22.12.2012 Aufrufe

Moment mal… - Hans-Peter Zimmermann

Moment mal… - Hans-Peter Zimmermann

Moment mal… - Hans-Peter Zimmermann

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Hans</strong>-<strong>Peter</strong> <strong>Zimmermann</strong><br />

In den Sand<br />

geschrieben<br />

Ein Arbeitsroman<br />

ISBN 3-9050-91-02-X<br />

© 1995 Dr. <strong>Zimmermann</strong> + Partner, alle Rechte beim Autor<br />

@ 2001 Internet-Version Dr. <strong>Zimmermann</strong> + Partner<br />

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und<br />

Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des<br />

Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder<br />

ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages<br />

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme<br />

gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.<br />

1


Wichtige Bemerkung<br />

zur Online-Version<br />

September 2001<br />

Mein erster und einziger Roman "In den Sand geschrieben",<br />

erstmals erschienen 1995, ist ausverkauft.<br />

Anstatt eine neue Auflage zu drucken, habe<br />

ich beschlossen, ihn im Internet gratis zur Verfügung<br />

zu stellen.<br />

Als kleine Gegenleistung bitte ich Sie, den folgenden<br />

Kommentar zu lesen, damit Sie besser begreifen,<br />

was ich mit diesem Werk bezweckt habe:<br />

Es war 1995 im sonnigen Kalifornien. Ich regte<br />

mich immer wieder über die oberflächlichen und<br />

schlecht gemachten Drehbücher von Action-Filmen<br />

auf.<br />

"So etwas schüttle ich dir in drei Tagen aus dem<br />

Ärmel", sagte ich zu meiner Frau, nachdem wir uns<br />

im Westwood Village den Film "Speed" mit Sandra<br />

Bullock reingezogen hatten.<br />

Sie kennen meine Frau nicht! Sie ließ nicht locker,<br />

bis ich wenigstens die Hälfte des Versprechens eingelöst<br />

hatte. Nach drei Wochen waren 280 Seiten<br />

2


zu Papier gebracht, und jede Testperson, die sie<br />

gelesen hatte, wollte dringendst wissen, wie es weitergeht.<br />

Ein bisschen stolz war ich auch auf die Tatsache,<br />

dass ich alles genau recherchiert und geplant hatte,<br />

was man von den meisten Hollywood-Stories nicht<br />

behaupten kann. Oder hat man uns in einem 007-<br />

Schinken jemals erklärt, wo James Bond unter seinem<br />

Maßanzug das ganze Equipment für den Einbruch<br />

beim Bösewicht versteckt hält, und wer ihm<br />

kurz nach dem Auftauchen auf der Ölplattform den<br />

frisch gereinigten und gebügelten Smoking fürs<br />

Abschieds-Dinner mit dem Dreckspatz reicht?<br />

Sollte jemand von Euch in meinem Roman solche<br />

Ungereimtheiten finden, bekommt er von mir postwendend<br />

einen Warengutschein zugeschickt. Ihr<br />

könnt auch gerne den Zeitplan überprüfen: Wenn<br />

mein Romanheld Gregor zu einer bestimmten Zeit<br />

in Anchorage abfliegt, kommt er zu einer bestimmten<br />

Zeit in Los Angeles an.<br />

Wenn Sie allerdings zu der Sorte Leser gehören,<br />

die immer ein Happy End brauchen, dann muss ich<br />

Sie enttäuschen. Mitten im Roman hatte ich nämlich<br />

ein mystisches Erlebnis. Der Erzengel Gabriel,<br />

verkleidet als meine Frau, kam zu mir ins Büro<br />

und sagte:<br />

3


"Du sollst das Ende dieses Romans für dich behalten,<br />

auf dass die Menschen sich Gedanken darüber<br />

machen, warum sie immer solche Geschichten brauchen.<br />

Außerdem sollst du nach jedem Kapitel unbequeme<br />

und blöde Frage stellen, auf dass der Leser<br />

sich nicht einlullen lasse von Geschichten, von<br />

denen er glaubt, dass sie nichts mit ihm zu tun haben."<br />

Ich wusste zwar nicht, was meine Frau damit meinte,<br />

tat aber, wie geheissen. Und so entstand dieser<br />

Arbeitsroman. Lesen Sie ihn oder lassen Sie es bleiben.<br />

Aber bitte schicken Sie mir keine gutgemeinten<br />

Verbesserungs-Vorschläge, denn ich werde mit<br />

Sicherheit keinen weiteren Roman schreiben.<br />

Letzteres betrachte ich als mein bisher nützlichstes<br />

Opfer an die Menschheit.<br />

4


»Wenn dich deine Probleme<br />

zu erdrücken drohen,<br />

dann setze dich an den Strand<br />

und schaue.<br />

Schaue eine Stunde lang.<br />

Dann höre.<br />

Höre eine Stunde lang.<br />

Dann fühle.<br />

Fühle eine Stunde lang.<br />

Und dann schreibe deine Probleme<br />

in den Sand und beobachte,<br />

wie lange sie dort bleiben.«<br />

(Anonymus)<br />

Dieses Manuskript darf nur von folgenden Web Sites<br />

legal heruntergeladen werden:<br />

www.hpz.com<br />

www.hbechter.at<br />

5


1<br />

Gregor Kaspach lehnte sich im bequemen Sessel<br />

der Erstklaß-Lounge zurück und mußte sich<br />

kurz gewahr werden, wo er sich eigentlich befand.<br />

Das war ihm in letzter Zeit immer öfter<br />

passiert. Es mußte wohl daran liegen, daß er seit<br />

Monaten fast nur noch von Flughafen zu Flughafen<br />

und von Hotel zu Hotel hetzte. So hatte er<br />

sich sein Leben eigentlich nicht vorgestellt, als<br />

er vor sieben Jahren den Job als Gebietsverkaufsleiter<br />

angenommen hatte.<br />

Er konnte sich zwar nicht beklagen. Er flog Erste<br />

Klasse, kam in der ganzen Welt herum, logierte<br />

in den schicksten Hotels und dinierte wie<br />

die Reichen und Berühmten. Im Grunde genommen<br />

hatte er alles, was er sich immer schon gewünscht<br />

hatte. Aber irgend etwas fehlte. Wenn<br />

er nur gewußt hätte, was es war.<br />

»Du mußt dich damit abfinden, daß das Leben<br />

längst begonnen hat«, hatte Markus vor dem<br />

Abflug zu ihm gesagt. »Viel interessanter wird’s<br />

nicht!«<br />

6


Vielleicht hatte er auch nur zu viel Kaffee getrunken.<br />

In der Zwischenzeit hatte Gregor sein Ticket aus<br />

der typischen Geschäftsherren-Reisetasche gezogen.<br />

Er war also in Hong Kong. Der Flug Nummer<br />

88 hatte wieder einmal Verspätung. Die MD-<br />

11, die ihn um 20 Uhr hätte nach Anchorage bringen<br />

sollen, habe einen defekten Cockpit-Defroster.<br />

Das hatte man ihm bereits um 17 Uhr ins<br />

Hotel gemeldet.<br />

Das »Harbor View« Hotel war direkt am Wasser<br />

gelegen, sein Zimmer im fünfundzwanzigsten<br />

Stock, mit großen, blitzblankgeputzten Fenstern.<br />

Unten hatte Gregor die alten, grünen Fähren<br />

beobachten können, die die bunte Schar der<br />

größtenteils einheimischen Geschäftsleute nach<br />

Kowloon und zurück beförderten. Gregor mußte<br />

immer lächeln, wenn er die mit einem tragbaren<br />

Telefon bewaffneten Chinesen umherhetzen<br />

sah. Chinesen hatten für ihn schon immer et-<br />

7


was Kindliches gehabt, und mit diesen modernen<br />

Spielzeugen ausgerüstet, sahen sie erst recht<br />

aus wie kleine Kinder.<br />

»Man sollte einfach mehr Zeit haben«, hatte Gregor<br />

während seines Aufenthaltes öfter gedacht<br />

und rechts hinüber zu den Wolkenkratzern der<br />

Causeway Bay geblickt, die im Licht der untergehenden<br />

Sonne wie riesige, goldene Tempel in<br />

den Himmel ragten.<br />

8


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Falls Sie sich bequem hingesetzt haben, um gemütlich<br />

