</strong><br />
Kriminalrat ernannt, Chef der Kriminalpolizeileitstelle<br />
in Würzburg. Hier war er u.a. für die<br />
Aufstellung <strong>und</strong> Beaufsichtigung von sogenannten<br />
Jagdkommandos der Polizei zuständig.<br />
Deren Aufgabe war es, alle Feindflieger,<br />
die den aus Kripo- <strong>und</strong> Gestapoleuten bestehenden<br />
Kommandos in die Hände gefallen waren,<br />
als Vergeltung gegen die alliierten Luftangriffe<br />
unverzüglich zu erschießen. 29<br />
Für seine „Verdienste“ im sicherheitspolizeilichen<br />
Einsatz erhielt Kurt Hans 1944 von<br />
Reichsführer-SS Heinrich Himmler den sog.<br />
„Totenkopfring“, ein Ehrensymbol, das vornehmlich<br />
solchen SS-Angehörigen verliehen<br />
wurde, die der SS als Organisation <strong>und</strong> Träger<br />
einer Weltanschauung gegenüber größte Ergebenheit<br />
bezeugt hatten. Anfang April 1945,<br />
kurz vor der Eroberung Würzburgs durch die<br />
US-Truppen, gelang es Hans <strong>und</strong> seiner Familie,<br />
aus der Stadt zu entkommen <strong>und</strong> vorläufig<br />
unterzutauchen. Als er mit anderen Angehörigen<br />
der Würzburger Kripo weiter nach Öster-<br />
113
eich fliehen wollte, wurde er von den Amerikanern<br />
verhaftet <strong>und</strong> als Kriegsverbrecher angeklagt.<br />
Obwohl die die Mordaktionen der Sicherheitspolizei<br />
in der UdSSR zu diesem Zeitpunkt<br />
bereits Gegenstand des Nürnberger Einsatzgruppenprozesses<br />
waren, wurde Hans mit diesen<br />
nicht in Zusammenhang gebracht <strong>und</strong> ausschließlich<br />
wegen seiner Verantwortung für die<br />
Ermordung alliierter Jagdflieger angeklagt <strong>und</strong><br />
im Oktober 1947 zum Tode verurteilt. Man<br />
überführte ihn aus Dachau zur Hinrichtung in<br />
das eigens für NS-Verbrecher eingerichtete<br />
Gefängnis nach Landsberg/Lech, wo seinerzeit<br />
auch sein ehemaliger Vorgesetzter Paul Blobel<br />
einsaß. Zu dieser Zeit liefen auch bereits die ersten<br />
Kampagnen zur Begnadigung der verharmlosend<br />
als „Kriegsverurteilte“ bezeichneten<br />
Häftlinge. Nicht nur der bis 1946 in Wuppertal-Langerfeld<br />
tätige Pfarrer Johannes Sy,<br />
der Kurt Hans konfirmiert hatte, auch der Kölner<br />
Kardinal Frings setzte sich vehement für<br />
ihn <strong>und</strong> die anderen Delinquenten ein, galten<br />
doch die inhaftierten NS-Verbrecher in der Regel<br />
als bedauernswerte Opfer der alliierten<br />
„Siegerjustiz“. Mit Erfolg: Im Januar 1951<br />
wurde die Todesstrafe für Kurt Hans <strong>und</strong> andere<br />
Häftlinge in lebenslängliche Haft umgewandelt.<br />
Das im Anschluß daran eingeleitete obligatorische<br />
Prüfungsverfahren der Entnazifizierungskammer<br />
in Düsseldorf wurde im Februar<br />
1952 eingestellt, da man Kurt Hans lediglich<br />
als „Mitläufer“ einstufte. Ebenso erfolgreich<br />
verlief für ihn das 1953 geführte Spruchkammerverfahren,<br />
das ihm den Status „minderbelastet“<br />
zubilligte. Juristischen Beistand erhielt<br />
Kurt Hans u.a. von dem bereits erwähnten Essener<br />
Rechtsanwalt Achenbach. Aber auch die<br />
Intervention von höchsten kirchlichen Stellen<br />
machte offenbar Eindruck auf die Spruchkammerrichter.<br />
In diesem Verfahren war es Hans<br />
nämlich nicht nur gelungen, seine Zugehörigkeit<br />
zu den Einsatzgruppen <strong>und</strong> seine Mitwirkung<br />
an den Massenmorden erfolgreich zu vertuschen,<br />
sondern sich auch als aufrechten <strong>und</strong><br />
geläuterten Christen darzustellen <strong>und</strong> seine<br />
Mitgliedschaft in NSDAP <strong>und</strong> SA als seinen<br />
persönlichen Beitrag zur – „Eindämmung der<br />
114<br />
kommunistischen Gefahr“ zu rechtfertigen:<br />
Angesichts des beginnenden Kalten Krieges<br />
war dies eine gleichermaßen einleuchtende wie<br />
populäre Einlassung, die offensichtlich ihre<br />
Wirkung auch nicht verfehlte. Denn bereits<br />
1954 wurde die lebenslange Haftstrafe von<br />
Kurt Hans auf eine befristete reduziert. Und im<br />
Oktober desselben Jahres befand sich Hans gegen<br />
die Zusicherung, sich jeder politischen<br />
Betätigung zu enthalten, wieder auf freiem<br />
Fuß. Er kehrte zu seiner Familie nach Wuppertal<br />
zurück, ließ sich – er fühlte sich wohl vor<br />
weiterer Strafverfolgung sicher – ins Adreßbuch<br />
der Stadt mit seiner alten Funktion als<br />
„Kriminalrat“ eintragen <strong>und</strong> war zunächst in<br />
der Bauindustrie <strong>und</strong> im Handel, ab 1960 dann<br />
als Versicherungskaufmann eines Wuppertaler<br />
Unternehmens tätig.<br />
Seine Vergangenheit holte ihn ein, als Anfang<br />
der 60er Jahre die „Zentrale Stelle“ in<br />
Ludwigsburg systematisch Ermittlungen gegen<br />
ehemalige Angehörige des Sonderkommandos<br />
4a führte <strong>und</strong> in diesem Zusammenhang auch<br />
auf Kurt Hans aufmerksam wurde. Im Mai<br />
1965 wurde er schließlich in Wuppertal verhaftet<br />
<strong>und</strong> mit 10 weiteren Angehörigen seines<br />
Kommandos im Oktober 1967 in einem der<br />
größten b<strong>und</strong>esdeutschen Massenmordprozesse<br />
zur Verantwortung gezogen. 30 Bis zuletzt<br />
leugnete Hans jedoch, an diesen Massenmorden<br />
beteiligt gewesen zu sein. Nach Auswertung<br />
der einschlägigen Dokumente, umfangreichen<br />
Zeugenvernehmungen <strong>und</strong> Verhören<br />
konnte ihm jedoch die Mitwirkung an mindestens<br />
fünf größeren Erschießungsaktionen<br />
nachgewiesen werden. In Wirklichkeit dürften<br />
es vermutlich noch viel mehr gewesen sein.<br />
Die Richter charakterisierten Kurt Hans als einen<br />
ehemals „treu ergebenen“ Gefolgsmann<br />
des NS-Regimes, der aus Überzeugung <strong>und</strong> um<br />
seiner Karriere willen jeden Befehl willig ausführte,<br />
auch wenn ihm die Konsequenzen persönlich<br />
vielleicht „unangenehm <strong>und</strong> menschlich<br />
zuwider“ waren. In der Hauptverhandlung<br />
hatte Hans weder Reue noch Bedauern über<br />
das Schicksal der Ermordeten gezeigt, sondern<br />
nur Selbstmitleid mit sich <strong>und</strong> dem eigenen<br />
Schicksal. Gleichwohl verurteilte ihn das Gericht<br />
nicht als hauptverantwortlichen Täter,
sondern nur als Tatgehilfen, da er die Morde<br />
„nur“ aus Pflichtgefühl <strong>und</strong> Opportunitätsgründen<br />
<strong>und</strong> nicht aus persönlichen <strong>und</strong> „niedrigen<br />
Beweggründen“ mitausgeführt hatte.<br />
Diese fragwürdige <strong>und</strong> bis heute umstrittene<br />
Unterscheidung zwischen Tätern <strong>und</strong> Tatgehilfen<br />
beruhte auf einer juristischen Definition,<br />
derzufolge allein Hitler, Himmler, Göring,<br />
Heydrich <strong>und</strong> deren „nähere Umgebung“ als<br />
hauptverantwortliche Täter einzustufen waren.<br />
In der Konsequenz hatte dies in zahlreichen<br />
Prozessen lächerlich niedrige Haftstrafen für<br />
NS-Verbrecher zur Folge. So kamen etwa Leiter<br />
von Exekutionen, Einsatzkommandoführer<br />
<strong>und</strong> viele andere mitverantwortliche Akteure<br />
bei der „Endlösung“ in der Regel mit einem<br />
Strafmaß davon, das dem für Raub, Einbruch<br />
<strong>und</strong> Betrug entsprach. 31<br />
Die problematische Gehilfenrechtssprechung<br />
suggerierte letztlich das Bild eines Täters,<br />
der ohne eigenes Zutun, ohne eigenen<br />
Willen <strong>und</strong> ohne individuelle Tatmotivation –<br />
also gleichsam von außen ferngesteuert – zum<br />
Bestandteil einer Terror- <strong>und</strong> Vernichtungsmaschinerie<br />
geworden war. Diese auch heute<br />
noch weitverbreite Auffassung reduzierte nicht<br />
nur den moralischen Entscheidungsspielraum<br />
des Individuums auf Null, sie entsprach auch<br />
exakt dem Selbstbild, das die Täter vor Gericht<br />
von sich entworfen hatten <strong>und</strong> das von der<br />
deutschen Öffentlichkeit im Sinne kollektiver<br />
Entlastung <strong>und</strong> der Verweigerung, Verantwortung<br />
zu übernehmen, natürlich nur allzu gerne<br />
angenommen wurde. 32<br />
Zurück zu Kurt Hans. Im November 1968,<br />
nach gut einjähriger Verhandlungsdauer verurteilte<br />
das Schwurgericht Darmstadt den ehemaligen<br />
SS-Hauptsturmführer <strong>und</strong> Kriminalrat<br />
wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord<br />
<strong>und</strong> unter Anrechnung der Untersuchungshaft<br />
zu 11 Jahren Zuchthaus. Bereits im Dezember<br />
1969 wurde der Haftbefehl aber wegen angeblicher<br />
Haftunfähigkeit aufgehoben, trotz existierender<br />
Zweifel an der Ernsthaftigkeit seines<br />
Ges<strong>und</strong>heitszustands. Im September 1970<br />
wurde ihm gegen gewisse Auflagen <strong>und</strong> unabhängig<br />
von seinem Ges<strong>und</strong>heitszustand Haftverschonung<br />
zugebilligt. 1997 starb Kurt Hans<br />
86jährig in Wuppertal.<br />
2. Dr. Hans Schumacher: Bereitschaft zur<br />
Übernahme von persönlicher Verantwortung<br />
Der nun im folgenden beschriebene Fall eines<br />
Wuppertaler NS-Täters weicht hinsichtlich<br />
des sonst üblichen Verhaltens- <strong>und</strong> Rechtfertigungsmusters<br />
dieses Personenkreises merklich<br />
ab. Wer sich einmal näher mit Verfahren wegen<br />
nationalsozialistischer Verbrechen beschäftigt<br />
hat, weiß, daß der sogenannte „Befehlsnotstand“<br />
das mit Abstand am häufigsten vorgebrachte<br />
Argument zur Verteidigung <strong>und</strong> Entlastung<br />
von NS-Tätern gewesen ist. Eine der<br />
ganz seltenen Ausnahmen, bei der ein Angeklagter<br />
sich nicht darauf berief <strong>und</strong> darüber<br />
hinaus sogar Reue <strong>und</strong> Unrechtsbewußtsein<br />
zeigte, war der 1907 in Wuppertal-Barmen geborene<br />
(<strong>und</strong> 1992 verstorbene) Jurist Hans<br />
Schumacher. 33 Wegen seiner Tätigkeit als Leiter<br />
der Gestapo-Dienststelle beim Kommandeur<br />
der Sicherheitspolizei <strong>und</strong> des SD in Kiew<br />
wurde der ehemalige SS-Sturmbannführer <strong>und</strong><br />
Regierungsrat Ende 1963 vor dem Landgericht<br />
Karlsruhe zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.<br />
In seiner Funktion hatte Schumacher die Erschießung<br />
von h<strong>und</strong>erten von Juden <strong>und</strong> nichtjüdischen<br />
Zivilisten angeordnet <strong>und</strong> den Einsatz<br />
der bei den Tötungsaktionen teilweise verwendeten<br />
<strong>und</strong> eigens aus Berlin herbeigeschafften<br />
fahrbaren Gaskammern überwacht. 34<br />
Die Biographie <strong>und</strong> der intellektuelle Werdegang<br />
von Schumacher fügen sich nahtlos in<br />
ein Täterprofil, das nach Auffassung der Historiker<br />
Ulrich Herbert <strong>und</strong> Michael Wildt für die<br />
mehrheitlich aus Akademikern bestehende<br />
Führungsgruppe des Reichssicherheitshauptamtes<br />
insgesamt zutrifft. Diese Gruppe bestand<br />
zu Kriegsbeginn aus etwa 300 Männern: Amts<strong>und</strong><br />
Referatsleiter, Chefs von regionalen<br />
Staatspolizei- <strong>und</strong> Kripoleitstellen <strong>und</strong> ihre<br />
Vertreter. Aus diesem vergleichsweise engen<br />
Personalreservoir rekrutierte sich in den darauffolgenden<br />
Jahren ein Großteil der Leiter der<br />
Einsatzgruppen- <strong>und</strong> kommandos, die Inspekteure<br />
<strong>und</strong> Befehlshaber der Sicherheitspolizei<br />
<strong>und</strong> des SD in den von Deutschland besetzten<br />
Ländern sowie die Leiter der regionalen Gesta-<br />
115
postellen. Sie waren verantwortlich für beinahe<br />
alle Deportations-, Verfolgungs- <strong>und</strong> Vernichtungsmaßnahmen<br />
sowohl in Deutschland<br />
selbst als auch – <strong>und</strong> vor allem – in Osteuropa.<br />
Wollte man eine Kerngruppe der nationalsozialistischen<br />
Verfolgungs- <strong>und</strong> Genozidpolitik bestimmen,<br />
dann, so die beiden Historiker, muß<br />
sie aus den Reihen dieser Männer gebildet werden.<br />
35<br />
Hans Schumacher, der selbst nicht aus einem<br />
akademischen Milieu, wohl aber aus gutsituierten<br />
bürgerlichen Verhältnissen stammte,<br />
machte nach dem Besuch von Volks- <strong>und</strong><br />
Oberrealschule 1926 sein Abitur. Im Anschluß<br />
daran studierte er in Würzburg, Bonn <strong>und</strong> Erlangen<br />
Staats- <strong>und</strong> Rechtswissenschaften, promovierte<br />
während seiner Referendarausbildung<br />
zum Dr. jur. <strong>und</strong> legte 1934 beim Preußischen<br />
Justizministerium die große Juristische<br />
Staatsprüfung ab. Wegen des Überangebots an<br />
Juristen im preußischen Staatsdienst entschied<br />
sich Schumacher für eine Laufbahn bei der<br />
Kriminalpolizei <strong>und</strong> acancierte bereits im Oktober<br />
1936 zum Leiter der Personalstelle <strong>und</strong><br />
des Erkennungsdienstes bei der Kriminalpolizeileitstelle<br />
in Düsseldorf. Mitglied der<br />
NSDAP wurde Schumacher im Mai 1933, der<br />
– obligatorische – Kirchenaustritt erfolgte<br />
1938, sein Beitritt zur SS im Januar 1939. Das<br />
Angebot, auch für die Gestapo tätig zu werden,<br />
lehnte Schumacher erstaunlicherweise aber<br />
zunächst ab. In einer späteren Einlassung vor<br />
Gericht begründete er dies mit seiner ablehnenden<br />
Haltung gegenüber der Errichtung von<br />
Konzentrationslagern <strong>und</strong> der dort geübten<br />
Praxis. Auf die Beurteilung durch seinen Vorgesetzten<br />
<strong>und</strong> seine Laufbahn bei Kripo, SD<br />
<strong>und</strong> SS hat sich diese Kritik jedoch offenk<strong>und</strong>ig<br />
nicht nachteilig ausgewirkt. Sein für das<br />
SD-Hauptamt angefertigter Personal-Bericht<br />
aus dem Jahr 1939 vermerkt statt dessen: „Dr.<br />
Schumacher [ist] ein mit SS-Geist beseelter<br />
<strong>und</strong> gefestigter Nationalsozialist <strong>und</strong> für Füh -<br />
rungsaufgaben sehr geeignet.“<br />
Im Februar 1939 wechselte Schumacher<br />
von Düsseldorf zunächst nach Wien, dann als<br />
Kripo-Dienststellenleiter nach Prag <strong>und</strong><br />
schließlich Ende 1940 – inzwischen zum Kriminalrat<br />
<strong>und</strong> SS-Hauptsturmführer ernannt –<br />
116<br />
Hans Schumacher (1907–1992), ca. 1938<br />
(B<strong>und</strong>esarchiv Berlin)<br />
als Lehrer für Strafrecht an die Polizeischule<br />
nach Pretzsch an der Elbe, wo im Frühjahr<br />
1941 auch mit der Aufstellung der Einsatzgruppen<br />
begonnen wurde. Nach Kiew, wo er<br />
als stellv. Kommandeur der Sicherheitspolizei<br />
<strong>und</strong> des SD den Aufbau der Gestapo- <strong>und</strong> Kripodienststelle<br />
organisierte, kam Schumacher<br />
Ende Oktober 1941. Nachdem die von Paul<br />
Blobel <strong>und</strong> anderen angeführten Mordkommandos<br />
weiter nach Osten zogen, wurden die<br />
mobilen Einheiten der Sicherheitspolizei <strong>und</strong><br />
des SD durch stationäre Dienststellen ersetzt.<br />
Kein Zweifel also, daß Schumacher über die<br />
Ende September 1941 durchgeführte Mordaktion<br />
an über 33.000 Juden aus Kiew informiert<br />
war. Er blieb dort bis Juni 1942. Im August<br />
desselben Jahres erfolgte dann seine Rückversetzung<br />
ins Reichssicherheitshauptamt nach<br />
Berlin. Dort war er als Regierungsrat im Rang
eines SS-Sturmbannführers im Amt V für die<br />
sogenannte „Verbrechensbekämpfung“ <strong>und</strong><br />
gleichzeitig als Untersuchungsführer <strong>und</strong> Gerichtsoffizier<br />
sowie bei der Kripoleitstelle Berlin<br />
tätig. Das Kriegsende erlebte Schumacher<br />
in einem Lazarett in Nürnberg.<br />
Bemerkenswert ist, daß Schumacher vor<br />
Gericht bereitwillig seine Mitverantwortung an<br />
den Verbrechen einräumte <strong>und</strong> sich durch detaillierte<br />
Aussagen an der Rekonstruktion des<br />
Tatgeschehens beteiligte. So gab er nicht nur<br />
uneingeschränkt zu, die Tötung von Juden in<br />
mobilen Vergasungsanlagen persönlich angeordnet<br />
<strong>und</strong> überwacht, sondern auch zahlreiche<br />
Exekutionen befohlen, selbst geleitet <strong>und</strong> sogar<br />
eigenhändig getötet zu haben. Dabei konnte er<br />
dem Gericht offenbar glaubhaft vermitteln, daß<br />
er die Mordaktionen „nur mit großem Widerwillen“<br />
<strong>und</strong> mit „innerer Abscheu“ durchgeführt<br />
<strong>und</strong> ihren Unrechtscharakter von Anfang<br />
an erkannt hatte. Zudem konnte er vor den<br />
Nachweis erbringen, daß er sich mehrfach –<br />
<strong>und</strong> letztlich erfolgreich – bei seinem Vorgesetzten<br />
um eine Versetzung von seinem<br />
Einsatz ort in Kiew bemühte hatte. In der umfangreichen<br />
Urteilsbegründung erkannten die<br />
Richter u.a. auch deshalb nur auf „Beihilfe<br />
zum Mord“ <strong>und</strong> nicht auf Mittäterschaft. Schumacher<br />
begündete seine Mitwirkung an den<br />
Verbrechen mit einem Argument, das die Richter<br />
zwar strafmildernd berücksichtigten, aber<br />
zugleich auch als Beleg für seinen individuellen<br />
Tatbeitrag werteten: Schumacher gab an,<br />
wegen seiner zunächst stets abschlägig beschiedenen<br />
Versetzungsgesuche zunehmend in<br />
Resignation verfallen zu sein. Solange er aber<br />
sein Kommando führte, wollte er von seinen<br />
Untergebenen, also den Exekutionsschützen,<br />
nicht mehr verlangen, als er selbst zu tun bereit<br />
war. Außerdem habe er sich – auf baldige Ablösung<br />
von seinem Kommando hoffend – seinem<br />
Gehorsam als Beamter <strong>und</strong> seinem Soldateneid<br />
verpflichtet gefühlt. Einen „Befehlsnotstand“<br />
machte Schumacher deshalb nicht geltend,<br />
weil er bei einer Befehlsverweigerung<br />
sein Leben nicht als bedroht ansah. 36<br />
Für einige tausende der in Schumachers<br />
Verantwortungsbereich verhafteten <strong>und</strong> „sicherheitspolizeilich“<br />
behandelten Menschen<br />
hatte dieses so verstandene Pflichtgefühl allerdings<br />
tödliche Konsequenzen. Denn trotz aller<br />
persönlichen Skrupel <strong>und</strong> Hemmnisse entsprach<br />
Schumacher letztlich dennoch genau<br />
dem, was die nationalsozialistischen Führer<br />
von ihm als Beamten <strong>und</strong> Funktionär der sogenannten<br />
„Endlösung“ erwarteten. Obwohl der<br />
Jurist gewiß nicht den Typus des ideologischen<br />
Überzeugungstäters verkörperte <strong>und</strong> wohl<br />
auch kein willfähriger Parteigänger der Nazis<br />
war: Der von ihm <strong>und</strong> der Mehrheit seiner Generation<br />
verinnerlichte <strong>und</strong> verbindliche Kanon<br />
von Pflichterfüllung, Treue <strong>und</strong> Gehorsam,<br />
gepaart mit einem gefestigten, aber keineswegs<br />
zwangsläufig auf Mord programmierten<br />
Antisemitismus, haben das erschreckend<br />
reibungslose Funktionieren des nationalsozialistischen<br />
Vernichtungsapparates erst ermöglicht<br />
<strong>und</strong> ihn über mehrere Jahre in Gang gehalten.<br />
Ein exterminatorischer, d.h. auf Vernichtung<br />
zielender Antisemitismus, wie ihn der<br />
amerikanische Politologe Daniel J. Goldhagen<br />
für NS-Täter generell annimmt, war daher eine<br />
vielleicht erwünschte, aber keinesfalls die notwendige<br />
Voraussetzung einer aktiven Mitwirkung<br />
an der Ermordung von Juden.<br />
Mit seinem weitreichenden Schuldeingeständnis<br />
<strong>und</strong> der Bereitschaft, die Verantwortung<br />
für seine Verbrechen zu übernehmen,<br />
blieb Schumacher eine ganz seltene Ausnahme<br />
unter allen vor Gericht angeklagten NS-Tätern.<br />
Aber auch Schumachers Laufbahn nach 1945<br />
markiert in gewisser Hinsicht eine Abweichung<br />
von der Regel. Bevor der promovierte<br />
Jurist Anfang der 50er Jahre nach Wuppertal<br />
zurückkehrte <strong>und</strong> zum Rechtsberater <strong>und</strong> Personalchef<br />
eines hiesigen Unternehmens avancierte,<br />
war er zeitweilig für den US-Geheimdienst<br />
<strong>und</strong> ab 1948 auch für einige Jahre als<br />
Agent der sogenannten „Organisation Gehlen“,<br />
dem Vorläufer des B<strong>und</strong>esnachrichtendienstes,<br />
tätig. Wir wissen heute, daß diese Organisation,<br />
aber auch der US-Geheimdienst zahlreiche<br />
zum Teil schwerstbelastete NS-Verbrecher,<br />
vor allem aus dem Bereich ehemaliger Funktionseliten,<br />
nach 1945 übernommen <strong>und</strong> vermutlich<br />
auch gezielt vor strafrechtlicher Verfolgung<br />
geschützt hat. Reinhard Gehlen war von<br />
1942 bis zum Ende des Krieges im deutschen<br />
117
Generalstab Chef der Spionageabteilung<br />
„Fremde Heere Ost“ <strong>und</strong> als solcher bestens<br />
mit der Sowjetunion vertraut. Bereits im März<br />
1945 hatten Gehlen <strong>und</strong> seine engsten Mitarbeiter<br />
wichtige Dokumente über die UdSSR<br />
auf Mikrofilm aufgenommen <strong>und</strong> sicher versteckt.<br />
Nach der Kapitulation übergaben sie<br />
das Material an eine Abteilung der amerikanischen<br />
Gegenspionage – in kluger Voraussicht<br />
der künftigen Frontverläufe <strong>und</strong> natürlich in<br />
Erwartung einer entsprechenden Gegenleistung.<br />
Als Gehlen schließlich den Auftrag erhielt,<br />
in der amerikanischen Besatzungszone<br />
einen <strong>Nachrichten</strong>dienst aufzubauen <strong>und</strong> zu<br />
diesem Zweck ausgewiesene Fachleute rekrutierte,<br />
stellte sich auch Dr. Hans Schumacher<br />
zur Verfügung. 37 Auf die von Gehlen gewünschte<br />
Übernahme in den BND verzichtete<br />
er jedoch ebenso wie auf die ab 1951 wirksam<br />
