25.09.2020 Aufrufe

SELTENE ERKRANKUNGEN

Fokus: Lysosomale Speichererkrankungen. Leben mit Morbus Gaucher, Morbus Fabry und Morbus Hunter – drei emotionale Geschichten.

Fokus: Lysosomale Speichererkrankungen. Leben mit Morbus Gaucher, Morbus Fabry und Morbus Hunter – drei emotionale Geschichten.

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EINE UNABHÄNGIGE KAMPAGNE VON MEDIAPLANET<br />

Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de 1<br />

Lesen Sie mehr auf www.seltenekrankheiten.de<br />

<strong>SELTENE</strong><br />

<strong>ERKRANKUNGEN</strong><br />

NICHT<br />

VERPASSEN<br />

AADC-Mangel<br />

Die sehr seltene<br />

Erkrankung<br />

erkennen<br />

Seite 8<br />

Nicht-dystrophe<br />

Myotonien<br />

Wenn das<br />

Leben auf<br />

Pause<br />

drückt<br />

Seite 16<br />

Fokus:<br />

Lysosomale<br />

Speichererkrankungen<br />

Leben mit Morbus Gaucher, Morbus Fabry und<br />

Morbus Hunter – drei emotionale Geschichten.


2<br />

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VERANT-<br />

WORTLICH<br />

FÜR DEN<br />

INHALT<br />

IN DIESER<br />

AUSGABE:<br />

MIRIAM<br />

HÄHNEL<br />

Menschen mit seltenen<br />

Erkrankungen<br />

brauchen eine angemessene<br />

Versorgung und unsere Solidarität<br />

– jetzt mehr denn je!<br />

IN DIESER AUSGABE<br />

06<br />

Medizinische<br />

Detektivarbeit<br />

Die schwierige Diagnose von<br />

seltenen Erkrankungen bei<br />

Kindern und Jugendlichen.<br />

19<br />

Cushing-Syndrom<br />

Wenn zu viel Cortisol im<br />

Körper krank macht.<br />

Industry Manager Health: Miriam Hähnel<br />

Geschäftsführung: Richard Båge (CEO),<br />

Philipp Colaço (Managing Director),<br />

Franziska Manske (Head of Editorial<br />

& Production), Henriette Schröder<br />

(Sales Director) Designer: Elias Karberg<br />

Mediaplanet-Kontakt: redaktion.de@<br />

mediaplanet.com Coverbild: Privat<br />

facebook.com/<br />

MediaplanetStories<br />

@Mediaplanet_germany<br />

Please recycle<br />

Eva Luise<br />

Köhler<br />

Schirmherrin<br />

ACHSE e. V.<br />

Die Pandemie hat<br />

uns alle tief getroffen<br />

Nach der ersten Schockstarre wurden Rettungsschirme<br />

gespannt und Schutzmaßnahmen ergriffen.<br />

Kontaktsperre, Maskenpflicht und gegenseitige<br />

Rücksichtnahme waren selbstverständlich. Die<br />

Zahlen der mit COVID-19 Infizierten in Deutschland<br />

sanken. Die Sommermonate brachten Entlastung<br />

und für viele Menschen so etwas wie „Normalität“<br />

in den Alltag zurück.<br />

Mit großer Sorge blicke<br />

ich jedoch noch immer<br />

auf die vielen Kinder<br />

und Erwachsenen, die<br />

mit chronischen seltenen Erkrankungen<br />

leben. In Deutschland sind<br />

es etwa vier Millionen. Sie trifft<br />

die Corona-Pandemie besonders<br />

hart: Viele sind gesundheitlich nun<br />

zusätzlich gefährdet. Existenzielle<br />

Ängste bestimmen ihren Alltag<br />

mehr denn je. Hinzu kommen die<br />

Belastungen der vielen pflegenden<br />

Angehörigen, die beruflich tätig<br />

sind. Förder- oder Tagespflegeeinrichtungen<br />

sind seit Monaten geschlossen.<br />

Erkrankte oder Kinder<br />

aus besonders gefährdeten Familien<br />

durften und dürfen nicht in die<br />

Schule. Notwendige Strukturen,<br />

um Beruf, Alltag und Betreuung<br />

unter einen Hut zu bringen, fehlen.<br />

Entlastung und Unterstützung sind<br />

unerreichbar. Es sind dramatische<br />

Nachrichten, die die ACHSE in<br />

den vergangenen Wochen erreicht<br />

haben. Physische und soziale Distanzierung<br />

haben bedrückende Auswirkungen<br />

auf Betroffene, die seit<br />

Monaten zu Hause bleiben und in<br />

die Isolation gedrängt sind. Sie werden<br />

unsichtbar. Das macht sie mehr<br />

denn je zu den Waisen der Medizin –<br />

nicht nur in unserem Gesundheitssystem,<br />

sondern auch innerhalb<br />

Menschen mit<br />

seltenen Erkrankungen<br />

werden in der<br />

Pandemie unsichtbar.<br />

Das macht sie mehr<br />

denn je zu den Waisen<br />

der Medizin – nicht<br />

nur in unserem<br />

Gesundheitssystem,<br />

sondern auch<br />

innerhalb unserer<br />

Gesellschaft.<br />

unserer Gesellschaft. Das dürfen<br />

wir nicht zulassen. Unterstützen Sie<br />

Menschen mit chronischen seltenen<br />

Erkrankungen und deren Angehörige.<br />

Seien Sie solidarisch mit denen,<br />

die Hilfe brauchen.<br />

Wenn Sie, Angehörige oder Bekannte<br />

mit chronischen seltenen Erkrankungen<br />

konkreten krankheitsübergreifenden<br />

Rat suchen, können Sie<br />

sich an die ACHSE wenden.<br />

Ich wünsche Ihnen viel Kraft für die<br />

kommenden Wochen.


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de 3<br />

Wir sind auf dem richtigen Weg!<br />

Arzneimittel für seltene Erkrankungen<br />

Arzneimittel, die speziell für den Einsatz bei seltenen Erkrankungen entwickelt wurden, heißen Orphan Drugs. Wird ein solches<br />

Medikament zugelassen, erhält es in der EU für die Dauer von zehn Jahren Marktexklusivität. Seit 2000 gibt es eine gemeinsame<br />

EU-Verordnung, die die Zulassung solcher Orphan Drugs regelt.<br />

Die Organisation Eurordis<br />

schätzt, dass 6–7 % der europäischen<br />

Bevölkerung an einer<br />

seltenen Erkrankung leiden.<br />

Jedes Jahr wird mittlerweile<br />

eine zweistellige Zahl von<br />

Orphan Drugs zugelassen.<br />

2019 mussten Krankenkassen<br />

4 % ihrer Arzneimittelausgaben<br />

für Orphan Drugs aufwenden.<br />

Kommerziell sind sie also<br />

Nischenpräparate.<br />

Seit dem Jahr 2000 entwickeln forschende Pharmaunternehmen verstärkt Medikamente gegen seltene Erkrankungen. Die folgende Grafik<br />

zeigt einen erfreulichen Trend, 2018 war sogar ein Rekordjahr bezüglich der Neueinführungen von solchen Orphan Drugs:<br />

44 %<br />

Anteil der<br />

Orphan Drugs an den<br />

Neueinführungen von<br />

Medikamenten mit<br />

neuem Wirkstoff in<br />

Deutschland:<br />

33 % 33 %<br />

29 %<br />

20 %<br />

2015 2016 2017 2018<br />

Aktuell (Stand: August 2020) werden 108 zugelassene Medikamente mit aktivem Orphan-Drug-Status gezählt; dazu kommen noch 62<br />

Medikamente, die den Status früher einmal hatten (fast alle davon sind noch auf dem Markt).<br />

2019<br />

Die Entwicklung weiterer Orphan Drugs: Wir sind auf dem richtigen Weg!<br />

Derzeit (Stand: August 2020) haben weitere rund 2.100 Medikamente, die sich in der<br />

Entwicklung befinden, den Orphan-Drug-Status der EU erhalten.<br />

Die Erfindung geeigneter Medikamente gelingt nur da, wo genug über<br />

die Krankheitsvorgänge auf molekularer Ebene bekannt ist.<br />

Bei den meisten seltenen Krankheiten ist die Wissenschaft davon<br />

aber weit entfernt. Deshalb ist auch der Ausbau der Grundlagenforschung<br />

zu seltenen Krankheiten so wesentlich.<br />

QUELLE: VERBAND DER FORSCHENDEN PHARMA-UNTERNEHMEN<br />

(WWW.VFA.DE/ORPHANDRUGS)


4<br />

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Schluckbeschwerden als ständiger Begleiter<br />