dieses Buch zu lesen, dann muß ich Sie<br />

enttäuschen. Dies ist kein gewöhnlicher Roman.<br />

Und ich werde es nicht zulassen, daß Sie so einfach<br />

Ihrem Alltag entfliehen.<br />

Haben Sie sich schon einmal überlegt, woher eigentlich<br />

Ihr Drang kommt, immer wieder neue<br />

Geschichten zu hören?<br />

Könnte es sein, daß Ihre eigene Lebensgeschichte<br />

nicht spannend genug ist?<br />

Möchten Sie etwas lesen über Menschen, denen<br />

es noch schlechter geht als Ihnen, damit Sie sich<br />

wenigstens für eine kurze Zeit etwas besser fühlen<br />

können?<br />

Oder möchten Sie etwas lesen über Menschen,<br />

die aus ihrem Leben ein Abenteuer gemacht haben,<br />

damit Sie sich für einmal nicht mit Ihrer<br />

selbstgeschaffenen Langeweile befassen müssen?<br />

Wenn Sie jetzt schon sauer auf mich sind, dann<br />

denken Sie bitte daran: Ich habe Ihnen nichts<br />

9


unterstellt. Ich stelle nur ein paar freche Fragen<br />

in den Raum.<br />

Wenn Sie Romane bloß lesen, um die Zeit totzuschlagen,<br />

dann dürfen Sie meine Zwischenbemerkungen<br />

getrost überspringen. Unser Held<br />

Gregor Kaspach würde das vermutlich auch tun.<br />

Wenn Ihnen Ihre Zeit jedoch etwas wert ist, dann<br />

empfehle ich Ihnen dringend, diesen Roman als<br />

Arbeitsbuch aufzufassen und die Fragen, die ich<br />

Ihnen zwischendurch immer wieder stellen werde,<br />

schriftlich zu beantworten. Wenn Sie das tun,<br />

dann verspreche ich Ihnen, daß sich in Ihrem<br />

Leben sehr vieles zum Positiven verändern wird.<br />

Ich freue mich darauf!<br />

10


Hier also meine ersten Fragen:<br />

1. Sind Sie zufrieden in Ihrem Beruf?<br />

2. Sind Sie glücklich in Ihrem Privatleben?<br />

Warum ich das frage? Ganz einfach. Unzufriedenheit<br />

im Beruf und Unglücklichsein im Privatleben<br />

sind die Haupt-Ursachen für Herz-<br />

Kreislauf-Krankheiten. Und Herz-Kreislauf-<br />

Krankheiten sind in unserer westlichen Zivilisation<br />

die Todesursache Nummer eins.<br />

Wenn Sie also bis heute geglaubt haben, daß solche<br />

Krankheiten rein »zufällig« irgendwelche<br />

unschuldigen Menschen überfallen, vergessen<br />

Sie’s!<br />

Sehr interessant sind auch die Antworten, die<br />

man auf solche Fragen immer wieder bekommt.<br />

Da heißt es zum Beispiel:<br />

»Eigentlich kann ich zufrieden sein!« (Offensichtlich<br />

ist man es nicht!)<br />

»Es könnte schlimmer sein!« (Es könnte aber<br />

auch besser sein, oder?)<br />

11


»Verglichen mit anderen Menschen in meinem<br />

Alter habe ich vieles erreicht!« (Aha, mehr darf<br />

man offensichtlich vom Leben nicht erwarten!)<br />

Sehen Sie, wie absurd das ist?<br />

Um zu wissen, wie es ihnen geht, müssen sich<br />

die meisten Menschen zuerst mit anderen Zeitgenossen<br />

vergleichen, und erst noch mit solchen,<br />

die sie nicht mögen.<br />

Wir wollen jedoch nicht an den Problemen hängenbleiben,<br />

sondern Lösungen suchen. Wenn Sie<br />

die beiden folgenden Fragen beantwortet haben,<br />

dürfen Sie sich wieder unserem Romanhelden<br />

zuwenden:<br />

1. Was müßte ich tun, um zufriedener zu werden<br />

im Beruf?<br />

12


2. Was müßte ich tun, um glücklicher zu werden<br />

im Privatleben?<br />

13


Zwei kleine Hinweise muß ich Ihnen noch geben:<br />

Viele Menschen schreiben als Lösung hin,<br />

daß sie die Stelle wechseln und sich scheiden<br />

lassen sollten. Vorsicht Falle! Wenn Sie solch<br />

radikale Maßnahmen als einzige Lösung sehen,<br />

dann gehören Sie zu jener Sorte von Menschen,<br />

die die Ursachen für ihre Probleme immer außen<br />

suchen. Entweder ist der Chef schuld oder<br />

die Mitarbeiter oder der Ehepartner.<br />

Bevor Sie zu radikaleren Mitteln greifen, suchen<br />

Sie doch einmal die Lösungen bei sich selbst, bei<br />

Ihrer Einstellung zu den Dingen. Vielleicht ist<br />

diese Erkenntnis neu für Sie: Die Dinge können<br />

Sie oftmals nicht ändern. Was Sie jedoch immer<br />

verändern können, ist Ihre Einstellung zu den<br />

Dingen.<br />

Nun aber zurück zu unserer Geschichte…<br />

14


2<br />

Bevor Gregor zum Flughafen gefahren war, hatte<br />

er sich noch rasch mit einem seiner ältesten<br />