werdenden Vergünstigungen des Artikels 131<br />
des Gr<strong>und</strong>gesetzes, der ihm die Rückkehr in<br />
den öffentlichen Dienst ermöglicht hätte. Vor<br />
Gericht begründete er seine Entscheidung damit,<br />
daß er sich wegen der ihm vorgeworfenen<br />
Handlungen nicht für würdig genug halte, dem<br />
Staat noch einmal als Beamter zu dienen.<br />
3. Friedrich Bosshammer: Eichmanns „Judenberater“<br />
in Italien bis 1968 Rechtsanwalt<br />
in Wuppertal<br />
Bei dem dritten <strong>und</strong> letzten der hier vorgestellten<br />
NS-Täter handelt es sich um den früheren<br />
Wuppertaler Rechtsanwalt Friedrich Boss -<br />
hammer, der 1972 u.a. wegen seiner Mitwirkung<br />
bei den Deportationen der italienischen<br />
Juden nach Auschwitz zu einer lebenslänglichen<br />
Haftstrafe verurteilt wurde. Er verdient in<br />
besonderer Weise Aufmerksamkeit, denn seine<br />
beharrlich forcierte, gleichwohl bescheidene<br />
Nachkriegskarriere belegt anschaulich, wie unproblematisch<br />
es offenbar für viele schwerstbelastete<br />
NS-Verbrecher war, nach 1945 gesellschaftlich<br />
<strong>und</strong> beruflich wieder Fuß zu fassen.<br />
Bosshammer gehört, im Unterschied etwa<br />
zu Hans Schumacher, in jene Kategorie der<br />
ideologischen Überzeugungstäter, die sich vorbehaltlos<br />
in den Dienst der nationalsozialisti-<br />
118<br />
schen Vernichtungspolitik stellten <strong>und</strong> diese in<br />
einem hohen Maße eigenverantwortlich <strong>und</strong><br />
willig in die Praxis umsetzten. Daß er nach<br />
1945 wieder gesellschaftlich reüssieren<br />
konnte, ist zum einen das Ergebnis einer nur<br />
sehr halbherzig <strong>und</strong> unter Zeitdruck durchgeführten<br />
Entnazifizierung, zum anderen aber<br />
auch das Resultat eines nahezu reibungslos <strong>und</strong><br />
ungemein selbstsicher ,durchgezogenen‘ Täuschungs-<br />
<strong>und</strong> Tarnmanövers, bei dem ihm –<br />
vor allem hier in Wuppertal – offenk<strong>und</strong>ig ein<br />
Netzwerk gut funktionierender Beziehungen<br />
behilflich war.<br />
Geboren wurde Friedrich Bosshammer am<br />
20.12.1906 in Opladen. Er enstammte einer<br />
traditionsbewußten Handerwerkerfamilie, die<br />
seit langem im Bergischen – in Remscheid, Solingen<br />
<strong>und</strong> Wermelskirchen – verwurzelt war. 38<br />
In Opladen machte Bosshammer 1926 das Abitur<br />
<strong>und</strong> studierte anschließend in Heidelberg<br />
<strong>und</strong> Köln Staats- <strong>und</strong> Rechtswissenschaften.<br />
1931 folgte das 1. Staatsexamen, 1935 nach<br />
einer praktischen Ausbildung als Referendar<br />
im Oberlandesgerichtsbezirk Düsseldorf die<br />
zweite große juristische Staatsprüfung.<br />
NSDAP-Mitglied wurde er im Mai 1933. Da<br />
Bosshammer das erst im zweiten Anlauf erreichte<br />
zweite Staatsexamen aber nur mit der<br />
Note „ausreichend“ bestanden hatte, war der<br />
von ihm ursprünglich angestrebte Richterberuf<br />
in weite Ferne gerückt. Auf der offensichtlich<br />
erfolglosen Suche nach einer seiner Ausbildung<br />
gemäßen Beschäftigung bot sich ihm die<br />
Gelegenheit, „hauptamtlich“ in die Dienste der<br />
Partei zu treten. 39 Dort fungierte er von Sommer<br />
1935 bis Herbst 1936 als Lager- <strong>und</strong> Kursusleiter<br />
der HJ <strong>und</strong> anschließend als Leiter eines<br />
„Kraft durch Freude-Jungarbeiterfreizeitlagers“<br />
der I.G.-Farben. Anfang 1937 wurde<br />
Bosshammer Angestellter beim Landesverband<br />
Rheinland für Deutsche Jugendherbergen<br />
in Düsseldorf.<br />
1936 trat Bosshammer aus der evangelischen<br />
Kirche aus. Im selben Jahr heiratete er<br />
auch seine erste Frau. Aus dieser Ehe sind insgesamt<br />
vier Kinder hervorgegangen. Mitglied<br />
der SS wurde er im September 1937, zu einer<br />
Zeit, als sich die auf rasseideologischen Prinzipien<br />
gründende Eliteformation zunehmend zu
einer Organisation entwickelte, die jungen <strong>und</strong><br />
ehrgeizigen Intellektuellen, vor allem Juristen,<br />
gute Aufstiegs- <strong>und</strong> Karrierechancen bot, aber<br />
auch gescheiterten akademischen Existenzen<br />
neue <strong>und</strong> vielversprechende Perspektiven<br />
eröffnete <strong>und</strong> diese allmählich an die Theorie<br />
<strong>und</strong> Praxis einer radikalen völkischen Neuordnung<br />
Deutschlands <strong>und</strong> Europas heranführte.<br />
Nach eigenen Aussagen wurde Bosshammer<br />
bereits kurz nach seinem SS-Beitritt auf Vermittlung<br />
eines früheren Schulkameraden<br />
hauptamtlicher Angestellter beim Sicherheitsdienst<br />
der SS <strong>und</strong> war von Ende 1937 bis 1940<br />
als sogenannter Referent für Judenfragen im<br />
SD-Abschnitt Aachen tätig. 40 Mit der Versetzung<br />
zum Inspekteur der Sicherheitspolizei<br />
<strong>und</strong> des SD nach Wiesbaden, wo er von 1940<br />
bis 1942 als Gerichtsoffizier <strong>und</strong> Untersuchungsführer<br />
für SS-interne Strafsachen zuständig<br />
war, hatte Bosshammer dann nicht nur<br />
eine seiner Qualifikation gemäße Funktion erlangt,<br />
sondern offensichtlich auch den Beweis<br />
seiner ideologischen <strong>und</strong> praktischen Zuverlässigkeit<br />
erbracht, zumal an diese Funktion besondere<br />
Anforderungen gestellt wurden. 41<br />
Erste Berührung mit dem engeren Kreis der<br />
nationalsozialistischen Funktionselite bekam<br />
Bosshammer im Zuge seiner Versetzung ins<br />
Berliner Reichssicherheitshauptamt im Januar<br />
1942, <strong>und</strong> zwar in das von Gestapo-Chef Heinrich<br />
Müller geleitete <strong>und</strong> für die sog. „Gegnerforschung-<br />
<strong>und</strong> Bekämpfung“ zuständige Amt<br />
IV, das u.a. sämtliche Deportations- <strong>und</strong> Vernichtungsmaßnahmen<br />
gegen Juden vorbereitete,<br />
organisierte <strong>und</strong> durchführte. Es ist anzunehmen,<br />
daß die Versetzung Bosshammers in<br />
die Berliner Zentrale unmittelbar mit der<br />
„Wannsee-Konferenz“ vom Januar 1942 zusammenhängt.<br />
Auf dieser Konferenz waren unter<br />
der Federführung Reinhard Heydrichs die<br />
Direktiven zur Deportation <strong>und</strong> Vernichtung<br />
von r<strong>und</strong> 11 Millionen Juden aus den von<br />
Deutschland besetzten oder mit ihm kollaborierenden<br />
Ländern Europas vereinbart <strong>und</strong> bereits<br />
erste organisatorische Vorbereitungen getroffen<br />
worden. Zur Realisierung dieses verbrecherischen<br />
Vorhabens be nötigte das Reichssicherheitshauptamt<br />
,fähiges‘ Personal, das bereits<br />
einschlägige – vor allem auch verwal-<br />
Friedrich Bosshammer (1906–1972), ca. 1936/<br />
38 (B<strong>und</strong>esarchiv Berlin)<br />
tungsjuristische – Erfahrungen in den regionalen<br />
Dienststellen des SD <strong>und</strong> der Gestapo gesammelt<br />
<strong>und</strong> sich dort bewährt hatte.<br />
Im berüchtigten Referat IV B 4 „Judenangelegenheiten“,<br />
das von Adolf Eichmann geleitet<br />
wurde, bearbeitete Bosshammer zunächst<br />
das Ressort „Vorbereitung der Lösung der europäischen<br />
Judenfrage in politischer Hinsicht“.<br />
Im Kontext des NS-Vokabulars war dies eine<br />
der zahlreichen Euphemismen, mit denen der<br />
wahre Charakter der bevorstehenden Vernichtungsoperationen<br />
verschleiert werden sollte.<br />
Konkret bestand die Aufgabe in der Beschaffung<br />
<strong>und</strong> Auswertung von Unterlagen, die für<br />
die Vorbereitung, Durchführung, aber auch für<br />
die Tarnung der geplanten Judendeportationen<br />
notwendig waren. So redigierte Bosshammer<br />
beispielsweise eine bebilderte Artikelserie, die<br />
auf Veranlassung des Eichmann-Referates<br />
Ende 1942 in zahlreichen slowakischen Zei-<br />
119
tungen <strong>und</strong> Zeitschriften erschienen war <strong>und</strong> in<br />
verharmlosender Weise über die Lage der bereits<br />
nach Auschwitz <strong>und</strong> in die Gegend von<br />
Lublin deportierten r<strong>und</strong> 58.000 Juden aus der<br />
Slowakei berichtete. 42 Die als sogenannte<br />
„Antigreuelpropaganda“ lancierte Artikelserie<br />
zielte darauf ab, auch die mit einem sogenannten<br />
„Schutzbrief“ ausgestatteten slowakischen<br />
Juden verhaften <strong>und</strong> nach Auschwitz-Birkenau<br />
deportieren zu können. 43 Darüber hinaus betreute<br />
Bosshammer in seinem Ressort die bei<br />
den Kollaborationsregierungen tätigen sog.<br />
„Judenberater“ des Reichssicherheitshauptamtes<br />
<strong>und</strong> gab deren Erfahrungsberichte an seinen<br />
unmittelbaren Vorgesetzten Eichmann weiter. 44<br />
Im Rahmen seiner Tätigkeit entfaltete<br />
Boss hammer anscheinend immer dann einen<br />
besonderen Ehrgeiz, wenn sich Schwierigkeiten<br />
bei den Deportationen in den von Deutschland<br />
besetzten oder unter seinem Machteinfluß<br />
stehenden Ländern einstellten. So etwa in Bulgarien,<br />
wo sich Teile der Bevölkerung schützend<br />
vor die Juden gestellt hatten <strong>und</strong> auch die<br />
Regierung massive Einwände gegen die geplanten<br />
Deportationsmaßnahmen erhob. Im<br />
Frühjahr 1943 waren die Verhandlungen über<br />
die Deportation der r<strong>und</strong> 51.000 auf altbulgarischem<br />
Gebiet ansässigen Juden erheblich ins<br />
Stocken geraten. Ein Zufall bot schließlich einen<br />
willkommenen Anlaß, mit Hilfe Bosshammers<br />
Druck auf die bulgarische Regierung auszuüben.<br />
Im Mai 1943 war ein deutscher R<strong>und</strong>funkingenieur<br />
bei einem Attentat in Sofia getötet<br />
<strong>und</strong> ein Jude als vermeintlicher Täter verhaftet<br />
worden. Gemeinsam mit dem im Außenministerium<br />
für „Judenangelegenheiten“ zuständigen<br />
Beamten regte Bosshammer an, diesen<br />
Vorfall gezielt auszunutzen:<br />
[…] Es liegt im Interesse der vom Reichsführer-SS<br />
angestrebten Endlösung, daß in den<br />
deutsch-bulgarischen Erörterungen über die<br />
Ostevakuierung sämtlicher Juden aus Bulgarien<br />
die derzeitige, für Evakuierungsaktionen<br />
besonders günstige Lage, wie sich insbesondere<br />
durch das letzte Attentat in Sofia eingetreten<br />
ist, mit allem Nachdruck ausgenutzt wird. 45<br />
In Italien, Bosshammers nächstem „Aufgabengebiet“,<br />
gingen seine Bemühungen um eine<br />
Beschleunigung der „Endlösung“ allerdings<br />
120<br />
Friedrich Bosshammer (1906–1972), ca. 1938<br />
(Landesarchiv Berlin)<br />
weit über bloß taktische Empfehlungen hinaus.<br />
Auch dort gab es Schwierigkeiten mit der Auslieferung<br />
von Juden an die Deutschen. Obwohl<br />
Deutschlands engster Verbündeter (bis 1943),<br />
<strong>und</strong> trotz der in Anlehnung an die „Nürnberger<br />
Gesetze“ geschaffenen antijüdischen Gesetzgebung<br />
weigerte sich Mussolini beharrlich, die<br />
in Italien lebenden Juden auszuliefern. In Italien<br />
<strong>und</strong> in den von Italien besetzten kroatischen<br />
<strong>und</strong> französischen Gebieten lebten damals<br />
r<strong>und</strong> 44.000 Juden. Als im September<br />
1943 der „Duce“ gestürzt <strong>und</strong> verhaftet wurde<br />
<strong>und</strong> seine Gegner einen Waffenstillstand mit<br />
den Alliierten herbeiführten, verschlimmerte<br />
sich die Lage der italienischen Juden dramatisch.<br />
Mit dem von einem SS-Kommando befreiten<br />
Mussolini an der Spitze, installierten<br />
die Deutschen in Nord italien nun eine von ihnen<br />
abhängige Marionettenregierung. Eine ihrer<br />
ersten Anordnungen sah die unverzügliche<br />
Einweisung aller im deutschen Einflußbereich<br />
lebenden italienischen Juden in Konzentrationslager<br />
vor. Von dort aus sollten sie dann<br />
anschließend in Sammeltransporten nach Aus-
chwitz-Birkenau deportiert werden. 46<br />
Als aber auch diese Maßnahmen nicht zu<br />
den gewünschten Ergebnissen führten, empfahl<br />
das Auswärtige Amt in Berlin im Dezember<br />
1943, deutsche Beamte nach Italien zu entsenden,<br />
die, als „Berater“ getarnt, die Konzentration<br />
<strong>und</strong> Deportation der italienischen Juden<br />
überwachen sollten. Im Januar 1944 war der<br />
mit den diesbezüglichen Vorbereitungen befaßte<br />
„Judenberater“ der Mussolini-Regierung,<br />
Theodor Dannecker, abberufen worden <strong>und</strong> auf<br />
seine Stelle der inzwischen zum Regierungsrat<br />
<strong>und</strong> SS-Sturmbannführer 47 ernannte Friedrich<br />
Bosshammer nachgerückt. Er bezog er seine<br />
Dienststelle beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei<br />
<strong>und</strong> des SD in Verona. Unverzüglich<br />
begann Bosshammer nun mit der Realisierung<br />
eines von ihm bereits im Dezember 1943<br />
vorgelegten Plans, der seinerzeit aber aus taktischen<br />
Gründen zunächst zurückgestellt worden<br />
war. Dieser Plan sah vor, von der italienischen<br />
Regierung die Auslieferung aller in Konzentrationslager<br />
eingesperrten Juden zu verlangen<br />
<strong>und</strong> diese dann unter deutscher Aufsicht umgehend<br />
nach Auschwitz-Birkenau zu deportieren.<br />
48<br />
Zur Schaffung der dafür nötigen Rahmenbedingungen<br />
organisierte Bosshammer den<br />
Neuaufbau eines Systems zur Erfassung, Konzentrierung<br />
<strong>und</strong> Deportation der italienischen<br />
Juden, führte regelmäßige Inspektionen des bei<br />
Modena gelegenen Sammellagers Fossoli di<br />
Carpi durch, kümmerte sich persönlich um die<br />
Beschaffung der notwendigen Transportmittel,<br />
stellte eigenhändig Transportlisten zusammen<br />
<strong>und</strong> überwachte sogar die Rekrutierung der<br />
Zugbegleitkommandos. 49 Bosshammers Radikalität<br />
übertraf sogar die Adolf Eichmanns.<br />
Unter seiner Federführung wurden auch die bis<br />
zur Jahreswende 1943/44 von der Deportation<br />
ausgenommenen sogenannten „Judenmischlinge“<br />
sowie die Partner aus „Misch ehen“ mit<br />
dem letzten aus Fossoli di Carpi abgehenden<br />
Transport nach Auschwitz deportiert. 50 Insgesamt<br />
sieben Transporte mit r<strong>und</strong> 4.700 Juden<br />
gingen unter Bosshammers Regie nach Auschwitz.<br />
Die Gesamtzahl der deportierten Juden<br />
aus Italien lag bei etwa 7.500. Nur ca. 800 von<br />
ihnen haben überlebt. Für seinen „Einsatz“ in<br />
Italien wurde Friedrich Bosshammer im April<br />
1944 für das „Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse<br />
mit Schwertern“ vorgeschlagen. In der Begründung<br />
zur Ordensverleihung heißt es:<br />
Bosshammer leitet seit Februar 1944 die<br />
Bekämpfung der Juden im italienischen Raum.<br />
Er hat sich dabei um die Endlösung der Judenfrage<br />
namhafte Verdienste erworben <strong>und</strong> sich<br />
bei zahlreichen Judenaktionen persönlich ausgezeichnet.<br />
51<br />
In Italien blieb Bosshammer bis Frühjahr<br />
1945, zuletzt als Leiter der Außenstelle des Befehlshabers<br />
der Sicherheitspolizei <strong>und</strong> des SD<br />
in Padua. Auf seiner Flucht nach Österreich geriet<br />
er im April 1945 – vermutlich getarnt als<br />
Wehrmachtsangehöriger – in amerikanische<br />
Gefangenschaft, wurde aber im September<br />
desselben Jahres bereits wieder entlassen.<br />
Unmittelbar nach seiner Entlassung kehrte<br />
Bosshammer – offensichtlich aus Gründen der<br />
Vorsicht <strong>und</strong> Tarnung – nicht zu seiner Familie<br />
nach Wiesbaden zurück, sondern zog nach<br />
Remscheid. 52 Dort, in der Nähe seiner Verwandten<br />
(die Eltern lebten in Wermelskirchen,<br />
seine Schwester in Wuppertal), wechselte er<br />
seine Identität. Mit den Wehrmachtspapieren<br />
seines Vetters ausgestattet, arbeitete er auf Vermittlung<br />
des Remscheider Arbeitsamtes unter<br />
dem falschen Namen Max Müller bis Januar<br />
1947 als Hilfsarbeiter in der Hobelfabrik E.C.<br />
Emmerich in Remscheid-Hasten, wo sich der<br />
ehemals hochrangige SS-Offizier <strong>und</strong> Regierungsrat<br />
Bosshammer „in bester Weise der Betriebsgemeinschaft<br />
eingeordnet [hatte] <strong>und</strong><br />
sich infolge seines einfachen, kameradschaftlichen<br />
Wesens […] der Wertschätzung der gesamten<br />
Betriebsangehörigen erfreute.“ 53 Vermutlich<br />
aufgr<strong>und</strong> einer anonymen Anzeige<br />
wurde seine falsche Identität jedoch bekannt<br />
<strong>und</strong> Bosshammer noch im selben Monat verhaftet<br />
<strong>und</strong> in ein Internierungslager der britischen<br />
Besatzungsbehörde nach Recklinghausen<br />
verbracht. Im anschließenden Spruchkammerverfahren<br />
– die Anklage lautete auf Mitgliedschaft<br />
in einer vom alliierten Militärtribunal<br />
in Nürnberg für verbrecherisch erklärten<br />
Organisation – trat Bosshammer die Flucht<br />
nach vorne an. Seine juristische Vertretung<br />
übernahm der – im übrigen auch als (turnus-<br />
121
mäßiger) Vorsitzender des Wuppertaler Ent -<br />
nazifizierungsberufungsausschusses tätige –<br />
Rechtsanwalt Dr. Lüdecke aus Elberfeld. 54 In<br />
diesem Verfahren gab Bosshammer zwar bereitwillig<br />
zu, als Beamter im Reichssicherheitshauptamt<br />
<strong>und</strong> in Italien tätig gewesen zu<br />
sein, aber niemals im Eichmann-Referat gearbeitet<br />
<strong>und</strong> nichts über den wahren Zweck der<br />
Deportationen italienischer Juden gewußt zu<br />
haben. Er erklärte, seine Hauptaufgabe habe lediglich<br />
darin bestanden, den Schwarzhandel<br />
<strong>und</strong> die Korruption in den italienischen Verwaltungen<br />
zu bekämpfen <strong>und</strong> die Widerstandsbewegung<br />
zu kontrollieren. Den „Abtransport<br />
<strong>und</strong> die Ansiedlung [der Juden] in unbevölkerte<br />
Gebiete des Reichs oder außerhalb des<br />
Reiches“ betrachtete er als einen „kriegsbedingten<br />
Staatsnotstand“, leugnete aber, an diesen<br />
Aktionen beteiligt gewesen zu sein. Bosshammer<br />
erklärte ferner, es sei ihm nicht bekannt<br />
gewesen, „dass Juden in Konzentrationslager<br />
festgehalten worden sind, wenn nicht<br />
staatspolizeiliche Gründe dazu vorlagen.“ 55<br />
Zur weiteren Entlastung führte er an, daß ein<br />
für ihn günstiges Leum<strong>und</strong>szeugnis des Bischofs<br />
von Padua eindeutig beweise, daß an<br />
seiner Tätigkeit in Italien „in dieser Hinsicht“<br />
nichts zu beanstanden sei. 56 Dieser Version<br />
folgte das Gericht weitgehend <strong>und</strong> verurteilte<br />
Friedrich Bosshammer im März 1948 lediglich<br />
wegen der Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen<br />
Organisation zu einer einjährigen<br />
Haftstrafe. Durch die Internierungshaft galt<br />
dieses Urteil bereits als verbüßt. Dieses skandalös<br />
niedrige Strafmaß dürfte zunächst mit<br />
zwei eher allgemeinen Faktoren zusammenhängen:<br />
Zum einen waren die in der Regel aus<br />
einem Vorsitzenden <strong>und</strong> zwei ehrenamtlichen<br />
Richtern zusammengesetzten <strong>und</strong> der alliierten<br />
Oberaufsicht unterstellten Spruchkammergerichte<br />
notorisch überlastet <strong>und</strong> unter Druck.<br />
Zum anderen gab es bei den alliierten Strafverfolgungsbehörden<br />
zu diesem Zeitpunkt nur<br />
wenig detaillierte Informationen hinsichtlich<br />
der Beteiligung der Sicherheitspolizei an Deportationen<br />
in den besetzten Ländern, erst<br />
recht in Italien. Gleichwohl bleibt es – nicht<br />
nur aus heutiger Sicht – unverständlich, daß<br />
trotz der den Richtern bekannten hochrangigen<br />
122<br />
Funktion des „Zivilinternierten“ dessen Angaben<br />
über seine Tätigkeit im RSHA <strong>und</strong> insbesondere<br />
in Italien nicht mit größerem Miß -<br />
trauen begegnet <strong>und</strong> diese sorgfältiger überprüft<br />
wurden.<br />
Ohne die vielen entlastenden Leum<strong>und</strong>szeugnisse,<br />
jene beliebten „Persilscheine“ also,<br />
die Bosshammers (erste) Frau <strong>und</strong> sein Rechtsanwalt<br />
herbeigeschaftt hatten, wäre das<br />
Spruchkammerurteil allerdings wohl kaum zu<br />
rechtfertigen gewesen. Unter den Leum<strong>und</strong>szeugnissen,<br />
die allesamt das Bild eines „charakterlich<br />
einwandfreien Menschen“ zeichnen,<br />
befand sich nicht nur das seines ehemaligen<br />
Pfarrers aus Opladen 57 , der u.a. zur Entlastung<br />
Bosshammers anführte, daß dieser einen Teil<br />
seiner Referendarausbildung bei einem jüdischen<br />
Rechtsanwalt in Opladen absolviert<br />
hatte <strong>und</strong> „nie politisch hervorgetreten oder aktiv<br />
im Sinne der Partei öffentlich tätig gewesen“<br />
war, sondern auch das des bereits erwähnten<br />
Bischofs von Padua 58 sowie das eines Pfarrers<br />
der Bekennenden Kirche, der Bosshammer<br />
als SS-Untersuchungsführer in Wiesbaden<br />
kennengelernt hatte. 59 Besonders aufschlußreich<br />
ist das Leum<strong>und</strong>szeugnis einer<br />
während der Internierungshaft Bosshammers<br />
im Höseler Bethesda-Krankenhaus tätigen<br />
Ärztin, einer guten Fre<strong>und</strong>in seiner Schwester,<br />
die mit dem späteren Chefarzt der Chirurgischen<br />
Abteilung der Bethesda-Klinik in Wuppertal<br />
verheiratet war. Im Haus seines Schwagers<br />
in der Platzhoffstraße 2 in Wuppertal-Elberfeld<br />
hatte Bosshammer Anfang der 50er<br />
Jahre einige Zeit gewohnt <strong>und</strong> dort auch seine<br />
erste Anwaltspraxis eröffnet. Bosshammer <strong>und</strong><br />
diese Ärztin waren sich 1942/43 in Berlin begegnet<br />
<strong>und</strong> hatten sich offenbar angefre<strong>und</strong>et.<br />