– die eosinophile Ösophagitis kann die Ursache sein<br />

Text Hanna Sinnecker<br />

Die eosinophile Ösophagitis<br />

(kurz EoE) bezeichnet<br />

eine seltene<br />

immunvermittelte Erkrankung,<br />

bei der die<br />

Speiseröhre (Ösophagus)<br />

chronisch entzündet<br />

ist. Die Anzahl Betroffener, vor allem<br />

in Industrieländern, nimmt nachweislich<br />

stetig zu. Aufgrund der unspezifischen<br />

Symptome kommt es aber nach<br />

wie vor häufig zu Fehldiagnosen.<br />

Ursachen und Symptome erkennen<br />

Die genaue Ursache der EoE ist noch<br />

nicht bekannt, es werden allerdings<br />

Nahrungsmittelallergene als Auslöser<br />

vermutet. Der Großteil der meist männlichen<br />

Patienten – oft zwischen 30 und<br />

50 Jahren – weist außerdem andere allergische<br />

Erkrankungen, wie Asthma,<br />

Heuschnupfen oder allergische Ekzeme<br />

auf.<br />

Zu den Hauptsymptomen der EoE<br />

gehören Schluckbeschwerden beim<br />

Verzehr fester Speisen, besonders bei<br />

trockenen oder faserigen Produkten wie<br />

Fleisch, Brot oder Rohkost, und Schmerzen<br />

im Brustkorb. Betroffene haben dadurch<br />

oft das Gefühl, ihnen würde ein<br />

Bissen im Hals stecken bleiben, und vermeiden<br />

solche Nahrungsmittel, um die<br />

Beschwerden zu vermeiden. Tatsächlich<br />

kann bei Betroffenen im schlimmsten<br />

Fall aber auch ein Nahrungsbolus im<br />

Hals stecken bleiben (Bolusimpaktion)<br />

und dadurch einen medizinischen Notfall<br />

hervorrufen. Auch Sodbrennen kann<br />

zu den Symptomen gehören, weshalb<br />

die EoE von einer Refluxkrankheit unterschieden<br />

werden sollte.<br />

Nicht diagnostiziert oder falsch behandelt<br />

schreitet die Erkrankung immer<br />

weiter fort. Die Patienten sind einem hohen<br />

Leidensdruck ausgesetzt und kämpfen<br />

mit dauerhaften Einschränkungen<br />

im Alltag. Betroffene und behandelnde<br />

Ärzte sollten unbedingt hellhörig<br />

werden, wenn die oben genannte Kombination<br />

von Beschwerden auftritt. Das<br />

gilt ganz besonders, wenn ein Reflux<br />

diagnostiziert und behandelt wird, aber<br />

keine Besserung der Symptome einsetzt.<br />

Diagnose und Therapie<br />

Die Diagnose sollte in jedem Fall durch<br />

einen Gastroenterologen erfolgen, der<br />

nach einer ausführlichen Anamnese<br />

eine endoskopische Untersuchung<br />

durchführt, bei der Gewebeproben<br />

aus der Speiseröhre entnommen und<br />

analysiert werden. Die Diagnose kann


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de 5<br />

dann durch den Nachweis eosinophiler Granulozyten zweifelsfrei<br />

gestellt und eine Therapie eingeleitet werden.<br />

Ziel einer Therapie ist, die Erkrankung im Verlauf zu stoppen.<br />

Dies kann durch mehrere Möglichkeiten erreicht werden,<br />

die unter den „3 D“ zusammengefasst werden: Diet – Drugs –<br />

Dilatation. Zum einen hat sich eine Anpassung der Ernährung<br />

(Diet) als hilfreich erwiesen. Ziel solcher Diäten ist es, potenzielle<br />

Allergieauslöser zu meiden. Dabei werden zunächst<br />

möglichst viele der Allergene vom Speiseplan gestrichen, die<br />

zu einer der 6 folgenden Nahrungsmittelgruppen gehören:<br />

tierische Milch und Milchprodukte, Weizen/Gluten, Eier,<br />

Nüsse, Soja/Hülsenfrüchte und Fisch/Meeresfrüchte. Nach<br />

Abklingen der Symptome werden dann einzelne Lebensmittel<br />

schrittweise wieder eingeführt, um die verantwortlichen<br />

Allergene zu identifizieren und auch EoE-Patienten eine möglichst<br />

vielfältige Auswahl an Speisen zu ermöglichen. Jedoch<br />

kann nur ein geringer Teil der Betroffenen eine solche Diät<br />

langfristig durchhalten.<br />

Zu den medikamentösen Therapieoptionen gehören Protonenpumpenhemmer<br />

(PPI), die bei einem kleinen Teil der<br />

EoE-Patienten wirken, sowie Kortikosteroidpräparate. Dabei<br />

unterscheidet man zwischen systemisch und lokal wirksamen<br />

Präparaten, wobei systemisch wirksame Kortikosteroide<br />

starke Nebenwirkungen haben können. Beim Einsatz lokal<br />

wirksamer Präparate treten deutlich weniger Nebenwirkungen<br />

auf, sie wirken der Entzündung direkt in der Speiseröhre<br />

entgegen und zeigen sehr gute Therapieerfolge. Daher sind<br />

lokal anwendbare Medikamente die erste Wahl einer medikamentösen<br />

Therapie.<br />

Bei Patienten, bei denen eine medikamentöse Therapie nicht<br />

möglich oder ungenügend wirksam ist, kann eine mechanische<br />

Aufweitung der Speiseröhre, die sogenannte Dilatation,<br />

durchgeführt werden. Da dieser Eingriff aber nicht die<br />

eigentliche Entzündung bekämpft, wird die Dilatation grundsätzlich<br />

mit entzündungshemmenden Medikamenten kombiniert,<br />

um die Beschwerden dauerhaft zu lindern.<br />

Die Beschwerdefreiheit der betroffenen Patienten ist das Ziel<br />

einer Therapie. Denn nur dann ist ein geregelter Alltag ohne<br />

Einschränkungen wieder möglich.<br />

Hauptsymptome der EoE<br />

Schluckbeschwerden, vor allem beim Verzehr fester Speisen<br />

und faseriger/trockener Nahrungsmittel<br />

Unangenehmes oder schmerzhaftes Gefühl, dass ein Bissen<br />

im Hals stecken bleibt<br />

Sodbrennen<br />

Schmerzen im Brustraum<br />

Bolusimpaktion: Nahrungsbissen bleiben<br />

im Hals stecken<br />

ACHTUNG!<br />

Dies kann einen medizinischen Notfall hervorrufen!<br />

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Frank*, EoE-Patient, erzählt seine Geschichte<br />

Frank ist im Außendienst tätig und viel im Auto unterwegs,<br />

sein Mittagessen verzehrt er daher oft „on the road“. Als<br />

er mal wieder ein Sandwich im Auto isst, verkrampft sich<br />

plötzlich seine Speiseröhre, er kann den Bissen einfach<br />

nicht herunterschlucken. Nach langen fünf Minuten löst<br />

sich der Krampf. Frank denkt, er habe einfach zu schnell<br />

gegessen oder nicht ordentlich gekaut. Aber die Krämpfe<br />

kommen wieder und passieren häufiger. Er geht zum Arzt,<br />

aber wird beschwichtigt: auch der Mediziner ist der Meinung,<br />

dass er sich einfach mehr Zeit beim Essen lassen<br />

solle.<br />

Sein Bauchgefühl sagt ihm, dass hinter den Krämpfen etwas<br />

anderes stecken muss. Vielleicht eine Reflux-Erkrankung<br />

wie bei seinem Vater? 2015 besucht er daher den Arzt seines<br />

Vaters, aber die Diagnose ist eine ganz andere: Frank<br />

leidet an einer eosinophilen Ösophagitis (meist abgekürzt<br />

als EoE), einer seltenen entzündlichen Erkrankung der<br />

Speiseröhre. Sofort wird er medikamentös eingestellt, die<br />

verschriebenen Protonenpumpenhemmer, die für die EoE<br />

nicht zugelassen und für die Dauertherapie nicht getestet<br />

sind, nutzt er nach Bedarf. Solange er die Medikamente einnimmt,<br />

ist er beschwerdefrei. Setzt er sie ab, kommen die Beschwerden<br />

schon nach wenigen Tagen zurück und beeinträchtigen<br />

seinen Alltag enorm. Einmal kommt es so<br />

weit, dass er beim Abendessen mit Freunden ein Stück<br />

Fleisch nicht schlucken kann. "Es fühlte sich an, als hätte<br />

mir jemand ein Messer in die Brust gestoßen", sagt er. Die<br />

Schmerzen halten zwei Stunden lang an und sind so stark,<br />

dass er sich übergeben muss.<br />

Solche oder ähnliche Geschichten haben viele Betroffene<br />

erlebt, die an einer eosinophilen Ösophagitis leiden.<br />

Seit 2018 gibt es nun das erste, eigens für EoE-Patienten<br />

entwickelte und offiziell zugelassene Medikament,<br />

das die Beschwerden dauerhaft im Zaum hält. Es ist als<br />

Schmelztablette mit Brauseeigenschaften einfach einzunehmen<br />

und lokal in der Speiseröhre wirksam, dadurch ist es<br />

gut verträglich und nebenwirkungsarm. Als Frank von der<br />

Zulassung dieser Therapie hört, hat er Tränen in den Augen<br />

gehabt, sagt er. Ein deutliches Zeichen, wie groß der<br />

Leidensdruck ist, unter dem Betroffene stehen und wie<br />

groß die Hoffnung, durch diese neue Behandlungsoption<br />

ein großes Stück Lebensqualität zurückzugewinnen.<br />

Wenn Sie mehr zu dieser Erkrankung wissen möchten,<br />

finden Sie auf www.schluckbeschwerden.de umfangreiche<br />

Informationen zur EoE. Für Ärzte und medizinisches<br />

Fachpersonal gibt es zudem ein gesondertes Informationsportal<br />

für Fachkreise.<br />

*Name von der Redaktion geändert


6<br />

Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

Seltene Erkrankungen bei Kindern und<br />

Jugendlichen – eine ständige Herausforderung<br />

für Kinder- und Jugendärzte<br />

In der Bundesrepublik leben<br />

nach aktuellen Schätzungen<br />

rund drei Millionen Kinder,<br />

die an einer seltenen oder sehr<br />

seltenen Krankheit leiden. Das stellt<br />

besonders Kinder- und Jugendärzte<br />

vor große Herausforderungen<br />

bezüglich der Diagnosefindung. Das<br />

Neugeborenenscreening ist ohne<br />

Zweifel ein wichtiges Instrument,<br />

um bereits in den ersten Lebenstagen<br />

eventuell vorliegende seltene<br />

Erkrankungen aufzudecken.<br />

Allerdings sind mit diesem Screening<br />

noch lange nicht alle seltenen<br />

vererbbaren Erkrankungen abgedeckt.<br />

Wenn nun ein kleiner Patient<br />

unspezifische Symptome zeigt und<br />

alle bisherigen Vermutungen ergebnislos<br />

bleiben, ist diagnostischer<br />

Spürsinn gefragt. Was können also<br />

Kinder- und Jugendärzte konkret<br />

dazu beitragen, dass seltene Erkrankungen<br />

schneller diagnostiziert<br />

und die betroffenen Kinder, sofern<br />

verfügbar, einer Therapie zugeführt<br />

werden können?<br />

Eine vertrauensvolle Kommunikation<br />

zwischen Eltern und Kinderund<br />

Jugendarzt ist eine wichtige<br />

Basis: Es gilt, die Sorgen und Beobachtungen<br />

der Eltern ernst zu nehmen.<br />

Treten Beschwerden immer<br />

wieder auf? Manifestieren sie sich in<br />

Kombination mit ungewöhnlichen<br />

Charakteristika, die nicht zur bisherigen<br />

Diagnose passen wollen? Gab es<br />

in der Familie des betroffenen Kindes<br />

bereits ähnliche Fälle? Das ist klassische<br />

Mustererkennung, die auch bei<br />

Kinder- und Jugend- sowie Allgemeinärzten<br />

immer wieder geschult<br />

werden kann und muss, um rätselhafte<br />

Fälle lösen zu können. Dazu gehört<br />

auch, dass man nie das Interesse<br />

an schwierigen Fällen verliert und<br />

die Chance erkennt, für den kleinen<br />

Patienten und dessen Familie große<br />

Veränderungen zu bewirken. Denn<br />

in vielen Fällen ist die richtige Diagnose<br />

lebensentscheidend.<br />

Wenn dann tatsächlich der Verdacht<br />

auf eine seltene Erkrankung<br />

im Raum steht, gibt es zwei Möglichkeiten:<br />

Entweder der Kinder- und<br />

Jugendarzt hat die Möglichkeit,<br />

selbst weitere Untersuchungen vorzunehmen,<br />

oder er überweist den<br />

Patienten an einen Fachkollegen<br />

oder, noch besser, an ein Zentrum für<br />

seltene Erkrankungen, wo dann die<br />

weitere Differenzialdiagnostik erfolgen<br />

kann. Nicht jeder Fall, der „von<br />

der Norm abweicht“, wird letztendlich<br />

auch Klärung finden können.<br />

Die Kinder- und Jugendärzte spielen<br />

im Diagnosedschungel aber eine bedeutende<br />

Rolle, denn sie sind es, die<br />

den entscheidenden Stein ins Rollen<br />

bringen können. Und das ist der<br />

Dr. Thomas<br />

Fischbach<br />

Präsident des<br />

Berufsverbandes<br />

der<br />

Kinder- und<br />

Jugendärzte<br />

BVKJ e. V.<br />

FOTO:SHUTTERSTOCK<br />

wichtigste Schritt, damit Kinder<br />

mit seltenen Erkrankungen<br />

schneller diagnostiziert<br />

und entsprechend versorgt<br />

werden können.<br />

Ganz wichtig für die Eltern<br />

betroffener Kinder ist es, bei<br />

Auffälligkeiten und Beschwerden<br />

des Kindes gerade jetzt<br />

keine Scheu vor dem Arztbesuch<br />

zu haben: Kinder- und Jugendärzte<br />

und Spezialisten im<br />

Bereich seltener Erkrankungen<br />

sind weiterhin für ihre<br />

Patienten da, auch in Pandemie-Zeiten.<br />

Das gilt besonders, wenn<br />

bereits eine Diagnose gestellt<br />

werden konnte und das betroffene<br />

Kind therapiert werden<br />

kann. Wenn seitens der Eltern<br />

Unsicherheiten bestehen, ob<br />

das Kind durch eine eventuell<br />

chronische seltene Erkrankung<br />

zur Risikogruppe<br />

gehört, ist ihr behandelnder<br />

Arzt Ansprechpartner Nummer<br />

eins, mit dem sie Ängste<br />

und Sorgen offen besprechen<br />

können. Auf keinen Fall sollten<br />

eigenmächtig Medikamente<br />

abgesetzt werden, da<br />

das ein großes Risiko für das<br />

Wohlergehen der jungen Patienten<br />

darstellt.<br />

Zudem sollte gerade jetzt vor<br />

dem nahenden Herbst noch<br />

einmal der Impfstatus überprüft<br />

werden, damit besonders<br />

chronisch erkrankte Kinder<br />

keinen zusätzlichen Gefährdungen<br />

durch beispielsweise<br />

Grippeviren ausgesetzt werden,<br />

die das Immunsystem unnötig<br />

schwächen.<br />

Text Dr. Thomas Fischbach<br />

Für den Besuch beim Kinder- und Jugendarzt hat der<br />

BVKJ (www.bvkj.de) Empfehlungen erlassen,<br />

um Eltern und ihre Kinder zu schützen. Der Besuch<br />

sollte nach telefonischer Terminvereinbarung und<br />

nur in Begleitung eines Elternteils erfolgen. Das<br />

Abstands- und Hygienegebot und die Niesetikette<br />

sollten in jedem Fall eingehalten werden, Eltern<br />

mögen bitte einen Mund- Nasen-Schutz tragen.