Kunden getroffen. Charles Huang, Inhaber der<br />

Yin-Yang-Studios, war wie immer gewesen, überfreundlich<br />

und voller wohlwollender Gelassenheit.<br />

Aber vielleicht war es gerade das, was Gregor<br />

so nervös machte. Leute, die eine zu große<br />

Ruhe ausstrahlten, konnte er auf den Tod nicht<br />

ausstehen. Das konnte ja nicht echt sein!<br />

Gregor erinnerte sich an ein Gespräch, das er<br />

kürzlich mit seinem Bruder Bert geführt hatte.<br />

»Weißt du, was du bist«, hatte ihm Gregor an<br />

den Kopf geworfen, »ein Seminar-Tourist, jawohl.<br />

Du eilst von Seminar zu Seminar, liest gescheite<br />

Bücher und behauptest zu wissen, wie alles<br />

zusammenhängt, aber sieh dich einmal an. Hast<br />

du dir schon jemals überlegt, daß man aus diesem<br />

Wissen auch etwas machen könnte? Du bist<br />

jetzt 38 Jahre alt, und was hast du aus deinem<br />

Leben gemacht?«<br />

»Jetzt hast du wieder deine Yang-Phase«, war<br />

15


Berts Antwort gewesen, und Gregor hatte die<br />

Luft anhalten müssen, um ihm nicht vor allen<br />

Leuten eine runterzuhauen.<br />

Wahrscheinlich war es das, was ihn an Charles<br />

Huang und seinen Yin-Yang-Studios störte. Bert<br />

hatte ihm das mit dem Yin und Yang einmal erklärt.<br />

Was sollte das! »Weibliche und männliche<br />

Komponente hin oder her«, hatte Gregor unwirsch<br />

geantwortet, »wie wär’s, wenn du mal<br />

deinen Mann stellen würdest, oder meinetwegen<br />

deinen Yang!«<br />

Bert fand diese Bemerkung so daneben, daß er<br />

sich sogleich zwecks Meditation zurückzog. Er<br />

mußte »seine Mitte wiederfinden«, »seine Harmonie<br />

wieder ausbalancieren« und »seine Energieströme<br />

wieder in Gang bringen«.<br />

»Entsetzlich, was der Mensch alles für Wörter<br />

erfindet«, hatte Gregor ihm nachgerufen, »nur<br />

um der Welt nicht die Stirn bieten zu müssen!«<br />

Der leichte Druck auf seiner Brust erinnerte<br />

Gregor daran, daß er im Flughafen Hong Kong<br />

16


saß und auf sein Flugzeug nach Anchorage wartete.<br />

Es war wieder einmal Frühling, und seine<br />

Allergie meldete sich zu Wort. Er nahm zwei tiefe<br />

Züge aus dem Taschen-Inhalator, den er für<br />

solche Fälle immer bei sich trug, und fühlte sich<br />

gleich darauf wesentlich besser. Die Erstklaß-<br />

Lounge war um diese Zeit fast leer. Auf der Sitzgruppe<br />

ihm gegenüber saß ein ziemlich fettleibiger<br />

Amerikaner im Trainingsanzug, der gerade<br />

dabei war, das halbe Gratis-Buffet leerzuplündern<br />

und einem Mitreisenden zu erzählen,<br />

daß er Spielzeugfabrikant sei und in Hong Kong<br />

das Geschäft seines Lebens abgeschlossen habe.<br />

Hinter ihm saß eine etwa vierzigjährige Inderin<br />

in voller Montur, Sari oder wie das Ding hieß,<br />

mitsamt Kind (wahrscheinlich englische Privatschule,<br />

dachte Gregor) und einer ganzen Batterie<br />

von Vuitton-Koffern, so daß sich Gregor unweigerlich<br />

fragen mußte, was die beiden wohl in<br />

Anchorage wollten. Da fiel ihm ein, daß der Kurs<br />

Nummer 88 ja weiterflog nach Los Angeles. Er<br />

selbst würde in zwei Tagen diese Maschine be-<br />

17


steigen, um sich in Laguna Beach mit Sonja zu<br />

treffen.<br />

»Gottseidank gibt es auch Flüge, die mich von<br />

Alaska wieder wegbringen«, dachte er, »länger<br />

als drei Tage würde ich es in diesem Tramper-<br />

Kaff nicht aushalten.«<br />

Der Gedanke an seine Frau ließ auch nicht gerade<br />

Stimmung aufkommen. Er hatte nie begreifen<br />

können, daß Sonja ihn verlassen hatte. Und<br />

erst noch grundlos, nicht einmal ein anderer<br />

Mann hatte dahintergesteckt!<br />

»Ich verlasse dich aus Liebe«, hatte sie auf einen<br />

Zettel geschrieben, »daher suche bitte nicht<br />

nach Gründen.«<br />

So ein Unsinn! Dabei hatte sie sich immer Kinder<br />

gewünscht, und er war sogar damit einverstanden<br />

gewesen.<br />

»Ich mache dir so viele Kinder, wie du brauchst,<br />

um glücklich zu sein«, hatte er zu ihr gesagt.<br />

Am nächsten Tag war sie verschwunden.<br />

18


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Können Sie sich vorstellen, warum ein indischer<br />