In ihrem Entlastungszeugnis beschrieb sie ihre<br />
Erinnerung an diese Zeit, in der Bosshammer<br />
bereits vollständig in den Prozeß der „Endlösung“<br />
involviert war:<br />
[…] Mit großer Offenheit sprach er zu mir<br />
über das, was ihn damals bewegte <strong>und</strong> bedrückte.<br />
Aus allem redete zu mir ein herzensguter,<br />
ehrlicher, gerecht empfindender Mensch,<br />
hilfsbereit <strong>und</strong> zuverlässig. […]<br />
Er [Bosshammer] habe sich damals zum<br />
Studium der Rechtswissenschaften aus einem
inneren Drang heraus, einmal wirkliches Recht<br />
zu sprechen, entschlossen. Nach Studienabschluß<br />
kam die erste Enttäuschung angesichts<br />
der äußerst schlechten Berufsaussichten. Später<br />
Übernahme in den S.D. <strong>und</strong> die Unmöglichkeit,<br />
davon wieder loszukommen. Das einzige,<br />
was er tun konnte, um sich <strong>und</strong> seiner Gr<strong>und</strong>einstellung<br />
zum Recht treu zu bleiben, war, innerhalb<br />
seines Wirkungsbereiches […] für<br />
Ordnung, Sauberkeit <strong>und</strong> Gerechtigkeit zu sorgen<br />
unter rückhaltlosem Einsatz seiner ganzen<br />
Person.<br />
Auf Gr<strong>und</strong> meiner Menschenkenntnis, die<br />
zu erwerben man im ärztlichen Beruf reichlich<br />
Gelegenheit hat, glaube ich sagen zu können,<br />
daß Herr Bosshammer bei seinen charakterlichen<br />
Qualitäten <strong>und</strong> bei seinem Wesenszug, im<br />
anderen Menschen stets das Gute zu wecken,<br />
keinem Wesen ein Unrecht zu tun überhaupt in<br />
der Lage ist. 60<br />
Aus heutiger Sicht ist es fast unmöglich,<br />
präzise zu bestimmen, ob diese Loyalitätsbezeugung<br />
ehrlicher Auffassung <strong>und</strong> tatsächlicher<br />
Ahnungslosigkeit entsprach, oder möglicherweise<br />
ein bewußt ,geschöntes‘ Bild, das der engen<br />
Beziehungen zur Person Bosshammers <strong>und</strong><br />
seiner Familie geschuldet war. Für die erste Annahme<br />
spricht, daß diese Eindrücke mit den in<br />
den anderen Leum<strong>und</strong>szeugnissen vorgebrachten<br />
<strong>und</strong> durchaus glaubhaft wirkenden Erinnerungen<br />
an Bosshammer korrespondieren. Das<br />
in diesen Dokumenten gezeichnete Persönlichkeitsprofil<br />
Bosshammers war gewiß nur schwer<br />
mit dessen aktiver Teilhabe an der „Endlösung“<br />
in Einklang zu bringen. Gleichwohl trifft diese<br />
fast eine Persönlichkeitsspaltung nahelegende<br />
Charakterisierung auf zahlreiche hochrangige<br />
NS-Täter zu; diese indiziert geradezu die erschreckende<br />
– <strong>und</strong> den schmalen Grat zwischen<br />
Normalität <strong>und</strong> Verbrechen markierende – Doppelgesichtigkeit<br />
der nationalsozialistischen<br />
Vernichtungspolitik. Die Charakterisierung<br />
Bosshammers als eines „zuverlässigen, ehrlichen<br />
<strong>und</strong> gerecht empfindenden Menschen“<br />
fügten sich in jedem Fall nahtlos in die von ihm<br />
<strong>und</strong> seinem Rechtsanwalt den Spruchkammerrichtern<br />
offerierte Version einer ,schuldlosen<br />
Verstrickung‘ <strong>und</strong> Nichtteilhabe an den NS-<br />
Verbrechen. Wie bereitwillig das Gericht dieser<br />
Version folgte, dokumentiert die Urteilsbegründung<br />
im Fall Bosshammer vom 13. April 1948:<br />
Das Gericht hat aufgr<strong>und</strong> der mündlichen<br />
Verhandlung vom Angeklagten einen recht<br />
guten Eindruck gewonnen. Er war geständig.<br />
Sein anständiges männliches Verhalten zeigt,<br />
dass ihn sein schweres persönliches Erleben<br />
nach dem Zusammenbruch des Reichs geläutert<br />
hat. Er sieht seine Vergangenheit jetzt in einem<br />
anderen Licht. Trotz seiner früheren<br />
Tätigkeit kann nicht bezweifelt werden, daß er<br />
beim Aufbau eines freien Deutschland seine<br />
Kraft einsetzen wird. 61<br />
Derartige Unbedenklichkeitsatteste waren<br />
– zumindest was den Großteil ehemaliger NS-<br />
Funktionseliten betraf – keineswegs die Ausnahme,<br />
sondern entsprachen der Regel. Sie ebneten<br />
Bosshammer <strong>und</strong> zahlreichen anderen<br />
Tätern den Weg zurück in die Gesellschaft <strong>und</strong><br />
legten das F<strong>und</strong>ament für den erfolgreichen sozialen<br />
<strong>und</strong> beruflichen Wiederaufstieg. Das<br />
sich unmittelbar an das Spruchkammerverfahren<br />
anschließende Entnazifizierungsverfahren<br />
vor dem Wuppertaler Entnazifizierungsausschuß<br />
war daher fast nur noch eine Formsache<br />
<strong>und</strong> endete für ihn – nachdem sein Wuppertaler<br />
Rechtsanwalt auch die Berufung erfolgreich<br />
durchgefochten hatte 62 – im November 1948<br />
mit einer Einstufung in die Kategorie IV – als<br />
Mitläufer. Zwei Jahre brauchte es allerdings<br />
noch, um wieder an die juristische Laufbahn<br />
anknüpfen zu können. Auch hier erwiesen sich<br />
einmal mehr die Politiker als äußerst entgegenkommend.<br />
Im Oktober 1950 empfahl nämlich<br />
der Deutsche B<strong>und</strong>estag den Ländern, die noch<br />
laufenden Entnazifizierungsverfahren einzustellen<br />
<strong>und</strong> die mit der Entnazifizierung verb<strong>und</strong>enen<br />
Berufsbeschränkungen aufzuheben.<br />
63 Offenbar noch im selben Monat beantragte<br />
Bosshammer deshalb beim Oberlandesgericht<br />
in Düsseldorf die Übernahme in den<br />
anwaltlichen Anwärterdienst. 64 Nachdem<br />
schließlich im Februar 1952 auch in Nordrhein-Westfalen<br />
das Gesetz zum Abschluß der<br />
Entnazifizierung wirksam wurde, erhielt Boss -<br />
hammer noch im August desselben Jahres beim<br />
Wuppertaler Amts- <strong>und</strong> Landgericht seine endgültige<br />
Zulassung als Rechtsanwalt. Seine Anwaltspraxis<br />
eröffnete er dann zunächst im Haus<br />
123
seines Schwagers in der Elberfelder Platzhoffstraße,<br />
<strong>und</strong> kurz darauf an seinem neuen<br />
Wohnsitz in der Kärtnerstraße 13 in Vohwinkel,<br />
wo Bosshammers zweite Ehefrau ein Haus<br />
<strong>und</strong> eine Metzgerei besaß.<br />
Die kleine Kanzlei, die zwar gut ausgelastet<br />
war, aber wohl nicht besonders ambitioniert geführt<br />
wurde, befaßte sich hauptsächlich mit zivilrechtlichen<br />
Angelegenheiten. Bosshammers<br />
Anwaltspraxis profitierte indes nachhaltig von<br />
den Anfang der 60er Jahre im Zusammenhang<br />
des Baus der Stadtautobahn A 46 angestrengten<br />
Enteigungs- <strong>und</strong> Entschädigungsverfahren betroffener<br />
Vohwinkler Hauseigentümer <strong>und</strong><br />
Gr<strong>und</strong>stücksbesitzer. 65 In diesen Kreisen erwarb<br />
sich Bosshammer durch sein juristisches Engagement<br />
hohes Ansehen. 66 Zwar waren zahlreiche<br />
Gerüchte im Umlauf, er sei „ein hohes Tier“<br />
in der SS gewesen, genaueres wußte man darüber<br />
wohl aber nicht bzw. wollte man in seinem<br />
persönlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Umfeld<br />
möglicherweise auch nicht in Erfahrung bringen.<br />
67 Gesellschaftliche Aktivität entfaltete der<br />
als sehr gesellig geltende <strong>und</strong> regelmäßig bei<br />
kammermusikalischen Abenden seines Schwagers<br />
als Pianist auftretende Bosshammer u.a. als<br />
Vorstandsmitglied des Bürgervereins Vohwinkel-Nord.<br />
Eine gewisse lokale Prominenz erlangte<br />
er in seiner Funktion als juristischer Vertreter<br />
der seinerzeit zu einer Arbeitsgemeinschaft<br />
zusammengeschlossenen drei Vohwinkler<br />
Bürgervereine. Ende 1960 hatte diese Arbeitsgemeinschaft<br />
beim Innenminister des Landes<br />
Nordrhein-Westfalen einen lebhaft diskutierten<br />
<strong>und</strong> umstrittenen Antrag auf Ausgliederung<br />
des Stadtteils Vohwinkel aus dem Stadtgefüge<br />
Wuppertals gestellt <strong>und</strong> die Neubildung einer<br />
selbständigen Stadt angeregt. Beauftragter<br />
Unterzeichner dieses Antrags war Friedrich<br />
Boss hammer, unter dessen Vohwinkler Kanzleiadresse<br />
die ,AG‘ überdies firmierte. 68 Die<br />
Tatsache, daß sich der frühere „Judenberater“<br />
<strong>und</strong> enge Mitarbeiter Adolf Eichmanns derart<br />
öffentlich exponierte <strong>und</strong> damit immerhin riskierte,<br />
daß man auch außerhalb Wuppertals, ja<br />
sogar an höchsten Stellen auf ihn aufmerksam<br />
wurde, läßt vermuten, daß Bosshammer sich<br />
vor einer Strafverfolgung durch die deutschen<br />
Justizbehörden ziemlich sicher fühlte.<br />
124<br />
Als 1963 neue Aktenf<strong>und</strong>e aus dem Potsdamer<br />
Zentralarchiv auftauchten <strong>und</strong> an die<br />
„Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer<br />
Verbrechen“ in Ludwigsburg weitergeleitet<br />
wurden, setzen gegen ihn <strong>und</strong> andere<br />
ehemalige leitende Beamte des Reichsicherheitshauptamtes<br />
Ermittlungen ein, die schließlich<br />
am 11. Januar 1968 zur Verhaftung Boss -<br />
hammers in Wuppertal führten. 69 Mitte Mai<br />
1971 lag die 634 Seiten umfassende Anklageschrift<br />
vor, der Prozeß selbst begann Anfang<br />
Juni. Während dieses Prozesses wurden insgesamt<br />
150 Zeugen vernommen, über 120 NS-<br />
Dokumente als Beweise vorgelegt <strong>und</strong> mehrere<br />
Historiker aus Deutschland <strong>und</strong> Italien als Gutachter<br />
gehört. Nach knapp einjähriger Verhandlungsdauer<br />
sprachen die Richter Boss -<br />
hammer als eines „mit Hitler, Himmler <strong>und</strong><br />
Eichmann gemeinschaftlich handelnden Mittäters<br />
wegen vorsätzlichen Mordes schuldig“<br />
<strong>und</strong> verurteilten ihn zu lebenslänglicher Haft. 70<br />
Die Richter sahen es als zweifelsfrei erwiesen<br />
an, daß sich Bosshammer mit besonderem Eifer<br />
<strong>und</strong> „Radikalität in der Behandlung der Judenfrage“<br />
hervorgetan <strong>und</strong> „sich den der nationalsozialistischen<br />
Weltanschauung innewohnenden<br />
Rassenhaß“ zu eigen gemacht hatte. 71<br />
Während des Verfahrens hatte Bosshammer<br />
zwar eine Mitverantwortung an den Verbrechen<br />
eingeräumt, seine direkte Mitwirkung<br />
daran jedoch hartnäckig geleugnet <strong>und</strong> seine<br />
Unschuld beteuert. Der Versuch seiner Verteidiger,<br />
ihn nicht als aktiven Mittäter, sondern lediglich<br />
als „Tatgehilfen“ zu belangen, schlug<br />
angesichts der erdrückenden Beweislast fehl.<br />
Ein halbes Jahr nach der Urteilsverkündung<br />
verstarb Bosshammer in der Haft an den Folgen<br />
eines Gehirnschlags. Anläßlich seiner Beerdigung<br />
am 21. Dezember 1972 fand in der –<br />
vollbesetzten – Kapelle des Friedhofs Ehren -<br />
hainstraße ein Trauergottesdienst für den Verstorbenen<br />
statt. 72 Da offensichtlich die evangelischen<br />
Pfarrer in Vohwinkel die Durchführung<br />
einer solchen Zeremonie verweigert hatten,<br />
wurde Bosshammers Berliner Anstaltsseelsorger,<br />
der gute Beziehungen zum damaligen Vohwinkler<br />
Gemeindepfarrer unterhielt, damit beauftragt.<br />
73 Der Berliner Seelsorger würdigte in<br />
seiner Trauerrede, deren Text an die anwesen-
den Trauergäste verteilt wurde, Bosshammer<br />
als einen tiefgläubigen, künstlerischen <strong>und</strong><br />
sensiblen Menschen, der in ungerechtfertigter<br />
Weise das Opfer von Staatsanwälten geworden<br />
war, die ihres Alters wegen „das damalige Geschehen<br />
nicht verstehen <strong>und</strong> nachempfinden“<br />
können. Viel war in dieser Rede auch von<br />
Gottes Gnade, göttlichen Gleichnissen <strong>und</strong> den<br />
Bomben auf deutsche Städte zu hören. Wörter<br />
wie Schuld <strong>und</strong> Verantwortung, oder gar eine<br />
Geste des Mitgefühls für die von Bosshammer<br />
in den Tod geschickten Menschen sucht man in<br />
dieser Rede allerdings vergebens. 74<br />
III. Zusammenfassung <strong>und</strong> Perspektiven<br />
für weitere Nachforschungen<br />
Abschließend seien hier noch einmal einige<br />
signifikante Merkmale der in diesem Beitrag<br />
vorgestellten NS-Täter hervorgehoben, denn in<br />
vielerlei Hinsicht sind sie für den Kreis der<br />
ehemaligen nationalsozialistischen Funktionseliten<br />
der mittleren Ebene in SS, SD, Gestapo<br />
<strong>und</strong> im Reichssicherheitshauptamt insgesamt<br />
charakteristisch:<br />
Erstens: Diese Männer entsprechen in keiner<br />
Weise dem populären Klischee des intellektuell<br />
beschränkten, nur auf Befehl <strong>und</strong> Gehorsam<br />
gedrillten „Nazi-Schergen“, dem ein<br />
verbrecherisches Regime die Lizenz zu Terror<br />
<strong>und</strong> Mord erteilt hatte <strong>und</strong> von denen sich<br />
heute zu distanzieren nicht allzu schwer fallen<br />
dürfte.<br />
Zweitens: Diese Männer kamen nicht vom<br />
Rand, sondern aus der Mitte der deutschen Gesellschaft<br />
<strong>und</strong> waren dort eng in soziale <strong>und</strong> familiäre<br />
Kontexte eingeb<strong>und</strong>en. Sie besaßen in<br />
der Regel eine über dem (deutschen) Durchschnitt<br />
liegende Bildung, hatten studiert, vielfach<br />
sogar promoviert <strong>und</strong> waren keineswegs<br />
von Beginn an auf eine Laufbahn im nationalsozialistischen<br />
Terror- <strong>und</strong> Vernichtungsapparat<br />
abonniert. Gleichwohl nutzten sie bewußt<br />
<strong>und</strong> zielstrebig die mit ihrem Eintritt in die SS<br />
verb<strong>und</strong>enen Karriere- <strong>und</strong> Aufstiegschancen.<br />
Drittens: Ihre verbrecherischen Handlungen<br />
resultieren aus einem Bündel sich ergänzender<br />
Motivzusammenhänge <strong>und</strong> Erklärungs-<br />
muster: Gehorsam <strong>und</strong> Pflichtbewußtsein,<br />
Karrierestreben, Männlichkeitsideale von<br />
Härte gegen sich <strong>und</strong> andere, Abschottung gegen<br />
Humanitätsideale. Dazu gehörte aber auch<br />
eine gefestigte völkisch-nationale <strong>und</strong> antisemitische<br />
Weltanschauung <strong>und</strong> ein Menschenbild,<br />
das auf biologisch-rassistischen<br />
Prinzipien beruhte.<br />
Viertens: Kurt Hans, Hans Schumacher <strong>und</strong><br />
Friedrich Bosshammer gehörten einer Generation<br />
an, deren Einstellungen, Überzeugungen<br />
<strong>und</strong> Verhaltensmuster bereits vor 1933 entscheidend<br />
geprägt wurden. Alle drei waren in<br />
einem protestantischen Milieu herangewachsen.<br />
Die F<strong>und</strong>amente ihres humanen, sozialen<br />
<strong>und</strong> moralischen Wertekanons wurden nicht<br />
erst im „Dritten Reich“ gelegt, sondern waren<br />
bereits bei Machtantritt Hitlers wesentlich vorgebildet.<br />
Fünftens: Nach 1945 sind diese Männer in<br />
der Regel wieder in die Normalität <strong>und</strong> Bürgerlichkeit<br />
zurückgekehrt <strong>und</strong> haben sich – mit<br />
Hilfe großzügiger Integrationsangebote aus<br />
Politik <strong>und</strong> Gesellschaft – überwiegend erfolgreich<br />
in der deutschen Nachkriegsgesellschaft<br />
etabliert. Die meisten, die im Reichssicherheitshauptamt<br />
als sog. „Schreibtischtäter“<br />
wirkten, wurden niemals von einem deutschen<br />
Gericht zur Verantwortung gezogen. 75<br />
Bei der Beantwortung der Frage nach den<br />
Voraussetzungen für die bewußte Komplizenschaft<br />
mit einem verbrecherischen Regime<br />
wird man diese Faktoren mit einbeziehen <strong>und</strong><br />
die Geschichte der Täter gleichsam als „Kollektivbiographie“<br />
einer spezifischen Generation<br />
untersuchen <strong>und</strong> in eine Gesellschaftsgeschichte<br />
Deutschlands nicht nur während der<br />
NS-Zeit, sondern auch <strong>und</strong> vor allem der Jahre<br />
vor 1933 <strong>und</strong> nach 1945 einordnen müssen. Einen<br />
solchen Ansatz vertreten vor allem die Historiker<br />
Michael Wildt <strong>und</strong> Ulrich Herbert im<br />
Rahmen ihrer Untersuchungen über das<br />
Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes<br />
<strong>und</strong> von Sicherheitspolizei <strong>und</strong> SD, das<br />
die eigentliche Kerngruppe der nationalsozialistischen<br />
Vernichtungspolitik bildete. 76<br />
Abschließend: Wünschenswert wäre es, im<br />
Rahmen lokaler <strong>und</strong> regionaler Untersuchungen<br />
zum Nationalsozialismus neben den Tätern<br />
125
verstärkt auch jene Institutionen in den Blick<br />
zu nehmen, die hier vor Ort an Entrechtung<br />
<strong>und</strong> Verfolgung von Juden, politischen Gegnern,<br />
Sinti <strong>und</strong> Roma <strong>und</strong> anderen „unerwünschten“<br />
Personen, an Terror, an Deportations-<br />
<strong>und</strong> Vernichtungsmaßnahmen mitgewirkt<br />
<strong>und</strong> von der Beraubung der Juden oder der<br />
Ausbeutung von Zwangsarbeitern profitiert haben.<br />
Zu diesen Institutionen zählen etwa die Finanz-<br />
<strong>und</strong> Arbeitsämter, Behörden der Stadtverwaltung,<br />
Justizeinrichtungen, zahlreiche<br />
Firmen, die Industrie- <strong>und</strong> Handelskammer,<br />
die Reichsbahn <strong>und</strong> die lokalen <strong>und</strong> regionalen<br />
Dienststellen von Polizei <strong>und</strong> Gestapo. Über<br />
die Tätigkeit dieser Institutionen <strong>und</strong> ihres Personals<br />
hier in Wuppertal wissen wir kaum etwas.<br />
Der 70. Geburtstag der Stadt Wuppertal<br />
wäre ein guter Anlaß, auch solche bisher vernachlässigten<br />
Themen mit auf die Agenda der<br />
Stadtgeschichte zu setzen.<br />
Anmerkungen<br />
1 Geringfügig veränderte Version eines Vortrags<br />
auf der Jahreshauptversammlung des Bergischen<br />
Geschichtsvereins, Abt. Wuppertal am<br />
4.3.1999.<br />
2 Michael Okroy: Paul Blobel – Architekt, Familienvater,<br />
Massenmörder. Eine regionale Täterskizze.<br />
In: Hier wohnte Frau Antonie Giese. Die<br />
Geschichte der Juden im Bergischen Land. Essays<br />
<strong>und</strong> Dokumente. Hrsg. vom Trägerverein<br />
der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal<br />
e.V., Wuppertal 1997 (2. Aufl.), S. 92–98.<br />
3 Ebd., S. 40–44: ,Durch die Enge geführt‘. Zur<br />
Entstehung <strong>und</strong> Konzeption des „Nebenthemas“.<br />
4 So etwa der als zeitweiliger Kommandant eines<br />
Arbeitslagers in Polen tätige Artur Gosberg aus<br />
Beyenburg, der u.a. in den Gaskammern des<br />
Vernichtungslagers Belzec eingesetzte SS-<br />
Scharführer Werner Dubois aus Langerfeld oder<br />
die beiden maßgeblich an der Judenmordaktion<br />
in Bialystok vom 27. Juni 1941 beteiligten Wuppertaler<br />
Polizeioffiziere Heinrich Schneider <strong>und</strong><br />
Rolf-Joachim Buchs.<br />
5 Vgl. Michael Okroy: Exzeßtäter, Fanatiker, Karrieristen.<br />
Prozesse wegen nationalsozialistischer<br />
Gewaltverbrechen vor Wuppertaler Gerichten.<br />
126<br />
In: Romerike Berge, Jg. 47, H. 3 (1997),<br />
S. 24–32.<br />
6 Zitiert nach: Norbert Frei: Vergangenheitspolitik<br />
in den fünfziger Jahren. In: Wilfried Loth, Bernd<br />
A. Rusinek (Hg.): Verwandlungspolitik. NS-Eliten<br />
in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft.<br />
Frankfurt/New York 1998, S. 79–93.<br />
7 Vgl. Cornelia Rauh-Kühne: Die Entnazifizierung<br />
<strong>und</strong> die deutsche Gesellschaft. In: Archiv<br />
für Zeitgeschichte 35 (1995), S. 35–70; Clemens<br />
Vollnhals: Evangelische Kirche <strong>und</strong> Entnazifizierung<br />
1945–1949. Die Last der nationalsozialistischen<br />
Vergangenheit. München 1989 sowie<br />
ders. (Hg.): Entnazifizierung. Politische Säuberung<br />
<strong>und</strong> Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen<br />
1945–1949. Münschen 1991.<br />
8 Ulrich Herbert: NS-Eliten in der B<strong>und</strong>esrepublik.<br />
In: W. Loth, B.A. Rusinek (Hg.): Verwandlungspolitik,<br />
a.a.O., S. 93–115, hier: S. 102.<br />
9 Office of Intelligence Research. Report Nr.<br />
4626, 15.4.1948: „Der gegenwärtige Stand der<br />
Entnazifizierung in Westdeutschland <strong>und</strong> Berlin“.<br />
Abgedr. in: Alfons Söllner (Hg.): Zur Archäologie<br />
der Demokratie in Deutschland. Bd.<br />
2. Frankfurt/M. 1986, S. 217–249.<br />
10 Siehe dazu detailliert Norbert Frei: Vergangenheitspolitik.<br />
Die Anfänge der B<strong>und</strong>esrepublik<br />
<strong>und</strong> die NS-Vergangenheit. München 1996.<br />
11 HStAD (Nebenstelle Kalkum) Bestand Rep.<br />
247/1–67: Verfahrensakten des Bialystok-Prozesses<br />
vor dem LG Wuppertal.<br />
12 Joachim Perels: Vom Sturm auf die Stasi-Zentrale<br />
<strong>und</strong> der Kartei der Gestapo. In: Frankfurter<br />
R<strong>und</strong>schau, 23.4.1992, S. 17.<br />
13 Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien<br />
über Radikalismus, Weltanschauung <strong>und</strong> Vernunft<br />
1903–1989. Bonn (3. Aufl.) 1996.<br />
14 Siehe dazu detailliert N. Frei (1996), a.a.O.<br />
15 Rheinische Post, 2.2.1951.<br />
16 Siehe dazu Ernst Klee: Persilschein <strong>und</strong> falsche<br />
Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen. Frankfurt/M.<br />
(3., überarb. Aufl.) 1992.<br />
17 Thorsten Schmitz: Blutbande. In: Süddeutsche<br />
Zeitung Magazin Nr. 46, 13.11.1998.<br />
18 „Friede auch den Menschen bösen Willens“. Interview<br />
mit Prof. Dr. Hermann Schlingensiepen<br />
anläßlich seines 70. Geburtstages. In: Westdeutsche<br />
R<strong>und</strong>schau (Stadt Wuppertal) Nr. 186,<br />
13.8.1966. Unter dem Titel: „Adolf Eichmann<br />
<strong>und</strong> wir“ publizierte Schlingensiepen in der<br />
Zeitschrift „Politisch-Soziale Korrespondenz“<br />
(Bonn) am 1.2.1962 seine Reflexionen über den<br />
Eichmann-Prozeß.