Wie lange dauert es durchschnittlich<br />

bis zur Diagnose?<br />

Untersuchungen haben ergeben, dass<br />

die Latenz zwischen Erstsymptom und<br />

Diagnosesicherung bei durchschnittlich<br />

20 Jahren liegt.<br />

Können Sie uns an einem konkreten<br />

Fall erklären, was die Schwierigkeit<br />

bei der Diagnose ist?<br />

Bei einem unserer CTX-Patienten, der<br />

jetzt bereits zwölf Jahre alt ist, bestanden<br />

seit dem achten Lebensmonat schwere<br />

Durchfälle. Die Eltern haben mir berichtet,<br />

wie schlimm das alles war. Es sind<br />

Dutzende Untersuchungen erfolgt, doch<br />

die Durchfälle blieben. Im Alter von fünf<br />

Jahren kam bei dem Patienten eine Linsentrübung<br />

(Katarakt) hinzu, was die<br />

Ärzte auch nicht auf die richtige Spur<br />

führte. Dann kam die Familie zu uns und<br />

im Alter von neun Jahren konnten wir<br />

die Diagnose stellen.<br />

Wie wird die Diagnose gestellt?<br />

Zeigt ein Kind typische Symptome, sollte<br />

jeder Arzt hellhörig werden und an einen<br />

bestimmten Laborwert denken: Cholestanol<br />

im Blut. Je früher eine Diagnose<br />

gestellt werden kann, desto positiver ist<br />

der Therapieverlauf im späteren Leben.<br />

Bitte gehen Sie genauer darauf ein.<br />

Therapieeffekte können anhand von Familienuntersuchungen<br />

herausgefunden<br />

werden. CTX ist ja eine Erbkrankheit.<br />

Gehen wir mal von unserem 12-jährigen<br />

Jungen aus. Würde er ein Geschwisterkind<br />

bekommen, könnte man bereits<br />

im Säuglingsalter die Diagnose stellen.<br />

Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de 7<br />

CTX schon im Kindesalter erkennen!<br />

Dr. med. Simone Stolz, Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Carl-Thiem-Klinikum<br />

Cottbus gGmbH, spricht im Interview über die cerebrotendinöse Xanthomatose, kurz CTX: eine schwerwiegende<br />

Erkrankung, die sich meist schon im frühen Kindesalter bemerkbar macht. Text Benjamin Pank<br />

Hier gibt es auch eine Reihe von Untersuchungen,<br />

die belegen, dass sehr frühe<br />

medikamentöse Therapiemaßnahmen<br />

Symptome wie Katarakt, Durchfälle,<br />

Entwicklungsverzögerungen verhindern<br />

können.<br />

Bringt eine Therapie im<br />

Erwachsenenalter nichts mehr?<br />

Eine Symptomverbesserung erreicht<br />

man, egal in welchem Alter die Diagnose<br />

erfolgt. Doch erfolgt die Diagnose sehr<br />

früh, kann ein normales Leben gewährleistet<br />

werden, was bei einer späten Diagnose<br />

in dem Umfang nicht mehr möglich<br />

ist. Aus diesem Grund bin ich auch ein<br />

großer Verfechter davon, dass man CTX<br />

ins Neugeborenenscreening mit aufnimmt.<br />

SPONSORED INFOGRAPHIC LEADIANT GMBH<br />

Die Symptome der cerebrotendinösen Xanthomatose (CTX)<br />

INFORMATION<br />

Die CTX zeigt sich durch sehr unspezifische<br />

Symptome.<br />

Typische Symptome: chronischer<br />

Durchfall, grauer Star; zudem können<br />

Schwierigkeiten in der Schule<br />

aufgrund verminderter Intelligenz oder<br />

Aufmerksamkeitstörungen auftreten.<br />

ACHTUNG!<br />

Oftmals wird eine CTX zunächst mit<br />

einer multiplen Sklerose oder einer peripheren<br />

Neuropathie verwechselt. Wenn<br />

die Therapie keine Wirkung zeigt und<br />

zusätzlich weitere der hier aufgeführten<br />

Symptome auftreten, sollten unbedingt<br />

ein Bluttest und eine genetische<br />

Untersuchung stattfinden. So kann die<br />

Mutation des krankheitsauslösenden<br />

Gens nachgewiesen und die Diagnose<br />

gestellt werden.<br />

Weitere Informationen unter elaev.de/cerebrotendonoese-xanthomatose<br />

und auf www.se-atlas.de (Suchbegriff "Xanthomatose, zerebrotendinöse")<br />

Allgemeine Symptome<br />

Im Säuglingsund<br />

Kindesalter:<br />

• Verlängerte<br />

Neugeborenengelbsucht<br />

• Chronischer Durchfall<br />

• Gallensteine<br />

• Beidseitiger grauer Star<br />

• Aktivitäts- und<br />

Aufmerksamkeitsstörung<br />

• Entwicklungsverzögerung<br />

• Epilepsie<br />

Im Erwachsenenalter:<br />

• Frühzeitige Arterienverkalkung<br />

• Xanthome (geschwulstartige<br />

Verdickungen im Bereich der<br />

Hände, Ellenbogen, Achillessehnen,<br />

Knie oder des Halses)<br />

• Osteoporose<br />

• Kardiovaskuläre Probleme<br />

• Neurologische und<br />

psychiatrische Auffälligkeiten<br />

• Bewegungsstörungen


8<br />

Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

Schlaffe Muskeln und<br />

verzögerte Entwicklung:<br />

Dahinter könnte die<br />

sehr seltene Erkrankung<br />

AADC-Mangel stecken!<br />

Text Hanna Sinnecker<br />

Als Summer 2016 auf<br />

die Welt kommt,<br />

ist alles perfekt.<br />

Sie ist das größte<br />

Glück ihrer Eltern,<br />

ihr Sonnenschein.<br />

Doch bereits wenige<br />

Monate später machen sich ihre Eltern<br />

Sorgen, da sich Summer langsam, zu<br />

langsam zu entwickeln scheint. Aber<br />

die Kinderärzte geben Entwarnung:<br />

Alles sei in Ordnung, jedes Kind habe<br />

eben sein eigenes Tempo. Auch nachdem<br />

Summer nach extremen Schreiepisoden<br />

mehrfach ins Krankenhaus<br />

muss, weil sie keine Luft mehr bekommt,<br />

werden die Eltern beschwichtigt.<br />

So was käme öfter vor, als<br />

man denke, kein Grund zur Sorge.<br />

Doch im Laufe der Zeit beginnen<br />

sich die Auffälligkeiten zu häufen:<br />

Summer ist sehr dünn, ihre Muskeln<br />

sind schlaff, ihre Zunge ist dick und erschwert<br />

ihr das Atmen, ständig hat<br />

sie eine verstopfte Nase. Sie schwitzt<br />

stärker als andere Kinder, irgendwann<br />

beginnt sie, die Augen unwillkürlich<br />

nach oben zu verdrehen. Nun sind<br />

auch die Ärzte beunruhigt. Eine Klinikodyssee<br />

durch die Bundesrepublik<br />

beginnt, da kein Arzt feststellen kann,<br />

was Summer fehlt. Unzählige Untersuchungen<br />

folgen, eine Qual für Summer<br />

und ihre Eltern. Summers Mutter<br />

erinnert sich an diese schwere Zeit der<br />

Ungewissheit: „Solange wir keine Diagnose<br />

hatten, stand immer der Vorwurf<br />

im Raum, ob man zu wenig getan hat.“<br />

Ein Gefühl, das viele Eltern kennen, die<br />

ein Kind mit einer seltenen Erkrankung<br />

haben.<br />

Als Summer anderthalb Jahre alt ist,<br />

hat endlich ein Arzt einen konkreten<br />

Verdacht und untersucht nach einem<br />

MRT Summers Hirnwasser. Daraufhin<br />

wird sie in die Uniklinik Heidelberg<br />

überwiesen, wo dann endlich die Diagnose<br />

gestellt wird: Summer hat einen<br />

Aromatischen L-Aminosäure-Decarboxylase-Mangel,<br />

kurz AADC-Mangel,<br />

eine extrem seltene Stoffwechselerkrankung,<br />

die bisher nicht heilbar ist.<br />

Ursachen und Symptome<br />

Bei AADC-Mangel handelt es sich<br />

um eine sehr seltene genetische Erkrankung,<br />

die sich auf das Gehirn<br />

auswirkt und die Kommunikation<br />

der Nervenzellen beeinträchtigt. Eine<br />

Mutation eines Gens führt dazu, dass<br />

wichtige Signale im Nervensystem<br />

nicht mehr transportiert werden, weil<br />

der Körper die entscheidenden Botenstoffe<br />

nicht oder nur in zu geringen<br />

Mengen produziert. Zu den häufigsten<br />

Symptomen zählen eine geringe<br />

Muskelspannung bzw. eine geringe<br />

Muskelstärke, Bewegungsstörungen,<br />

insbesondere unwillkürliche Augenbewegungen,<br />

sowie Entwicklungsverzögerungen<br />

(z. B. keine altersentsprechende<br />

Kopfkontrolle, kein Krabbeln,<br />

Sitzen oder Stehen ohne Hilfe, kein<br />

Brabbeln oder Sprechen). Weitere<br />

häufige Symptome, die bei den betroffenen<br />

Kindern auffallen könnten, sind<br />

übermäßiges Schwitzen, vermehrter<br />

Speichelfluss, hängende Augenlider<br />

und eine verstopfte oder laufende<br />

Nase. Diese Symptome können einzeln<br />

auftreten und müssen nicht alle<br />

zusammen vorliegen.<br />

Diagnostik: Detektivarbeit für<br />

Mediziner<br />

Summer zeigte eine Vielzahl dieser<br />

Symptome. Aber sie ist einer von bisher<br />

nur etwa 125 beschriebenen Patientenfällen<br />

weltweit, die Erkrankung ist<br />

daher weitestgehend unbekannt, auch<br />

unter Medizinern. Zudem ähneln die<br />

Symptome des AADC-Mangels denen<br />

häufiger auftretender Erkrankungen<br />

wie Epilepsie oder Cerebralparese, das<br />

Beschwerdebild kann also auf die falsche<br />

Spur führen. Das führt dazu, dass<br />

die Diagnose oft sehr spät erfolgt. Im<br />

Durchschnitt sind betroffene Kinder<br />

bei der Diagnose dreieinhalb Jahre<br />

alt, obwohl erste Symptome bereits im<br />

dritten Lebensmonat auftreten können.<br />

Eine möglichst frühe Diagnose ist


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de 9<br />

aber entscheidend, um die Behandlung und Versorgung der<br />

kleinen Patienten zu verbessern und betroffene Eltern auffangen<br />

zu können. Summers Mutter erzählt: „Die Diagnose<br />

trifft betroffene Familien tief. Einerseits ist man erleichtert,<br />

endlich zu wissen, was ist, nicht mehr im Ungewissen<br />

zu sein. Andererseits war es hart, über das Krankheitsbild<br />

aufgeklärt zu werden und zu hören, was die Krankheit<br />

mit sich bringt. Aber die Diagnose kann insofern Erleichterung<br />

schaffen, als nun konkrete Schritte für die Therapie<br />

geplant werden können.“<br />

Behandlungsmöglichkeiten und Austausch<br />

Denn auch wenn die Erkrankung bisher nicht heilbar<br />

ist, kann nach der Diagnose ein Therapieplan entwickelt<br />

werden, der dabei helfen kann, die Symptome<br />

der kleinen Patienten zu lindern. Dazu zählen Physio-,<br />

Ergo- und Sprachtherapien sowie individuell an den<br />

Patienten angepasste medikamentöse Optionen. Je<br />

früher also die Diagnose gestellt wird, umso schneller<br />

kann den betroffenen Kindern geholfen werden. Zudem<br />

gibt die Diagnose den betroffenen Familien die Möglichkeit,<br />

emotional aufgefangen zu werden. Summers Mutter erzählt<br />

uns: „Am wichtigsten erscheint uns der Aspekt, dass sich die<br />

Eltern und ihr erkranktes Kind nicht mehr alleine fühlen<br />

müssen. Es gibt Familien, die auch mit dieser Krankheit leben.<br />

Nur sie verstehen wirklich, wie man sich fühlt. Man ist<br />

nicht mehr so machtlos und kann etwas tun.“<br />

Ein offener Umgang mit der Erkrankung<br />

Deshalb nimmt Summers Mutter auch kein Blatt vor den Mund<br />

und spricht ganz offen über die Erkrankung ihrer Tochter. Sie<br />

sagt: „Ich möchte anderen Eltern mit Kindern, die auch mit<br />

AADC-Mangel leben, Mut machen und zurufen: Ihr seid nicht<br />

allein!“ Zudem hat Summers Mutter die Erfahrung gemacht,<br />

dass ein transparenter Umgang einer möglichen Stigmatisierung<br />

der betroffenen Kinder in ihrem Lebensumfeld entgegenwirken<br />

kann: „Ein offener Umgang mit der Krankheit<br />

hilft auch dem Umfeld, seine Hemmschwelle zu überwinden<br />

und offen Fragen zu stellen. Ein gut informiertes Umfeld ist<br />

die Basis, um das Kind im Alltag gut zu unterstützen.“<br />

Ein offenes Ohr beim Kinderarzt<br />

Und nicht zuletzt sind es dieser offene Umgang und die damit<br />

verbundene Aufklärung, die auch Ärzten, speziell Pädiatern,<br />

die Erkrankung auf den Schirm bringen können. Denn die behandelnden<br />

Kinderärzte sind meist die erste Anlaufstelle betroffener<br />

Eltern, die sich um ihr Kind sorgen. Summers Mutter<br />

wurde erst ernst genommen, als die Beschwerden sich häuften,<br />

daher sagt sie: „Ich möchte, dass Ärzte an die Krankheit<br />

denken, dass sie die Bedenken der Eltern nicht als Kleinigkeit<br />

abtun und dass sie weiterforschen, bis die Diagnose bestätigt<br />

ist.“ Dazu gehört auch, Kinder mit unspezifischen Beschwerden<br />

an spezialisierte Kollegen zu überweisen, wenn keine<br />

konkrete Diagnose gestellt werden kann. Damit die wenigen<br />

seltenen Fälle entdeckt und den kleinen Patienten und ihren<br />

Familien geholfen werden kann, so gut es bisher geht.<br />

ANZEIGE<br />

„Mein Baby hat so schlaffe Muskeln und verdreht<br />

ganz oft die Augen! Was ist da bloß los?“<br />

Den sehr seltenen aromatischen L-Aminosäure-Decarboxylase (AADC)-Mangel erkennen.<br />