Weiser einmal gesagt hat »Der Westen hat das<br />

Sterben verlernt, und der Osten das Leben«?<br />

Fallen Ihnen Parallelen auf zu Gregor und seinem<br />

Bruder Bert?<br />

Das ist das alte chinesische Symbol<br />

für Yin und Yang. Die alten<br />

Chinesen sprachen von zwei verschieden<br />

gepolten Energien, die<br />

das ganze Universum in Gang halten sollen, ganz<br />

ähnlich dem Minus- und Plus-Pol bei der elektrischen<br />

Energie:<br />

Yin Die weibliche Energie<br />

Die Erde (»Mutter Erde«)<br />

Der Minus-Pol<br />

Das empfangende Prinzip<br />

Passivität<br />

Die göttliche Energie<br />

19


Yang Die männliche Energie<br />

Der Himmel (Der »Vater« im Himmel)<br />

Der Plus-Pol<br />

Das gebende Prinzip<br />

Die Aktivität<br />

Die irdische Energie<br />

Die Hauptaufgabe der alten chinesischen Medizin<br />

bestand darin, diese beiden Energien auszubalancieren.<br />

Fällt Ihnen bereits etwas auf? Wie gut ist eigentlich<br />

Ihre Balance? Zwischen Aktivität und Meditation?<br />

Zwischen Handeln und Nachdenken?<br />

Zwischen Geben und Empfangen?<br />

Gregor ist der typische »Erfolgsmensch« unserer<br />

Tage mit einem Ungleichgewicht zugunsten<br />

der Yang-Energie.<br />

Sein Bruder Bert ist das pure Gegenteil. Er hat<br />

sich alle Aktivitäten abgeschminkt und hängt<br />

nur noch an Seminaren herum.<br />

20


Bitte beantworten Sie zwei Fragen, bevor Sie<br />

weiterlesen:<br />

1. Wie produktiv wäre wohl ein Mensch, der beide<br />

Energien ausbalanciert hat?<br />

2. Können Sie sich vorstellen, warum Sonja<br />

Gregor verlassen hat?<br />

21


3<br />

Gerade wollte Gregor seinen Laptop-Computer<br />

in Gang bringen, um das Angebot für Huang<br />

aufzusetzen, da verlangte die Lautsprecher-<br />

Stimme im gewohnten Singsang nach einem<br />

»Mister Käspätsch«, der sich bitte in der Erstklaß-Lounge<br />

melden solle. Gregor stand auf,<br />

schnappte sich im Vorbeigehen ein paar Erdnüsse<br />

vom Buffet und schlenderte zur Empfangsdame,<br />

bereits gefaßt auf die Nachricht, daß das<br />

Flugzeug heute abend nicht mehr starten würde.<br />

Die Adern an seinen Schläfen schwollen vorsorglich<br />

ein wenig an, bereit für den großen Ausbruch.<br />

»Mister Käspätsch?« fragte die hübsche Chinesin<br />

überfreundlich.<br />

»Äh, Kaspach, yes, Gregor Kaspach«.<br />

Das tiefausgeschnittene Dekolleté hatte ihn einen<br />

<strong>Moment</strong> lang beinahe aus der ärgerlichen<br />

Stimmung gebracht. Ohne sich viel anmerken<br />

zu lassen, griff er nach dem Telefonhörer, den<br />

ihm die junge Frau entgegenstreckte, und ver-<br />

23


suchte, beiläufig einen Blick auf ihre wohlgeformten<br />

Beine zu ergattern. Er malte sich schon<br />

aus, wie er das Markus schildern würde. Sein<br />

langjähriger Freund Markus Keller war der geborene<br />

Casanova und für solche Geschichten immer<br />

zu haben.<br />

»Weißt du«, würde Gregor zu ihm sagen, »das<br />

Girl hat mich mit ihrer weißblauen Uniform total<br />

angemacht. Nur schade, daß ich zu wenig Zeit<br />

hatte, sonst…«<br />

»Mister Kaspach«, säuselte die Empfangsdame<br />

mit sanfter Stimme, »it’s your father, please press<br />

number one to get the line«.<br />

Was hatte sie da gesagt? Sein Vater? Also, entweder<br />

hatte das Mädchen da etwas mißverstanden,<br />

oder jemand erlaubte sich einen ziemlich<br />

geschmacklosen Scherz. Sein Vater, Anton Kaspach,<br />

war vor vierzig Jahren gestorben. Gregor<br />

war damals gerade fünf Jahre alt gewesen. Mutter<br />

hatte ihm nie etwas über ihn erzählt. Gregor,<br />

seine um zwei Jahre ältere Schwester Ma-<br />

24


ia und der kleine Bruder Bert hatten sich selbst<br />

einen Reim machen müssen, was mit ihrem Vater<br />

geschehen war. In der Schule hatte jemand<br />

einmal das Gerücht in die Welt gesetzt, Anton<br />

Kaspach sei ein Nazi gewesen, und zwar einer<br />

der ganz schlimmen, Hilfsleiter eines Konzentrationslagers<br />

oder so etwas. Kurz vor Hitlers<br />

Untergang sei er dann unter falschem Namen<br />

untergetaucht und lebe heute vermutlich irgendwo<br />

in der Karibik.<br />