19 „Friede sei den Menschen, die bösen Willens<br />
sind“. Sonntagsblatt, (ca.) 25.5.1965.<br />
20 Abgedruckt in Reinhard Henkys: Die nationalsozialistischen<br />
Gewaltverbrechen. Geschichte<br />
<strong>und</strong> Gericht. Stuttgart/Berlin 1964, S. 339–342.<br />
Um 1960 hatte Professor Schlingensiepen dar -<br />
über hinaus einen umfangreichen <strong>und</strong> über mehrere<br />
Jahre andauernden Briefwechsel mit der in<br />
NS-Strafsachen engagierten Staatsanwältin Dr.<br />
Barbara Just-Dahlmann geführt. Diesen kommentierte<br />
die Staatsanwältin in ihrem 1988 erschienenen<br />
Buch „Die Gehilfen. NS-Verbrechen<br />
<strong>und</strong> die Justiz nach 1945“ wie folgt: Ferner hatten<br />
wir einen sehr umfangreichen Briefwechsel<br />
[…] mit Professor D.H. Schlingensiepen in<br />
Wuppertal/Barmen, der in zahlreichen, intensiven<br />
<strong>und</strong> unendlich langen Schreiben glaubte,<br />
uns – schon zu diesem Zeitpunkt – an „Gnade“<br />
<strong>und</strong> „Vergebung“ erinnern zu müssen. Wir hingegen<br />
fanden, daß erst einmal „Recht“ zu sprechen<br />
sei. Es war eine anstrengende Korrespondenz…<br />
(S. 110).<br />
21 Ulrich Herbert: NS-Eliten in der B<strong>und</strong>esrepublik,<br />
a.a.O., S. 109.<br />
22 C. F. Rüter u.a. (Hg.): Justiz <strong>und</strong> NS-Verbrechen.<br />
Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer<br />
Tötungsverbrechen 1945–<br />
1966. Amsterdam 1968ff. In Bearbeitung inzwischen<br />
auch die ab 1966 bis 1999 gefällten westdeutschen<br />
Strafurteile. In Vorbereitung befindet<br />
sich ferner die Publikation „DDR-Justiz <strong>und</strong><br />
NS-Verbrechen“ mit Strafurteilen von 1945 bis<br />
1990.<br />
Für eine Übersicht <strong>und</strong> Vorrecherche sehr zu<br />
empfehlen: C. F. Rüter/D. W. de Mildt: Die westdeutschen<br />
Strafverfahren wegen nationalsozialistischer<br />
Tötungsverbrechen 1945–1997. Eine<br />
systematische Verfahrensbeschreibung mit Karten<br />
<strong>und</strong> Registern. Amsterdam/München 1998.<br />
23 Peter Klein (Hg.): Die Einsatzgruppen in der besetzten<br />
Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits<strong>und</strong><br />
Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei<br />
<strong>und</strong> des SD. Berlin 1997.<br />
24 Näheres dazu bei Stephan Stracke: Mit rabenschwarzer<br />
Zuversicht. Kommunistische Jugendliche<br />
in Wuppertal 1916–1936. Milieu <strong>und</strong> Widerstand.<br />
Bocholt/Bredevoort 1998, hier: S. 54f.<br />
25 Wichtige biographische Informationen, die für<br />
die eigenen Recherchen noch einmal verifiziert<br />
<strong>und</strong> ergänzt wurden, enthält der Aufsatz von Peter<br />
Fasel: „Von Babij Jar nach Würzburg. Die<br />
blutige Karriere des Kurt Hans.“ In: Mainfränkisches<br />
Jahrbuch für Geschichte <strong>und</strong> Kunst. Band<br />
47 (1995), S. 27–46. Der Beitrag dokumentiert<br />
darüber hinaus zentrale Passagen aus der umfangreichen<br />
Anklage- <strong>und</strong> Urteilsschrift gegen<br />
Hans <strong>und</strong> andere Männer des Blobel-Kommandos.<br />
26 Siehe Adressbuch der Stadt Wuppertal von<br />
1940/41 s.v. „Preußische Staatsbehörden <strong>und</strong><br />
Organisationen behördlichen Charakters“.<br />
27 Ein aufschlußreiches Indiz für das enge personelle<br />
Geflecht von staatlicher Polizei <strong>und</strong> Gestapo<br />
<strong>und</strong> SD vor Ort liefern zwei im NRW-<br />
Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStAD) lagernde<br />
Dokumente. Das eine enthält eine Aufforderung<br />
des Wuppertaler Polizeipräsidenten<br />
vom 6. Juli 1938, ein Verzeichnis der seiner Aufsicht<br />
unterstellten jüdischen Vereine <strong>und</strong> Organisationen<br />
anzufertigen. Das zweite Dokument<br />
führt – möglicherweise als Beitrag zu der vom<br />
SD-Hauptamt reichsweit geplanten sog. „Judenkartei“<br />
– eine Liste mit jüdischen Vereinen <strong>und</strong><br />
Organisationen aus Wuppertal, Remscheid <strong>und</strong><br />
Solingen auf <strong>und</strong> wurde am 8. Juli 1938 von der<br />
Gestapo-Außenstelle Wuppertal an die Staatspolizeistelle<br />
Düsseldorf gesandt. HStAD RW<br />
18–36 Bl. 2–4. Detailliert bei Michael Wildt<br />
(Hg.): Die Judenpolitik des SD. Eine Dokumentation.<br />
(Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für<br />
Zeitgeschichte Bd. 71.) München 1995.<br />
28 Vgl. dazu meinen Beitrag über Paul Blobel in<br />
Romerike Berge Jg. 46, H. 3 (1996), S. 20–27.<br />
29 Einzelheiten dazu sowie Auszüge aus Vernehmungsprotokollen<br />
<strong>und</strong> Zeugenaussagen im allierten<br />
Strafverfahren gegen Hans siehe Peter<br />
Fasel: Von Babij Jar nach Würzburg, a.a.O.<br />
30 Über den Prozeßbeginn berichtete u.a. auch die<br />
NRZ am 3.10.1967 in ihren „Wuppertaler Stadtnachrichten“:<br />
„Massenmordprozeß in Darmstadt:<br />
Auch ein Wuppertaler steht vor Gericht.“<br />
31 Eine vom B<strong>und</strong>esjustizministerium Ende 1993<br />
veröffentlichte Statistik belegt dies anhand einiger<br />
aufschlußreicher Zahlen. Zwischen 1948 bis<br />
Ende 1993 wurden gegen insgesamt 105.688<br />
Personen Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen<br />
eingeleitet. Rechtskräftig verurteilt<br />
wurden 6494 Angeklagte. Nur in 178 Fällen erhielten<br />
NS-Verbrecher die Höchststrafe – bis<br />
1949 zwölfmal die Todesstrafe <strong>und</strong> 166mal lebenslänglich.<br />
Der überwiegende Teil der übrigen<br />
Verurteilten kam mit Haftstrafen von unter<br />
10 Jahren davon.<br />
32 Dazu detailliert Birgit Nehmer: Die Täter als<br />
Gehilfen? Zur Ahndung von Einsatzgruppenverbrechen.<br />
In: Redaktion Kritische Justiz (Hg.):<br />
127
Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-<br />
Staats. Baden-Baden 1998, S. 635–669.<br />
33 Die Angaben zu Laufbahn <strong>und</strong> Karriere Schumachers<br />
bei Polizei-, SS <strong>und</strong> Reichssicherheitshauptamt<br />
(RSHA) sind seiner im B<strong>und</strong>esarchiv<br />
Berlin aufbewahrten SS-Offiziersakte (SSO-<br />
Schumacher) entnommen. Wichtige Hinweise<br />
auf Schumachers Nachkriegskarriere bei Heiner<br />
Lichtenstein: „Freiwillig verzichtet. Ein Polizist<br />
zeigt Reue.“ In: Ders.: Himmlers grüne Helfer.<br />
Die Schutz- <strong>und</strong> Ordnungspolizei im „Dritten<br />
Reich“. Köln 1990, S. 132–143.<br />
34 Das Strafurteil ist abgedruckt in C.F.Rüter u.a.<br />
(Hg.): Justiz <strong>und</strong> NS-Verbrechen, Bd. 18, a.a.O.<br />
S. 65–132.<br />
35 Dazu die umfangreiche Studie von Jens Banach:<br />
Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei<br />
<strong>und</strong> des SD 1936–1945. Paderborn<br />
1998.<br />
36 C. F. Rüter u.a. (Hg.): Justiz <strong>und</strong> NS-Verbrechen,<br />
a.a.O., S. 112f.<br />
37 Siehe dazu H. Lichtenstein: Himmlers grüne<br />
Helfer, a.a.O. S. 133, ferner Gerhard Paul:<br />
„Zwischen Selbstmord, Illegalität <strong>und</strong> neuer<br />
Karriere. Ehemalige Gestapo-Bedienstete im<br />
Nachkriegsdeutschland.“ In: G. Paul/Michael<br />
Mall mann (Hg.): Die Gestapo. Mythos <strong>und</strong> Realität.<br />
Darmstadt 1995, S. 529–551.<br />
38 B<strong>und</strong>esarchiv Berlin (BAB), Aktenbestände des<br />
Rasse- <strong>und</strong> Siedlungshauptamtes: SS-Ahnentafel<br />
Bosshammer. Bei SS-Angehörigen mußte die<br />
„arische“ Abstammung bis 1800, bei SS-Führern<br />
„möglichst“ bis 1750 nachgewiesen werden.<br />
39 In Bosshammers Lebenslauf vom 4.6.1948, den<br />
er im Rahmen seines Entnazifizierungsberufungsverfahren<br />
anfertigen mußte, ist von dieser<br />
Parteiaktivität selbstverständlich nicht die Rede<br />
(siehe: HStAD NW–1037-B I–8877) Eine den<br />
wirklichen Tatsachen näher kommende Version<br />
enthält ein handschriftlicher Lebenslauf vom<br />
März 1940, der sich in seiner SS-Personalakte<br />
befindet (siehe: BAB/SSO-Bosshammer).<br />
40 Zum Sozial- <strong>und</strong> Tätigkeitsprofil der den mittleren<br />
<strong>und</strong> leitenden Dienst des SD bildenden Referenten<br />
siehe Jens Banach: Heydrichs Elite,<br />
a.a.O., S. 300f.<br />
41 Ebd. S. 301.<br />
42 Als erster der vom Deutschen Reich abhängigen<br />
Satellitenstaaten hatte sich die von dem katholischen<br />
Priester Josef Tiso regierte Slowakei im<br />
September 1941 eine den „Nürnberger Gesetzen“<br />
entsprechende antijüdische Gesetzgebung<br />
zu eigen gemacht <strong>und</strong> sich bereitwillig mit der<br />
128<br />
Deportation ihrer Juden, die im März 1942 begann,<br />
einverstanden erklärt.<br />
43 ZStL AR 1310/63 E 5, Bd. V, S. 779ff. (Verfahren<br />
des Kammergerichts Berlin – 1 Js 1/65 <strong>und</strong> 1<br />
Ks 1/71 – gegen Friedrich Bosshammer u.a.)<br />
44 Claudia Steur: Theodor Dannecker. Ein Funktionär<br />
der „Endlösung“. Essen 1997, S. 98.<br />
45 Zitiert nach dem von Bosshammer verfaßten<br />
<strong>und</strong> unterzeichneten Protokoll des Gesprächs<br />
mit Legationsrat von Thadden am 14.5.1943.<br />
ZStL 415 AR 1310/63 E 5, Bd. V, S. 774–776.<br />
46 Einen ersten informativen Überblick über den<br />
Komplex „Judendeportationen aus Italien“ bietet<br />
der ,italienische‘ Beitrag von Liliana Picciotto<br />
Fargion in dem von Wolfgang Benz herausgegebenen<br />
Sammelband: Dimension des Völkermords.<br />
Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus.<br />
München 1996, S. 199–229.<br />
47 Dem Vorschlag zur Beförderung zum Sturmbannführer<br />
(24.6.1943) ist eine von Bosshammers<br />
unmittelbarem Vorgesetzten Adolf Eichmann<br />
verfaßte <strong>und</strong> unterzeichnete Beurteilung<br />
beigefügt. (BAB/SSO-Bosshammer)<br />
48 ZStL AR 1310/63 E 5, Bd. V, S. 795f.<br />
49 Ebd. S. 804ff.<br />
50 Wolfgang Benz: Dimension, a.a.O. S. 206.<br />
51 ZStL AR 1310/63 E 5, Bd. V., S. 1095.<br />
52 Bosshammers Rückkehr ins Bergische läßt sich<br />
fast lückenlos anhand seiner Spruchkammerverfahrensakte<br />
rekonstruieren. B<strong>und</strong>esarchiv Koblenz<br />
(BAK), Bestände Spruchgerichte in der<br />
Britischen Zone, Z 42 VI/1098: Verfahrensakten<br />
des Spruchgerichts Recklinghausen zu Fritz<br />
Bosshammer.<br />
53 BAK, Z 42 VI/1098, Bl. 57.<br />
54 Ebd. Bl. 35. Dazu auch detailliert: Anselm<br />
Faust: Entnazifizierung in Wuppertal: Eine Fallstudie.<br />
In: Stephan Lennartz (Red.): Deutsche<br />
Nachkriegswelten. (Bensberger Protokolle 76).<br />
Bergisch-Gladbach 1992, S. 41–58.<br />
55 Vernehmungsprotokoll des „Zivilinternierten“<br />
Friedrich Bosshammer vom 18.6.1947. BAK, Z<br />
42 VI/1098, Bl. 2f.<br />
56 Ebd. Bl. 3.<br />
57 Ebd. Bl. 16.<br />
58 Ebd. Bl. 19f.<br />
59 Ebd. Bl. 18.<br />
60 Ebd. Bl. 17.<br />
61 Ebd. Bl. 66ff., hier: Bl. 67f.: Schriftlicher Urteilstext<br />
der 8. Spruchkammer des Spruchgerichts<br />
Recklinghausen. Das mündliche Urteil<br />
war bereits am 18.3.1948 ergangen.<br />
62 HStAD NW–1037 B I 8877 (Akten des Sonder-
eauftragten für die Entnazifizierung im Lande<br />
Nordrhein-Westfalen).<br />
63 Zu den Auswirkungen in NRW siehe: Wolfgang<br />
Krüger: Entnazifiziert! Zur Praxis der politischen<br />
Säuberung in Nordrhein-Westfalen. Wuppertal<br />
1982 <strong>und</strong> Irmgard Lange: Entnazifizierung<br />
in Nordrhein-Westfalen. Richtlinien, Anweisungen,<br />
Organisation. Siegburg 1976.<br />
64 BAK Z 42 VI/1098, Bl. 76.<br />
65 Zitiert nach einem schriftlich fixierten Gesprächsprotokoll<br />
mit einer früheren Kanzleiangestellten<br />
Bosshammers vom Frühjahr 1999.<br />
66 Welche Rolle in diesem Zusammenhang der von<br />
mehreren Zeitzeugen immer wieder genannte<br />
„Fre<strong>und</strong>eskreis Boltenberg“, ein Zusammenschluß<br />
vermögender <strong>und</strong> einflußreicher Bürger,<br />
spielte, bedarf noch weiterer Recherchen. Genauere<br />
Auskünfte darüber gibt vermutlich der<br />
bei der Friedrich-Ebert-Stiftung deponierte<br />
Nachlaß des verstorbenen früheren Wuppertaler<br />
SPD-B<strong>und</strong>estagsabgeordneten Adolf Scheu aus<br />
Vohwinkel. Angeblich existiert auch ein – bislang<br />
noch nicht aufgef<strong>und</strong>ener – Nachruf dieses<br />
„Fre<strong>und</strong>eskreises“ auf den im Dezember 1972<br />
verstorbenen Bosshammer.<br />
67 Zu den bislang noch offenen Fragen gehört, wer<br />
in seinem persönlichen <strong>und</strong> beruflichen Umkreis<br />
zu welchem Zeitpunkt genauer über Boss -<br />
hammers Vergangenheit informiert gewesen ist,<br />
darüber wissentlich geschwiegen hat <strong>und</strong> damit<br />
unbewußt oder mit Vorsatz an seiner erfolgreichen<br />
Tarnung beteiligt war. Zwangsläufig stellt<br />
sich damit auch die Frage, ob <strong>und</strong> wenn ja, in<br />
welchem Maß Bosshammers damaliges Umfeld<br />
selbst durch frühere Ämter <strong>und</strong> Funktionen im<br />
NS-Staat belastet war.<br />
68 Antrag der Arbeitsgemeinschaft der Bürgervereine<br />
Wuppertal-Vohwinkel vom 30. Dezember<br />
1960 an den Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen.<br />
Volker Hingkeldey danke ich für<br />
den Hinweis auf die Existenz dieses Dokuments.<br />
❊ ❊<br />
❊<br />
69 Über die Verhaftung Bosshammers <strong>und</strong> eines<br />
weiteren hochrangigen Mitarbeiters Eichmanns,<br />
Rechtsanwalt Otto Hunsche aus Datteln, berichteten<br />
das ZDF-<strong>Nachrichten</strong>magazin „Heute“ ín<br />
seinen Abendnachrichten vom 11.1.1968 sowie<br />
die lokalen <strong>und</strong> überregionalen Tageszeitungen.<br />
70 General-Anzeiger Wuppertal, 12.4.1972.<br />
71 ZStL 415 AR 1310/63, a.a.O. (Band- <strong>und</strong> Seitenangaben<br />
unleserlich).<br />
72 Laut Auskunft von zwei seinerzeit anwesenden<br />
Trauergästen. Eine Zeitzeugin erinnerte sich<br />
daran, „in einem Kreis vornehmer <strong>und</strong> erlauchter<br />
Gäste“ gewesen zu sein.<br />
73 Laut Auskunft einer der Angehörigen des Verstorbenen<br />
hatten die Vohwinkler Pfarrer die<br />
Trauerzeremonie wohl deshalb abgelehnt, weil<br />
Bosshammer nach 1945 – im Unterschied zu<br />
den meisten NS-Tätern – nicht wieder in die<br />
Kirche eingetreten war.<br />
74 Dieses aufschlußreiche, gleichwohl deprimierende<br />
Dokument wurde mir fre<strong>und</strong>licherweise<br />
von einer Vohwinkler Bürgerin, die an der Trauerfeier<br />
teilgenommen hatte, zur Verfügung gestellt.<br />
75 Durch ein vermutliches Versehen – oder durch<br />
einen unbemerkt gebliebenen Verfahrenstrick –<br />
bei der Neuregelung der sog. „Beihilfe“-Verjährung<br />
von 1968 kam es nicht zu den kurz vor<br />
der Anklageerhebung stehenden Verfahren gegen<br />
die Hauptverantwortlichen für die nationalsozialistischen<br />
Massenverbrechen in Sicherheitspolizei<br />
<strong>und</strong> RSHA.<br />
76 Ulrich Herbert: Best, a.a.O.(bes. 1. Teil); Mi -<br />
chael Wildt (Hg.): Die Judenpolitik des SD 1935<br />
bis 1938, a.a.O. In Vorbereitung ist derzeit eine<br />
von M. Wildt berarbeitete umfangreiche Studie<br />
über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes;<br />
ferner: Jens Banach: Heydrichs<br />
Elite, a.a.O., sowie Gerhard Paul: „Ganz normale<br />
Akademiker. Eine Fallstudie zur staatspolizeilichen<br />
Funktionselite.“ In: G. Paul/M. Mall-<br />
129
Gudrun <strong>und</strong> Uwe Eckardt<br />
Der Anne-Frank-Hof<br />
130<br />
Für Marianne zum 31. Juli 1999<br />
In unmittelbarer Nachbarschaft zum „Problemviertel“<br />
Klingholzberg, 1 das sich aus einem<br />
Ende des vorigen Jahrh<strong>und</strong>erts eingerichteten<br />
Obdachlosenasyl entwickelt hatte, entstand<br />
1959/61 auf der Hilgershöhe das Europadorf<br />
„Anne-Frank-Hof“, eine Siedlung für<br />
„heimatlose Ausländer“. 2 Initiator der Europadorf-Bewegung<br />
war der belgische Dominikaner<br />
Dominique Georges Pire (1910–1969), bekannt<br />
als Pater Pire. Der Geistliche, der an der<br />
Ordensschule in La Huy Moraltheologie lehrte,<br />
engagierte sich Mitte der 50er Jahre führend in<br />
zahlreichen Projekten, die der Förderung der<br />
Völkerverständigung <strong>und</strong> des Friedensgedankens<br />
dienten. Dazu gehörten u. a. die „Hilfe für<br />
heimatlose Ausländer“, der Verband „Die Welt<br />
des offenen Herzens“, die „Friedensuniversität“<br />
Huy sowie soziale Einrichtungen für Alte<br />
<strong>und</strong> Bedürftige. 1958 wurde ihm für sein soziales<br />
<strong>und</strong> völkerverbindendes Engagement der<br />
Friedensnobelpreis verliehen. 3<br />
Bei den „Europadörfern“ handelte es sich<br />
um Siedlungen, die für politische Flüchtlinge<br />
<strong>und</strong> Vertriebene vor allem aus den Ostblockstaaten<br />
gedacht waren. Ihre Gründer verbanden<br />
gemeinsame Erfahrungen als ehemalige Widerstandskämpfer<br />
<strong>und</strong> Verfolgte des Nationalsozialismus.<br />
Die ersten „Europadörfer“, die<br />
ausschließlich aus Spenden finanziert wurden,<br />
waren in Brüssel, Aachen, Augsburg, Euskirchen<br />
<strong>und</strong> Spiesen/Saarland errichtet worden.<br />
Als mögliche Standorte für die 6. Siedlung kamen<br />
Köln, Düsseldorf <strong>und</strong> Wuppertal in die engere<br />
Wahl. Dank des Einsatzes des damaligen<br />
SPD-Stadtverordneten <strong>und</strong> Landesvorsitzenden<br />
des B<strong>und</strong>es der Verfolgten des Naziregimes<br />
Karl Ibach (1915–1990) <strong>und</strong> der Unterstützung,<br />
die er hierbei durch den Oberbürgermeister<br />
Hermann Herberts <strong>und</strong> den Oberstadtdirektor<br />
Werner Stelly erfuhr, erhielt Wuppertal<br />
den Zuschlag.<br />
Pater Pire mit dem ersten im Europadorf Aachen<br />
geborenen Kind (Aus: P. Dominique<br />
Pire: Erinnerungen <strong>und</strong> Gespräche, 1960)<br />
Am 31. Mai 1959 fand auf einem brachen<br />
Baugelände an der Caronstraße, das die Stadt<br />
kostenlos zur Verfügung gestellt hatte, die<br />
feier liche Gr<strong>und</strong>steinlegung statt. Der Platz<br />
war mit den Fahnen westeuropäischer Länder,<br />
Wuppertals <strong>und</strong> Israels geschmückt. Nach<br />
Zeitzeugenberichten sah Wuppertal niemals<br />
zuvor so viel Prominenz wie an diesem Sonntagnachmittag.<br />
Einige Zeitungen bezeichneten<br />
den Festakt sogar als Ereignis von europäischer<br />
Bedeutung. Als Ehrengast empfing Pater<br />
Pire Otto Frank, den Vater Anne Franks, der<br />
bisher alle Einladungen zu Feiern zu Ehren seiner<br />
1945 im KZ Bergen-Belsen ermordeten<br />
<strong>und</strong> durch ihr Tagebuch bekannt gewordenen<br />
Tochter abgelehnt hatte. 4
Feier zur Gr<strong>und</strong>steinlegung; in der Mitte von links: Otto Frank, Pater Pire <strong>und</strong> Bischof Otto Dibelius<br />
(Stadtarchiv Wuppertal)<br />
Ferner begrüßte der Friedensnobelpreisträger<br />
den Ratsvorsitzenden der Evangelischen<br />
Kirche Deutschlands, Bischof Friedrich Karl<br />
Otto Dibelius, den belgischen Premierminister<br />
a. D. Paul van Zeeland, Diplomaten der ausländischen<br />
Vertretungen in Bonn, an ihrer Spitze<br />
den belgischen Botschafter van Gruben <strong>und</strong><br />
den französischen Botschafter Seydoux, den<br />
Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes Dr.<br />
Weitz, den nordrhein-westfälischen Wiederaufbauminister<br />
Erkers, hohe englische <strong>und</strong> belgische<br />
Offiziere der in der B<strong>und</strong>esrepublik stationierten<br />
Truppen, den Leiter der israelischen<br />
Mission in Köln, Botschafter Shinnay, <strong>und</strong> die<br />
Spitzen der Stadt Wuppertal, um nur einige der<br />
anwesenden Prominenten zu nennen. Insgesamt<br />
waren r<strong>und</strong> 5 000 Menschen versammelt,<br />
die der Feierlichkeit, über die die nationale <strong>und</strong><br />
internationale Presse ausführlich berichtete,<br />
beiwohnten.<br />
In seiner Begrüßungsansprache erinnerte<br />
Oberbürgermeister Hermann Herberts an die<br />
„erste organisierte Wohlfahrtsverwaltung“, die<br />
sich unter dem Namen „Elberfelder System“<br />
vor über 100 Jahren in der ganzen Welt einen<br />
Namen gemacht hatte. Wörtlich sagte er: „Wir<br />
sind der Tradition der Wuppertaler Hilfsgemeinschaft<br />
gefolgt, als es hieß, hier ein Europadorf<br />
zu bauen!“<br />
Es folgte die Rede des ehemaligen belgischen<br />
Premierministers Paul van Zeeland, die<br />
er in deutscher <strong>und</strong> französischer Sprache hielt.<br />
Er meinte, man müsse sich schämen, daß, obwohl<br />
der materielle Wohlstand seit dem Zweiten<br />
Weltkrieg wieder erheblich gestiegen sei,<br />
der Leidensweg der Flüchtlinge weiter andauere.<br />
Anne Frank wertete der europäische<br />
Staatsmann als Symbol. In ihrem Sinne halte er<br />
es für erforderlich, „einen Angriff zu führen<br />
gegen jedes Unrecht, das bis an die Grenzen<br />
der Erde besteht. Und endlich gilt es, daß ohne<br />
Aufschub die Menschen unserer Zeit dem<br />
Drama der Flüchtlinge ein Ende setzen, vollständig<br />
<strong>und</strong> endgültig. Erst dann erhalten die<br />
131
Worte Anne Franks Sinn <strong>und</strong> Bestätigung,<br />
nämlich ihr letzter Wunsch, daß die Welt von<br />
neuem Ordnung, Ruhe <strong>und</strong> Frieden kenne.“<br />
Zum Abschluß sprach Pater Pire. Er benutzte<br />
ebenfalls das Bild Anne Franks <strong>und</strong> erinnerte<br />
an die Tagebucheintragung des jungen<br />
Mädchens: „Ich glaube an die angeborene<br />
menschliche Güte“. In diesem Zusammenhang<br />
führte er aus: „Verständigt euch, damit nie wieder<br />
kleine Mädchen ermordet werden, baut<br />
eine brüderliche Welt auf, in der nicht Furcht,<br />
sondern vertrauensvolle Zusammenarbeit die<br />
Lebensbasis darstellt. Kämpfer von gestern,<br />
von beiden Seiten der Fronten, Alliierte <strong>und</strong><br />
Feinde, ihr seid gekommen, um heute gemeinsam<br />
eine symbolische Handlung auszuführen.<br />
Diese Handlung hätte keinen Sinn, wenn sie<br />
ohne Fortsetzung bliebe.“ Der Geistliche richtete<br />
auch einige Worte an Otto Frank, den einzigen<br />
Überlebenden der jüdischen Familie. Er<br />
bezeichnete dessen Anwesenheit als Beispiel<br />
des Vergebens dessen, der am Tode Annes am<br />
meisten gelitten hatte, <strong>und</strong> als redliche Fortsetzung<br />
ihres Lebens.<br />
Anschließend verlasen Studenten der Genter<br />
Hochschule die Urk<strong>und</strong>e für die Gr<strong>und</strong>steinlegung<br />
in Französisch, Holländisch,<br />
Deutsch, Italienisch, Englisch <strong>und</strong> Norwegisch:<br />
„Heute, Sonntag, dem 31. Mai 1959 in<br />
Wuppertal, erhebt sich aus der Erde ein neues<br />
Europadorf unter dem Namen Anne Franks. Es<br />
wurde durch die Hilfe für heimatlose Ausländer<br />
mit Hilfe von Fre<strong>und</strong>en aus ganz Europa<br />
erbaut, um entwurzelten Brüdern wieder ein<br />
Heim, Arbeit <strong>und</strong> Freude zu geben.“<br />
Nach dem Abspielen von Ludwig van Beet -<br />
hovens „Hymne an die Freude“ durch den Uellendahler<br />
Musikverein nahmen Pater Pire, Paul<br />
van Zeeland <strong>und</strong> Otto Frank, umsurrt von den<br />
Kameras des Fernsehens <strong>und</strong> der Wochenschauen<br />
sowie umdrängt von den Reportern<br />
deutscher <strong>und</strong> ausländischer Zeitungen, die<br />
Gr<strong>und</strong>steinlegung vor. Otto Frank hatte in einem<br />
Kästchen eine Handvoll Erde aus dem Konzentrationslager<br />
Bergen-Belsen, in dem seine Tochter<br />
ermordet worden war, mitgebracht, die mit in<br />
den Gr<strong>und</strong>stein eingemauert wurde.<br />
Nach dem Wirbel, den es bei der Gr<strong>und</strong>steinlegung<br />
um die anwesende Prominenz in<br />
132<br />
der Presse gegeben hatte, wurde es still um das<br />
Dorf. Der Baubeginn hatte sich verzögert, weil<br />
der Pächter eines der vorgesehenen Gr<strong>und</strong>stücke<br />
an der Caronstraße eine überhöhte Entschädigung<br />
verlangt hatte. Das Problem umging<br />
die Stadt dadurch, daß sie das von ihr zur<br />
Verfügung gestellte Gr<strong>und</strong>stück durch ein anderes<br />
angrenzendes auf der Hilgershöhe ersetzte.<br />
Der Gr<strong>und</strong>stein war während dieser Zeit<br />
ausgebaut <strong>und</strong> vorübergehend in das Stadtarchiv<br />
gebracht worden.<br />
Mit dem Bau der Häuser, für die der Aachener<br />
Architekt Lambert Ohligschläger die Pläne<br />
entworfen hatte, konnte deshalb bald begonnen<br />
werden, weil der Aufruf zur Gründung dieses<br />
6. Europadorfs eine Welle der Hilfsbereitschaft<br />
in ganz Europa ausgelöst hatte. Pater Pire, der<br />
es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat,<br />
„Brücken von Mensch zu Mensch zu bauen“,<br />
stiftete DM 80.000,–, die Hälfte seines Friedensnobelpreises,<br />
<strong>und</strong> stand damit an der<br />
Spitze der Spender. Weitere Geldsummen gaben<br />
das norwegische Flüchtlingskomitee, die<br />
französischen <strong>und</strong> belgischen Vereinigungen<br />
ehemaliger Widerstandskämpfer, eine Osloer<br />
Zeitung <strong>und</strong> die Stadt München; der Präsident<br />
des Rotary-Clubs von Eupen-Malmedy, Leopold<br />
Roß, überreichte im Auftrag des belgischen<br />
Komitees einen Scheck über 1,5 Millionen<br />
belgische Francs, Studenten der belgischen<br />
Hochschule Gent sammelten einen Betrag von<br />
13.000 belgischen Francs.<br />
Jedoch nicht nur Geld wurde gespendet.<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler der Düsseldorfer<br />
Anne-Frank-Schule wollten 500 Arbeitsst<strong>und</strong>en<br />
zugunsten des Europadorfes leisten <strong>und</strong><br />
der französische Staatschef General Charles de<br />
Gaulle übernahm die Schirmherrschaft über eines<br />
der Häuser.<br />
Der großen Feier der Gr<strong>und</strong>steinlegung<br />
folgte ein schon weniger beachtetes Richtfest,<br />
das am 13. Juni 1960, einen Tag nach Anne<br />
Franks Geburtstag, stattfand. Im Auftrage des<br />
Paters Pire sprach Hans Ernst, der Geschäftsführer<br />
der „Hilfe für heimatlose Ausländer“, zu<br />
dem kleinen Kreis der Gäste. Oberbürgermeister<br />
Hermann Herberts sagte das Wesentlichste<br />
in knapper Form: „Die Menschen errichten zu<br />
wenig Brücken <strong>und</strong> zu viele Mauern, hat Peter
Oberbürgermeister Hermann Herberts bei dem Richtfest (Stadtarchiv Wuppertal)<br />
Pire einmal geklagt. Wenn wir alle nicht zur<br />
Verständigung miteinander kommen, so sind<br />
Katastrophen unvorstellbaren Ausmaßes unvermeidlich.<br />
Deshalb ist es unsere Pflicht, die<br />
Mauern zwischen den Menschen einzureißen<br />
<strong>und</strong> Brücken zu schlagen, die in eine friedliche<br />
Zukunft führen“.<br />
Am 30. März 1961 zogen ohne Fahnen, Reden<br />
<strong>und</strong> Musik Hieronym <strong>und</strong> Verenia Orlowski<br />
mit ihrem kleinen Sohn Jerome als erste<br />
Familie in das Anne-Frank-Dorf ein. Sie<br />
stammte aus Graudenz, er aus Salonimes in<br />
Frankreich. Hieronym Orlowski fand sofort<br />
Arbeit als Maschinenführer in einem Wuppertaler<br />
Werk. Die feste Anstellung war Voraussetzung<br />
für die Aufnahme in das Anne-Frank-<br />
Dorf.<br />
In der Folgezeit wurden alle 20 geplanten<br />
Häuser fertiggestellt <strong>und</strong> bezogen. Für die Gestaltung<br />
des in der Mitte gelegenen Hofes als<br />
Spielplatz fehlte zunächst das Geld. Dies nahm<br />
die deutsche Boxerjugend, die im Mai 1961 in<br />
Wuppertal ihre deutschen Juniorenmeisterschaften<br />
durchführte, zum Anlaß, den Kindern<br />
aus dem Erlös der Boxveranstaltung ein großes<br />
Schaukel- <strong>und</strong> Klettergerät zu schenken.<br />
Kurze Zeit später wurde zum letzten Mal in<br />
der Presse von einer großen Stiftung berichtet.<br />
Am 30. Mai 1961 überreichte die Präsidentin<br />
der weltweiten Frauenorganisation „Zonta International“,<br />
Misses Ellen Harris, der deutschen<br />
Vorsitzenden der „Hilfe für heimatlose<br />
Ausländer“, Frau Barbara von Wussow,<br />
während eines kleinen Festaktes in der Anne-<br />
Frank-Siedlung einen Scheck über 13.755<br />
Dollar. Damit hatte diese Organisation insgesamt<br />
40.000 Dollar aufgebracht, um den Bau<br />
der neuen Heimat für heimatlose Ausländer zu<br />
ermöglichen.<br />
Der Anne-Frank-Hof besteht aus 20 Häusern,<br />
die in 5 Gruppen ein Viereck bilden mit<br />
dem Kinderspielplatz in der Mitte. Es handelt<br />
133
sich um drei verschiedene Haustypen mit<br />
Wohnflächen zwischen rd. 66 m 2 <strong>und</strong> 107m 2 .<br />
Die Häuser sind wegen der hohen Kanalsohle<br />
nicht unterkellert worden. Für das Flachdach<br />
hatte der Architekt eine Holzkonstruktion <strong>und</strong><br />
Wellasbestzementplatten gewählt. Alle Wohnungen<br />
verfügten über elektrische Beleuchtung,<br />
Gas- <strong>und</strong> Wasseranschluß sowie zwei<br />
Kohleöfen. Die Miete betrug anfangs DM 75,–<br />
im Monat.<br />
In den ersten Jahren nach dem Bezug des<br />
Anne-Frank-Hofs, der diesen Namen offiziell<br />
durch Ratsbeschluß am 26. November 1960 erhielt,<br />
bemühten sich Behörden <strong>und</strong> caritative<br />
Einrichtungen um die Integration der auslän -<br />
dischen Mitbürger. Die Fürsorgerin Sibylle<br />
Schindler half bei Behördengängen zum Arbeitsamt<br />
oder in die Schulen. Mit Studenten organisierte<br />
sie Sprachunterricht. Gertrud Nowotny<br />
<strong>und</strong> andere katholische Gemeindeschwestern<br />
arrangierten Sommerfeste für die<br />
Kinder, sammelten Kleidungsstücke <strong>und</strong><br />
Spiele für Weihnachtsbescherungen. Verständigungsprobleme<br />
erschwerten das Zusammenleben<br />
von Polen, Tschechoslowaken, Jugoslawen,<br />
Litauern <strong>und</strong> Ungarn. Zu Veranstaltungen<br />
aller Bewohner der Siedlung kam es daher selten.<br />
Kontakte zu den Wuppertalern ergaben<br />
sich über den Arbeitsplatz, die Schule <strong>und</strong> den<br />
Kindergarten.<br />
Das schnelle Nachlassen des öffentlichen<br />
Interesses am Europadorf „Anne-Frank-Hof“<br />
steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu<br />
dem weit über die Stadt- <strong>und</strong> Landgrenzen hinausreichenden<br />
Aufsehen, das noch bei der<br />
Gr<strong>und</strong>steinlegung geherrscht hat. Dies liegt sicherlich<br />
mit daran, daß nach Pater Pires Tod im<br />
Jahre 1969 keine andere Persönlichkeit mit<br />
ähnlich großer Ausstrahlung <strong>und</strong> Überzeugungskraft<br />
an die Spitze der Europadorf-Bewegung<br />
getreten ist. Ein anderer Gr<strong>und</strong> ist aber<br />
auch in der Randlage des „Anne-Frank-Hofs“<br />
zu sehen, in einem Viertel, das seit einem Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