Wenn Babys schlaffe Muskeln haben, die Augen unwillkürlich<br />

verdrehen und in der Entwicklung hinter Gleichaltrigen zurückbleiben,<br />

kann das viele Ursachen haben. In sehr seltenen Fällen<br />

steckt die schwere Erbkrankheit AADC-Mangel dahinter. Eltern<br />

kennen ihre Kinder am besten, sollten bei Auffälligkeiten auf ihr<br />

Bauchgefühl vertrauen und ihren Kinderarzt offen darauf ansprechen.<br />

Achten Sie auf die Symptome Ihres Kindes und informieren<br />

Sie sich über die Krankheit – damit die Diagnose früh erfolgen<br />

kann, denn nur dann kann Ihrem Kind schnell geholfen werden!<br />

Wenn Ihnen folgende Symptome bei Ihrem<br />

Kind auffallen, sprechen Sie mit Ihrem Arzt:<br />

Schlaffe<br />

Muskeln<br />

Bewegungsstörungen<br />

oder Verdrehen<br />

der<br />

Augen<br />

Entwicklungsverzögerungen<br />

Übermäßiges<br />

Schwitzen<br />

Andauernd<br />

verstopfte<br />

Nase<br />

AADC-Mangel – kurz für Aromatischer L-Aminosäure-Decarboxylase-Mangel<br />

– ist eine sehr seltene Erbkrankheit, die sich<br />

auf das Gehirn auswirkt und die „Datenübertragung“ zwischen<br />

den Nervenzellen stört. Oft führt AADC-Mangel schon beim<br />

Baby zu schlaffen Muskeln, Bewegungsstörungen und zur<br />

Verzögerung in der Entwicklung.<br />

Auch viele andere Symptome sind möglich, wie zum Beispiel<br />

übermäßiges Schwitzen oder eine andauernd verstopfte Nase.<br />

Daher sollten unbedingt auch Kinderärzte an diese seltene<br />

Erkrankung denken, wenn ein kleiner Patient die genannten<br />

Symptome zeigt. Denn auch, wenn ein AADC-Mangel in den<br />

allermeisten Fällen ausgeschlossen werden kann, haben sie<br />

in den wenigen Fällen, in denen ein AADC-Mangel vorliegt,<br />

maßgeblich dazu beigetragen, die Erkrankung frühzeitig(er) zu<br />

erkennen.<br />

Unter www.aadc-mangel.de finden sowohl Eltern als auch Ärzte<br />

umfassende Informationen zu den Symptomen und der Diagnose<br />

dieser seltenen Erbkrankheit. Für medizinisches Fachpersonal<br />

steht ein gesonderter Ärztebereich zur Verfügung.


10<br />

Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

<strong>SELTENE</strong><br />

ERKRAN-<br />

KUNGEN<br />

BRAUCHEN<br />

EINE BÜHNE<br />

Virtuelle Lesung zum<br />

International Gaucher<br />

Day mit Schauspieler<br />

Marten Krebs<br />

Weltweit wird am 1.<br />

Oktober auf die Anliegen<br />

von Menschen mit der<br />

seltenen Erkrankung<br />

Morbus Gaucher<br />

aufmerksam gemacht.<br />

An diesem Tag wird<br />

die Gaucher Gesellschaft<br />

Deutschland e.V.<br />

zusammen mit ihrem<br />

Botschafter Marten<br />

Krebs eine Veranstaltung<br />

unter dem Titel „Selten<br />

kranke Geschichten“<br />

veranstalten. In diesem<br />

Jahr wird das Event<br />

virtuell stattfinden, jeder<br />

kann also ganz bequem<br />

von der eigenen Couch<br />

aus teilnehmen! Es<br />

erwarten Sie Interviews,<br />

spannende Hintergrundinformationen<br />

sowie eine<br />

unterhaltsame Lesung,<br />

inszeniert von Marten<br />

Krebs.<br />

Unter www.lebenmit-gaucher.de/<br />

gaucherday2020.de<br />

können Sie kostenlos<br />

an der Veranstaltung<br />

teilnehmen, die um 19:00<br />

Uhr startet.<br />

Weitere Informationen<br />

finden Sie auf der<br />

Website der Gaucher<br />

Gesellschaft unter:<br />

www.ggd-ev.de<br />

Morbus Gaucher<br />

Morbus Gaucher gehört zu den lysosomalen Speichererkrankungen<br />

und ist äußerst selten. Bleibt die Erkrankung<br />

unbehandelt, führt sie langfristig zu schweren Organschäden<br />

bis hin zum Tod. Ein Gespräch mit Pascal Niemeyer über<br />

Sorgen und Herausforderungen, aber auch große Hoffnungen<br />

bezüglich der Versorgung von Gaucher-Patienten.<br />

Text Hanna Sinnecker<br />

Am 1. Oktober ist internationaler Gaucher-<br />

Tag. Welche Themen sind Ihnen in diesem<br />

Jahr besonders wichtig und wie werden<br />

Sie mit der GGD diesen Tag in diesem Jahr<br />

begehen?<br />

Wie jedes Jahr wollen wir diesen Tag nutzen,<br />

um in der Öffentlichkeit auf diese besonders<br />

seltene Erkrankung aufmerksam zu machen.<br />

Trotz der Vielzahl der Symptome werden die<br />

Indizien für die Gaucher-Erkrankung – meist<br />

aus Unwissenheit – durch die Ärzte übersehen.<br />

In der Folge leben Gaucher-Patienten in der<br />

Regel viele, viele Jahre mit der Erkrankung,<br />

rennen von Facharzt zu Facharzt und wissen<br />

gar nicht, woran sie leiden, während die<br />

verschiedenen Symptome immer schlimmer<br />

werden.<br />

Indem wir auf die Erkrankung und deren<br />

Symptome aufmerksam machen, erhoffen wir<br />

uns, dass viele Menschen, die unbekannt mit<br />

der Erkrankung leben, diagnostiziert werden<br />

und mit einer der verschiedenen zur Verfügung<br />

stehenden Therapien behandelt werden<br />

können. Für viele ist das der Beginn eines<br />

zweiten, besseren Lebens.<br />

In diesem Jahr werden wir wieder mit unserem<br />

Botschafter, dem Schauspieler, Sänger<br />

und Entertainer Marten Krebs, eine Lesung<br />

mit dem Titel „Selten kranke Geschichten“<br />

organisieren.<br />

Wo sehen Sie die größten Errungenschaften,<br />

aber auch Herausforderungen, wenn<br />

es um die Wahrnehmung und Versorgung<br />

von Gaucher-Patienten geht?<br />

Die größte Errungenschaft, aus Sicht der Patienten,<br />

ist zweifelsohne die Entwicklung<br />

von verschiedenen Therapien, die zwar die<br />

Krankheit als solche nicht heilen können,<br />

aber die Symptome und ihr Fortschreiten<br />

maßgeblich verringern können. In Sachen Di-<br />

Pascal<br />

Niemeyer<br />

Vorsitzender<br />

der Deutschen<br />

Gaucher Gesellschaft<br />

e.V.<br />

agnostik hat sich in den letzten zehn Jahren<br />

auch unglaublich viel getan, sodass Patienten<br />

– so der Arzt denn an Morbus Gaucher denkt –<br />

schnell und unkompliziert diagnostiziert<br />

werden können.<br />

Bei der medizinischen Versorgung von Gaucher-Patienten<br />

in Deutschland muss ich leider<br />

feststellen, dass immer mehr Spezialzentren<br />

aus Kostengründen die Leistungen für Patienten,<br />

die an einer seltenen Erkrankung<br />

leiden, einstellen müssen. Es liegt auf der<br />

Hand, dass chronisch erkrankte Patienten<br />

eine deutlich intensivere und spezialisiertere<br />

medizinische Versorgung benötigen als der<br />

Normalbürger. Diese Tatsache scheint in unserer<br />

Gesundheitspolitik leider immer noch<br />

nicht angekommen zu sein. In der Konsequenz<br />

arbeiten Kliniken oftmals defizitär und<br />

sehen sich früher oder später gezwungen, die<br />

Türen für die an einer seltenen Erkrankung<br />

leidenden Patienten zu schließen, während<br />

die Gesundheitspolitik geniert zur Seite<br />

schaut und weiterhin versucht, grundsätzliche<br />

Probleme unseres Systems zu ignorieren.<br />

Was wünschen Sie sich an Veränderungen<br />

und Verbesserungen für Gaucher-Patienten<br />

in Deutschland und international?<br />

Mein Wunsch ist, dass seltene Erkrankungen<br />

wie Morbus Gaucher mehr Aufmerksamkeit<br />

bekommen – sowohl von der Öffentlichkeit als<br />

auch der Politik – und dass die Forschung<br />

gefördert und eine angemessene medizinische<br />

Versorgung gewährleistet wird. Natürlich<br />

hoffen wir alle, dass es in nicht allzu ferner<br />

Zukunft auch eine wirkliche Heilung für Gaucher-Patienten<br />

in Form einer Gentherapie geben<br />

wird. Gerade weil sich in diesem Bereich<br />

in den letzten Jahren so viel getan hat, stehen<br />

die Chancen gar nicht mal so schlecht … Wir<br />

müssen halt nur Geduld haben!


