Beschaffung aktuell 10.2020
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KARRIERE<br />
Buchrezension<br />
Ein Plädoyer für die Menschlichkeit in der Wirtschaft<br />
Autor Jonathan Aldred stellt fest, dass es nicht weit her ist mit der Menschlichkeit im neoliberalen Wirtschaftsdenken.<br />
In diesem Buch zeichnet er die Geschichte unseres heutigen Wirtschaftsglaubens nicht nur<br />
historisch nach, sondern zeigt auch auf, was uns bei all der Profithörigkeit verloren gegangen ist. Ein Buch<br />
für alle, die das System nicht so hinnehmen wollen, wie es im Moment ist.<br />
Wie steht es um die Menschlichkeit in unserem<br />
Wirtschaftsdenken? Diese Frage will der<br />
Autor Jonathan Aldred in diesem Buch<br />
beantworten. Seine Einstellung ist dabei klar:<br />
In unserem Streben nach Gewinn -<br />
maximierung haben wir unsere grundsätz -<br />
liche Menschlichkeit aus den Augen verloren.<br />
Ethische Grundsätze und altruistische Handlungen<br />
mussten dem Gewinngedanken<br />
weichen.<br />
Das heutige System ist fehlerhaft<br />
Dass das Wirtschaftssystem, wie wir es im<br />
Moment pflegen, nicht allen gefällt, ist sicher<br />
kein Geheimnis. Das zeigt sich ganz deutlich<br />
in einem immer größeren Hang hin zum<br />
Eskapismus: einige Beispiele sind der Trend<br />
zum naturverbundenen Leben wie in der<br />
Tiny-House- und Wohnwagen-Bewegung,<br />
hin zu einer Flucht aus dem Büro in längere<br />
Sabbaticals und zu einer bewussten Entscheidung<br />
gegen die Karriere und für mehr<br />
Work-Life-Balance. Für diese Allüren werden<br />
die Generationen Y und X zwar regelmäßig<br />
durch den Kakao gezogen, doch drücken sie<br />
ein Unwohlsein mit dem System aus, das sich<br />
nicht so einfach weglachen lässt, denn die<br />
Kehrseite der Medaille sind lange Arbeitszeiten,<br />
Depressionen und Burnouts.<br />
Auch die im Moment weltweit zu beobachtende<br />
Bewegung hin zu (rechtem) Populismus<br />
und Extremismus könnte eine ihrer<br />
Ursachen in einem System haben, bei dem<br />
viele einfach auf der Strecke bleiben. Es ist ja<br />
inzwischen bekannt, dass die „Tickle-Down-<br />
Theorie“, also die Idee, dass das Geld der<br />
Reichen irgendwie und irgendwann auch zu<br />
den anderen Schichten durchsickern würde,<br />
nicht der Wahrheit entspricht. Geld zieht nun<br />
mal Geld an, Reiche werden reicher, Arme<br />
ärmer. Konnte sich vor einer Generation der<br />
Schreiner und Familienvater mit einem Einkommen<br />
ein Haus kaufen, können sich heutige<br />
Generationen – je nach Region – nicht einmal<br />
eine heruntergekommene Ein-Zimmer-<br />
Der korrumpierte Mensch. Die<br />
ethischen Folgen des wirschaft -<br />
lichen Denkens.<br />
Jonathan Aldred, Klett-Cotta<br />
Verlag, Stuttgart, 2020.<br />
Hardcover, 433 Seiten. 25,00 €.<br />
ISBN: 978-3608982374<br />
Wohnung leisten. Beide Entwicklungen haben<br />
ihren Ursprung in dem Wirtschaftssystem,<br />
in dem wir alle „gefangen“ sind. Weil<br />
Einzelnen die Perspektive fehlt, wie sie das<br />
System an sich ändern können, treten sie lieber<br />
die Flucht an. Egal wohin, Hauptsache:<br />
nicht hier.<br />
Ursachenforschung Wirtschaftstheorie<br />
Jonathan Aldred geht in diesem Werk auf Ursachenforschung.<br />
Warum sieht unser Wirtschaftssystem<br />
heute so aus, wie es ist?<br />
Schließlich, so ist es seine These, ist dieses<br />
System weder gottgegeben noch unveränderlich.<br />
Deshalb wirft er einen Blick in die Historie<br />
der modernen Wirtschaftstheorien seit<br />
dem Ende des zweiten Weltkriegs. Er ist dabei<br />
zwar kritisch, belegt seine Gedankengänge<br />
aber gut und nachvollziehbar. Dabei schreckt<br />
er auch vor der Kritik an Platzhirschen der<br />
modernen Sozialtheorie, wie der von Nash<br />
und von Neumann begründeten Spieltheorie<br />
nicht zurück. Hier kritisiert er ganz klar, dass<br />
die vermutete „rationale“ Verhaltenweise,<br />
auf die sich so viele (alle?) Wirtschaftstheorien<br />
stützen, in der Praxis oft nicht nachgewiesen<br />
werden kann und dass Menschen sich<br />
oft irrational, emotional und kooperativ verhalten.<br />
Und hier begehen viele Wissenschaftler<br />
bis heute einen Kardinalfehler: Anstatt ihre<br />
Theorien so anzupassen, dass sie die Wirklichkeit<br />
widerspiegeln, verändern sie die Wirklichkeitsbeobachtungen<br />
so lange, bis diese<br />
ihren Theorien entsprechen. So funktioniert<br />
Wissenschaft leider nicht.<br />
In ähnlicher Weise beobachtet und diskutiert<br />
Aldred verschiedene einflussreiche, aber<br />
nicht immer bekannte Theorien des 20. und<br />
21. Jahrhunderts. Dazu gehören unter anderem<br />
das Coase-Theorem, Kenneth Arrows demokratieverneinende<br />
Arbeit bei der RAND-<br />
Cooperation oder das Phänomen des „Trittbrettfahrens“.<br />
Sie alle haben unser Wirtschaftsdenken<br />
geprägt – und nicht immer<br />
zum guten. Ein schlaues, nachdenkliches und<br />
interessantes Buch, für alle, die mutig genug<br />
sind, den Elfenbeinturm zu verlassen.<br />
Jonathan Aldred ist Director of Studies in<br />
Ökonomie am Emmanuel College und lehrt<br />
außerdem als Newton Trust Lecturer am Department<br />
of Land Economy der University of<br />
Cambridge. Sein erstes Buch, „The Skeptical<br />
Economist“, erschien 2012.<br />
Die Autorin<br />
Sanja Döttling,<br />
Redakteurin<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong><br />
64 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> 2020 10