im Bewußtsein der Bevölkerung als<br />
„Getto des Elends“ gilt. Die vermutlich aus finanziellen<br />
Gründen getroffene Entscheidung<br />
der Stadt Wuppertal, für das 6. Europadorf ein<br />
Gr<strong>und</strong>stück auf der Hilgershöhe kostenlos zur<br />
134<br />
Verfügung zu stellen, ist nachvollziehbar, sie<br />
hat jedoch die Möglichkeit verbaut, den<br />
„Anne-Frank-Hof“ zu einem wirklichen Vorbild<br />
für Ausländerintegration zu machen.<br />
Heute ist das Europadorf völlig in Vergessenheit<br />
geraten. Nur noch Inschrifttafeln („The residents<br />
of this village thank Zonta International“<br />
<strong>und</strong> „Built by the help of Irish friends“) erinnern<br />
an die internationale Hilfe für diese<br />
Ausländersiedlung, deren Benennung nach<br />
Anne Frank von den Initiatoren seinerzeit<br />
durchaus auch als Programm verstanden worden<br />
ist.<br />
Anmerkungen<br />
1 Vgl. Uwe Eckardt: Getto des Elends. Vom Klingholzberg<br />
zur Hilgershöhe, in: Bergische Blätter<br />
19, 1996, Nr. 24, S. 8–10.<br />
2 Diesem Aufsatz liegt Gudrun Eckardts Beitrag<br />
zum „Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte<br />
um den Preis des B<strong>und</strong>espräsidenten“, der<br />
1988/89 unter dem Thema „Unser Ort – Heimat<br />
für Fremde?“ gestanden hat, zugr<strong>und</strong>e. Die genannten<br />
Quellen befinden sich alle im Stadtarchiv.<br />
Die Berichterstattung der lokalen <strong>und</strong> überregionalen<br />
Presse über die Gr<strong>und</strong>steinlegung <strong>und</strong><br />
die Einweihung des Anne Frank-Hofes ist dort<br />
im Bestand „Presse- <strong>und</strong> Werbeamt“ unter der<br />
Signatur 306–83 zusammengestellt. – Vgl. auch<br />
Tina Siekmann: Entwurzelte fanden eine neue<br />
Heimat. Vor 30 Jahren wurde der Anne-Frank-<br />
Hof gegründet, in: Barmen-Ost aktuell (Heckinghausen,<br />
Langerfeld, Beyenburg) Nr. 78 vom<br />
25.9.1991.<br />
3 Vgl. auch P. Dominique Pire. Erinnerungen <strong>und</strong><br />
Gespräche. Aufgezeichnet von H. Vehenne, Einsiedeln/Zürich/Köln:<br />
Benziger, 1960.<br />
4 Vgl. Das Tagebuch der Anne Frank. 14. Juni<br />
1942 – 1. August 1944, Frankfurt a.M. u.a.: Fischer<br />
Verlag, 1955 (=Fischer Taschenbücher 77)<br />
<strong>und</strong> Die Tagebücher der Anne Frank. Niederländisches<br />
Staatliches Institut für Kriegsdokumentation.<br />
Einf. von Harry Paape. Mit einer Zusammenfassung<br />
des Berichts des Gerechtelijk Laboratorius<br />
„Gerichtslaboratorium des Justizministeriums“,<br />
verf. von H. J. J. Hardy. Ed. Gestaltung<br />
der Tagebuchtexte David Barnouw <strong>und</strong> Gerrold<br />
van der Stroos, Frankfurt a. M.: S. Fischer,<br />
2. Aufl. 1993.
Hans Joachim de Bruyn-Ouboter<br />
„Neue Schwebebahn“: Der Stand Ende August 1999<br />
Bekanntlich hat sich der Bergische Geschichtsverein,<br />
Abteilung Wuppertal seit<br />
Herbst 1995 als erster dafür eingesetzt, den<br />
Schwebebahnausbau deutlich zu modi fi zie -<br />
ren. 1 Der einstimmige Beschluß des Rates der<br />
Stadt Wuppertal vom 2. Juni 1997 erfüllte die<br />
Forderungen des BGV, die aufgr<strong>und</strong> des noch<br />
Erreichbaren gestellt waren. Danach ging <strong>und</strong><br />
geht es darum, die einzelnen Ziele des Beschlusses<br />
zu realisieren. Sehr wichtig für die<br />
Durchsetzung ist die im April 1998 geschlossene,<br />
sehr gut harmonierende Vierer-Allianz<br />
aus BGV-Wuppertal, Bürgerinitiative zur Unterschutzstellung<br />
der Schwebebahn (Prof.<br />
Klaus Goebel, Dr. Michael Metschies, Detlef<br />
Schmitz u.a.), Rheinischem Verein für Denkmalpflege<br />
<strong>und</strong> Landschaftsschutz, Ortsgruppe<br />
Wuppertal (Vorsitzende: Dr. M. Metschies <strong>und</strong><br />
Prof. K. Goebel; Vertreter des Vereins in der<br />
städtischen Denkmalpflegekommission: D.<br />
Schmitz) <strong>und</strong> den Bergischen Museumsbahnen<br />
e.V. (Vorsitzender: Michael Schumann). Alle<br />
genannten Personen sind zudem langjährige<br />
Mitglieder des Bergischen Geschichtsvereins.<br />
,R<strong>und</strong>er Tisch Schwebebahn‘<br />
Der vom BGV-Wuppertal initiierte ,R<strong>und</strong>e<br />
Tisch Schwebebahn‘ konnte von den Wuppertaler<br />
Stadtwerken einberufen werden, nachdem<br />
seit dem 4. August 1998 die Finanzierung der<br />
Rekonstruktion von drei weiteren Stationen<br />
(ein Teil des Ratsbeschlusses) durch Verhandlungen<br />
der WSW <strong>und</strong> des Oberbürgermeisters<br />
Dr. H. Kremendahl mit der Landesregierung<br />
gesichert war. Teilnehmer des ,R<strong>und</strong>en Ti -<br />
sches‘ waren neben den Vertretern der WSW<br />
der Oberbürgermeister <strong>und</strong> Vertreter der Stadtverwaltung,<br />
Bürgermeister H.J. Richter, Vertreter<br />
der drei Ratsfraktionen, Vertreter der<br />
Vierer-Allianz <strong>und</strong> des Stadtverbandes der<br />
Wuppertaler Bürgervereine sowie der Bürger-<br />
vereine Unterbarmen <strong>und</strong> Bendahl (in deren<br />
Stadtvierteln liegen die Stationen Landgericht<br />
<strong>und</strong> Völklinger Straße).<br />
Der ,R<strong>und</strong>e Tisch‘ tagte bisher am 13. August,<br />
22. Oktober <strong>und</strong> 27. November 1998. Dabei<br />
wurden in großer Einmütigkeit die Punkte<br />
geklärt, die vom Zeitplan des Schwebebahnausbaus<br />
her entschieden werden konnten <strong>und</strong><br />
mußten. Der ,R<strong>und</strong>e Tisch‘ wird wieder zusammentreten<br />
(möglicherweise im Herbst,<br />
nach der Konstituierung des am 12. September<br />
neugewählten Stadtrates), sobald Entscheidungsbedarf<br />
besteht. Dieser wird nicht zuletzt<br />
dadurch hinausgeschoben, weil der Schwebebahnausbau<br />
durch das tragische Unglück vom<br />
12. April 1999 sehr stark verzögert wurde.<br />
Was ist seit 1998 erreicht, <strong>und</strong> was muß<br />
noch erreicht werden?<br />
Rekonstruktion von Werther Brücke, Landgericht,<br />
Völklinger Straße <strong>und</strong> Ber liner<br />
Platz<br />
Am 2. Juni 1997 wurde festgelegt, daß neben<br />
der Wagenhalle Oberbarmen <strong>und</strong> der bereits<br />
seit längerem denkmalgeschützten Station<br />
Werther Brücke drei Haltestellen, darunter<br />
Landgericht <strong>und</strong> Völklinger Straße, rekonstruiert<br />
werden sollen. Nach genauen Prüfungen<br />
beschloß der ,R<strong>und</strong>e Tisch‘ am 27. November,<br />
daß die dritte Station der „Berliner Platz“ sein<br />
wird. Keine ganz ideale Lösung, aber per<br />
Sachzwang geboten. Die Vorteile habe ich im<br />
Bericht von 1998 aufgeführt. Unter anderem<br />
entsteht hier ein Ensemble von Wagenhalle<br />
<strong>und</strong> Station.<br />
Inzwischen steht auch fest, daß bei den Rekonstruktionen<br />
der Stationen noch mehr Originalsubstanz<br />
erhalten bleiben kann, als eh<br />
schon zu erwarten war. Es werden sogar, zumindest<br />
bei der „Werther Brücke“, erhebliche<br />
Prozentsätze der tragenden Teile der Stationen<br />
135
wiederverwandt werden können. Dies zeigt erneut,<br />
wie richtig es war, Rekonstruktionen anzustreben,<br />
da diese überdies, ganz im Sinne der<br />
Denkmalpflege, viel Originalsubstanz aufweisen<br />
werden. Vorwürfe wie „Walt Disney Land-<br />
Rekonstruktionen“ <strong>und</strong> „Mickey Mouse-Stationen“<br />
werden damit noch absurder.<br />
Es besteht auch Aussicht, im Fahrgerüst der<br />
Schwebebahn mit entsprechendem Aufwand,<br />
sprich mit einer Hilfskonstruktion, eine Original-Stütze<br />
zu erhalten.<br />
Nahverkehrs-Museum <strong>und</strong> „Regionale 2006“<br />
Die Einrichtung eines Schwebebahn-Museums<br />
ist eine Forderung, die der BGV-Wuppertal<br />
seit Beginn der Diskussion um den<br />
Schwebebahnausbau erhoben hat. Unter den<br />
Teilnehmern des ,R<strong>und</strong>en Tisches‘ bestand Einigkeit<br />
darüber, daß das im Ratsbeschluß vom<br />
2. Juni 1997 verlangte Schwebebahn-Museum,<br />
mit der Station Varresbecker Straße als Kern,<br />
unbedingt anzustreben ist, möglichst als Teil<br />
eines (Nah-) Verkehrs-Museums, das u.a. das<br />
Museum <strong>und</strong> den Fahrbetrieb der Bergischen<br />
Museumsbahnen mit einbindet. 2<br />
Das Problem ist weniger der auszuwählende<br />
Standort als die Finanzierung. Für das<br />
Schwebebahn- bzw. Nahverkehrs-Museum<br />
muß also noch gekämpft werden. Sehr förderlich<br />
ist es, daß Wuppertal am 12. Mai 1999<br />
(Bekanntgabe des Ergebnisses) zusammen mit<br />
Remscheid <strong>und</strong> Solingen den Sieg im Kampf<br />
um die „Regionale 2006“ errungen hat. Das<br />
bedeutet, daß das Land den drei Städten große<br />
zusätzliche Zuschüsse für solche Projekte leisten<br />
wird, die in den Rahmen der gemeinsamen<br />
Konzeption passen. Gesamtziel der Regionale-Konzeption<br />
des Landes ist es, einer<br />
Region zu einem Schub nach vorne zu verhelfen.<br />
Dies betrifft die Gebiete Städtebau, Natur,<br />
Freizeit, Kultur, Wirtschaft <strong>und</strong> Verkehr.<br />
Ein wichtiges Vorbild für die konkrete Gestaltung<br />
der Bergischen „Regionale 2006“ ist<br />
die „Internationale Bauausstellung Emscher<br />
Park“, die 1999 ihr „Finale“ feiert. Gerade an<br />
136<br />
den Projekten, die im Rahmen der „IBA Emscher<br />
Park“ entstanden, kann man sehen, welche<br />
Defizite unsere Region hat <strong>und</strong> wie sehr es<br />
Not tut, daß auch Wuppertal, das „Rheinische<br />
Mauerblümchen“, die „Stadt im Ruhrgebiet<br />
bei Düsseldorf“, endlich offensiv handelt, endlich<br />
energisch <strong>und</strong> klug seinen „Aufbruch ins<br />
21. Jahrh<strong>und</strong>ert“ in Gang setzt. Nicht ohne<br />
Gr<strong>und</strong> wohnen heute auf dem Gebiet der Stadt<br />
Wuppertal weniger Menschen als im Jahre<br />
1905, <strong>und</strong> nicht ohne Gr<strong>und</strong> verloren wir allein<br />
im Jahre 1998 die erschreckend hohe Zahl von<br />
4.670 Einwohnern.<br />
Ein entsprechend attraktiv konzipiertes<br />
Nahverkehrs-Museum wäre ein Publikumsmagnet<br />
<strong>und</strong> würde erheblich zu einem neuen, einem<br />
positiven Stadtprofil der „Metropole des<br />
Bergischen Landes“ beitragen.<br />
Jetzt, im Spätsommer, ist die Kommunalpolitik<br />
nicht nur durch den Kommunalwahlkampf<br />
geb<strong>und</strong>en. Darüberhinaus fesselt auch<br />
der Kampf um die Realisierung des „Neuen<br />
Döppersbergs“ sehr viel Aufmerksamkeit <strong>und</strong><br />
Energie. Wenn dieses für Wuppertal enorm<br />
wichtige Projekt Ende des Jahres hoffentlich in<br />
die gern zitierten „trockenen Tücher“ gebracht<br />
ist <strong>und</strong> der neue Stadtrat sich etabliert hat,<br />
dann werden wohl auch Zeit <strong>und</strong> planende Energien<br />
frei für andere wichtige Projekte der<br />
„Regionale 2006“ <strong>und</strong> des Wuppertaler (<strong>und</strong><br />
bergischen) „Aufbruchs ins 21. Jahrh<strong>und</strong>ert“.<br />
Anmerkungen<br />
1 Vgl. zu Diskussion <strong>und</strong> Stand der Dinge bis August<br />
1998: H. J. de Bruyn-Ouboter: Gerettet, was<br />
noch zu retten war: Die „Neue Schwebebahn“.<br />
In: Geschichte im Wuppertal. 6. Jg, 1997.<br />
S. 94–104. de Bruyn-Ouboter: „Neue Schwebebahn“:<br />
Der Ratsbeschluß vom 2. Juni 1997 wird<br />
ausgeführt. In: Geschichte im Wuppertal. 7. Jg,<br />
1998. S. 94–99.<br />
2 Zu den Gründen für ein solches Museum vgl. de<br />
Bruyn-Ouboter: „Neue Schwebebahn“: Der<br />
Rats beschluß vom 2. Juni 1997 wird ausgeführt.<br />
S. 98.
Peter Elsner<br />
Jubiläen <strong>und</strong> Gedenktage 2000<br />
■ 1750<br />
16. Mai<br />
Ellias Eller, der Gründer von Ronsdorf, stirbt<br />
im Alter von fast 6o Jahren in Ronsdorf. Wegen<br />
unüberbrückbarer Differenzen mit der Reformierten<br />
Gemeinde Elberfeld verlassen Eller<br />
<strong>und</strong> seine Glaubensanhänger 1737 Elberfeld<br />
<strong>und</strong> siedeln sich in Ronsdorf an. Von 1747 bis<br />
zu seinem Tod war Eller Bürgermeister in<br />
Ronsdorf. Er übte dieses Amt „diktatorisch“<br />
aus, sorgte aber dafür , daß die Stadt in dieser<br />
Zeit einen großen wirtschaftlichen Aufschwung<br />
erlebte.<br />
6. Juli<br />
Der Fabrikant Johann Gottfried Brügelmann<br />
wird in Elberfeld geboren. Er gründet 1783 in<br />
Ratingen die erste mechanische Spinnerei auf<br />
dem europäischen Festland. Diese Fabrik, die<br />
er „Cromford“ nannte, ist heute eine Außenstelle<br />
des Rheinischen Industriemuseums. Brügelmann<br />
starb 1803 in Ratingen<br />
■ 1775<br />
5. Januar<br />
Gründung der „Ersten Lesegesellschaft“ in Elberfeld.<br />
Ihre oberste Zielsetzung war eine<br />
„Veredlung des Menschen durch Vermehrung<br />
seiner Kenntnisse <strong>und</strong> Verfeinerung seiner Sitten“.<br />
Die hohe Aufnahmegebühr (100 Reichs -<br />
taler) <strong>und</strong> ein Darlehen in Höhe von 250<br />
Reichs talern, das jedes Mitglied dem Verein<br />
zur Verfügung stellen mußte, führten dazu, daß<br />
fast nur wohlhabende Kaufleute <strong>und</strong> Unternehmer<br />
Mitglieder der Lesegesellschaft werden<br />
konnten. Mit den Einnahmen wurden eine<br />
großzügig ausgestattete Bibliothek sowie regelmäßig<br />
stattfindende wissenschaftliche<br />
Fach vorträge finanziert.<br />
13. August<br />
Johann Rütger Brüning, der erste Elberfelder<br />
Oberbürgermeister, wird in Elberfeld geboren;<br />
seine Amtszeit dauerte von 1814 bis zu seinem<br />
Tod 1837. Er war einer der ersten Politiker, der<br />
eine Vereinigung der Wupperstädte anregte.<br />
Während seiner Amtszeit widmete sich Brüning<br />
besonders dem Ausbau des Straßennetzes<br />
<strong>und</strong> der Verbesserung des Schul- <strong>und</strong> Armenwesens.<br />
Bekannt sind auch die Brüning’schen<br />
Annalen (1818–1839). Hierbei handelt es sich<br />
um jährlich herausgegebene Stadtchroniken,<br />
die auf Gr<strong>und</strong> ihrer ausführlichen <strong>und</strong> detaillierten<br />
Angaben hervorragende Quellen für die<br />
Stadtgeschichtsforschung sind.<br />
■ 1800<br />
8. April<br />
Johann Peter Friedrich Birker wird auf Hof<br />
Sporkert bei Ronsdorf geboren. Er konstruierte<br />
eine Kartenschlagmaschine für Jacquardkarten.<br />
Mit dieser Erfindung konnte das Weben<br />
von Mustern weitgehend mechanisch durchgeführt<br />
werden. Durch solche Musterkarten<br />
wurde die Qualität der Webereiprodukte erhöht,<br />
zum anderen hatten die Webstühle weniger<br />
Stillstand. Patentschutz gab es zu dieser<br />
Zeit noch nicht <strong>und</strong> so ist der Name des Erfinders<br />
fast vollständig in Vergessenheit geraten.<br />
Birker starb 1862 in Ronsdorf.<br />
6. August<br />
In Beyenburg wird Martin Wilhelm von Mandt,<br />
der Leibarzt des russischen Zaren Nikolaus I.,<br />
geboren. Als Arzt arbeitete er auf mehreren medizinischen<br />
Fachgebieten, sein Schwerpunkt<br />
war jedoch die Chirurgie. Im Jahr 1835 siedelte<br />
er als Leibarzt der russischen Großfürstin<br />
Helene nach St. Petersburg über, 1840 wurde er<br />
schließlich zum Leibarzt von Zar Nikolaus I.<br />
berufen. Anfangs bereitete man ihm in Rußland<br />
137
einige Schwierigkeiten, die meist fortschrittlicheren<br />
Behandlungsmethoden aus dem Westen<br />
beim Kaiserpaar anzuwenden. Vom Zaren geadelt<br />
zog von Mandt nach dessen Tod (1855)<br />
nach Frankfurt/Oder, wo er 1858 starb.<br />
■ 1825<br />
22. März<br />
Johann Jakob Aders, Kaufmann <strong>und</strong> Kommunalpolitiker,<br />
stirbt im Alter von 56 Jahren in Elberfeld.<br />
Er hat sich um das Allgemeinwohl seiner<br />
Vaterstadt sehr verdient gemacht. So begründete<br />
er u.a. die „Allgemeine Armenanstalt“,<br />
eine Vorform des Elberfelder Systems<br />
<strong>und</strong> rief den „Elberfelder Kornverein“ ins Leben,<br />
der 1816/17 mit Spenden der wohlhabenden<br />
Bürger eine Hungersnot unter den Armen<br />
verhinderte. Aders war auch maßgeblich an<br />
der Gründung der „Rheinisch-Westindischen<br />
Kompagnie“, einer der ersten Aktiengesellschaften,<br />
beteiligt.<br />
1. April<br />
Gründung des Frauenvereins der ev. Kirchengemeinde<br />
Wichlinghausen. Die Frauen verteilten<br />
selbstangefertigte Bettwäsche, Bekleidungsstücke<br />
<strong>und</strong> Strümpfe an Arme <strong>und</strong> Notleidende<br />
in der Gemeinde.<br />
6. Juni<br />
Friedrich Bayer sen. wird in Barmen geboren.<br />
Zusammen mit seinem Fre<strong>und</strong> Friedrich Westkott<br />
gründete er 1863 in Oberbarmen die „Fa.<br />
Friedrich Bayer & Co.“, in der anfangs<br />
hauptsächlich Farbstoffe für die Textilindustrie<br />
hergestellt wurden. Schon sehr bald wurde die<br />
Produktionsstätte zu klein <strong>und</strong> 1866 errichtete<br />
man in Elberfeld ein neues Werk. Als Bayer<br />
1880 starb, hatte seine Firma rd. 400 Mitarbeiter<br />
<strong>und</strong> das Verkaufsnetz erstreckte sich über<br />
alle Textilzentren der Welt; damit war der<br />
Gr<strong>und</strong>stein für den heutigen Weltkonzern gelegt.<br />
11. Juli<br />
Eröffnung der Barmer Missionsschule. Bis zur<br />
Fertigstellung eines eigenen Missionshauses<br />
138<br />
„Am Loh“ in Unterbarmen (1832) wurden die<br />
zukünftigen Missionare in einem angemieteten<br />
Haus in der Diekerstraße unterrichtet.<br />
■ 1850<br />
Gründung der Fa. Fre<strong>und</strong> Gartengeräte GmbH.<br />
23. Januar<br />
Der Philosoph <strong>und</strong> Psychologe Hermann Ebbinghaus<br />
wird in Barmen geboren. Er war ein<br />
Pionier auf dem Gebiet der experimentellen<br />
Psychologie, u.a. entwickelte er Meßmethoden<br />
für Gedächtnisleistungen. Ein von ihm ausgearbeiteter<br />
Intelligenztest für Kinder, der sogenannte<br />
Ergänzungstest, wird in abgewandelter<br />
Form noch heute angewandt. Ebbinghaus, der<br />
in Berlin, Breslau <strong>und</strong> Halle lehrte, starb 1909<br />
in Halle.<br />
1. April<br />
Bernhard August Thiel, Bischof von Costa<br />
Rica, wird in Elberfeld geboren. Nach seiner<br />
Priesterweihe arbeitete er als Missionar <strong>und</strong><br />
Professor der Theologie in Südamerika (Ecuador,<br />
Costa Rica). Bereits mit dreißig Jahren<br />
wurde er zum Bischof von San José ernannt.<br />
Neben seiner seelsorgerischen Tätigkeit engagierte<br />
er sich besonders bei der Priesterausbildung<br />
<strong>und</strong> bei der Aufarbeitung der Landes- <strong>und</strong><br />
Kirchengeschichte. Thiel starb 1901 in San<br />
José.<br />
15. Mai<br />
Einweihung der zweiten lutherischen Kirche,<br />
der „Kreuzkirche“ in der Elberfelder Friedrichstraße.<br />
Sie gehörte zu den wenigen Gotteshäusern,<br />
die die Bombardierung im Zweiten Weltkrieg<br />
ohne größeren Schaden überstanden haben.<br />
19. Juli<br />
In Elberfeld wird der Stenograph Ferdinand<br />
Schrey geboren. Er war ein engagierter Verfechter<br />
der Stenographie <strong>und</strong> ständig darum<br />
bemüht, eine weitere Vereinfachung <strong>und</strong> Vereinheitlichung<br />
der Kurzschrift durchzusetzen.<br />
Seine Überlegungen <strong>und</strong> Thesen veröffent-
lichte er 1888 in dem „Lehrbuch der vereinfachten<br />
deutschen Stenographie“. Im Jahr 1897<br />
gab er zusammen mit Stolze einen Schriftenentwurf<br />
für die deutsche Kurzschrift heraus.<br />
Nach diesem sogenannten Stolze-Schrey-System<br />
wurde lange Zeit in den Stenographenschulen<br />
unterrichtet. Schrey, der sich auch<br />
nachdrücklich für die Verwendung von<br />
Schreibmaschinen in Büros einsetzte, starb<br />
1938 in Berlin.<br />
14. September<br />
Einrichtung der „Königlichen Direktion der<br />
Bergisch-Märkischen Eisenbahn“ in Elberfeld,<br />
der ersten Eisenbahndirektion Deutschlands.<br />
Die Bergisch-Märkische-Eisenbahn wurde damit<br />
eine öffentliche Behörde <strong>und</strong> stand von<br />
nun an unter staatlicher Aufsicht.<br />
■ 1875<br />
Gründung der Freiwilligen Feuerwehr Langerfeld.<br />
Eröffnung eines städtischen Krankenhauses in<br />
Ronsdorf, das anfangs über 10 Krankenbetten<br />
verfügte. Nach der Schließung des Krankenhauses<br />
1978 wurde in dem Gebäude ein Heim-<br />
Dialyse-Zentrum untergebracht.<br />
12. Januar<br />
In seiner Heimatstadt Elberfeld stirbt im Alter<br />
von 56 Jahren der Maler Richard Seel. Viele<br />
seiner Bilder sind im Stil damaliger Historienmalerei<br />
entstanden <strong>und</strong> erinnern an niederländische<br />
Maler; sehr bedeutend waren seine Porträtgemälde.<br />
Während seiner Berliner Zeit<br />
(1840–1842) entwarf er zahlreiche politischsatirische<br />
Karikaturen <strong>und</strong> wurde mit der Figur<br />
des „Deutschen Michel“bekannt.<br />
5. März<br />
Der evangelische Theologe Hermann Friedrich<br />
Kohlbrügge stirbt in Elberfeld. Geboren 1803<br />
in Amsterdam kritisierte er in seinen Predigten<br />
wiederholt die Lehren der Reformierten Kirche.<br />
Auf Gr<strong>und</strong> seiner Kritik wurde er in seinem<br />
Heimatland aus dem Kirchendienst ent-<br />
lassen <strong>und</strong> erhielt Predigtverbot. Im Jahr 1847<br />
gründete er zusammen mit Daniel von der<br />
Heydt die „niederländisch-reformierte Gemeinde<br />
Elberfeld“. Als Pastor dieser Gemeinde<br />
konnte Kohlbrügge weiterhin nach den alten<br />
Rechten <strong>und</strong> Ordnungen der reformierten Kirche<br />
praktizieren.<br />
1. April<br />
Eröffnung des ersten städtischen Altenheimes<br />
in Ronsdorf, das anfangs sechs Heimplätze<br />
hatte <strong>und</strong> dem Krankenhaus angegliedert war.<br />
Im Jahr 1921 erwarb man „An der Blutfinke“<br />
ein eigenes Gebäude.<br />
1. Mai<br />
Eröffnung des Bestattungsunternehmens Otto<br />
Kirschbaum.<br />
Gründung der Fa. Gustav Schmidt, sanitäre<br />
Anlagen.<br />
3. Juli<br />
Ernst Ferdinand Sauerbruch wird in Barmen<br />
geboren. Der Arzt, der von 1927 bis 1949 die<br />
Chirurgische Klinik der Charité in Berlin geleitet<br />
hat, war einer der bedeutendsten Chirurgen<br />
seiner Zeit. Er erarbeitete zahlreiche Operationsverfahren<br />
in Unterdruckkammern, durch<br />
die chirurgische Eingriffe im Thoraxbereich<br />
deutlich verbessert werden konnten. Sauerbruch,<br />
der auch Prothesen entwickelte, starb<br />
1951 in Berlin.<br />
1. August<br />
Gründung der Kistenfabrik Eigenbrodt.<br />
15. November<br />
In Kapellen bei Geldern wird die Schriftstellerin<br />
Henriette Brey geboren, die viele Jahre ihres<br />
Lebens in Wuppertal verbrachte. Krankheiten<br />
in jungen Jahren hinderten sie daran, ihr<br />
Studium zu beenden <strong>und</strong> den angestrebten<br />
Lehrerberuf zu ergreifen, so daß sie sich ganz<br />
der Schriftstellerei widmete. Ihr zahlreichen<br />
Werke (Romane, Erzählungen, Novellen) sind<br />
nicht nur von ihrer positiven Einstellung zum<br />
katholischen Glauben geprägt, sondern sie<br />
zeichnen sich auch durch (wissenschaftlich)<br />
139
f<strong>und</strong>ierte Recherchen aus. Brey starb 1953 in<br />
Ramersdorf bei Bonn.<br />
■ 1900<br />
Gründung der Kalkwerke Oetelshofen.<br />
Gründung der Ortsgruppe Elberfeld des Guttempler-Ordens.<br />
Gründung des Imkervereins Vohwinkel.<br />
11. Januar<br />
Im Elberfelder Hotel „Monopol“ findet der erste<br />
deutsche Schwimmertag statt.<br />
18. Januar<br />
Am Jahrestag der Kaiserproklamation von Versailles<br />
(1871) wird vor dem Barmer Rathaus<br />
ein Bismarck-Denkmal enthüllt. Wegen des<br />
Rathausneubaus wurde das Denkmal im<br />
Herbst 1921 neben die Ruhmeshalle, auf den<br />
heutigen Geschwister-Scholl-Platz, versetzt.<br />
15. Februar<br />
Inbetriebnahme des Elektrizitätswerkes in der<br />
Kabelstraße. Diese Wechselstromanlage versorgte<br />
nicht nur die Stadt Elberfeld mit Licht<strong>und</strong><br />
Kraftstrom, sondern sie lieferte auch<br />