„Das Leben ist schön!“<br />

Katrin ist 28 Jahre alt und liebt<br />

das Leben. Wie ihr das trotz einer<br />

unheilbaren Erkrankung gelingt,<br />

erzählt sie im Interview.<br />

Text Franziska Manske<br />

Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de 11<br />

Ein Leben mit Morbus Gaucher, das<br />

klingt sehr beängstigend. Wie sieht es<br />

bei Ihnen in der Realität aus?<br />

Nach der Diagnose vor acht Jahren<br />

habe ich mich sehr intensiv mit der Erkrankung<br />

auseinandergesetzt, um zu<br />

verstehen, was mir genau fehlt, und<br />

auch um das unbeschwerte Leben, das<br />

ich bis dato geführt habe, beibehalten zu<br />

können. Mein behandelnder Arzt stand<br />

immer an meiner Seite, hat alles sehr<br />

gut erklärt und mir genau erläutert, wie<br />

die Therapie ablaufen würde. Dadurch<br />

hatte ich nie mit Unsicherheiten zu<br />

kämpfen. Ich empfinde es so, dass mich<br />

Morbus Gaucher in meinem Alltag kaum<br />

einschränkt. Ich gehe sehr offen damit<br />

um und denke immer positiv. Auch die<br />

Infusion, die ich alle zwei Wochen bekommen<br />

muss, und die regelmäßigen<br />

Check-ups lassen sich bisher immer gut<br />

in meinen Alltag integrieren. Sie gehören<br />

jetzt einfach zu meinem Leben dazu.<br />

Müssen Sie seit der Diagnose auf<br />

etwas in Ihrem Leben verzichten?<br />

Ich habe das Glück, dass ich das Medikament<br />

von Anfang an vertragen habe. Ich<br />

weiß, dass das nicht selbstverständlich<br />

ist und es vielen anderen Betroffenen<br />

nicht so gut geht. Doch es gibt zum Glück<br />

ja auch ein alternatives Medikament<br />

oder die Möglichkeit der Einnahme von<br />

Tabletten. Also nein, ich lebe mein Leben<br />

wie vor der Diagnose.<br />

Was sind Ihre persönlichen Stützpfeiler<br />

im Alltag mit Morbus Gaucher?<br />

Neben den Menschen, mit denen ich<br />

täglich verbunden bin, gehört noch eine<br />

ganz bestimmte Gruppe von Menschen<br />

zu meinen Stützpfeilern im Alltag. Das<br />

sind die Nurses, die mir die Infusionen<br />

verabreichen. Es gibt mehrere Krankenschwestern<br />

und einen Krankenpfleger,<br />

die abwechselnd zu mir kommen. Je<br />

nachdem, ob ich gerade in meiner Heimat,<br />

der Pfalz, oder in Frankfurt, wo ich<br />

wohne, oder auf Reisen bin. Denn die<br />

Therapie konnte ich schon mehrmals in<br />

Thailand, Neuseeland, Australien und<br />

während meines Auslandssemesters in<br />

Sevilla bekommen. Das konnte alles von<br />

meiner Home-Care-Organisation realisiert<br />

werden. Zudem geben sie mir das<br />

Gefühl, dass alles in Ordnung ist. Sie haben<br />

immer ein offenes Ohr und sind für<br />

mich da. Auch mein Arzt ist ein Stützpfeiler<br />

für mich. Er ist ein Spezialist für<br />

Morbus Gaucher. Für all diese Menschen<br />

an meiner Seite bin ich unglaublich<br />

dankbar.<br />

Was würden Sie anderen Betroffenen<br />

raten, um zu einem positiven Umgang<br />

mit der Erkrankung zu finden?<br />

Ich hoffe, dass Morbus Gaucher bekannter<br />

wird und Betroffene eine Diagnose bekommen<br />

können. Denn das ist wirklich<br />

das, was meine „Geschichte“ zu einer so<br />

glücklichen macht: dass ich bis zur Diagnose<br />

noch keine allzu großen Probleme<br />

hatte und meine Hausärztin keine Mühen<br />

scheute, meinen schlechten Leberwerten<br />

und Symptomen wie Nasenbluten<br />

und Bauchkrämpfen einen „Namen“<br />

zu geben. Das ist das, was ich mir auch<br />

für andere Menschen mit Beschwerden<br />

wünsche. Dass man sich kümmert und<br />

nicht als Hypochonder oder Ähnliches<br />

abgestempelt wird.<br />

Ich profitiere von meiner positiven<br />

Grundeinstellung. Ich lasse mir meine<br />

Lebensfreude nicht nehmen. Bisher habe<br />

ich Morbus Gaucher gut im Griff. Natürlich<br />

weiß ich auch, dass dies nicht bei allen<br />

Betroffenen so ist. Ich finde es wichtig,<br />

offen mit der Krankheit umzugehen und<br />

zu erkennen, dass Gesundheit nicht<br />

selbstverständlich ist. Es kann auch ein<br />

neuer Anfang sein – innehalten und die<br />

Prioritäten überdenken. Natürlich ist das<br />

alles ein langer Prozess und es ist auch<br />

okay, wenn man in einer unheilbaren Erkrankung<br />

keine Chance sieht, sondern<br />

mehr die Nachteile. Das kann ich gut verstehen,<br />

jedoch hoffe ich, dass viele andere<br />

Betroffene eine ähnliche Begeisterung für<br />

das Leben empfinden können wie ich.<br />

Auf der Website www.leben-mit-gaucher.de sind umfangreiche Informationen zu dieser Erkrankung zu finden, die von<br />

Symptomen über Diagnose- und Therapiemöglichkeiten bis hin zu wichtigen Themen bezüglich des Alltags mit Morbus Gaucher<br />

reichen. Wenn Sie den Verdacht haben, betroffen zu sein, können Sie hier eine Symptom-Checkliste herunterladen, die Sie mit<br />

Ihrem Arzt gemeinsam durchgehen können. Zudem gibt es mit der App „Mein Morbus Gaucher“ einen digitalen Alltagshelfer für<br />

Betroffene, über den Gaucher-Patienten den Verlauf ihrer Erkrankung und Therapie dokumentieren können. Die App kann im App<br />

Store und über Google Play kostenfrei heruntergeladen werden. Über Youtube und Soundcloud hat Takeda Video- und<br />

Podcast-Kanäle zum Thema "Seltene Erkrankungen"erschaffen, über die Sie sich ebenfalls weiter informieren können.<br />

Sie sind Arzt und haben den Verdacht, dass einer Ihrer Patienten an Morbus Gaucher leiden könnte? Dann können Sie unter<br />

www.lsd-diagnostik-partner.de ein kostenloses Trockenblut-Testset anfordern.<br />

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12<br />

Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

Carmen<br />

Kunkel<br />

Geschäftsführung<br />

und<br />

Projektleitung<br />

des<br />

MPS e. V.<br />

Unsere Patienten brauchen<br />

eine bessere Versorgung!<br />

Der MPS e. V. hat es sich zur Aufgabe gemacht, Familien mit Kindern aufzufangen, die von einer<br />

Mukopolysaccharidose, Mukolipidose oder Mannosidose betroffen sind. Ein Gespräch mit Carmen<br />

Kunkel über die wichtige Rolle der Patientenhilfe und die besorgniserregenden Entwicklungen<br />

bezüglich der Versorgung betroffener Familien.<br />

Was sind aus Ihrer Erfahrung die<br />

größten Herausforderungen für<br />

die Kinder und ihre Angehörigen?<br />

Zunächst sind das die extreme<br />

Schwere und das unaufhaltsame<br />

Fortschreiten der Erkrankung.<br />

Das hängt permanent wie ein<br />

Damoklesschwert über den betroffenen<br />

Familien. Das ganze Leben<br />

wird plötzlich umgekrempelt,<br />

ganze Zukunftsentwürfe brechen<br />

zusammen. Im nächsten Schritt<br />

müssen jede Menge Entscheidungen<br />

getroffen werden: Welche<br />

Therapie ist für mein Kind verfügbar,<br />

welcher Arzt betreut uns, auf<br />

welche Schule soll es gehen? Die Erkrankung<br />

durchdringt also jeden<br />

Lebensbereich. Entsprechend hoch<br />

ist der Unterstützungsbedarf. Wir<br />

sind für die betroffenen Familien<br />

da und helfen dabei, diese Herausforderungen<br />

zu bewältigen.<br />

Was wünschen Sie sich<br />

bezüglich der Diagnosestellung<br />

und Therapie von betroffenen<br />

Kindern an Verbesserungen?<br />

An vorderster Stelle steht unser<br />

Wunsch, dass Diagnosen wesentlich<br />

schneller gestellt werden.<br />

Denn allein der Weg bis zur Diagnose<br />

ist eine enorme psychische<br />

Belastung für die Kinder und ihre<br />

Familien. Zwar stehen seltene Erkrankungen<br />

in den letzten Jahren<br />

zunehmend im Fokus, aber trotzdem<br />

denken viele Ärzte bei unklaren<br />

Symptomen nach wie vor nicht<br />

an diese Möglichkeit. Dabei ist es<br />

gerade bei progredient verlaufenden<br />

Erkrankungen entscheidend,<br />

die Diagnose so früh wie möglich<br />

zu stellen, damit eine Therapie<br />

eingeleitet werden kann.<br />

Zudem ist es so, dass es zwar mittlerweile<br />

einige spezialisierte Zentren<br />

in Deutschland gibt, aber<br />

betroffene Familien oft lange Wege<br />

auf sich nehmen müssen, damit<br />

die Kinder gerade zu Beginn ärztlich<br />

betreut und in der Klinik therapiert<br />

werden können. Eine zunehmende<br />

Vernetzung zwischen<br />

den Zentren würde hier sicher<br />

einiges vereinfachen, und mit der<br />

NAMSE-Kategorisierung und -Zertifizierung<br />

solcher Zentren gibt es<br />

einen grundlegend zielführenden<br />

Plan, um das umzusetzen. Die Umsetzung<br />

hängt aber wie so häufig<br />

an den notwendigen Geldern.<br />

Die Therapie besteht oft aus<br />

mehreren Bausteinen, verschiedene<br />

Spezialisten sind hier involviert.<br />

Klappt die Vernetzung<br />

der verschiedenen Disziplinen<br />

denn erfahrungsgemäß gut, um<br />

die Therapie so individuell wie<br />

erforderlich zu gestalten?<br />

Im Idealfall ist es natürlich so, dass<br />

die Kinder an einem spezialisierten<br />

Zentrum behandelt<br />

werden, wo es die entsprechende<br />

Expertise und interdisziplinäre<br />

Zusammenarbeit gibt. Hier muss<br />

ich speziell an ein Zentrum denken,<br />

an dem ein Arzt mit aller Kraft<br />

Kollegen aus den verschiedensten<br />

Disziplinen zusammengebracht<br />

hat, um diese vielschichtige Expertise<br />

anbieten zu können. Aber<br />

genau dieses Beispiel zeigt schon<br />

ein erstes Problem: wenn dieser<br />

Arzt in Ruhestand geht, das Klinikum<br />

wechselt oder aus anderen<br />

Gründen nicht mehr vor Ort ist,<br />

bricht diese Expertise weg. Ein<br />

zweites Problem ist, dass zum<br />

Beispiel solche interdisziplinären<br />

Sprechstunden sehr zeitaufwendig<br />

sind. Das wird aber finanziell gar<br />

nicht abgedeckt. Und damit sind<br />

wir schon beim nächsten Problem:<br />

nämlich, dass die Zentren für seltene<br />

Erkrankungen buchstäblich<br />

dem Geld hinterherrennen müssen,<br />

um kostendeckend arbeiten zu<br />

können. Auch deckt das Fallpauschalensystem<br />

die Bedarfe bei<br />

komplexen chronischen Erkrankungen<br />

nicht ab. Das bringt<br />

manches Zentrum an den Rand<br />

des Zusammenbruchs – eine<br />

durchaus besorgniserregende Entwicklung.<br />

Unserer Ansicht nach ist<br />

es daher unbedingt notwendig,<br />

dass die Gesundheitspolitik entsprechende<br />

Finanzierungskonzepte<br />

erstellt, damit Zentren für seltene<br />

Erkrankungen, aber auch Patientenorganisationen<br />

wie wir<br />

Betroffene angemessen versorgen<br />

und betreuen können.<br />

Text Hanna Sinnecker<br />

Mukopolysaccharidosen, Mukolipidosen und Mannosidose sind seltene Stoffwechselerkrankungen mit fortschreitendem Verlauf, bei<br />

denen bestimmte Enzyme nicht gebildet werden können, die für Abbauprozesse im Körper benötigt werden. Dadurch sammeln sich<br />

diese Abbauprodukte in verschiedenen Organen an und schädigen sie. Derzeit sind diese Erkrankungen nicht heilbar, aber es gibt<br />

verschiedene kausale und symptomatische Therapieoptionen, um das Fortschreiten der Erkrankungen bestmöglich einzuschränken.<br />