Daß sein Vater noch leben sollte, stimmte mit<br />

Sicherheit nicht, das wußte Gregor aufgrund eines<br />

Totenscheins, den seine Schwester im Sekretär<br />

ihrer Mutter gefunden hatte. Vor dreieinhalb<br />

Jahren, kurz bevor Mutter ihrer heimtückischen<br />

Krankheit erlegen war, hatte sie noch zu den<br />

Kindern gesagt »Vergeßt euren Vater nicht« und<br />

dabei auf den alten Sekretär an der Südwand<br />

des Wohnzimmers gedeutet. Mehr war damals<br />

aus ihr nicht herauszukriegen, und nachdem sie<br />

im Krankenhaus ihren letzten gramerfüllten<br />

Seufzer getan hatte, entdeckte Maria eben die-<br />

25


sen Totenschein. Er bezeugte, daß ein gewisser<br />

Anton Kaspach, geboren 1909 in Travemünde,<br />

im Jahre 1954 auf der Karibikinsel St. Thomas<br />

an Herzversagen gestorben sei.<br />

»Hello«, meldete sich Gregor vorsichtig.<br />

»Gregor?« entgegnete eine sonore, leicht rauchige<br />

Männerstimme mit fragendem Unterton.<br />

»Gregor, bist Du’s?«<br />

»Ja, wer ist am Apparat?« Gregors Stimme klang<br />

schon etwas unwirsch. Er hatte weiß Gott Gescheiteres<br />

zu tun als hier in einer Lounge nachts<br />

um zehn die Rätsel irgend eines Witzboldes zu<br />

lösen.<br />

»Gregor, ich bin’s, dein Vater…«<br />

Dann hatte die Frau also doch richtig gehört.<br />

Gregors Puls begann zu rasen, die Adern an seinen<br />

Schläfen schwollen zu unansehnlichen blauen<br />

Regenwürmern an, wie immer, wenn er sich<br />

maßlos ärgerte. Was erlaubte sich dieser Kerl<br />

eigentlich? Woher wußte er überhaupt, daß Gregor<br />

hier war und auf seinen Flug nach Anchorage<br />

wartete? Gregor atmete einmal tief durch und<br />

26


gab sich Mühe, seine Aufgebrachtheit zu verbergen.<br />

»Hören Sie, ich bin seit heute morgen um sechs<br />

Uhr auf den Beinen und mein Flugzeug hat Verspätung.<br />

Es tut mir leid, wenn ich nicht zu Scherzen<br />

aufgelegt bin. Bitte nennen Sie mir jetzt Ihren<br />

Namen oder ich lege auf. Okay?«<br />

Das letzte Wort klang mehr wie ein heiseres<br />

Krächzen. Gregor war noch nie besonders gut<br />

gewesen im Überspielen von Ärger.<br />

»Nein, Gregor, nicht aufhängen, bitte. Ich muß<br />

dringend mit dir sprechen. Wir beide sind in großer<br />

Gefahr. Ich tue das nicht meinetwegen, ich<br />

bin ein alter Mann, der ohnehin bald sterben<br />

muß. Aber du, Gregor, du hast noch eine Aufgabe<br />

zu erfüllen. Bitte, bitte, glaube mir, hänge<br />

nicht ein, bitte!«<br />

Gregor war völlig verwirrt. Schweißperlen rollten<br />

ihm von der Stirn und formten auf seinen<br />

Wangen kleine Bächlein.<br />

»Are you okay, Sir?« fragte die schöne Chinesin,<br />

und ein Blick auf ihren kleinen, zarten Körper<br />

27


erinnerte Gregor wieder daran, wo er sich befand.<br />

Die Kleine war sich offenbar von Geschäftsleuten<br />

einiges gewöhnt, jedenfalls war sie sofort<br />

mit ein paar Kleenex-Tüchern zur Stelle.<br />

»It’s okay«, versuchte er sie zu beruhigen, »nur<br />

ein wenig Ärger im Geschäft.«<br />

Gregor räusperte sich und versuchte, so bestimmt<br />

wie möglich in den Hörer zu sprechen.<br />

»Also, ich sage Ihnen jetzt zum letzten Mal, entweder<br />

Sie verraten mir, wer Sie sind und was<br />

Sie wollen, oder ich rufe die Flughafen-Polizei<br />

und lasse herausfinden, von wo aus Sie anrufen.«<br />

»Schon gut, Gregor, ich weiß, das ist alles nicht<br />

so einfach für dich. Ich melde mich wieder, wenn<br />

du in Anchorage bist…«<br />

»<strong>Moment</strong>!« Gregor wollte dem mysteriösen Unbekannten<br />

gerade erklären, daß sein Vater seit<br />

vierzig Jahren tot sei, da hatte dieser bereits<br />

eingehängt.<br />

»Mister Kaspach, your flight is now boarding«,<br />

flüsterte die Chinesin in der aufreizenden Uni-<br />

28


form, »is there anything I can do for you, before<br />

you leave?«.<br />

Wenn Markus dabei gewesen wäre, hätte Gregor<br />

scherzend gesagt »ja, Sie könnten mir einen<br />

Gutenachtkuß geben«, aber dazu fehlte ihm im<br />

<strong>Moment</strong> der Humor.<br />

29


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Bitte entschuldigen Sie die leicht sexistischen<br />