Strom für die Straßen- <strong>und</strong> die Schwebebahn.<br />
17. Februar<br />
Offizielle Einweihung des neuen Gebäudes der<br />
Barmer Gesellschaft „Concordia“ auf dem<br />
Werth.<br />
1. März<br />
Gründung der Schablonenfabrik Driever &<br />
Fülle.<br />
16. März<br />
In Elberfeld wird Werner Eggerath geboren.<br />
Schon in den 20er Jahren war er für die KPD<br />
tätig <strong>und</strong> seit 1933 war er wegen seiner Parteizugehörigkeit<br />
im Widerstand aktiv. Nach 1945<br />
machte er in der DDR politische Karriere, sowohl<br />
in der Partei (KPD, SED) als auch im<br />
Staatsdienst, u.a. war er Ministerpräsident in<br />
140<br />
Thüringen (1947–1952) <strong>und</strong> Staatssekretär für<br />
Kirchenfragen (1957–1960). Neben seiner politischen<br />
Arbeit war Eggerath, der 1977 in Ostberlin<br />
starb, auch Schriftsteller. In seinem (autobiographischen)<br />
Roman „Die Stadt im Tal“<br />
schilderte er den kommunistischen Widerstand<br />
gegen das NS-Regime in Wuppertal.<br />
1. April<br />
Die 1879 in Wülfrath gegründete „Landwirtschaftliche<br />
Schule“ des Kreises Mettmann<br />
wird nach Vohwinkel verlegt.<br />
4. April<br />
In Cronenberg wird Hermann Herberts, Journalist<br />
<strong>und</strong> Politiker, geboren. Da er als junger<br />
Journalist für SPD-<strong>und</strong> USPD-nahe Zeitungen<br />
gearbeitet hat, erhielt er von den Nationalsozialisten<br />
Berufsverbot. Nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg engagierte sich Herberts; er war er<br />
von 1956 bis 1961 <strong>und</strong> von 1964 bis 1969<br />
Oberbürgermeister in Wuppertal <strong>und</strong> von 1964<br />
bis 1969 Mitglied des deutschen B<strong>und</strong>estages.<br />
Bei allem politischen Einsatz <strong>und</strong> Aktivitäten<br />
stand für Herberts immer der Mensch im Mittelpunkt<br />
seines Handelns. Für ihn waren deshalb<br />
auch parteiübergreifende Beschlüsse kein<br />
Makel, sofern sie dem Menschen <strong>und</strong> der Sache<br />
dienten. Der Altoberbürgermeister <strong>und</strong> Ehrenbürger<br />
starb 1995 in Wuppertal.<br />
19. April<br />
Eröffnung der „Preußischen Höheren Fachschule<br />
für Textilindustrie“ in Barmen. Unter<br />
der Bezeichnung „Textilingenieurschule Wuppertal“<br />
bestand die Schule noch bis Anfang der<br />
70er Jahre. Danach wurden die Studienrichtungen<br />
„Textilerzeugung“ <strong>und</strong> „Textilveredlung“<br />
in die Fachhochschule Krefeld, Abt. Mönchen-<br />
Gladbach, überführt <strong>und</strong> der Studiengang<br />
„Drucktechnik“ in den Fachbereich 5 (Design,<br />
Kunst- <strong>und</strong> Musikpädagogik, Druck) der Gesamthochschule<br />
Wuppertal eingegliedert.<br />
1. Mai<br />
Einweihung der Evangelischen Volksschule an<br />
der Thorner Straße. Diese Schule ist Nachfolgerin<br />
der I. Carnaper Schule. Heute ist in dem
Gebäude eine städtische Gr<strong>und</strong>schule untergebracht.<br />
15. Mai<br />
Einweihung der Volksschule Germanenstraße<br />
in Oberbarmen. Die Schule, die ursprünglich<br />
zur Entlastung der Volksschule Kohlgarten gebaut<br />
worden ist, ist heute städtische Gemeinschaftsgr<strong>und</strong>schule.<br />
18. Mai<br />
Der berühmt-berüchtigte Räuberhauptmann<br />
Carl Biebighäuser stirbt im Alter von 57 Jahren<br />
in seiner Heimatstadt Barmen. Er war schon zu<br />
Lebzeiten eine Legende. Seine dreisten Diebestouren<br />
sorgten unter der Bevölkerung immer<br />
wieder für Aufsehen <strong>und</strong> Gesprächsstoff. Einen<br />
großen Teil seiner Beute verteilte er unter<br />
den Armen, was ihm den Beinamen „Bergischer<br />
Schinderhannes“ einbrachte. Die letzten<br />
Lebensjahre verbrachte Biebighäuser als Ge -<br />
müsehändler <strong>und</strong> damit als „ehrbarer“ Bürger<br />
in Barmen.<br />
Juni<br />
Gründung des „Bergischen Turnerb<strong>und</strong>es Beyenburg<br />
1900“. In den ersten Jahren mußten immer<br />
wieder Räumlichkeiten angemietet werden,<br />
meistens Säle von Gaststätten, um den<br />
Turnbetrieb durchführen zu können; die Turngeräte<br />
waren dabei größtenteils selbst gebastelt.<br />
Erst seit 1958 steht dem Verein eine Turnhalle<br />
zur Verfügung.<br />
3. Juni<br />
In Rotenburg/Fulda wird der Unternehmer<br />
Otto Happich geboren. Unter seiner Leitung<br />
entwickelte sich die Happich GmbH, die er<br />
1924 zusammen mit seinem Bruder Ludwig<br />
gegründet hat, zu einem der größten<br />
<strong>und</strong> bedeutendsten Automobilzulieferbetriebe<br />
Deutsch lands, der seine Produkte in über 70<br />
Länder exportiert.<br />
22. Juni<br />
Gründung des St. Joseph-Klosters in Vohwinkel<br />
durch Franziskanerinnen. Die Ordensschwestern<br />
unterhielten eine Kinder-Bewahrschule<br />
<strong>und</strong> waren in der ambulanten Kranken-<br />
pflege tätig. Die Eröffnung einer Handarbeits<strong>und</strong><br />
Hauswirtschaftsschule wurde ihnen von<br />
der Regierung in Düsseldorf mehrmals untersagt.<br />
1965 wurde diese Niederlassung aufgegeben.<br />
1. Juli<br />
Gründung des Reproduktionstechnischen Betriebes<br />
Brockhaus.<br />
6. Juli<br />
Einweihung der Elberfelder Stadthalle auf dem<br />
Johannisberg im Rahmen des „Bergischen Musikfestes“.<br />
Die Stadthalle, die nach Ansicht des<br />
Landeskonservators als Konzerthaus durchaus<br />
in einer Reihe mit dem Gewandhaus in Leipzig<br />
oder der Tonhalle in München zu stellen ist,<br />
verfügte über einen großen Saal mit ca. 2000<br />
Plätzen sowie fünf kleineren Sälen mit zusammen<br />
rd. 1000 Plätzen. Von 1992 bis 1995<br />
wurde die Stadthalle völlig umgebaut <strong>und</strong> saniert;<br />
am 8. Dezember 1995 fand die feierliche<br />
Wiedereröffnung statt.<br />
6.–8. Juli<br />
Durchführung des „Bergischen Musikfestes“<br />
in der neueröffneten Elberfelder Stadthalle.<br />
Zur Aufführung kamen Werke deutscher Komponisten<br />
aus den letzten beiden Jahrh<strong>und</strong>erten.<br />
30. Juli<br />
Suse Bernuth, Malerin <strong>und</strong> Textilgestalterin,<br />
wird in Wesel geboren. Ihre monumentalen<br />
Wandteppiche, die in vielen öffentlichen Gebäuden<br />
<strong>und</strong> Museen zu sehen sind, wurden<br />
nicht nur von der Künstlerin selbst entworfen,<br />
sondern auch eigenständig von ihr hergestellt.<br />
Für ihre im In- <strong>und</strong> Ausland gezeigten Arbeiten<br />
wurde sie u.a. mit dem bayerischen <strong>und</strong> dem<br />
nordrhein-westfälischen Staatspreis ausgezeichnet.<br />
Suse Bernuth, die seit 1958 in Wuppertal<br />
lebte, starb 1977.<br />
3. August<br />
Harald Frowein wird in Elberfeld geboren.<br />
Seine umfangreichen wirtschaftlichen Erfahrungen<br />
<strong>und</strong> Sachkenntnisse setzte er nicht nur<br />
für sein eigenes Unternehmen ein, sondern<br />
durch die Übernahme zahlreicher Ehrenämter<br />
141
profitierten viele wirtschaftliche Bereiche davon.<br />
Als Präsident der Industrie- <strong>und</strong> Handelskammer<br />
Wuppertal (1964–1970) engagierte er<br />
sich besonders für die mittelständische Wirtschaft<br />
im bergischen Raum. Frowein starb<br />
1978.<br />
16. September<br />
Gründungsversammlung der „Freiwilligen<br />
Feuer- <strong>und</strong> Wasserwehr Beyenburg“. Dank<br />
großzügiger finanzieller Unterstützung durch<br />
die Gemeinde Lüttringhausen <strong>und</strong> privater<br />
Gönner war die Wehr von Anfang an mit dem<br />
notwendigen Gerät ausgestattet.<br />
24. Oktober<br />
Kaiser Wilhelm II. <strong>und</strong> Kaiserin Augusta Victoria<br />
besuchen das Wuppertal. Anläßlich dieses<br />
Besuches kommt es zur Einweihung der Barmer<br />
Ruhmeshalle <strong>und</strong> des neuen Elberfelder<br />
Rathauses. Das Kaiserpaar nimmt auch an einer<br />
Probefahrt mit der Schwebebahn vom Döppersberg<br />
bis Vohwinkel teil.<br />
10. November<br />
Einweihung der katholischen Volksschule für<br />
Knaben in der Wiesenstraße in Elberfeld.<br />
Heute wird das Gebäude von der Volkshochschule<br />
genutzt.<br />
14. November<br />
Einweihung des neuen Rathauses in Cronenberg.<br />
■ 1925<br />
Gründung der Aufzug- <strong>und</strong> Maschinenfabrik<br />
Schmersal.<br />
Gründung der Fa. Metzenauer & Jung, heute<br />
Fanal-Elektrik.<br />
Gründung des Elberfelder Frauenchores.<br />
Eröffnung des Altenheimes „Heim Abendfrieden“.<br />
Anfangs war das Heim in einer Villa am<br />
Böhler Weg untergebracht, 1933 bezog man<br />
die Räumlichkeiten der ehemaligen Mittelsten-<br />
Scheid-Villa am Diek.<br />
142<br />
20. Januar<br />
Gründung des Verkehrsvereins Vohwinkel, der<br />
es sich zum Ziel gesetzt hatte, „Vohwinkel <strong>und</strong><br />
seine Umgebung zu einem anziehenden Verkehrspunkt<br />
des Bergischen Landes zu machen“.<br />
28. Juli<br />
Im Alter von 70 Jahren stirbt in Barmen der<br />
Unternehmer Max Albert Molineus. Von 1906<br />
bis März 1917 war er Präsident der Handelskammer<br />
Barmen, anschließend bis Ende 1919<br />
Präsident der wiedervereinigten Handelskammern<br />
von Barmen <strong>und</strong> Elberfeld, deren Zusammenlegung<br />
er förderte. Als Kammerpräsident<br />
setzte er sich entschieden für eine Verbesserung<br />
der Verkehrsstruktur, besonders für den<br />
Ausbau des Eisenbahnwesens, ein. Darüber<br />
hinaus war er sehr darum bemüht, das berufliche<br />
Ausbildungssystem ständig zu verbessern.<br />
Molineus galt auch als einer der Väter der Barmer<br />
Bergbahn, denn schon 1886 hatte er die<br />
Idee, eine von einer Dampfmaschine angetriebene<br />
Standseilbahn von der Cleferstraße bis<br />
zum Toelleturm zu bauen.<br />
20. August<br />
Der Fabrikant Adolf Vorwerk stirbt im Alter<br />
von 72 Jahren in Barmen. Er führte nicht nur<br />
das von seinem Großvater gegründete Textilunternehmen<br />
„Vorwerk & Co.“ weiter auf Expansionskurs,<br />
sondern mit der Herstellung von<br />
Gummiwaren für industrielle Zwecke stieg er<br />
auch erfolgreich in die Gummi-Industrie ein.<br />
Auf seine Initiative sind der Bau des „Barmer<br />
Luftkurhauses“ <strong>und</strong> die Anlage der „Barmer<br />
Bergbahn“ zurückzuführen. Dadurch wurde<br />
Barmen ein beliebtes Ausflugsziel für Besucher<br />
aus der näheren <strong>und</strong> weiteren Umgebung.<br />
23. August<br />
Gründung des MGV „Alemannia“ in Vohwinkel<br />
als Gesangsabteilung des Fußballvereins<br />
„Alemannia 07“. Im Jahr 1936 löste man sich<br />
vom Hauptverein <strong>und</strong> wurde ein eigenständiger<br />
Verein.<br />
16. September<br />
Eröffnung der Großwäscherei Voss GmbH.
19. September<br />
Offizielle Inbetriebnahme des Senders Elberfeld<br />
im Thalia-Theater. In erster Linie war<br />
diese R<strong>und</strong>funkstation ein Propagandasender<br />
für die von Franzosen <strong>und</strong> Belgiern besetzten<br />
Gebiete an Rhein <strong>und</strong> Ruhr. Nach der Eröffnung<br />
des leistungsstärkeren Senders Langenberg,<br />
Anfang 1927, stellte das Studio Elberfeld<br />
seinen Sendebetrieb ein.<br />
10. Oktober<br />
Gründung des Wuppertaler Marionetten-<br />
Theaters durch Fritz Gerhards. Mit seinen<br />
Aufführungen feierte er nicht nur in Wuppertal,<br />
sondern im gesamten deutschsprachigen Raum<br />
große Erfolge <strong>und</strong> verhalf dem Puppenspieltheater<br />
somit zu neuem Ansehen. Die<br />
größtenteils selbstangefertigten Puppen <strong>und</strong><br />
Requisiten wurden im Krieg völlig zerstört.<br />
■ 1950<br />
7. März<br />
In Wuppertal stirbt im Alter von 72 Jahren Wilhelm<br />
Koch. Der gelernte Schreiner gehörte vor<br />
1933 zu den führenden Persönlichkeiten der<br />
christlichen Gewerkschaftsbewegung. Er war<br />
Elberfelder Stadtverordneter (1919–1924) <strong>und</strong><br />
von 1919–1933 Mitglied des Reichstages. In<br />
den Jahren 1927/28 amtierte er als Reichsverkehrsminister.<br />
Nach 1933 übernahm Koch die<br />
Leitung des Thalia-Theaters.<br />
25. April<br />
Einweihung der Volksschule am Hammersberger<br />
Weg, heute eine Gr<strong>und</strong>schule.<br />
21. Juli<br />
Der zweijährige Elefant „Tuffi“ springt<br />
während einer Werbefahrt für den Zirkus<br />
Althoff zwischen den Stationen Alter Markt<br />
<strong>und</strong> Adlerbrücke aus einer fahrenden Schwebebahn.<br />
Bis auf einige kleine Schrammen<br />
überstand der 13 Zentner schwere Elefant den<br />
Sturz in die Wupper unverletzt. Obwohl zahlreiche<br />
Journalisten in der Schwebebahn mit -<br />
gefahren sind, hat keiner den Sprung foto -<br />
grafiert.<br />
■ 1975<br />
1. Januar<br />
Im Rahmen der kommunalen Neugliederung<br />
werden die Ortsteile Dönberg <strong>und</strong> Obensie -<br />
beneick (bisher Neviges), Dornap (bisher<br />
Wülf rath) <strong>und</strong> die Gemeinde Schöller nach<br />
Wuppertal eingemeindet.<br />
17. Januar<br />
Die evangelische Gemeinde Hatzfeld eröffnet<br />
in der Wilkhausstraße einen neuen Kindergarten.<br />
25. Januar<br />
Im Alter von 72 Jahren stirbt der Schauspieler<br />
Gustav Landauer. Der gebürtige Österreicher<br />
gehörte von 1932 bis zur Spielzeit 1966/67<br />
dem Ensemble der Wuppertaler Bühnen an. Er<br />
debütierte in Wuppertal mit dem „Romeo“ <strong>und</strong><br />
spielte in der Folgezeit u.a. den Hamlet, Mephisto<br />
<strong>und</strong> Danton.<br />
„Die Brautwerber von Loches“, ein Schauspiel<br />
von Georges Feydau, wird erstmals auf einer<br />
b<strong>und</strong>esdeutschen Bühne aufgeführt. Die Inszenierung<br />
leitete Jürgen Brosse, Bühnenbild <strong>und</strong><br />
Kostüme entwarf Herbert Wernike.<br />
4. März<br />
In Gießen stirbt der Unternehmer Otto Happich.<br />
(siehe 3. Juni 1900)<br />
14. März<br />
B<strong>und</strong>esdeutsche Erstaufführung der Oper „Levins<br />
Mühle“ von Udo Zimmermann; die Uraufführung<br />
fand 1973 an der Dresdner Staats -<br />
oper statt. In Wuppertal war Kurt Horres für<br />
die Inszenierung verantwortlich, das Bühnenbild<br />
<strong>und</strong> die Kostüme schuf Hanna Jordan.<br />
14. Mai<br />
An seinem Altersruhesitz Detmold stirbt Oskar<br />
Hammelsbeck, der Gründungsrektor der<br />
Pädagogischen Hochschule Wuppertal. Nach<br />
Kriegsende trat er nachdrücklich für die hochschulbezogene<br />
Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen<br />
ein <strong>und</strong> folglich wurde er 1946<br />
mit der Gründung <strong>und</strong> dem Aufbau einer<br />
143
Pädagogischen Hochschule in Wuppertal beauftragt;<br />
bis 1951 war er Rektor dieser Hochschule.<br />
Hammelsbeck, der 1899 in Elberfeld<br />
geboren wurde, lehrte gleichzeitig auch an der<br />
Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Darüber<br />
hinaus engagierte er sich in wissenschaftlichen<br />
Verbänden <strong>und</strong> Vereinigungen, u.a. war er Präsident<br />
des Deutschen Pädagogischen Hochschultages.<br />
Juni<br />
Eröffnung des katholischen Kindergartens der<br />
St. Christopherus-Gemeinde in Barmen.<br />
7. Juli<br />
Eröffnung eines evangelischen Kindergartens<br />
am Dönberg.<br />
26. August<br />
Der Maler Albrecht Kettler stirbt im Alter von<br />
77 Jahren in Wuppertal. Schwerpunkte seines<br />
künstlerischen Schaffens waren großformatige<br />
Porträts <strong>und</strong> figürliche Kompositionen. Für<br />
seine Arbeiten wurde der gebürtige Barmer mit<br />
zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. erhielt<br />
er 1927 den „Großen Staatspreis der preußischen<br />
Akademie für bildende Kunst.“<br />
1. September<br />
Eröffnung des städtischen Kindergartens „An<br />
der Blutfinke“.<br />
Einweihung des Schulzentrums Süd am Jung-<br />
Stilling-Weg. Erstmals in Wuppertal wurden ein<br />
Gymnasium, eine Realschule <strong>und</strong> eine Hauptschule<br />
in einem Gebäudekomplex untergebracht;<br />
in dieser Größenordnung übrigens damals<br />
ein Novum für ganz Nordrhein-Westfalen.<br />
13. September<br />
B<strong>und</strong>esdeutsche Erstaufführung des Volksstückes<br />
„Der magere Preis von Kuba“ von<br />
Hector Quintero. Inszeniert wurde die Aufführung<br />
von Karl Paryla, Bühnenbild <strong>und</strong> Kostüme<br />
schuf Jürgen Dreier.<br />
1. Oktober<br />
In München stirbt im Alter von 68 Jahren der<br />
Theaterregisseur Helmut Henrichs. Der gebür-<br />
144<br />
tige Elberfelder war von 1953 bis 1958 Generalintendant<br />
der Wuppertaler Bühnen. In seiner<br />
Wuppertaler Zeit hat er sich große Verdienste<br />
bei der Förderung des Drei-Sparten-Theaters<br />
erworben.<br />
4. Oktober<br />
Konsekration der St. Ewald-Kirche in Cronenberg<br />
durch Weihbischof Dick. Mit der Einsegnung<br />
der vierten Pfarrkirche in Cronenberg erhielt<br />
die Gemeinde auch ihren ursprünglichen<br />
Namen „St. Ewald“ zurück; diesen Namen trug<br />
auch schon die erste katholische Kirche vor der<br />
Reformation.<br />
Deutsche Erstaufführung der Oper „Ein wahrer<br />
Held“ von Giselher Klebe. Die Inszenierung<br />
lag in den Händen von Friedrich Meyer-Oertel,<br />
die musikalische Leitung hatte Hanns-Martin<br />
Schneidt, das Bühnenbild entwarf Jürgen<br />
Dreier <strong>und</strong> die Kostüme Marion Gerretz.<br />
27. Oktober<br />
Inbetriebnahme des neuen Wasserturms auf<br />
Lichtscheid, der den Druckausgleich bei der<br />
Wasserversorgung auf den Wuppertaler Südhöhen<br />
verbesserte.<br />
30. Oktober<br />
Im Alter von 74 Jahren stirbt in Schwelm Pastor<br />
Hermann Haarbeck, der von 1951 bis 1968<br />
die Evangelistenschule Johanneum geleitet<br />
hat.<br />
19. November<br />
Im Alter von 78 Jahren stirbt Alfred Dobbert.<br />
Seit seiner Jugendzeit engagierte er sich politisch<br />
<strong>und</strong> gewerkschaftlich <strong>und</strong> bereits 1920<br />
wurde er hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär.<br />
Darüber hinaus war er als Journalist <strong>und</strong><br />
Redakteur tätig, um mit Hilfe der Presse Belange<br />
der Arbeiterschaft einer breiten Öffentlichkeit<br />
bekannt zu machen <strong>und</strong> ihren Forderungen<br />
Nachdruck zu verleihen. Nach 1945 bekleidete<br />
Dobbert, der gebürtige Barmer, zahlreiche<br />
politische Ämter, u.a. war er von 1961<br />
bis 1966 Vizepräsident des nordrhein-westfälischen<br />
Landtages sowie von 1961–1964 Wup-
pertaler Bürgermeister.<br />
29. November<br />
Uraufführung des Märchens „Die Wawuschels<br />
mit den grünen Haaren“ von B.A. Mertz. Regie<br />
führte Gregor Bals, für das Bühnenbild <strong>und</strong> die<br />
Kostüme war Herbert Scherreiks zuständig.<br />
31. Dezember<br />
„Der B<strong>und</strong>. Gesellschaft für geistige Erneuerung“<br />
löst sich auf. Gegründet Anfang des Jahres<br />
1946 war es das Hauptanliegen des B<strong>und</strong>es<br />
„das Fachwissen der einzelnen Wissenschaftler<br />
unter ein gemeinsames Ziel zu stellen <strong>und</strong> gebündelt<br />
für eine geistige Erneuerung nach 1945<br />
Noch lieferbar! Noch lieferbar! Noch lieferbar! Noch lieferbar!<br />
Herbert Pogt (Bearb.):<br />
Historische Ansichten aus dem Wuppertal<br />
des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
Zweite, überarbeitete Auflage – Selbstverlag des Bergischen Geschichtsvereins –<br />
Abt. Wuppertal, Wuppertal 1998, 188 S., zahlr. Abb.<br />
(=Beiträge zur Geschichte <strong>und</strong> Heimatk<strong>und</strong>e Wuppertals, Sonderband)<br />
Als dieser Bildband 1989 in seiner Erstauflage erschien, war er innerhalb kurzer Zeit vergriffen.<br />
Weil immer wieder Anfragen an den Bergischen Geschichtsverein gerichtet worden sind, hat man<br />
sich entschlossen, eine Neuauflage herauszugeben. Abbildungen <strong>und</strong> Texte sind gegenüber der<br />
ersten Auflage unverändert geblieben, einige seinerzeit unentdeckt gebliebene Fehler wurden vom<br />
Autor korrigiert.<br />
Zu beziehen über den Buchhandel oder das Stadtarchiv, Friedrich-Engels-Allee 89–91,<br />
42485 Wuppertal (Tel.: 02 02/5 63-66 23 oder 41 23)<br />
Preis: DM 75,– (für BGV-Mitglieder DM 65,–, nur im Stadtarchiv erhältlich) zzgl. Versandkosten<br />
145
Peter Elsner<br />
Wuppertaler Neuerscheinungen 1998/99<br />
Im folgenden sind wichtige Wuppertaler Neuerscheinungen<br />
aufgelistet, die in den Jahren<br />
1998/99 – einige „Nachzügler“ aus 1997 sind<br />
auch dabei – erschienen sind. Diese Literaturliste<br />
erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.<br />
Außerdem sind nur selbständige Veröffentlichungen<br />
aufgenommen worden, die sich ausschließlich<br />
oder zum großen Teil mit Wuppertaler<br />
Themen oder Persönlichkeiten beschäftigen.<br />
Aufsätze <strong>und</strong> Abhandlungen aus Zeitschriften<br />
<strong>und</strong> Sammelwerken sind absichtlich<br />
nicht berücksichtigt worden. Wegen der oben<br />
gemachten Einschränkungen ist in der Überschrift<br />
auch bewußt das Wort „Bibliographie“<br />
vermieden worden.<br />
Die Uhrmacher- <strong>und</strong> Goldschmiedefamilie<br />
Abeler. Ihre Vorfahren <strong>und</strong> ihre Verwandten.<br />
Lebensläufe, Daten <strong>und</strong> Fakten, besondere Ereignisse,<br />
bearb. <strong>und</strong> hrsg. von Jürgen Abeler,<br />
Sprockhövel: Verlag Dr. Eike Pies 1998, 2<br />
Bde., 1163 S., 25 Tafeln, 376 Abb. (= Familien-<br />
Chroniken, Bd. 10)<br />
„Abenteuer Wissenschaft“. Forschung <strong>und</strong><br />
Entwicklung an der Bergischen Universität/<br />
Gesamthochschule Wuppertal. Dokumentation<br />
einer Ausstellung anläßlich des 25jährigen Bestehens<br />
der Bergischen Universität/Gesamthochschule<br />
Wuppertal, hrsg. vom Rektorat der<br />
Bergischen Universität/Gesamthochschule<br />
Wup per tal, Remscheid: RGA-Druck 1997,<br />
78 S., zahlr. Abb.<br />
Battenfeld, Beate: Die Ziegelindustrie im<br />
Bergischen Land. Ein wirtschaftshistorischer<br />
Beitrag zur Architekturgeschichte <strong>und</strong> Denkmalpflege,<br />
hrsg. vom Bergischen Geschichtsverein,<br />
Abt. Solingen, Remscheid: Neusser-<br />
Werbedruck GmbH 1998, 270 S., 164 Abb.<br />
Bormann, Cornelius: Ein Stück menschlicher.<br />
Johannes Rau. Die Biographie, Wuppertal:<br />
Peter Hammer Verlag GmbH 1999, 271 S.,<br />
zahlr. Abb.<br />
146<br />
30 Jahre Wuppertaler Siedlerjugend, hrsg.<br />
von der Wuppertaler Siedlerjugend – WSJ,<br />
Wuppertal: WupperDruck oHG 1998, 54 S.,<br />
zahlr. Abb.<br />
Eschmann, Jürgen: Die Wuppertaler Schwebebahn.<br />
Geschichte – Technik – Kultur, hrsg.<br />
von den Wuppertaler Stadtwerken, Lengerich<br />
2. Aufl. 1998, 248 S., zahlr. Abb.<br />
Filmer, Werner/Klein, Wolfgang: Johannes<br />
Rau – Der B<strong>und</strong>espräsident, Bergisch Gladbach:<br />
Gustav Lübbe Verlag 1999, 240 S., zahlr. Abb.<br />
Foto-Schätze aus dem WSW-Archiv, ausg.<br />
von Michael Malicke, [Wuppertal 1998], o.S.,<br />
zahlr. Abb.<br />
25 Jahre Antoniuskirche 1973–1998. Dokumentation<br />
zur Baugeschichte von Werner A.<br />
Zimmermann, Wuppertal 1998, o.S.<br />
50 Jahre GEWG Wuppertal, hrsg. von der<br />
Gemeinnützigen Eisenbahn-Wohnungsbau<br />
GmbH Wuppertal, Wuppertal: Ulrico Druck<br />
1999, 44 S., zahlr. Abb.<br />
50 Jahre Kolpingsfamilie Wuppertal-Cronenberg<br />
1948–1998, hrsg. von der Kolpingsfamilie<br />
Wuppertal-Cronenberg, Essen: Brinck<br />
& Co. 1998, o.S., zahlr. Abb.<br />
50 Jahre VVN Wuppertal. 50 Jahre aktiver<br />
Antifaschismus in Wuppertal, Wuppertal 1997,<br />
32 S., zahlr. Abb.<br />
Geschichte im Wuppertal, hrsg. vom Bergischen<br />
Geschichtsverein, Abt. Wuppertal e.V. –<br />
Historischem Zentrum – Stadtarchiv – Stadtbibliothek,<br />
Jg. 7, 1998, 124 S., zahlr. Abb.<br />
Geschichten vam Ölberg, hrsg. von Siegfried<br />
Becker, ill. von K.-J. Burandt, Wuppertal: Data<br />
System/Götzky-Drucke o.J., 56 S.