Weitere Informationen unter: www.mps-ev.de


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de 13<br />

„Tränen trocknen, weitermachen<br />

– für meinen Sohn!“<br />

Sofian ist ein kleiner Sänger, ein lebensfroher Dickkopf,<br />

unendlich liebevoll – und Sofian ist unheilbar krank.<br />

Er hat Morbus Hunter, eine Stoffwechselerkrankung,<br />

bei der viele Betroffene das 20. Lebensjahr nicht erreichen.<br />

Seine Mutter, Christina Issa, im Interview.<br />

Wann wurde die Diagnose gestellt?<br />

Sofian ist 2012 geboren und den ersten<br />

Verdacht auf Morbus Hunter hatten<br />

wir im Dezember 2019. Bestätigt wurde<br />

es dann im Februar 2020. Sieben<br />

Jahre lang habe ich nach Antworten<br />

gesucht, 17.885 Tage Odyssee liegen<br />

hinter uns: 16 stationäre Krankenhausaufenthalte,<br />

unzählige Tage in der<br />

Notaufnahme, Kinderärzte, Humangenetik,<br />

verschiedene SPZ-Besuche,<br />

Hunderte Tests und Dutzende Therapien.<br />

Immer mit dem Ergebnis, dass<br />

uns nicht geholfen werden konnte.<br />

Zum Glück sind wir dann im letzten<br />

Jahr auf einen Arzt gestoßen, der<br />

schon einmal ein Morbus-Hunter-Kind<br />

gesehen hat und den Verdacht äußerte.<br />

Woher haben Sie all die Jahre die<br />

Kraft genommen?<br />

Ich wollte immer das Beste für mein<br />

Kind – aufgeben war nie eine Option.<br />

Aber natürlich war ich oft mit meinen<br />

Nerven am Ende. Ich musste mir anhören,<br />

dass ich mein Kind nicht im<br />

Griff habe, dass ich keine gute Mutter<br />

bin, dass ich nicht erziehungsfähig<br />

bin. Tränen trocknen, weitermachen –<br />

das war und ist mein Motto.<br />

Wie haben Sie auf die Diagnose<br />

reagiert?<br />

Zwiegespalten. Auf der einen Seite<br />

hatte ich endlich Gewissheit, was mit<br />

meinem Sohn los ist. Auf der anderen<br />

Seite wusste ich schwarz auf weiß, dass<br />

mein Kind unheilbar krank ist, nie ein<br />

normales Leben führen wird und die<br />

Diagnose auch bedeutet, dass sein Leben<br />

kurz sein wird.<br />

Wie geht man damit um?<br />

Das ist ein Prozess. Im Februar kam<br />

die Diagnose, dann kamen Corona und<br />

die damit verbundenen Herausforderungen.<br />

Ehrlich gesagt verdränge ich<br />

die Konsequenzen der Erkrankung<br />

oft. Anders würde ich das gerade alles<br />

nicht meistern können.<br />

Wie sieht ein Leben mit Morbus<br />

Hunter aus?<br />

Nach der Diagnose musste viel geplant<br />

werden: MRT, HNO-OP, Legen eines<br />

Ports für die Infusionstherapie. Das<br />

wurde im April alles in einem Zuge<br />

gemacht, da durch die Erkrankung die<br />

Narkose ein großes Risiko ist. Danach<br />

hat die Infusionstherapie gestartet.<br />

Diese findet einmal pro Woche, in vier<br />

bis sechs Stunden, statt. Die ersten 12<br />

Sitzungen müssen in der Therapie stattfinden,<br />

da das Risiko für einen allergischen<br />

Schock hoch ist. Danach kann<br />

die Therapie zu Hause weitergeführt<br />

werden. Doch so weit sind wir noch<br />

nicht. Hinzu kam bei uns jetzt noch<br />

die Corona-Situation. Wir dürfen das<br />

Krankenhaus nur mit einem negativen<br />

Test betreten. Heißt: zum Arzt,<br />

Abstrich, warten aufs Ergebnis, das<br />

Ergebnis abholen, ab zum Krankenhaus<br />

– und das jede Woche aufs Neue.<br />

Was wünschen Sie sich als Mutter<br />

eines betroffenen Kindes im Umgang<br />

mit der Erkrankung?<br />

Ich habe großartige Eltern, fantastische<br />

Freunde und einen großartigen Partner.<br />

Allein würde ich das wahrscheinlich<br />

nicht schaffen, und dafür bin ich<br />

jeden Tag aufs Neue dankbar. Von der<br />

medizinischen Fachwelt würde ich mir<br />

mehr Weitblick wünschen. Alle schauen<br />

nur in ihrem Bereich, doch nie über<br />

den Tellerrand hinaus. Wenn man als<br />

Mutter sagt, was man beobachtet, wird<br />

man als Helikoptermutter abgestempelt.<br />

Von der Öffentlichkeit wünsche ich<br />

mir mehr Offenheit. Ich erlebe es, dass<br />

andere Eltern ihre Kinder nicht mit meinem<br />

Sohn spielen lassen wollen, weil er<br />

anders ist. Das ist doch schrecklich und<br />

das muss aufhören. So wird Inklusion<br />

nie funktionieren.<br />

Was möchten Sie anderen Betroffenen<br />

mit auf den Weg geben?<br />

Dass man nicht alles mit sich allein ausmachen<br />

muss. Es gibt tolle Patientengruppen,<br />

wie in unserem Fall die<br />

MPS-Gesellschaft, die Betroffenen und<br />

deren Angehörigen mit Rat und Tat zur<br />

Seite stehen. Der Austausch hilft so sehr,<br />

die Tipps sind unbezahlbar und man<br />

weiß endlich: Du bist nicht allein.<br />

Text Franziska Manske<br />

Auf der Website de.huntersyndrome.info sind umfangreiche Informationen zu dieser Erkrankung zu finden, die von Symptomen<br />

über Diagnose- und Therapiemöglichkeiten bis hin zu wichtigen Themen bezüglich des Alltags mit Morbus Hunter reichen. Im Download-<br />

Bereich finden Sie zudem verschiedene Informationsbroschüren, Ratgeber sowie ein Therapie-Tagebuch. Über Youtube und<br />

Soundcloud hat Takeda Video- und Podcast-Kanäle zum Thema "Seltene Erkrankungen"erschaffen, über die Sie sich ebenfalls weiter<br />

informieren können. Sie sind Arzt und haben den Verdacht, dass einer Ihrer Patienten an Morbus Hunter leiden könnte? Dann können Sie unter<br />

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14<br />

Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

Morbus Fabry:<br />

Eine frühe Diagnose kann Leben retten!<br />

Morbus Fabry ist eine der lysosomalen Speichererkrankungen und durch die Vielschichtigkeit<br />

der Symptome schwer zu diagnostizieren. Dr. Berthold Wilden von der<br />

Morbus Fabry Selbsthilfegruppe e. V. hat mit uns über die Herausforderungen in der<br />