Szenen im letzten Kapitel. Aber ich muß ja denjenigen<br />

unter Ihnen, die nur die Geschichte lesen<br />

wollen, ein wenig »Sex and Crime« liefern.<br />

Außerdem hat mich mein Manager Björn Walker<br />

um ein paar solche Szenen gebeten. Nicht<br />

daß er so etwas braucht, neeeeeiiinnn… er benötigt<br />

dieses Material nur zu Studienzwecken!<br />

Ich habe diesmal nur eine Frage, dann dürfen<br />

Sie sofort weiterlesen:<br />

Wenn Sie an Ihre Eltern denken, empfinden Sie<br />

Seelenfrieden oder herrscht da »Krieg der Emotionen«?<br />

Wenn bei Ihnen das zweite zutrifft, und wenn<br />

Sie etwas mehr Seelenfrieden haben möchten,<br />

dann empfehle ich Ihnen die folgende Übung:<br />

Stellen Sie sich vor, Sie setzen sich mit demjenigen<br />

Elternteil, der Ihnen Probleme bietet, zusammen<br />

und besprechen mit dieser Person alles,<br />

was Sie verletzt hat. Tun Sie das bitte nur in<br />

30


Ihrer Vorstellung! Sie brauchen also niemanden<br />

wirklich einzuladen. Und es spielt auch keine<br />

Rolle, ob Sie Ihre Eltern kennen oder nicht. Laden<br />

Sie sie einfach in Ihr »geistiges« Wohnzimmer<br />

ein und erfinden Sie einen klärenden Dialog.<br />

Zum Schluß sagen Sie zu dieser Person:<br />

»Jetzt lasse ich dich endgültig ziehen. Du hast<br />

keine Macht mehr über mich. Ich verzeihe dir.<br />

Bitte geh’ jetzt!«<br />

Es ist durchaus möglich, daß Sie sich im <strong>Moment</strong><br />

noch gegen diese Übung wehren, weil Sie glauben,<br />

daß man so etwas nicht verzeihen darf. Aber<br />

ich garantiere Ihnen: Wenn Sie sich dazu durchringen,<br />

werden Sie sich selbst befreien von einer<br />

zentnerschweren Last. Und Sie werden den<br />

Boden ebnen für Glück und Erfolg wie nie zuvor!<br />

Denken Sie daran: Derjenige, der etwas<br />

nachträgt, trägt die Last!<br />

31


4<br />

Die beiden Männer, die sich anschickten, in eine<br />

der Gondeln Richtung Sentosa-Island zu steigen,<br />

sahen aus wie deutsche oder skandinavische<br />

Touristen. Es war heiß und feucht in Singapur,<br />

typisches Frühlingswetter für diese Gegend. Wie<br />

in einer Waschküche, dachte der Größere der<br />

beiden, ein über zwei Meter großer Hüne mit<br />

blondem Haar und einer etwa drei Zentimeter<br />

langen Narbe über dem rechten Auge. Sein Begleiter<br />

war ebenfalls blond, von mittlerer Statur,<br />

und auch ihm schien es entschieden zu heiß<br />

zu sein, obwohl er nur ein Paar weiße Shorts,<br />

ein blaurot geblümtes Hawaii-Hemd und ein<br />

paar weiße Tennisschuhe anhatte.<br />

»Warum eigentlich Sentosa, Führer?« wandte er<br />

sich an den großen Blonden, während er mit seiner<br />

Gestik auszudrücken versuchte, daß es kühlere<br />

Orte gäbe als ausgerechnet die Gondelbahn<br />

auf Singapurs Vergnügungsinsel.<br />

»Warum wohl, Schulze?« gab der andere unwirsch<br />

zur Antwort.<br />

33


»Diese Leute machen Ihnen ziemlich zu schaffen,<br />

was?«<br />

»Das kann man wohl sagen. Aber ich versichere<br />

Ihnen eines, Schulze, wir werden das Gerät bekommen,<br />

koste es, was es wolle. Es gehört in den<br />

Besitz von verantwortungsvollen Menschen, die<br />

eine Vision haben für eine bessere Welt, die wissen,<br />

was es bedeutet, für eine reine Menschenrasse<br />

zu kämpfen.«<br />

»Wo ist es denn jetzt?«<br />

»Das werden Sie herausfinden, Schulze. Das einzige,<br />

was wir wissen, ist, daß sein Sohn Gregor<br />

offenbar die Pläne hat.«<br />

»Und wo finde ich diesen Gregor?« fragte Schulze,<br />

der bereits hoffte, daß er dieses drückende<br />

Klima für eine Weile würde verlassen können.<br />

»Im Augenblick sitzt er im Flugzeug zwischen<br />

Hong Kong und Anchorage«, gab der Hüne zur<br />

Antwort, »unser Mann am Flughafen Hong Kong<br />

hat schon mal für eine kleine Warnung gesorgt.«<br />

Beim letzten Satz verzog er sein häßliches Narbengesicht<br />

zu einer hämischen Fratze.<br />

34


»Gerd Hafenkamps Warnungen kenne ich«, sagte<br />

Schulze, wobei er sich im Ton nicht so recht<br />

zwischen aufgesetzter Schmeichelei und ängstlichem<br />

Respekt entscheiden mochte.<br />

»Kaspach bleibt einen Tag in Anchorage«, fuhr<br />

der Große weiter, »dann ist er für den Weiterflug<br />

nach Los Angeles gebucht. Seine weiteren<br />

Pläne kennen wir noch nicht; sie werden oft erst<br />

in letzter Minute von seinem Büro in Hamburg<br />

festgelegt. Rufen Sie dort unter einem Vorwand<br />

an und versuchen Sie, weiteres herauszufinden.«<br />

»Wird gemacht, Führer«, schloß Schulze die Konversation<br />

ab, während die Gondel mit dem üblichen<br />

metallenen Geräusch in die Station einfuhr.<br />

Die beiden Männer stiegen aus, als ob sie sich<br />

nicht kennen würden, und gingen in verschiedenen<br />

Richtungen davon.<br />

35


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Gibt es da überhaupt etwas dazu zu sagen?<br />