Gleichstrom – Wechselstrom, hrsg. von der<br />
Stadtbibliothek Wuppertal, Wuppertal 1998,<br />
107 S. (= Wuppertaler Texte 1)<br />
Hahne, Heinrich: Nachhall – Gedanken, Beobachtungen,<br />
Erfahrungen aus einem langen<br />
Leben, Wuppertal: Staats-Verlag 1997, 908 S.<br />
Hahne, Heinrich: Hinsichten auf Sammelausstellungen<br />
<strong>und</strong> auf einzelne Künstler, Wuppertal:<br />
Staats-Verlag 1997, 859 S.<br />
„hoch auf dem Engelnberg“. Der Alte Jüdische<br />
Friedhof in Elberfeld. Eine Dokumentation,<br />
hrsg. vom Trägerverein Bildungsstätte<br />
Alte Synagoge Wuppertal e.V., Wuppertal:<br />
Druckservice HP Nacke KG 1998, 71 S., zahlr.<br />
Abb.<br />
100 Jahre Chor der St.-Antonius-Kirche,<br />
hrsg. vom Chor der St.-Antonius-Gemeinde,<br />
Wuppertal: HP Nacke KG 1999, 186 S., zahlr.<br />
Abb.<br />
100 Jahre Preußische Bandwirkerschule<br />
1899–1999, hrsg. vom Ronsdorfer Heimat<strong>und</strong><br />
Bürgerverein, Wuppertal-Ronsdorf 1999,<br />
24 S., zahlr. Abb.<br />
100 Jahre Schule an der Gertrudenstraße 1.<br />
Juni 1899 – 1. Juni 1999, Wuppertal 1999, 40<br />
S., zahlr. Abb. (= Guckt mal rein. Schulzeitung<br />
der Hauptschule Gertrudenstraße. Jubiläumsausgabe<br />
99)<br />
100 years Aspirin. The future has just begun,<br />
hrsg. von der Bayer AG, Bad Oeynhausen:<br />
Kunst- <strong>und</strong> Werbedruck 1997, 132 S., zahlr.<br />
Abb.<br />
125 Jahre Männerchor Union Wuppertal,<br />
hrsg. vom Männerchor Union Wuppertal,<br />
Wuppertal: Druckerei Ehrlich 1998, o.S., zahlr.<br />
Abb.<br />
160 Jahre Offizierverein Wuppertal. Chronik<br />
1838–1998, hrsg. vom Offizierverein Wuppertal<br />
von 1838, Wuppertal:Götzky Drucke<br />
Data System 1998, 24 S., zahlr. Abb.<br />
Jung, August: Als die Väter noch Fre<strong>und</strong>e waren.<br />
Aus der Geschichte der freikirchlichen Bewegung,<br />
Wuppertal: R. Brockhaus-Verlag<br />
1999, 198 S. (= Kirchengeschichtliche Monographien<br />
(KGM), Bd. 5)<br />
Kaufmann, Ursula: Pina Bausch. Nur Du,<br />
Wuppertal: Verlag Müller+Bussmann 1998,<br />
165 S., (Bildband)<br />
(K)ein anderes Wuppertal. Fotographien <strong>und</strong><br />
Stimmen zum Leben im Tal hrsg. von Hans Peter<br />
Nacke, Christian Graeff <strong>und</strong> Björn Ueberholz,<br />
Wuppertal: Verlag HP Nacke 1998,<br />
144 S., zahlr. Abb.<br />
Alfred Leithäuser 1898–1979. In Erinnerung<br />
zum H<strong>und</strong>ersten Geburtstag, hrsg. von Sabine<br />
Fehlemann, Wuppertal: Druckerei Hitzegrad<br />
1999, 56 S., zahlr. Abb. (= Ausstellungskatalog)<br />
Lüttgen, Franz: Johann Gregor Breuer <strong>und</strong><br />
Adolph Kolping. Studien zur Frühgeschichte<br />
des Katholischen Gesellenvereins, Paderborn:<br />
Bonifatius-Verlag 1997, 398 S., 12 Abb.<br />
Michels Erwachen – Emanzipation durch<br />
Aufstand? Studien <strong>und</strong> Dokumente zur Ausstellung,<br />
hrsg. von Michael Knieriem, Neustadt<br />
a.d. Aisch: Verlagsdruckerei Schmidt<br />
GmbH 1998, 325 S., zahlr. Abb. (= Ausstellungskatalog)<br />
Neues bergisches Wappenbuch bürgerlicher<br />
Familien. Heraldik – Genealogie – Bibliographie,<br />
hrsg. von Eike Pies, Solingen: Verlag E.<br />
& U. Brockhaus 1998, Textband: 352 S., Tafelband:<br />
133 SW-Tafeln <strong>und</strong> XXIV Farbtafeln<br />
(= Bibliothek für Familienforscher, Bd. 3)<br />
Nigg, Walter: Gerhard Tersteegen. Der Verstand<br />
des Herzens. Ein Lebensbericht, Giessen:<br />
Brunnen Verlag, 2. Aufl. 1998, 61 S.<br />
Oelemann, Christian: Totmann. Ein schwebendes<br />
Verfahren, Wuppertal: Atelier Verlag<br />
1997, 106 S.<br />
Pies, Eike: Geschichte der bergischen Familie<br />
147
Brockhaus vom Hof Bruchhausen im Kirchspiel<br />
Wiedenest in (Wuppertal-)Elberfeld <strong>und</strong><br />
zur Geschichte der Familie Bruckenhaus vom<br />
Schepershof im Kirchspiel Langenberg,<br />
Sprockhövel: Verlag Dr. Eike Pies 1998,<br />
300 S., zahlr. Abb.<br />
Schmidt, Jochen: Pina Bausch – Tanzen gegen<br />
die Angst, Düsseldorf/München: Econ/List<br />
Taschenbuch Verlag, 2. Aufl. 1998, 246 S.,<br />
zahl. Abb. (Econ & List, Bd. 26513)<br />
Schnöring, Kurt: Ronsdorf im Wandel der<br />
Zeiten, Horb am Neckar: Geiger-Verlag 1998,<br />
72 S., zahlr. Abb.<br />
Schröder, Erich: Oskar Erbslöh. Ein rheinischer<br />
Luftfahrt-Pionier, hrsg. vom Deutschen<br />
Aero-Philatelisten-Club e.V., o.O. 1997,<br />
137 S., zahlr. Abb.<br />
Seifert, Wolfgang: Günter Wand: So <strong>und</strong> nicht<br />
anders. Gedanken <strong>und</strong> Erinnerungen, Hamburg:<br />
Hoffmann <strong>und</strong> Campe 1998, 528 S.,<br />
zahlr. Abb.<br />
Sonnenfeld, Herta: Stufen zur Freiheit. Die<br />
Geschichte meines Lebens, übers., eing. <strong>und</strong><br />
komm. von Christoph Knüppel, hrsg. von der<br />
Forschungsgruppe Wuppertaler Widerstand,<br />
Bocholt: Achterland Verlagscompagnie 1998,<br />
65 S., zahlr. Abb. (= Verfolgung <strong>und</strong> Widerstand<br />
in Wuppertal, Bd. 1)<br />
„Spurwechsel“. Regionale 2006 im Bergischen<br />
Städtedreieck Remscheid – Solingen –<br />
Wuppertal, hrsg. vom Arbeitskreis Regionale<br />
2006 des Regionalbüros Bergisches Städte -<br />
dreieck Remscheid – Solingen – Wuppertal,<br />
Wuppertal 1998, 223 S. u. Anl., zahlr. Abb.<br />
Stracke, Stephan: Mit rabenschwarzer Zuversicht.<br />
Kommunistische Jugendliche in Wuppertal<br />
1916–1936. Millieu <strong>und</strong> Widerstand,<br />
hrsg. von der Forschungsgruppe Wuppertaler<br />
Widerstand, Bocholt: Achterland Verlagscompagnie<br />
1998, 146 S., zahlr. Abb. (= Verfolgung<br />
<strong>und</strong> Widerstand in Wuppertal, Bd. 2)<br />
Gerhard Tersteegen. Ich bete an die Macht<br />
148<br />
der Liebe. Eine Auswahl aus seinen Werken,<br />
hrsg. von Dietrich Meyer, Giessen: Brunnen-<br />
Verlag, 2. Aufl. 1998, 374 S.<br />
Unter Schienen schweben, hrsg. vom Museum<br />
Ludwig/Agfa Photo-Historama Köln,<br />
Göttingen: Steidl-Verlag 1999, 111 S. zahlr.<br />
Abb. (= Ausstellungskatalog)<br />
„Wir werden siegen, wenn wir einig sind.“<br />
Quellen zur Revolution 1848/49 in Remscheid,<br />
Solingen, Wuppertal, bearb. von Ralf Rogge,<br />
hrsg. vom Historischen Zentrum Remscheid,<br />
Stadtarchiv Solingen <strong>und</strong> Stadtarchiv Wuppertal,<br />
177 S.<br />
„With a little help from my friends“. 25 Jahre<br />
Gesellschaft der Fre<strong>und</strong>e der Bergischen Universität,<br />
hrsg. von der Gesellschaft der Fre<strong>und</strong>e<br />
der Bergischen Universität, Remscheid: rga-<br />
Druck 1998, o.S.<br />
Wuppertaler Künstler – Landschaften. Neuhoff<br />
– Nantke – Dost. Ausstellung des Kunst<strong>und</strong><br />
Museumsvereins Wuppertal in der Kunsthalle<br />
Barmen im Haus der Jugend, hrsg. vom<br />
Kunst- <strong>und</strong> Museumsverein Wuppertal, Wuppertal:<br />
Druckerei Hitzegrad 1999, 36 S., zahlr.<br />
Abb. (= Ausstellungskatalog)<br />
Wuppertaler Rückblende. Ein historischer<br />
Bilderbogen aus dem WSW-Archiv, ausg. von<br />
Michael Malicke, [Wuppertal 1998], 64 S.,<br />
zahlr. Abb.<br />
10 Jahre Gesamtschule Wuppertal-Langerfeld.<br />
Mit Kopf, Herz <strong>und</strong> Hand. Miteinander<br />
Leben <strong>und</strong> Lernen, hrsg. vom Förderverein der<br />
Gesamtschule Langerfeld in Zusammenarbeit<br />
mit dem Kollegium <strong>und</strong> der Schulleitung,<br />
Wuppertal: b+s Druck GmbH 1998, 206 S.,<br />
zahlr. Abb.<br />
Zwischen den Bergen. Wuppertaler Heimatlieder<br />
von Herbert Heßler, Wuppertal, Selbstverlag<br />
1998, 29 Lieder
<strong>Nachrichten</strong><br />
Mitgliederversammlung 1999 des BGV, Abteilung Wuppertal<br />
Die diesjährige Mitgliederversammlung<br />
des BGV, Abteilung Wuppertal, fand am 4.<br />
März 1999 in gewohntem Rahmen im Lesesaal<br />
der Stadtbibliothek Wuppertal statt. Von den<br />
886 Mitgliedern nahmen etwa 80 Mitglieder an<br />
der Versammlung teil. Der Vorsitzende trug<br />
den allgemeinen Rechenschaftsbericht, der<br />
Schatzmeister den Kassenbericht vor. Nach<br />
dem Bericht der Kassenprüfer Frau Weidenbach<br />
<strong>und</strong> Herrn Dr. Paetzold wurde dem Vorstand<br />
von der Versammlung Entlastung erteilt.<br />
Zuvor war der im Jahre 1998 verstorbenen<br />
Mitglieder des Vereins ehrend gedacht worden.<br />
Es waren dies die Damen <strong>und</strong> Herren Ruth<br />
Barth, Walther Gothe, Heinz Hensing, Uwe<br />
Herder, Dr. Ursula Lahse, Heinrich Lembke,<br />
Kurt Niederau, Peter Schmitz, Siegm. Schumacher,<br />
Gertrud Stoever <strong>und</strong> Gerda Wuester.<br />
Wie seit einigen Jahren üblich erhielten die<br />
Jubilare auch in diesem Jahr ein Buchgeschenk;<br />
für 40jährige Mitgliedschaft Frau Dr. Marie-<br />
Agnes Schnittert <strong>und</strong> Herr Professor Dr. Diethelm<br />
Balke, für 25jährige Mitgliedschaft die<br />
Damen <strong>und</strong> Herren Eberhard Droullier, Margarete<br />
Eisolt, Barbara Faulenbach, Werner Heyer,<br />
Günter Hoffmann, Bruno Rasch, Horst Rudolph,<br />
Christa Schlieper, Kurt Schnöring, Wilhelmine<br />
Schultheiß sowie die Firma Verpackungs-Industrie<br />
GmbH. Es ist die oft langjährige Treue unserer<br />
Mitglieder, die Vorstand <strong>und</strong> Beirat unseres<br />
Vereins dankbar empfinden <strong>und</strong> die uns ermöglicht,<br />
unsere Arbeit am „historischen Bewußtsein“<br />
unserer Stadt, ihrer Stadtteile <strong>und</strong> ihrer<br />
Umgebung zu unternehmen. Wir haben diese<br />
Arbeit – wie in den Jahren zuvor – vor allem in<br />
drei Bereichen geleistet: der Verein bietet ein<br />
umfangreiches Vortragsangebot, das Frau<br />
Meyer-Kahrweg schon seit vielen Jahren betreut,<br />
er veranstaltet weiterhin zahlreiche historische<br />
Exkursionen, Fahrten <strong>und</strong> Wanderungen,<br />
für die Frau Dr. Lekebusch <strong>und</strong> Herr Esser verantwortlich<br />
zeichnen, <strong>und</strong> er gibt Publikationen<br />
heraus <strong>und</strong> unterstützt Veröffentlichungen. An<br />
eigenen Publikationen erarbeiteten Vorstand <strong>und</strong><br />
Beirat eine neue Ausgabe der „Geschichte im<br />
Wuppertal“, einer Zeitschrift, die inzwischen im<br />
8. Jahrgang erscheint, <strong>und</strong> auf vielfachen<br />
Wunsch unserer Mitglieder wurde der Prachtband<br />
zum 125jährigen Jubiläum des BGV, die<br />
„Historischen Ansichten aus dem Wuppertal“,<br />
herausgegeben <strong>und</strong> bearbeitet von Dr. H.Pogt,<br />
neu aufgelegt – wahrlich ein Kraftakt für unseren<br />
Verein. Zur Veröffentlichung einer Festschrift<br />
für den an der Bergischen Universität lehrenden<br />
Architekturhistoriker Hermann J. Mahlberg<br />
unter dem Titel „Kunst <strong>und</strong> Architektur“<br />
gewährte der Bergische Ge schichts verein einen<br />
Zuschuß, schließlich unterstützte er die Stadtbibliothek<br />
Wuppertal <strong>und</strong> das Historische Zentrum<br />
mit namhaften Beträgen.<br />
Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang,<br />
daß Vorstand <strong>und</strong> Beirat zwei neue Beiratsmitglieder<br />
kooptiert haben, die Herren Privatdozent<br />
Dr. Wolfgang Heinrichs <strong>und</strong> Christoph<br />
Heuter M.A., so daß neben dem aus vier Personen<br />
bestehenden Vorstand (Prof. Dr. V. Wittmütz,<br />
H.J. de Bruyn-Ouboter, Dr. W. Wicht<br />
<strong>und</strong> G. Birker) insgesamt 13 Damen <strong>und</strong> Herren<br />
den Beirat unserer Abteilung bilden.<br />
Zur Erneuerung der Schwebebahn hatte unser<br />
Mitglied Herr Stieglitz noch einmal einen<br />
Antrag vorgelegt, der BGV Wuppertal möge<br />
die Verantwortlichen der Wuppertaler Stadtwerke<br />
auffordern, sämtliche Dokumente <strong>und</strong><br />
Gutachten zur Erneuerung der Schwebebahn<br />
der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.<br />
Nachdem dieser Antrag schon bei Zusammenkünften<br />
der Jahre 1997 <strong>und</strong> 1998 sehr kontrovers<br />
<strong>und</strong> heftig erörtert worden war, verzichtete<br />
man dieses Mal auf eine ausführliche<br />
Diskussion <strong>und</strong> schritt – nach einer kurzen Begründung<br />
des Antrags durch Herrn Stieglitz –<br />
zur Abstimmung, die folgendes Resultat erbrachte:<br />
Für den Antrag Stieglitz 10 Stimmen, gegen<br />
den Antrag 42 Stimmen, Enthaltungen 14<br />
Stimmen.<br />
Damit war dieser Antrag abgelehnt worden.<br />
149
Rückschau auf die Vorträge von 1998/99<br />
Unsere Vorträge finden – wenn nichts dazwischen<br />
kommt – immer am ersten Donnerstag<br />
der Monate Februar, März, April, Mai sowie<br />
September, Oktober <strong>und</strong> November um<br />
19.00 Uhr in der Zentralbibliothek in Wuppertal-Elberfeld,<br />
Kolpingstraße 8, statt. Die Veranstaltung<br />
im April 1999 mußte leider wegen<br />
der Osterferien ausfallen.<br />
Am 3. September 1998, sprach Prof. Dr.<br />
Paul Derks, Germanist an der Universität Essen,<br />
zum Thema „Die Wuppertaler Siedlungsnamen<br />
– Ein sprachwissenschaftlicher<br />
Streifzug“. Er beschränkte sich allerdings auf<br />
die Erläuterung weniger Begriffe, wie „Barmen“,<br />
„Elberfeld“ <strong>und</strong> „Carnap“, wobei deutlich<br />
wurde, daß sich bei der Erforschung der<br />
Namensursprünge ein weites Feld auftut, bei<br />
dem man oft Wege zu finden glaubt, die in<br />
Sackgassen münden. Ein Gr<strong>und</strong>satz, den Prof.<br />
Derks seinen Zuhörern nahe zu bringen suchte,<br />
lautet: „Trau keiner Quelle, die du nicht selber<br />
hast sprudeln sehen“. Wir hoffen, daß Prof.<br />
Derks seine Überlegungen <strong>und</strong> Teile seiner<br />
Forschungsergebnisse für „Geschichte im<br />
Wuppertal“ zur Verfügung stellen wird.<br />
Am 1. Oktober 1998 gab Herr Dr. Uwe<br />
Eckardt, Direktor des Wuppertaler Stadtarchivs,<br />
einen interessanten Überblick über „Die<br />
Revolutionsjahre 1848/49 in Elberfeld“.<br />
Die wachsende Unzufriedenheit des Bürgertums<br />
<strong>und</strong> der Industriearbeiterschaft mit<br />
den politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Verhältnissen<br />
führte 1848/49 dazu, daß es in vielen<br />
Städten Deutschlands zu Unruhen kam. Der<br />
„Elberfelder Aufstand“, der im Morgengrauen<br />
des 17. Mai 1849 (Christi Himmelfahrt) mit<br />
dem Abzug der letzten Freischärler in Richtung<br />
Rheinpfalz nach wenigen Tagen zusammenbrach,<br />
war Teil der „Reichsverfassungskampagne“.<br />
Ihre Anhänger sprachen sich für die von<br />
der Frankfurter Nationalversammlung am 28.<br />
März 1849 in Kraft gesetzte, jedoch u.a. von<br />
Preußen, Sachsen, Bayern <strong>und</strong> Österreich nicht<br />
anerkannte demokratische Reichsverfassung<br />
<strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen Gr<strong>und</strong>rechtekata-<br />
150<br />
log aus. In vielen Teilen Deutschlands eskalierte<br />
die Gewalt.<br />
In Elberfeld prallten die unterschiedlichsten<br />
Interessen aufeinander, bei denen es zu<br />
keiner Einigung kommen wollte. Den konservativen<br />
Bürgerkreisen stand die oppositionelle<br />
Arbeiterschaft gegenüber, die sich von der<br />
neuen Verfassung vor allen Dingen handfeste<br />
wirtschaftliche Veränderungen versprach. Ihnen<br />
waren ideelle Vergünstigungen wie Pressefreiheit<br />
etc. gleichgültig. Elberfeld zählte zu<br />
dieser Zeit bei 46.000 Einwohnern 3.000 arbeitslose<br />
Familienväter. Suppenküchen mußten<br />
eingerichtet werden, es gab viele Konkurse u.a.<br />
auch wegen der bis dahin üblichen Regelung,<br />
daß Handwerkerrechnungen nur einmal im<br />
Jahr bezahlt wurden <strong>und</strong> kaum einer der Betroffenen<br />
die Wartezeit überbrücken konnte.<br />
Die Parole hieß: „Was geht uns Preß freiheit an,<br />
wir brauchen Freßfreiheit!“ Als es dann zu<br />
Barrikadenkämpfen zwischen Bürgerwehr,<br />
Landwehr, Freischärlern <strong>und</strong> aus Düsseldorf<br />
angerücktem Militär kam, gab es einige Tote,<br />
darunter den Kompanieführer Hans von Uttenhoven,<br />
dessen Grab sich noch heute auf dem<br />
Elberfelder reformierten Friedhof an der Hochstraße<br />
befindet.<br />
Eine viel beachtete Ausstellung zu den Revolutionsjahren<br />
1848/49 stellte Herr Dr. Mi -<br />
chael Knieriem, Direktor des Historischen<br />
Zentrums, unter dem Motto „Michels Erwachen“<br />
zusammen. Einen Quellenkatalog mit<br />
dem Titel „Wir werden siegen, wenn wir einig<br />
sind – Quellen zur 1848/49 Revolution in<br />
Remscheid, Solingen <strong>und</strong> Wuppertal“, erarbeiteten<br />
die Archive dieser Städte.<br />
Am Donnerstag, dem 5. November 1998,<br />
sprach Herr Stephan Laux, M.A., Wissenschaftlicher<br />
Assistent des Historischen Seminars<br />
der Heinrich Heine Universität Düsseldorf,<br />
zum Thema „Münster <strong>und</strong> Osnabrück<br />
1648: Zu Verlauf, Charakter <strong>und</strong> Wirkungen<br />
des Westfälischen Friedens“.<br />
Dabei ging es im Wesentlichen um eine<br />
Einordnung des Friedensschlusses in die europäische<br />
Staatengeschichte der Frühen Neu-
zeit (1500–1815). Eine der zentralen Fragen<br />
war, ob dem (bzw. den) Frieden des Jahres<br />
1648 wirklich eine „Befriedung“ der europäischen<br />
Verhältnisse folgte, <strong>und</strong> welche Frie -<br />
dens idee den Verträgen bzw. Verhandlungen<br />
eigentlich zugr<strong>und</strong>e lag. Taugt 1648 als historischer<br />
Vorläufer für die europäische Idee unserer<br />
Tage ? Wo bietet das Thema überhaupt Anknüpfungspunkte<br />
an die Gegenwart, die in<br />
mehr als musealen <strong>und</strong> nicht zuletzt kommerziellen<br />
Interessen liegen? Es ging in diesem Vortrag<br />
weniger um die unzählbaren Einzelbestimmungen<br />
<strong>und</strong> Probleme des Westfälischen<br />
Friedens, sondern eher um das diplomatiegeschichtliche<br />
<strong>und</strong> kulturelle Ereignis, auch in<br />
seiner praktischen Gestaltung. Können wir uns<br />
heute noch vorstellen, welcher Aufwand getrieben<br />
werden mußte, um Macht <strong>und</strong> Ansehen<br />
der an den Verhandlungen beteiligten Länder<br />
<strong>und</strong> ihrer jeweiligen Vertreter gebührend darzustellen?<br />
Können wir ermessen, welche Anstrengungen<br />
die Städte Münster <strong>und</strong> Osna -<br />
brück unternehmen mußten, um den reisenden<br />
Troß, dessen Größe überwältigend war, standesgemäß<br />
unterzubringen <strong>und</strong> zu beköstigen?<br />
Hätten wir heute noch Geduld für die Zeit, die<br />
verging, um durch reitende Boten die einzelnen<br />
Beschlüsse in den Heimatländern der Verhandlungspartner<br />
genehmigen zu lassen?<br />
Die Abteilung Wuppertal des BGV nahm<br />
im November <strong>und</strong> Dezember 1998 sowie im<br />
Januar 1999 die Gelegenheit zu Studienfahrten<br />
nach Münster <strong>und</strong> Osnabrück wahr, um an Ort<br />
<strong>und</strong> Stelle des historischen Geschehens entsprechende<br />
Ausstellungen zu besichtigen.<br />
Die Veranstaltungsreihe im ersten Halbjahr<br />
1999 begann am 4. Februar 1999 mit einem<br />
Vortrag von Frau Dr. Sigrid Lekebusch, Historikerin<br />
in Wuppertal, über „100 Jahre<br />
Frauenhilfe – Anfang <strong>und</strong> Wandel innerhalb<br />
eines Jahrh<strong>und</strong>erts“.<br />
Die Evangelische Frauenhilfe, 1899 von<br />
Kaiserin Auguste Viktoria gegründet, war in<br />
ihrer h<strong>und</strong>ertjährigen Geschichte zeitweise<br />
eine regelrechte Massenorganisation <strong>und</strong> ist<br />
dennoch bis heute ein weitgehend unbeachtetes<br />
Kapitel geblieben. 1900 wurde der rheinische<br />
Landesverband mit Sitz in Barmen ge-<br />
gründet.<br />
Während anfangs vor allen Dingen der<br />
Dienst der Frauen an Kranken, Schwachen, Alten<br />
<strong>und</strong> Armen im Mittelpunkt stand, wandelte<br />
sich das Selbstverständnis der Frauen immer<br />
mehr dahingehend, daß aus der bloß dienenden<br />
<strong>und</strong> mit gesenktem Kopf aufopfernde Hilfe gebenden<br />
Gestalt mehr <strong>und</strong> mehr ein selbstbewußter<br />
Mensch wurde, der in Eigenverantwortung<br />
handelte. Auch heute ist der Gedanke der<br />
Frauenhilfe noch lebendig <strong>und</strong> sollte nicht verwechselt<br />
werden mit frommen Kaffeekränzchen,<br />
sondern lebt von der geistigen Auseinandersetzung<br />
mit modernen Anforderungen innerhalb<br />
der Gesellschaft <strong>und</strong> der praktischen<br />
Umsetzung bei der Hilfe am Mitmenschen.<br />
Am 4. März 1999 setzten wir unsere Vortragsreihe<br />
mit Herrn Michael Okroy, M.A.,<br />
Literaturwissenschaftler in Wuppertal fort, der<br />
über „Karrieristen, Schreibtischtäter, Massenmörder:<br />
NS-Täter aus Wuppertal <strong>und</strong><br />
dem Bergischen Land“ sprach.<br />
Herr Okroy unterstrich zu Recht, daß in der<br />