Versorgung Betroffener gesprochen.<br />

Sie sind Vorsitzender der Morbus<br />

Fabry Selbsthilfegruppe e. V. Was<br />

war der Anlass zur Gründung der<br />

MFSH e. V.?<br />

Als vor 20 Jahren die ersten Medikamentenstudien<br />

durchgeführt wurden,<br />

trafen sich die teilnehmenden Patienten<br />

regelmäßig im Studienzentrum in<br />

Mainz, wo sie alle 14 Tage Infusionen<br />

erhielten. Da kam der Wunsch auf,<br />

sich auch abseits der Studie zu treffen.<br />

Hinzu kam, dass die Patienten nach<br />

der Zulassung der ersten Medikamente<br />

ihre weiteren Infusionen bei<br />

ihren Ärzten vor Ort bekommen sollten,<br />

diese sich aber teilweise sträubten.<br />

Sie kannten sich mit der Erkrankung<br />

Morbus Fabry nicht aus. Um<br />

die Patienten dahin gehend besser zu<br />

unterstützen, wurde die MFSH e. V. ins<br />

Leben gerufen.<br />

Welche Rolle spielt die Vernetzung<br />

von Betroffenen in der Selbsthilfe?<br />

Immer noch eine sehr große. Bei Morbus<br />

Fabry wie auch bei vielen anderen<br />

seltenen Erkrankungen kann es Jahre<br />

dauern, bis der Patient die richtige<br />

Diagnose erhält. Diesen Leidensweg<br />

können andere kaum nachvollziehen.<br />

Da hilft es sehr, sich mit jemandem<br />

auszutauschen, der Ähnliches durchgemacht<br />

hat. Außerdem können andere<br />

Patienten Tipps geben, sei es bei<br />

Behandlungen oder auch bei sozialen<br />

Fragen.<br />

Was sind die häufigsten Fragen, mit<br />

denen Betroffene zu Ihnen kommen?<br />

Viele Betroffene, die sich an uns<br />

wenden, haben ihre Diagnose erst vor<br />

Kurzem erhalten oder sie bzw. ihr Arzt<br />

haben den Verdacht, sie könnten Morbus<br />

Fabry haben. Sie möchten sich<br />

dann über die Krankheit informieren.<br />

Auch suchen sie Rat, etwa zu welchen<br />

Ärzten sie gehen sollten, falls sie noch<br />

keine Spezialambulanz für Morbus<br />

Fabry aufgesucht haben. Die meisten<br />

sind froh, mit jemandem reden zu<br />

können, der auch an Morbus Fabry<br />

leidet.<br />

Morbus Fabry zu diagnostizieren,<br />

ist auch für erfahrene Ärzte nicht<br />

einfach. Was muss hier passieren,<br />

um Patienten schneller diagnostizieren<br />

und versorgen zu können?<br />

Vor allem müssen die Ärzte immer<br />

daran denken, dass ihre Patienten<br />

auch eine seltene Erkrankung haben<br />

könnten, die sie nicht kennen. In einem<br />

solchen Fall sollten sie die Patienten<br />

zu einem Zentrum für seltene<br />

Erkrankungen überweisen, wie es sie<br />

schon an einigen Kliniken gibt. Und<br />

selbstverständlich muss das Netz solcher<br />

Zentren ausgebaut werden. Auch<br />

die Finanzierung dieser Zentren, aber<br />

auch der Spezialambulanzen muss<br />

verbessert werden.<br />

Nicht zuletzt muss das Thema seltene<br />

Erkrankungen schon im Medizinstudium<br />

einen größeren Raum einnehmen.<br />

Wie schätzen Sie die aktuelle<br />

Versorgungslage für Morbus-Fabry-Patienten<br />

ein? An welchen<br />

Stellen gibt es Ihrer Meinung nach<br />

Optimierungsbedarf?<br />

Dr. Berthold<br />

Wilden<br />

Vorsitzender<br />

der Morbus<br />

Fabry<br />

Selbsthilfegruppe<br />

e. V.<br />

Insgesamt ist die Versorgungslage<br />

weit besser als noch vor 15<br />

Jahren. Es gibt zwischenzeitlich<br />

über 20 Zentren in<br />

Deutschland, aber auch hier<br />

müssen viele Patienten noch<br />

weite Wege auf sich nehmen.<br />

Optimierungsbedarf sehen wir<br />

in der Zusammenarbeit der<br />

Zentren. MF ist eine multiple<br />

Organkrankheit, d. h. hier<br />

werden viele unterschiedliche<br />

Fachärzte gebraucht und diese<br />

müssen sich zusätzlich auch<br />

noch mit MF auskennen. Die<br />

wenigsten Zentren haben zwei<br />

oder gar mehr unterschiedliche<br />

Fachärzte für MF. Es gibt<br />

aber auch Zentren mit einem<br />

breit aufgestellten Ärzteteam.<br />

So würde es dem Patienten<br />

enorm viel bringen, wenn sich<br />

die Zentren gegenseitig unterstützen<br />

würden. Einige<br />

machen das zwischenzeitlich,<br />

andere dagegen kommen erst<br />

gar nicht auf die Idee, Kollegen<br />

anderer Zentren um Rat zu fragen.<br />

Hier müssen Patienten<br />

dann auf niedergelassene Ärzte<br />

zugreifen und hoffen, dass<br />

diese sich mit ihren speziellen<br />

Problemen beschäftigen, häufig<br />

mit mäßigem Erfolg. Wir<br />

unterstützen Patienten bei<br />

ihrer Suche und möchten Zentren<br />

ermutigen, sich gegenseitig<br />

auszutauschen.<br />

Morbus Fabry: Das Chamäleon erkennen<br />

Als Systemerkrankung kann Morbus Fabry eine<br />

Vielzahl an Organen betreffen:<br />

Herz: Vergrößerung des Herzens,<br />

Herzinsuffizienz<br />

Gehirn: schlaganfallähnliche Attacken oder<br />

Schlaganfälle (insbesondere bei<br />

Menschen unter 55 Jahren)<br />

Eingeschränkte Nierenfunktion bis hin zum<br />

Nierenversagen<br />

Periphere Nerven: brennende Schmerzen in<br />

Händen oder Füßen<br />

Magen-Darm-Trakt: Durchfall, Übelkeit,<br />

Krämpfe<br />

Zudem können Ohren, Augen (Hornhauttrübungen),<br />

Haut (gestörte Schweißbildung)<br />

und die Lunge betroffen sein


Morbus Fabry: Ein 28 Jahre<br />

langer Leidensweg bis zur Diagnose<br />

Diana Seeber leidet an der seltenen, angeborenen,<br />

monogenetischen Stoffwechselstörung Morbus Fabry,<br />

aus der Gruppe der lysosomalen Speicherkrankheiten.<br />

Im Interview spricht sie über ihren Leidensweg und<br />

appelliert an Ärzte für mehr Aufmerksamkeit.<br />

Text Franziska Manske<br />

Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de 15<br />

Einen Morbus Fabry zu diagnostizieren,<br />

ist auch für erfahrene Ärzte<br />

nicht leicht. Wie lange hat es bei<br />

Ihnen gedauert, bis die Diagnose<br />

gestellt wurde?<br />

Ich war vier, als ich die Krankheit zum<br />

ersten Mal wahrgenommen habe. Die<br />

Diagnose wurde gestellt, als ich 32 Jahre<br />

alt war. Ich habe einen 28 Jahre langen<br />

Leidensweg hinter mir.<br />

Im Alter von vier Jahren zu merken,<br />

dass etwas nicht stimmt, ist sehr<br />

früh. Wie hat sich die Erkrankung<br />

bemerkbar gemacht?<br />

Ich hatte schreckliche Beinschmerzen,<br />

konnte die Treppen nicht herunterlaufen,<br />

nicht rennen und habe immer<br />

viel geweint als Kind. Als ich sieben war,<br />

bin ich immer barfuß herumgelaufen,<br />

auch im Winter, und meine Oma sagte,<br />

dass ich mir doch Schuhe anziehen soll.<br />

Daraufhin habe ich ihr gesagt, dass<br />

ich doch sowieso nichts in den Füßen<br />

merke.<br />

Und die Ärzte fanden das nicht<br />

sonderbar?<br />

Wir waren bei so vielen Ärzten, aber<br />

außer Wachstumsschmerzen ist ihnen<br />

leider nichts eingefallen. Auch nicht, als<br />

die Magen-Darm-Probleme hinzukamen.<br />

Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich<br />

meine erste Magen-Darm-Spiegelung.<br />

Ich war zu dieser Zeit sehr viel im Krankenhaus,<br />

weil ich mich oft übergeben<br />

habe und Essen nicht in mir behalten<br />

konnte. Das wiederum wurde auf die<br />

Psyche geschoben und ich kam zum<br />

Psychologen. In meiner Jugend kamen<br />

dann noch die Kreislaufprobleme hinzu<br />

und ich bin ständig umgekippt. Ich war<br />

gefühlt häufiger im Krankenhaus als im<br />

Unterricht, was mich zu einem Außenseiter<br />

gemacht hat. Das belastete mich<br />

alles sehr.<br />

Wie verliefen die kommenden Jahre?<br />

Es kam multiples Organversagen hinzu.<br />

Mein Herz ist nicht in Ordnung und<br />

mit 19 habe ich einen Schrittmacher bekommen,<br />

meine Nieren sind auch nicht<br />

mehr intakt. Als ich 22 Jahre alt war,<br />

habe ich durch die Fernsehsendung<br />

„Abenteuer Diagnose“ meine Krankheit<br />

quasi selbst erkannt, aber kein Arzt hat<br />

mir geglaubt.<br />

Weitere zehn Jahre vergingen.<br />

Wie kam es dann schlussendlich zur<br />

Diagnose?<br />

Nachdem ich weitere lange Jahre eine<br />

Therapie nach der anderen gemacht<br />

habe, bekam ich Lipome auf der Haut<br />

und ich wurde zu einer Chirurgin<br />

überwiesen. Sie war sehr erfahren und<br />

hat sofort erkannt, dass es sich bei mir<br />

um einen seltenen Gendefekt handeln<br />

musste. Sie hat mich zur Muskelambulanz<br />

geschickt, und dort wurde die<br />

Krankheit dann endlich diagnostiziert.<br />

Glücklicherweise gibt es für Morbus<br />

Fabry eine Behandlungsmöglichkeit.<br />

Wie hat sich Ihr Leben mit dem<br />

Therapiebeginn verändert?<br />

Mein Leben hat sich seit der Diagnose<br />

dahin gehend verändert, dass ich nun<br />

endlich weiß, was ich habe. Manchmal<br />

dachte ich, ich muss sterben, weil<br />

ich mich so schlecht gefühlt habe.<br />

Und auch mein Umfeld versteht mich<br />

und all meine Leiden nun besser. Und<br />

natürlich geht es mir durch die Therapie<br />

besser, und dafür bin ich sehr dankbar.<br />

Morbus Fabry ist eine seltene<br />

Erkrankung, die relativ unbekannt<br />

ist. Wie sind Sie an Informationen zu<br />

Ihrer Erkrankung gekommen?<br />

Ich habe in alten Büchern und dann<br />

auch im Internet nachgelesen. Doch ich<br />

habe es mir selbst zur Aufgabe gemacht,<br />

anderen Patienten mit seltenen Erkrankungen<br />

zu helfen. Wenn ich Menschen<br />

treffe, die einfach nicht mehr<br />

weiterwissen, so wie es mir jahrelang<br />

ging, leite ich sie oft in die richtige Richtung.<br />

Was ich kann, können Ärzte auch<br />

– sie müssen einfach nur genauer hinsehen!<br />

Auf der Website www.fabry-wissen.de/allgemein finden Betroffene, deren Angehörige und Interessierte Informationen<br />

zu dieser Erkrankung, die von Symptomen über Diagnose- und Therapiemöglichkeiten bis hin zu wichtigen Themen bezüglich des<br />

Alltags mit Morbus Fabry reichen. Wenn Sie den Verdacht haben, betroffen zu sein, können Sie hier eine Symptom-Checkliste herunterladen,<br />

die Sie mit Ihrem Arzt gemeinsam durchgehen können.<br />

Sie sind Arzt und haben den Verdacht, dass einer Ihrer Patienten an Morbus Fabry leiden könnte? Dann können Sie unter<br />

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16<br />

Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

Wenn das Leben auf Pause drückt<br />

Für Patienten mit nicht-dystrophen Myotonien (NDM) kann plötzlich alles<br />

stillstehen. Denn die Betroffenen sind aufgrund einer Erberkrankung nicht fähig,<br />