Ach ja, vielleicht dies: Neonazi-Zeug kommt immer<br />

gut an, oder? Wie heißt es so schön: »Nie<br />

vergessen, was im Dritten Reich passiert ist!«<br />

Als ob ein vernünftig denkender Mensch jemals<br />

vergessen könnte, was eine Nation fertigbringt,<br />

die vom Sicherheitsdenken geprägt ist. Und diejenigen,<br />

die es bereits vergessen haben, werden<br />

sich auch nicht verändern, wenn man sie daran<br />

erinnert.<br />

Aber lesen wir noch ein wenig weiter. Es wird<br />

grad so schön spannend…<br />

36


5<br />

Normalerweise hätte Gregor sich kurz nach dem<br />

Start schlafen gelegt, aber diesmal war das anders.<br />

Er hatte sich das »Wall Street Journal« vom<br />

Zeitungswagen geschnappt und versucht, den<br />

routinierten Vielflieger zu mimen, doch er konnte<br />

sich keine Sekunde konzentrieren. Die Gedanken<br />

surrten wie wild in seinem Kopf herum. Was<br />

war das bloß für ein geschmackloser, hirnrissiger,<br />

unverschämter Typ gewesen vorhin am Telefon?<br />

Was meinte er mit »wir sind in Gefahr»? Und<br />

würde er die Frechheit besitzen, sich in Anchorage<br />

nochmals zu melden?<br />

Gregor spürte wieder diesen Druck auf der Brust,<br />

und er war froh, als die beiden Stewardessen endlich<br />

mit dem Kaviarwagen auffuhren und ihn fragend<br />

anblickten.<br />

»Von allem ein wenig«, meinte Gregor müde, und<br />

während die eine Stewardeß, eine blutjunge, aber<br />

sichtlich gelangweilte Asiatin, damit beschäftigt<br />

war, Beluga-Kaviar, Eigelb, gehackte Zwiebeln,<br />

Sauerrahm und eine Handvoll Blinis auf Gre-<br />

37


gors Teller zu laden, wollte die andere wissen,<br />

ob er heute noch bis nach Los Angeles fliege.<br />

»Nein, leider nicht«, meinte Gregor, »ich habe<br />

noch zwei Tage in Anchorage zu tun.«<br />

»Sie reisen wohl sehr viel?«<br />

Gregor betrachtete die Fragerin von oben bis<br />

unten. Sie war Amerikanerin, stellte sich heraus,<br />

in Atlanta geboren und aufgewachsen, eigentlich<br />

hatte sie mal Philosophie studiert, dann<br />

geheiratet, zwei Kinder, das Übliche, und jetzt,<br />

wo die Kinder groß waren, wollte sie wieder ein<br />

bißchen was arbeiten, ein wenig unter die Leute<br />

kommen.<br />

Die Frau sieht nicht aus, als hätte sie zwei erwachsene<br />

Kinder, dachte Gregor bei sich, und<br />

während er sie so betrachtete, mit ihren blondgrau<br />

gelockten, halblangen Haaren, ihrem sehr<br />

freundlichen, jedoch bestimmten Ausdruck im<br />

Gesicht, da überfiel ihn wieder dieses eigenartige<br />

Gefühl. Einen kurzen Augenblick lang wußte<br />

er nicht mehr, wo er war. Auch sein Zeitgefühl<br />

ließ ihn vollkommen im Stich. Dies alles hätte<br />

38


genauso gut in einem Flugzeug zwischen Hamburg<br />

und Rom geschehen können, oder im Greyhound-Bus<br />

zwischen Chicago und Los Angeles.<br />

Und es hätte genauso gut Herbst sein können<br />

anstatt Frühling.<br />

Ob es das wohl war, was sein Bruder immer<br />

meinte, wenn er davon erzählte, wie er bei der<br />

Meditation sämtliches Raum- und Zeitgefühl<br />

verlor?<br />

»Would you like Champagne or Vodka, Mister<br />

Kaspach? Mister Kaspach!«<br />

Gottseidank, die mütterlich-erotische Amerikanerin<br />

hatte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen<br />

zurückgeholt.<br />

»Sorry, I was just meditating. Champagne<br />

please.«<br />

Was war den bloß in ihn gefahren? Er und meditieren!<br />

Er hatte wirklich dringend Urlaub nötig.<br />

»Oh, Sie meditieren? Das ist aber interessant!«<br />

Die junge Asiatin hatte offensichtlich für einen<br />

<strong>Moment</strong> ihre Langeweile vergessen. Sie habe das<br />

auch schon immer lernen wollen, aber bisher<br />

39


hätte sie keine Zeit dazu gehabt. Das müsse<br />

furchtbar schwierig sein. Und wie lange er denn<br />

gebraucht hätte, bis er es richtig beherrschte.<br />

»Ach wissen Sie, meditieren, das beherrscht man<br />

eigentlich nicht, das tut man einfach.« Irgendwie<br />

mußte er diese Show jetzt zu Ende spielen.<br />

Bert würde sich wahrscheinlich gekugelt haben<br />

vor Lachen. Und Markus erst recht.<br />

»Hey,« würde er ihm mit einem etwas zu groben<br />

Schubs auf die Schulter zuraunen, »du hast hier<br />

zwei Frauen vor dir, verstehst du, zwei Vertreterinnen<br />

des weiblichen Geschlechts. Was meinst<br />

du, erwarten die von dir? Dein Geschwafel über<br />

Meditation oder sonst was Heiliges? Sieh zu, daß<br />

du die beiden in Anchorage treffen kannst. Denen<br />

wird’s sonst langweilig!«<br />

»Do you know a good night club in Anchorage?«<br />

Gregor wußte nicht so recht, ob er die Frage an<br />

»Miss Meditation« oder an »Missis Mütterliche<br />

Geborgenheit« richten sollte. Aber die beiden<br />

schienen ihn nicht zu hören.<br />

»Meditation ist so faszinierend, findest du nicht<br />

40


auch?« wollte die Jüngere von der Älteren wissen,<br />

worauf jene zur Antwort gab, sie meditiere<br />

regelmäßig, das heiße, eigentlich seien es mehr<br />

so Entspannungsübungen. Aber wenn man das<br />

immer mache, werde man ein ganz anderer<br />

Mensch.<br />

Wenn Markus dabei gewesen wäre, dann hätte<br />

Gregor jetzt geantwortet »um Sie herum wird mir<br />

auch ganz anders«, und beide hätten herzhaft<br />

gelacht. Aber Gregor war nicht zum Scherzen<br />

aufgelegt, dazu war er heute zu lange auf den<br />

Beinen gewesen.<br />

Statt dessen mußte er an Becky denken.<br />

Diese Geborgenheit, diese reife und doch erotische<br />

Ausstrahlung war es wohl, die er an ihr ein<br />

wenig vermißte. Er erinnerte sich noch genau<br />

an damals, als sie sich kennenlernten…<br />

Es war an einem schwülen Sommertag in Bern<br />

gewesen. Genauer gesagt, am ersten August,<br />

denn die sonst eher zurückhaltenden Schweizer<br />

hatten ihre Hauptstadt zur Nationalfeier wun-<br />

41


derschön herausgeputzt. In allen Straßen hingen<br />

Fahnen mit dem weißen Schweizerkreuz auf<br />

rotem Grund und dem schwarzen Berner Bären,<br />

der dem Betrachter seine lange Zunge zeigte. An<br />

jeder Straßenecke waren Kinder damit beschäftigt,<br />

ihr schon vor Wochen eingekauftes Feuerwerk<br />

abzubrennen. Und selbst die Drogensüchtigen<br />

bei der alten Barockkirche schauten etwas<br />

patriotischer in die Welt als sonst.<br />

Gregor hatte in der Zeitung gelesen, daß die<br />

Berner als erste in Europa in ihren Stadtbädern<br />

das Baden »oben ohne« erlaubt hatten. Das mochte<br />

zwar für das sonst so bieder und verschlafen<br />

daherkommende Bern enorm fortschrittlich klingen,<br />

aber Gregor wußte, daß die Bewohner der<br />

alten Zähringer-Stadt sich seit Jahren alle Mühe<br />

gaben, ihr mittelalterliches Image loszuwerden.<br />