B<strong>und</strong>esrepublik die Auseinandersetzung mit<br />
der NS-Vergangenheit lange Zeit einseitig mit<br />
Blick auf die Opfer des Nationalsozialismus<br />
gerichtet war, eine Konfrontation mit den Tätern<br />
jedoch bisher meist unterblieb. Erst im<br />
Zuge der Goldhagen-Debatte geriet dieser Personenkreis<br />
stärker in das öffentliche Blickfeld.<br />
Am Beispiel der Biographien <strong>und</strong> (Nachkriegs-)<br />
Karrieren von NS-Tätern aus Wuppertal<br />
<strong>und</strong> dem bergischen Städtedreieck zeigte er<br />
auf der Gr<strong>und</strong>lage von Archivdokumenten <strong>und</strong><br />
Prozeßmaterialien auf, woher diese „ganz normalen“<br />
Männer kamen <strong>und</strong> auf welche Weise<br />
sie sich, ob als Schreibtischtäter oder ,Mordgehilfen‘,<br />
am Judenmord beteiligt hatten.<br />
Zum Abschluß unserer Vorträge des ersten<br />
Halbjahres 1999 sprach Herr Prof. Dr.<br />
Günther van Norden, Wuppertal, zum Thema<br />
„Reformierte Profile im Kirchenkampf –<br />
War die Theologie Gr<strong>und</strong>lage der Stellung -<br />
nahme zum Nationalsozialismus oder waren<br />
es historische Erfahrungen?“<br />
Prof. van Norden versuchte in seinem Vortrag,<br />
vier Gruppenprofile herauszuarbeiten, die<br />
151
sich im Bereich des reformierten Protestantismus<br />
in Deutschland während des Kirchenkampfes<br />
1933–1945 gebildet hatten. Das Spektrum<br />
reichte von der „Wuppertaler Gruppe“<br />
mit ihrer strikten Ablehnung einer „Gleichschaltung“<br />
durch die Politik <strong>und</strong> deren Einmischung<br />
in innerkirchliche Belange, bis hin zu<br />
den Stillen im Lande, die es vorzogen, mög -<br />
liche Einflußnahme durch NS-Ideologen zu<br />
igno rieren, indem sie das reine Wort Gottes<br />
ohne Wenn <strong>und</strong> Aber in den Mittelpunkt der<br />
kirchlichen Arbeit stellten. Auch gab es reformierte<br />
Kreise, die sich den Deutschen Christen<br />
<strong>Buchbesprechungen</strong><br />
Dietrich Meyer (Hg.): Kirchengeschichte als<br />
Autobiographie. Ein Blick in die Werkstatt<br />
zeitgenössischer Kirchenhistoriker. Rheinland-Verlag.<br />
Köln 1999. 424 Seiten <strong>und</strong> einige<br />
Abbildungen (Schriftenreihe des Vereins für<br />
Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 138)<br />
Das Biographische ist wieder gefragt in der<br />
Geschichtswissenschaft, nachdem es jahrelang<br />
im Zeichen von Sozialgeschichte, Strukturgeschichte<br />
<strong>und</strong> anderen -Geschichten verpönt<br />
war. Und im Zuge dieser Renaissance erlebt<br />
auch die Autobiographie eine neue Wertschätzung,<br />
etwa in den vielen Erinnerungen, die älter<br />
werdende Zeitgenossen anzufertigen gebeten<br />
werden. Meist sind es Ereignisse aus der<br />
Zeit des „Dritten Reiches“ bzw. der Nachkriegszeit,<br />
die in der individuellen Erinnerung<br />
lebendig werden sollen. Und angesichts des<br />
Tempos, in dem historische Veränderungen<br />
stattfinden, ist das Bemühen, Spuren des Vergangenen<br />
auch auf diese Art <strong>und</strong> Weise festzuhalten,<br />
nur allzu verständlich.<br />
Für den Leiter des Archivs der Evangelischen<br />
Kirche im Rheinland war es jedoch weniger<br />
die Geschwindigkeit der historischen<br />
Veränderung als vielmehr der Mangel an handfesten<br />
Informationen über Leben (<strong>und</strong> oft auch<br />
Werk) emeritierter Kirchenhistoriker, der ihn<br />
bewogen hat, diesen Band mit autobiographischen<br />
Skizzen eben jener Historiker herauszugeben,<br />
in denen sie Auskunft geben sollten<br />
152<br />
anschlossen <strong>und</strong> sogar eine kleine Gruppe, die<br />
fast vorbehaltlos in Adolf Hitler den von Gott<br />
gesandten Heilsbringer sah. Es stellte sich also<br />
heraus, daß, obwohl bei allen vier Gruppierungen<br />
die reformierte Theologie Basis ihres<br />
Glaubens war, es jedoch zu höchst unterschiedlichen<br />
Reaktionen auf den Nationalsozialismus<br />
kam. Die Theologie war demnach, wenn überhaupt,<br />
nur in sehr geringem Maße Gr<strong>und</strong>lage<br />
für politische Positionen, sondern die jeweiligen<br />
historischen Erfahrungen bestimmten den<br />
Weg.<br />
über ihren wissenschaftlichen Werdegang,<br />
über ihre Arbeit <strong>und</strong> über deren Ergebnisse.<br />
Und so kommen eine Dame <strong>und</strong> acht Herren zu<br />
Wort, unter ihnen Karl-Hermann Beeck <strong>und</strong><br />
Günther van Norden, die beiden Emeriti der<br />
Bergischen Universität Wuppertal.<br />
Um es in wenigen Worten zu sagen: das<br />
Buch hinterläßt beim Rezensenten einen zwiespältigen<br />
Eindruck. Nur wenige Skizzen, unter<br />
anderen die von Beeck <strong>und</strong> van Norden, sind<br />
knapp <strong>und</strong> doch aussagekräftig, auch mit der<br />
genügenden Distanz zur eigenen Person, gewissermaßen<br />
als „Selbstinterview“ – so der Titel,<br />
den Beeck seinem Rückblick gegeben hat –<br />
geschrieben worden. An etlichen anderen Stellen<br />
stößt man auf viel gespreizte Selbstdarstellung,<br />
auch auf Selbstrechtfertigung. Vielleicht<br />
hätte der Herausgeber sein vom Ansatz her<br />
durchaus begrüßenswertes Vorhaben schärfer<br />
strukturieren, auch seine Autoren straffer an<br />
der Leine führen <strong>und</strong> ihre Rückblicke strenger<br />
eingrenzen müssen. Eine gelegentlich humorvolle<br />
Sicht der Dinge hätte den Skizzen gleichfalls<br />
nicht geschadet, etwa so, wie sie Rudolf<br />
Mohr (Düsseldorf) anklingen läßt, der seinen<br />
Beitrag mit einem Gedicht von Wilhelm Busch<br />
schließt, dessen entscheidende Zeilen lauten:<br />
O weh! Ich war im Kreis gelaufen,<br />
Stand wiederum am alten Platze,<br />
Und vor mir dehnt sich lang <strong>und</strong> breit,<br />
Wie ehedem, die Ewigkeit.<br />
V.W.
Horst Groschopp: Dissidenten – Freidenkerei<br />
<strong>und</strong> Kultur in Deutschland. Berlin: Dietz<br />
Verlag, 1997, 448 Seiten.<br />
Hinter diesem etwas sperrigen Titel findet<br />
sich eine hochinteressante Darstellung jener<br />
Kräfte, welche um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende den<br />
Säkularisierungsprozeß entscheidend vorangetrieben<br />
haben. Speziell bezieht sich der Autor,<br />
ein Berliner Kulturwissenschaftler, dabei auf<br />
solche Gruppierungen, die dem „Weimarer<br />
Kartell für freiheitliche Kultur“ (1907–1919)<br />
angehörten <strong>und</strong> sich als eine Art „kultureller<br />
Gegenkirche“ verstanden. Auch Vorläufer- <strong>und</strong><br />
Nachfolge-Organisationen werden berücksichtigt,<br />
von Lichtfre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Deutschkatholiken<br />
des Vormärz bis zum Humanistischen <strong>und</strong><br />
Freidenker-Verband unserer Tage.<br />
Das Weimarer Kartell war ein loser, pragmatischer<br />
Dachverband, der lediglich etwa<br />
20 000 Persönlichkeiten (meist Intellektuelle)<br />
umfaßte. Trotz ihrer eigentlich lächerlichen<br />
Größe <strong>und</strong> bemitleidenswerten Heterogenität<br />
ist diese (heute nahezu vergessene) Vereinigung<br />
dennoch von beachtlicher Durchschlagskraft<br />
<strong>und</strong> weitreichender, anhaltender Wirkung<br />
gewesen. Groschopp qualifiziert sie als „Initiator<br />
<strong>und</strong> Förderer einer kulturellen <strong>und</strong> politischen<br />
Neuorientierung in Deutschland“, <strong>und</strong><br />
tatsächlich sind die im Gründungsprogramm<br />
formulierten, für den Kern freien Denkens repräsentativen<br />
10 Forderungen im Laufe des 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts weitgehend Realität geworden.<br />
Überraschenderweise finden sich unter den<br />
bedeutendsten der angeschlossenen Gesellschaften<br />
gleich drei, welche Wuppertaler zu<br />
Vorsitzenden hatten:<br />
Hauptstütze des Kartells war die „Deutsche<br />
Gesellschaft für Ethische Kultur“, eine sehr aktive<br />
sozialpädagogische Organisation mit einer<br />
Reihe von Bildungs- <strong>und</strong> Wohlfahrtseinrichtungen.<br />
Von 1896 bis 1903 war ihr Vorsitzender<br />
der Berliner Philosophie-Professor <strong>und</strong><br />
vormalige Barmer Oberlehrer Dr. August<br />
Döring (1834–1912), ein Sohn des Elberfelder<br />
Jünglingsverein- <strong>und</strong> Dichter-Pastors. Schon<br />
als Dortm<strong>und</strong>er Gymnasialdirektor (1870–<br />
1883) war Döring vehement für die Trennung<br />
von Kirche <strong>und</strong> Staat eingetreten, insbesondere<br />
für die Abschaffung des kirchlichen Religions -<br />
unterrichts.<br />
Zweite Stütze des Kartells war der „Deutsche<br />
Monistenb<strong>und</strong>“, 1906 durch den darwinistischen<br />
Biologen Ernst Haeckel gegründet,<br />
um wissenschaftlichen Erkenntnissen <strong>und</strong><br />
Denkweisen zum Durchbruch gegenüber<br />
kirchlichen Lehren zu verhelfen. Zum ersten<br />
Vorsitzenden wählte man den in Bremen wirkenden<br />
liberalen Theologen Dr. Albert Kalthoff<br />
(1850–1906), der aus Barmen stammte<br />
<strong>und</strong> hier August Döhng als Lehrer gehabt hatte.<br />
Dritter im B<strong>und</strong>e war der „B<strong>und</strong> für Mutterschutz“.<br />
Dieser verdankte seine Existenz der<br />
Frauen- <strong>und</strong> Friedensarbeiterin Dr. Helene<br />
Stöcker (1869–1943) aus Elberfeld, <strong>und</strong> er<br />
steuerte zur überwiegend geisteswissenschaftlichen<br />
Akademikerschaft des Kartells eine Anzahl<br />
fortschrittlicher Frauen <strong>und</strong> Ärzte bei.<br />
Später kamen verschiedene Gruppierungen<br />
sozialistischer Arbeiter hinzu, die sich wiederum<br />
auf Friedrich Engels als geistigen Vater<br />
berufen konnten. Ferner erwähnt Groschopp<br />
aus dem Bereich religiöser Freigeister den germanophilen<br />
Barmer Maler Prof. Ludwig Fahrenkrog<br />
mit seinem „B<strong>und</strong> für Persönlichkeitskultur“<br />
sowie den Elberfelder Kaplan Licht als<br />
Gründer der deutschkatholischen Gemeinde.<br />
Groschopp stellt eine Vielzahl theoretischer<br />
Richtungen <strong>und</strong> Strömungen jeweils knapp<br />
oder exemplarisch dar <strong>und</strong> vermittelt einen lebhaften<br />
Eindruck von dem mächtigen geistigen<br />
Brodeln im ausgehenden Kaiserreich. Dabei<br />
stützt er sich fast ausschließlich auf Primärquellen<br />
<strong>und</strong> berücksichtigt die in den letzten<br />
Jahren so erfreulich angewachsene, reichhaltige<br />
Sek<strong>und</strong>ärliteratur nur sporadisch.<br />
Johannes Abresch<br />
Heinrich Hahne: Nachhall. Gedanken,<br />
Beobachtungen, Erfahrungen aus einem langen<br />
Leben. Hrsg. von Susanne Hahne: Wuppertal:<br />
Verlag Fr. Staats, 1997, 908 S.<br />
Heinrich Hahne: Hinsichten auf Sammel -<br />
ausstellungen <strong>und</strong> auf einzelne Künstler. Hrsg.<br />
von Susanne Hahne, Wuppertal: Verlag Fr.<br />
Staats, 1998, 859 S., je 82,50 DM (Ausliefe-<br />
153
ung durch die Galerie Schwarzkopf, Bredde<br />
99, 42277 Wuppertal)<br />
Es gehört zu den Besonderheiten unserer<br />
Stadt, daß sie sich mit ihren freien <strong>und</strong> kritischen<br />
Geistern immer schwer getan hat. Dies<br />
gilt auch für Heinrich Hahne (1911–1996). Der<br />
aus Gelsenkirchen stammende Lehrer, Dozent<br />
<strong>und</strong> Publizist studierte in Köln, München, Kiel,<br />
Berlin <strong>und</strong> Prag Deutsch, Geschichte, Französisch<br />
<strong>und</strong> Philosophie <strong>und</strong> wurde in Berlin von<br />
Nicolai Hartmann <strong>und</strong> Eduard Spranger in Philosophie<br />
<strong>und</strong> Musikwissenschaft als zweitem<br />
Hauptfach promoviert. Im Zweiten Weltkrieg<br />
war er Soldat. Über Lippststadt <strong>und</strong> Meschede<br />
kam er 1953 nach Wuppertal, wo er „hauptberuflich“<br />
bis zu seiner Pensionierung als Studiendirektor<br />
am Carl-Duisberg-Gymnasium unterrichtete.<br />
Dieser Beruf allein genügte dem<br />
engagierten <strong>und</strong> bei seinen Schülern beliebten<br />
Lehrer jedoch nicht. Heinrich Hahne gab an<br />
der Volkhochschule Kurse in den Fächern Literatur<br />
<strong>und</strong> Philosophie, wirkte als Fachleiter für<br />
Philosophie am Staatlichen Studienseminar,<br />
gehörte viele Jahre dem Prüfungssausschuß<br />
der Universität Köln für Philosophie an <strong>und</strong><br />
engagierte sich an der Gesamthochschule<br />
Duisburg als Gründer <strong>und</strong> Leiter einer Forschungsstelle<br />
für Philosophie. Vor allem war er<br />
aber mit Leib <strong>und</strong> Seele kritischer Publizist.<br />
Schon in den 30er Jahren schrieb er für das<br />
Berliner Tageblatt <strong>und</strong> die Frankfurter Zeitung.<br />
Von 1950 an gehörte er zu den ständigen Mitarbeitern<br />
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung<br />
(FAZ). Für über 70 verschiedene Zeitungen<br />
<strong>und</strong> Zeitschriften verfaßte er Kritiken, Glossen<br />
Reiseberichte <strong>und</strong> Essays. Schwerpunkte bildeten<br />
die Bereiche Musik, Literatur, Philosophie<br />
<strong>und</strong> Pädagogik. Bereits zu Lebzeiten legte<br />
Heinrich Hahne Teilsammlungen seiner weit<br />
zerstreuten Arbeiten in mehreren Bänden vor<br />
(z.B. „In der Pause. Ketzereien eines Studienrates“,<br />
1956 oder „Wortwörtlich. Glossen <strong>und</strong><br />
Skizzen“, 1977 <strong>und</strong> zuletzt „Wort + Bild“,<br />
1990).<br />
Kurz nach dem Tode ihres Mannes hat Susanne<br />
Hahne im Herbst 1996 zwei Bände mit<br />
thematisch ausgewählten Texten unter den Titeln<br />
„Letzte Reisen. Auf vertrauten Wegen zu<br />
154<br />
bevorzugten Zielen“ <strong>und</strong> „Perspektiven. Erfahrungen<br />
aus einem langen Leben“ im Staats-<br />
Verlag veröffentlicht, die ebenfalls über die<br />
Galerie Schwarzkopf zu beziehen sind.<br />
Die hier anzuzeigenden voluminösen<br />
Bände „Nachhall“ <strong>und</strong> „Hinsichten“, die aus<br />
dem Nachlaß zusammengestellt sind, zeigen<br />
beeindruckend die ganze Breite <strong>und</strong> Vielfalt<br />
von Heinrich Hahnes publizistischem <strong>und</strong><br />
schriftstellerischem Schaffen. Der Bogen<br />
spannt sich im ersten Band von Persönlichem<br />
über Philosophie, Pädagogik <strong>und</strong> Sprache bis<br />
hin zu Kunst, Literatur <strong>und</strong> Musik. Umfang -<br />
reiche philosphische Essays über die Tendenz<br />
zur Unsterblichkeit oder das Wahre stehen neben<br />
kurzen Notizen über nicht datierte Theateraufführungen,<br />
die ohne nähere Erläuterungen<br />
im Gr<strong>und</strong>e nicht verständlich sind. Die Frage,<br />
ob mit der Aufnahme solcher Kurztexte dem<br />
Autor ein Gefallen getan worden ist, bleibt offen.<br />
Gerade bei den Theater- <strong>und</strong> Musikkritiken<br />
hätte ich mir die genauen Angaben, wann<br />
<strong>und</strong> wo sie erschienen sind, gewünscht. Die im<br />
Inhaltsverzeichnis aufgeführten Jahreszahlen<br />
helfen nur bedingt weiter. Immerhin bringen<br />
sie in das Bewußtsein, daß Heinrich Hahne länger<br />
als ein halbes Jahrh<strong>und</strong>ert sich kritisch,<br />
geistreich <strong>und</strong> sprachgewandt zu den verschiedensten<br />
Fragen der Zeit geäußert hat. Die ungenauen<br />
Datierungen gehen übrigens nicht auf<br />
das Konto der Herausgeberin. Der Verfasser<br />
hat auch in den von ihm selbst herausgegebenen<br />
Sammelbänden auf genaue Angaben verzichtet.<br />
Vielleicht haben ihn die exakten Quellennachweise<br />
nach dem Erscheinen der Texte<br />
auch nicht mehr interessiert, wollte er diese unabhängig<br />
davon sprechen <strong>und</strong> wirken lassen.<br />
Die Lektüre der Texte macht immer wieder<br />
deutlich, daß Heinrich Hahne keine Moden<br />
mitgemacht hat, immer unabhängig seine Meinung<br />
vertreten hat <strong>und</strong> deshalb auch unbequem<br />
gewesen ist (vgl. z.B. die Kritiken des DDR-<br />
Gastspiels mit dem Stück „Die neuen Leiden<br />
des jungen W.“, S. 466 oder der Brecht-Inszenierung<br />
des „Hofmeisters“, S. 501).<br />
Der Band „Hinsichten“ enthält Kunst -<br />
kritiken, die vor allem in der FAZ, Die Kunst<br />
<strong>und</strong> Weltkunst erschienen sind. Hinzu kommen<br />
Reden zu Ausstellungseröffnungen <strong>und</strong> Kata-
logbeiträge. Der Band ist nicht weniger als eine<br />
Geschichte der Kunst <strong>und</strong> des Kunstbetriebes<br />
der 2. Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts im Spiegel<br />
von Heinrich Hahnes Kritiken <strong>und</strong> Essays. Einigen<br />
Künstlern, die der Kritiker besonders<br />
schätzt – u.a. Christian Rohlfs <strong>und</strong> Emil<br />
Schumacher – nähert er sich aus einer immer<br />
wieder neuen Perspektive. Für die Wuppertaler<br />
Kunstgeschichte bildet dieser Band einen ge -<br />
radezu unerschöpflichen Steinbruch. Es ist<br />
gut, daß Susanne Hahne diese Bände vorgelegt<br />
hat.<br />
Ich weiß nicht, ob Heinrich Hahne selbst<br />
ihm angetragene Ehrungen oder Auszeichnungen<br />
kategorisch abgelehnt hat. Angesichts seines<br />
Lebenswerkes, das sich in diesen beiden<br />
Bänden widerspiegelt, überrascht es doch, daß<br />
er nicht nach seinem Aussscheiden aus dem<br />
Kuratorium für die Verleihung des Von der<br />
Heydt-Preises diese Auszeichnung erhalten hat<br />
oder für eine andere Ehrung vorgeschlagen<br />
worden ist. Oder hängt dieses Übergehen von<br />
offizieller Seite doch damit zusammen, daß<br />
Wer kennt seine Heimat?<br />
Das Stadtarchiv hat diese Elberfelder Ansichtskarte,<br />
die am 20. Februar 1910 nach<br />
Pirna in Sachsen geschickt worden ist, erworben.<br />
Derjenige Leser unserer Zeitschrift „Geschichte<br />
im Wuppertal“, der dem Stadtarchiv<br />
seine Maxime „Was in der Sache begründet ist,<br />
<strong>und</strong> wovon ich überzeugt bin, das muß ich<br />
auch aussprechen können“ gelautet hat?<br />
U. E<br />
.<br />
Christiane Gibiec: Türkischrot, Köln:<br />
Emonds, 1999, 215 S., DM 16,80<br />
Die Verfasserin legt in kurzer Folge bereits<br />
ihren zweiten bergischen „Krimi“ vor. Sie verlegt<br />
die Handlung in die Zeit des Barmer Vormärz.<br />
Eine Fabrikantengattin wird in einem<br />
Färberbottich ermordet aufgef<strong>und</strong>en. Vor dem<br />
Hintergr<strong>und</strong> der im Entstehen begriffenen Arbeiterbewegung<br />
<strong>und</strong> eines bigotten Wuppertaler<br />
Pietismus erntwirft Christiane Gibiec einen<br />
fesselnden Kriminalfall, der auch den mit den<br />
Wuppertaler Örtlichkeiten nicht vertrauten Leser<br />
unweigerlich in seinen Bann ziehen wird.<br />
M. K<br />
(Friedrich-Engels-Allee 89-91, Tel.: 0202/563-<br />
66 23, Fax: 0202/ 563-80 25) zuerst mitteilt,<br />
von wo aus dieser Blick auf Elberfeld foto -<br />
graphiert worden ist, erhält einen Buchpreis.<br />
U. E.<br />
155
Druck:<br />
Verlagsdruckerei Schmidt GmbH, 91413 Neustadt an der Aisch<br />
Redaktionsanschrift:<br />
Stadtarchiv Wuppertal,<br />
Friedrich-Engels-Allee 89–91, 42285 Wuppertal-Barmen<br />
Tel. 02 02 / 5 63 66 23, Fax 02 02 / 5 63 80 25<br />
Preis:<br />
DM 15,00 (Bei Zusendung zuzüglich Porto)<br />
Die Mitglieder der Abteilung Wuppertal des Bergischen Geschichtsvereins erhalten die Zeitschrift<br />
„Geschichte im Wuppertal“ kostenlos.<br />
Gedruckt mit Unterstützung des Landschaftsverbandes Rheinland, Köln.<br />
Autorenverzeichnis:<br />
Abresch, Johannes, Dr.<br />
Platz der Republik 21, 42107 Wuppertal<br />
de Bruyn-Ouboter, Hans Joachim<br />
Heinrich-Janssen-Str. 3, 42289 Wuppertal<br />
Eckardt, Gudrun<br />
Bremer Straße 146, 26382 Wilhelmshaven<br />
Eckardt, Uwe, Dr.<br />
Stadtarchiv Wuppertal, Friedrich-Engels-Allee<br />
89-91, 42285 Wuppertal<br />
Elsner, Peter<br />
Stadtarchiv Wuppertal, Friedrich-Engels-Allee<br />
89-91, 42285 Wuppertal<br />
Gilsbach, Stefan<br />
Birkenstraße 89, 40233 Düsseldorf<br />
Goebel, Klaus, Prof. Dr.<br />
Mühlenfeld 42, 42369 Wuppertal<br />
Herbers, Winfried<br />
Asternstr. 2 c, 42109 Wuppertal<br />
156<br />
Knieriem, Michael, Dr.<br />
Historisches Zentrum, Engelsstr. 10,<br />
42283 Wuppertal<br />
Mahlberg, Hermann J., Prof. Dr.<br />
Bergische Universität/Gesamthochschule<br />
Wuppertal, Forschungsstelle für<br />
Architekturgeschichte <strong>und</strong> Denkmalpflege,<br />
Haspeler Str. 27, 42285 Wuppertal<br />
Meyer-Kahrweg, Ruth<br />
Weddigenstr. 51, 42389 Wuppertal<br />
Okroy, Michael M. A.<br />
Hombüchel 61, 42105 Wuppertal<br />
Rhefus, Reiner<br />
Wilhelm-Raabe-Weg 34, 42109 Wuppertal<br />
Schmitz, Werner W.<br />
Im Johannistal 23, 42119 Wuppertal<br />
Wittmütz, Volkmar, Prof. Dr.<br />
Hopscheider Weg 46, 42555 Velbert<br />
Titelbild: St. Suitbertus in Elberfeld, Nordwestansicht, Zustand um 1920 (Pfarrarchiv St. Suitbertus).