bestimmte Muskeln nach der Kontraktion wieder zu entspannen.<br />

Die gemeinnützige Patientenorganisation<br />

„Mensch<br />

& Myotonie e. V.“ unterstützt<br />

NDM-Betroffene bei<br />

allen Fragen rund um die<br />

Myotonie. Die Organisation<br />

bietet u. a.:<br />

– Erfahrungsaustausch<br />

– Persönliche<br />

Mitgliedertreffen<br />

– Klinikempfehlungen und<br />

Informationen zu<br />

Medikamenten von<br />

Vereinsmitgliedern<br />

– Zusammenarbeit mit<br />

renommierten Neurologen<br />

Die Patientenorganisation<br />

wird zu 100 Prozent<br />

ehrenamtlich<br />

geführt und erhebt<br />

deshalb keinerlei Beiträge<br />

oder Gebühren für die<br />

Mitglieder.<br />

Weitere Informationen:<br />

menschundmyotonie.de<br />

Stephanie M. ist auf dem Weg<br />

zur Arbeit, es herrscht die übliche<br />

Rushhour. Nur ist sie heute<br />

ein wenig zu spät losgegangen.<br />

Sie hat die Bushaltestelle noch<br />

nicht ganz erreicht, als der<br />

Bus an ihr vorbeifährt. Sie<br />

rennt los, um ihn noch zu erreichen. Doch<br />

mitten in der Bewegung fällt sie der Länge<br />

nach hin, ihre Beine haben ihr den Dienst<br />

versagt. Wütend über sich selbst steht sie<br />

schwerfällig wieder auf. So etwas ist ihr<br />

nicht zum ersten Mal passiert. Beim letzten<br />

Mal hatte sie sich doch fest vorgenommen,<br />

dem Bus nicht noch einmal hinterherzurennen!<br />

Stephanies Beispiel ist nur eines von<br />

vielen, die Menschen, die an einer ganz<br />

bestimmten seltenen neurologischen<br />

Erbkrankheit leiden, im Alltag passieren<br />

können. Bei ihr sollte es noch Jahre dauern,<br />

bis sie durch einen Neurologen erfährt, dass<br />

ihre Stürze ein Symptom ihrer seltenen<br />

Erkrankung namens Myotonia congenita<br />

Becker sind, die zur Gruppe der nicht-dystrophen<br />

Myotonien (NDM) gehört.<br />

Nicht-dystrophe Myotonien<br />

Unter einer Myotonie versteht man die Unfähigkeit,<br />

einen Muskel nach erfolgter Kontraktion<br />

zu entspannen, was häufig von Betroffenen<br />

als Muskelsteifigkeit beschrieben<br />

wird. Zurückzuführen ist die Myotonie bei<br />

der Gruppe der NDM auf unterschiedliche<br />

genetisch bedingte Veränderungen in den<br />

sogenannten Natrium- oder Chloridionenkanälen<br />

der Muskeln. Diese beeinträchtigen<br />

die Signalweiterleitung von Nerven auf<br />

die Muskeln. Die Muskeln reagieren nicht<br />

auf Befehle vom Gehirn. Sie spannen sich<br />

länger als bei gesunden Menschen an, sind<br />

versteift und können keine neuen Befehle<br />

für eine Muskelkontraktion empfangen.<br />

In der Folge kann es zudem zu Schmerzen<br />

aufgrund der krampfartigen Verspannungen<br />

kommen.<br />

Symptome der NDM – Gefahren im Alltag<br />

So wie bei Stephanie M. zeigen sich die<br />

Probleme im Alltag. Ähnlich wie bei ihr<br />

kann es zu sehr unangenehmen und sogar<br />

lebensgefährlichen Situationen kommen.<br />

Man stelle sich nur vor, dass ein Betroffener


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de 17<br />

Die vier Unterarten der NDM:<br />

Myotonia congenita Becker<br />

Myotonia congenita Thomsen<br />

Paramyotonia congenita Eulenburg<br />

Kaliumsensitive Myotonien,<br />

unterteilt in:<br />

- Myotonia fluctuans<br />

- Acetazolamid-empfindliche Myotonie<br />

- Myotonia permanens<br />

Achten Sie auf die folgenden<br />

Symptome:<br />

Muskelsteifigkeit (typisch:<br />

geballte Faust kann nicht<br />

schnell geöffnet werden)<br />

Muskelschmerzen<br />

Muskelschwäche<br />

Abgeschlagenheit<br />

Beeinträchtigungen beim<br />

Sprechen und Schlucken<br />

Symptome müssen nicht zwingend<br />

zusammen auftreten!<br />

beim Gerangel im Freibad unvermittelt<br />

ins kalte Wasser fällt. Die Kälte<br />

verstärkt seine Myotonie, die Muskeln<br />

verkrampfen und er kann keine<br />

Schwimmbewegungen machen. Er<br />

weiß, wie sein Körper reagiert und<br />

dass er zu ertrinken droht. Dieser<br />

Stress verstärkt die Myotonie zusätzlich<br />

– er ist bewegungsunfähig und<br />

geht unter. Genauso können Verzögerungen<br />

beim Öffnen der Augen<br />

nach dem Niesen oder eine einfache<br />

kleine Unebenheit auf dem Gehweg zu<br />

brenzligen Situationen führen.<br />

Auch das Sprechen oder Schlucken<br />

kann beeinträchtigt sein, sofern die<br />

Muskulatur des Gesichts betroffen ist.<br />

Zudem berichten viele NDM-Patienten<br />

auch von Muskelschwäche. Einige<br />

sehen trainiert aus wie Bodybuilder,<br />

können jedoch eine Kiste Bier nicht<br />

hochheben.<br />

Weitere typische Symptome der NDM<br />

sind Muskelschmerzen und/oder Abgeschlagenheit.<br />

Verständlicherweise<br />

ist die Lebensqualität dadurch erheblich<br />

eingeschränkt. Die ersten Symptome<br />

treten oft bereits in der Kindheit<br />

oder Jugend auf. Die Betroffenen<br />

empfinden ihre Symptome zudem im<br />

Laufe der Zeit als zunehmend gravierend.<br />

Die Beeinträchtigungen können<br />

so weit gehen, dass die Ausübung des<br />

Berufes nicht mehr möglich ist.<br />

Langjährige Ärzte-Odyssee<br />

Aufgrund der Seltenheit der nichtdystrophen<br />

Myotonien haben auch<br />

Ärzte oft Schwierigkeiten, die Symptome<br />

richtig zuzuordnen. Daher kann<br />

es teilweise bis zu zehn Jahre dauern,<br />

bis meist ein Neurologe die richtige<br />

Diagnose stellt. Häufig haben Patienten<br />

vorher eine zermürbende Ärzte-<br />

Odyssee und etliche Fehldiagnosen<br />

hinter sich. Bei der Diagnosefindung<br />

ist es wichtig, dem Arzt alle Symptome<br />

zu schildern – auch die unwichtig<br />

erscheinenden. Nur eine vollständige<br />

Abklärung der Vorgeschichte im<br />

Zusammenspiel mit klinischen Tests<br />

und der entsprechenden genetischen<br />

Untersuchung kann zur richtigen<br />

Diagnose führen.<br />

Was Betroffene tun können<br />

Es gibt die Möglichkeit die Symptome<br />

zu behandeln, auch wenn die<br />

Erkrankungen nicht heilbar sind. Sie<br />

wird meist von einem Neurologen<br />

verordnet, der sich im Idealfall sehr<br />

gut auf diesem Gebiet auskennt.<br />

Ergänzend zur medikamentösen<br />

Therapie kann eine achtsame Ernährung<br />

die Symptome der Myotonie<br />

etwas abmildern. Lebensmittel mit<br />

einem hohen Kaliumgehalt (z. B.<br />

Bananen, Bohnen, Cola etc.) führen<br />

beispielsweise bei den kaliumsensitiven<br />

Myotonien zu einer Verstärkung<br />

der Myotonie und sollten daher vermieden<br />

werden. Begleitend kann eine<br />

physiotherapeutische Behandlung<br />

zur kurzzeitigen Entspannung der<br />

Muskulatur beitragen.<br />

Auf jeden Fall kann es Betroffenen<br />

sehr helfen, sich mit anderen NDM-<br />

Patienten auszutauschen, um zu<br />

erfahren, wie diese mit ihren Beschwerden<br />

umgehen und welche Tipps<br />

und Tricks es für den Alltag gibt.<br />

Text Dominik Maaßen<br />

KONSEQUENTE<br />

THERAPIE FÜR<br />

MEHR LEBENS-<br />

QUALITÄT<br />

Text Paul Howe<br />

Bisher gibt es keine Heilungsmöglichkeit<br />

der nicht-dystrophen<br />

Myotonien (NDM), allerdings<br />

lassen sich die Symptome<br />

therapieren und damit die<br />

erheblichen Beschwerden und<br />

Einschränkungen verringern,<br />

die die Erkrankung oft mit sich<br />

bringt. Zur Behandlung werden<br />

von der Deutschen Gesellschaft<br />

für Neurologie vor allem zwei<br />

Arzneistoffgruppen (Antiarrhythmika<br />

oder Antiepileptika) empfohlen,<br />

wobei derzeit nur ein<br />

Medikament offiziell zur symptomatischen<br />

Therapie der NDM<br />

zugelassen ist.<br />

Vor Therapiebeginn sollte der behandelnde<br />

Neurologe Untersuchungen<br />

durchführen, um die<br />

exakte Diagnose und bestmögliche<br />

Therapie sicherzustellen.<br />

Im Anschluss daran ist mit dem<br />

Behandlungsbeginn eine regelmäßige<br />

Medikamenteneinnahme<br />

nach Vorgaben des Arztes sehr<br />

wichtig, um langsam einen Wirkspiegel<br />

aufzubauen, der beim Erreichen<br />

der endgültigen Dosis die<br />

Beschwerden der NDM dauerhaft<br />

unterdrückt bzw. minimiert<br />

und damit die Lebensqualität deutlich<br />

verbessert. Außerdem verringert<br />

die regelmäßige, ordnungsgemäße<br />

Einnahme das Risiko<br />

von unerwünschten Arzneimittelwirkungen.<br />

Endlich nicht mehr anders zu<br />

sein, auch mal ausgelassen tanzen<br />

zu können oder mit Freunden<br />

Basketball zu spielen, bringt<br />

Freude ins Leben.<br />

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18<br />

Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

Das Cushing-<br />

Syndrom erkennen<br />

Das Cushing-Syndrom ist eine Erkrankung,<br />

die durch einen erhöhten Spiegel des Steroidhormons<br />

Kortisol verursacht wird. Im<br />

Interview spricht Experte Prof. Dr. Martin<br />

Reincke über die Herausforderung der Diagnostik<br />

und Therapiemöglichkeiten.<br />

Das Cushing-Syndrom ist eine sehr<br />

seltene, schwerwiegende Erkrankung.<br />

Die Symptome sind aber nicht<br />

ganz einfach zu deuten. Wie macht<br />

sich die Erkrankung bemerkbar?<br />

Die Herausforderung beim Cushing-<br />

Syndrom ist, dass es auf der einen Seite<br />

häufig fälschlicherweise vermutet wird,<br />

auf der anderen Seite aber oft viel zu spät<br />

diagnostiziert wird, wenn es tatsächlich<br />

vorliegt. Dieses Paradox ist typisch für<br />

seltene Erkrankungen. Beim Cushing-<br />

Syndrom ist die Erklärung, dass es nicht<br />

das eine Leitsymptom gibt, sondern<br />

gleich ein ganzes Bündel an mehr oder<br />

weniger charakteristischen Symptomen,<br />

die sich aber auch bei ganz anderen<br />

Erkrankungen finden. Dies sind zum<br />

Beispiel Gewichtszunahme, Übergewicht,<br />

das metabolische Syndrom, aber<br />

auch Osteoporose und Bluthochdruck.<br />

Daher wird es häufig vermutet, obwohl<br />

die Betroffenen gar kein Cushing-Syndrom<br />

haben. Für Personen, die tatsächlich<br />

vom Cushing-Syndrom betroffen<br />

sind, ist gerade die Kombination einer<br />

Reihe solcher Symptome das Typische.<br />

Weiterhin charakteristisch für die<br />

Erkrankung ist ein schrittweises, progressives<br />

Auftreten der Symptome<br />

nacheinander: Zu Beginn haben Betroffene<br />

nur zwei bis drei Symptome, nach<br />

und nach kommen aber mehr dazu,<br />

bis dann das Vollbild vorliegt. Betroffene<br />

laufen also erst einmal von einem<br />

Facharzt zum nächsten, ohne dass die<br />

Diagnose gestellt wird. Das macht es so<br />

schwer, die Erkrankung frühzeitig zu<br />

diagnostizieren.<br />

Unsere aktualisierte Diagnostikempfehlung<br />

ist es, speziell auf atypische<br />

Symptome zu achten: Wenn eine<br />

junge Frau eine arterielle Hypertonie<br />

oder spontane (osteoporotische) Frakturen<br />

entwickelt oder ein Kind aufhört<br />

zu wachsen und gleichzeitig Gewicht<br />

zunimmt, sind das deutliche Warnsignale.<br />

Auch das Hautbild spielt eine<br />

wesentliche Rolle, denn jeder Cushing-<br />

Patient hat Hautveränderungen. Wenn<br />

man diese Dinge beachtet, liegt man<br />

als Arzt häufig richtig. Manchmal führt<br />

auch ein Arztwechsel zur Diagnose: Ein<br />

frischer, unvoreingenommener Blick<br />

auf den Cushing-Patienten führt durchaus<br />

zur Diagnose.<br />

Was können Ihrer Meinung nach<br />

speziell Hausärzte zu einer schnelleren<br />

Diagnosefindung beitragen,<br />

damit bei Betroffenen eine Therapie<br />

begonnen werden kann?<br />

Für Allgemeinärzte ist die Diagnose<br />

eines Cushing-Syndroms eine echte<br />

Herausforderung. Denn es gibt so viele<br />

seltene Erkrankungen, an die zu denken<br />

ist, dass es fast unmöglich erscheint, direkt<br />

die richtige Vermutung zu haben.<br />

Aber den wachen Blick zu behalten und<br />

Mustererkennung zu betreiben, ist ein<br />

wichtiger Faktor ärztlicher Tätigkeit,<br />

was man auch durchaus trainieren kann.<br />

Sozusagen eine gesunde diagnostische<br />

Skepsis, wenn bei einem Patienten die<br />

Befunde widersprüchlich erscheinen<br />

und nicht aufgehen, ist von zentraler<br />

Bedeutung. Denn das Cushing-Syndrom<br />

kennt theoretisch jeder Arzt; das Problem<br />

ist, dass es oft nicht erkannt wird.<br />

Bei entsprechendem Verdacht kann die<br />

Erkrankung durch biochemische Tests<br />

schnell und eindeutig diagnostiziert<br />

werden.<br />

Können Betroffene mit einer<br />

entsprechenden Therapie ein<br />

normales Leben führen?<br />

Die Standardtherapie des Cushing-Syndroms<br />

ist, wenn immer möglich, eine<br />

chirurgische. Dies ist entweder die transnasale<br />

Entfernung einer kleinen, gutartigen<br />

Geschwulst der Hirnanhangsdrüse<br />

oder die minimalinvasive Operation<br />

eines kortisolbildenden Nebennierenadenoms.<br />

Selten kann ein neuroendokriner<br />

Tumor der Lunge oder<br />

des Pankreas vorliegen, auch er wird<br />

chirurgisch reseziert. Und damit ist das<br />

Cushing-Syndrom heilbar und dauerhaft<br />

in Remission zu bringen. Bei den<br />

Hypophysenadenomen ist die Heilungsquote<br />

allerdings nur 70 bis 90 Prozent,<br />

und auch nach initialer Heilung kann<br />

es im Verlauf zu Rezidiven kommen.<br />

Wenn die chirurgische Therapie nicht<br />

erfolgreich ist, sollte medikamentös<br />

dafür gesorgt werden, dass der Kortisolspiegel<br />

der betroffenen Patienten in den


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de 19<br />

Prof. Dr.<br />

Martin Reincke<br />

Direktor der<br />

Medizinischen<br />

Klinik und<br />

Poliklinik IV<br />

am Klinikum<br />

der Universität<br />

München<br />

Normbereich abgesenkt wird. Hierfür<br />

stehen mehrere Medikamente zur Verfügung.<br />

Unter richtiger Dosierung kann<br />

hiermit eine Rückbildung der Symptome<br />

und Beschwerdefreiheit erreicht werden.<br />

Was wünschen Sie sich für die<br />

Versorgung von Menschen mit<br />

seltenen Erkrankungen wie dem<br />

Cushing-Syndrom?<br />

Zuallererst die frühere Diagnose, denn<br />

wir wissen durch unsere Studien genau,<br />

dass die durchschnittliche Dauer bis zur<br />

Diagnose nach wie vor drei Jahre beträgt.<br />

Das ist ein Paradox: Wir haben immer<br />

ausgewiesenere Verfahren zum Nachweis<br />

der Erkrankung, aber wie im Jahr 1960<br />

dauert es drei Jahre, bis die Erkrankung<br />

erkannt wird. Das haben wir international<br />

in einer Studie mit 5.000 Patienten nachweisen<br />

können.<br />

Eine Erklärung dafür könnte sein, dass<br />

wir seit den 80er-Jahren eine extreme<br />

Zunahme der Adipositas verzeichnen, die<br />

eines der Kernsymptome des Cushing-<br />

Syndroms ist. Heutzutage ist aber die<br />

Hälfte der Bevölkerung übergewichtig,<br />

was das Erkennen des Cushing-Syndroms<br />

natürlich schwieriger macht. Auch<br />

haben sehr viele Menschen mit Adipositas<br />

ein runderes Gesicht, was ebenfalls<br />

ein Symptom des Cushing-Syndroms ist<br />

(Mondgesicht). Auch die Ansammlung<br />

des Körperfettes in der Körpermitte ist<br />

kein seltenes Merkmal mehr. Dadurch<br />

ist eine Abgrenzung des Cushings zu-<br />

nehmend erschwert.<br />

Ein zweiter Wunsch ist die raschere<br />

und gezieltere Abklärung von Cushing-<br />

Patienten in endokrinologischen Spezialambulanzen<br />

sowie die Durchführung der<br />

richtigen Therapie seitens der behandelnden<br />

Ärzte. Denn wir wissen, dass es<br />

auch bei einem Patienten, bei dem der<br />

Verdacht auf ein Cushing-Syndrom naheliegt,<br />

Monate dauert, bis die Diagnose<br />

sattelfest ist. Es wird erfahrungsgemäß<br />

leider einfach zu viel Zeit vertrödelt mit<br />

wiederholten Tests. Sobald der Hausarzt<br />

ein Cushing-Syndrom vermutet, rate ich<br />

direkt zur Überweisung zum Endokrinologen.<br />

Text Levi Müller<br />

Für Allgemeinärzte ist die<br />

Diagnose eines Cushing-<br />

Syndroms eine echte<br />

Herausforderung. Denn es gibt<br />

so viele seltene Erkrankungen,<br />

an die zu denken ist, dass es fast<br />

unmöglich erscheint, direkt die<br />

richtige Vermutung zu haben.<br />

HRA Pharma Deutschland GmbH<br />

Taunusstr. 3<br />

65183 Wiesbaden<br />

+49 (0) 611 890777-0<br />

0-20-13 STAND JUN 2020

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