So hatten sie es auch geschafft, sämtliche Fußgänger<br />

an einem der historisch interessantesten<br />

Plätze Europas in den Untergrund zu verbannen,<br />

und eine, wie man ihm sagte, einmalige<br />

Barockkirche zur Verkehrsinsel zu degradieren.<br />

42


Dennoch wollte sich Gregor an diesem heißen<br />

August-Nachmittag mit eigenen Augen überzeugen,<br />

ob die Bernerinnen von diesem großzügigen<br />

Angebot auch wirklich Gebrauch machten.<br />

Er schmunzelte beim Gedanken daran, daß einige<br />

Regierungsbeamte von ihren Büros aus einen<br />

herrlichen Blick auf das Stadtbad Marzili<br />

genossen. Die Fernrohr-Verkäufer, sinnierte er,<br />

dürften in der Bundesstadt jetzt einiges zu tun<br />

haben. Und ihm fiel der Scherzbold ein, der in<br />

der Straßenbahn lauthals den neuesten Beamten-Witz<br />

zum besten gegeben hatte: »Die Beamten<br />

haben im Frühling die härteste Zeit zu überstehen:<br />

Sie gehen vom Winterschlaf direkt in die<br />

Frühjahrsmüdigkeit!«<br />

Damals hatte er darüber lauthals lachen müssen.<br />

Jetzt spürte er nur wieder seinen Druck auf<br />

der Brust. Außerdem fing sein Arm an zu schmerzen;<br />

offenbar hatte er im Fitneß-Club in Hong<br />

Kong doch ein wenig übertrieben mit seinen morgendlichen<br />

Kraftübungen.<br />

43


Das Stadtbad war eine ziemliche Enttäuschung<br />

gewesen. »Nur die Häßlichen kommen oben ohne<br />

daher«, hatte er Markus am Telefon berichtet,<br />

»die Schönen halten sich bedeckt.«<br />

»Und sonst, was läuft sonst so?« hatte Markus<br />

ungeduldig gefragt, wohl wissend, daß das noch<br />

nicht alles sein konnte.<br />

»Tja, und sonst führe ich Berns hübschestes<br />

Mädchen heute abend zum Essen aus.«<br />

Becky war ihm sofort aufgefallen. Er war gerade<br />

dabei gewesen, in die Marzilibahn, die kürzeste<br />

Drahtseilbahn Europas, einzusteigen, die ihn<br />

auf die Bundesterrasse bringen sollte. Anschließend<br />

wäre es nur ein kurzer Spaziergang zu seinem<br />

Hotel gewesen, einem typischen Berner<br />

Luxusbunker, der sich zwar das beste Haus am<br />

Platz nannte, aber immer noch weit unter dem<br />

internationalen Standard dahinvegetierte. Am<br />

Vorabend hatte sich Gregor tödlich über den<br />

Einfaltspinsel von Maître d’Hôtel aufgeregt, der<br />

leicht schwänzelnd und mit übertrieben gespielter<br />

Vornehmheit in blumigsten Worten »sein«<br />

44


Gourmet-Menu zum Besten zu geben wußte, jedoch<br />

hintenherum seine Angestellten wie drittklassige<br />

Lakaien behandelte.<br />

Doch diese kritischen Gedanken waren in den<br />

nächsten Sekunden aus seinem Kopf verbannt,<br />

als er im Schatten eines riesigen Kastanienbaums<br />

ein Mädchen erblickte, das offenbar schon<br />

länger erfolglos versucht hatte, sein bockiges<br />

Mofa in Gang zu setzen. Es kam anscheinend,<br />

wie er, direkt aus dem Stadtbad und war nur<br />

mit einem schneeweißen Bikini, einem leichten,<br />

rosa und hellblau geblümten Sommerhemd und<br />

schwarzen Badeschuhen bekleidet, so daß Gregor<br />

sich ungehindert an diesem makellosen,<br />

braungebrannten Körper weiden konnte.<br />

»Mein Gott, so viel Schönheit auf einem Haufen«,<br />

rief er innerlich aus und eilte der jungen<br />

Frau flinken Schrittes zu Hilfe.<br />

»Haben Sie Werkzeug dabei?« wollte er wissen.<br />

»Ou, das ist aber schaurig lieb, daß Sie mir helfen<br />

wollen, ja, hier hinten in der Satteltasche«,<br />

gab das Mädchen mit unverkennbarem Schwei-<br />

45


zer Akzent zur Antwort.<br />

Gregor schraubte fachmännisch die Zündkerze<br />

aus der Halterung, rieb sie mit einem Taschentuch<br />

sauber, prüfte den Abstand der beiden Elektroden,<br />

schraubte sie wieder ein und setzte mit<br />

einem lässigen Schlag die Zündkappe auf.<br />

»So, jetzt können Sie’s nochmals versuchen«, forderte<br />

er das Mädchen auf, insgeheim hoffend,<br />

daß das Mofa noch nicht auf Anhieb anspringen<br />

würde und er sich noch eine Weile an diesem<br />

traumhaften Geschöpf würde ergötzen können.<br />

»Hey, Wahnsinn! Sie sind ja Spitze!« rief das<br />

Mädchen aus, nachdem ihr Mofa bereits beim<br />

ersten Versuch gestartet war. »Wie kann ich Ihnen<br />

danken!«<br />

Letzteres war möglicherweise nicht als echte<br />

Frage gedacht, aber Gregor war dennoch augenblicklich<br />

mit einer Antwort zur Stelle: »Sie könnten<br />

mir Bern zeigen. Ich kenne diese Stadt nämlich<br />

noch viel zu wenig, obwohl ich geschäftlich<br />

oft hier bin.«<br />

Ein wenig flunkern mußte ja wohl unter den<br />

46


gegebenen Umständen erlaubt sein. Außerdem<br />

würde ihm das Markus nie verzeihen, wenn er<br />

sich eine solch einmalige Gelegenheit durch die<br />

Latten gehen ließ.<br />

»Sie sind aus Deutschland, oder?« fragte das<br />

Mädchen mit unschuldigem Blick.<br />

»Ja, aus Hamburg«, gab Gregor zur Antwort.<br />

»Hamburg muß schaurig schön sein. Ich habe<br />

eine Freundin, die immer davon schwärmt.« Das<br />

leicht holprige Schweizer Hochdeutsch machte<br />

dieses junge Ding nur noch begehrenswerter.<br />

»Darf ich fragen, wie Sie heißen?« wagte Gregor<br />

den nächsten Vorstoß.<br />

»Camenzind, und Sie?«<br />

»Kaspach, Gregor Kaspach.« Gregor war sich von<br />

seinen häufigen Reisen nach Amerika gewohnt,<br />

sich mit Vornamen vorzustellen, und irgendwie<br />

kam ihm diese distanzierte Siezerei in deutschsprachigen<br />

Ländern etwas komisch vor.<br />

»Frau Camenzind, sehr erfreut.« Gregor streckte<br />

der Frau seine Hand entgegen. »Ist das ein<br />

holländischer Name?«<br />

47


Die junge Dame auf dem Mofa lachte lauthals<br />

auf und zeigte dabei ihre blendend weißen Zähne.<br />

»Nein, nein, mein Vater kommt aus dem Kanton<br />

Graubünden. Camenzind ist ein typisches<br />

Bündner Geschlecht. Übrigens… Fräulein.«<br />

»Fräulein was?«<br />

»Fräulein Camenzind, nicht Frau. Ich bin noch<br />

ledig.«<br />

»Das kann auch nur in der Schweiz passieren«,<br />

dachte Gregor. Da gab man sich als alter Macho<br />

alle Mühe, das Wort »Fräulein« endlich aus dem<br />

männlichen Wortschatz zu streichen, und schon<br />

sehnten sich die Frauen wehmütig danach zurück.<br />

»Ja, dürfen denn so junge Fräuleins schon mit<br />

so alten Onkels sprechen?« Gregor war jetzt wieder<br />

zur Höchstform aufgeblüht.<br />

»Sie, also geht’s eigentlich noch? Ich werde nächstes<br />

Jahr 23.« Fräulein Camenzind spielte Entsetzen.<br />

Und sie spielte es so entzückend, daß<br />

Gregors unterschwelliger Wunsch in diesem<br />

Augenblick zum festen Entschluß reifte: Er muß-<br />

48


te diese Frau haben, koste es was es wolle.<br />

Sie hatten abgemacht, daß man sich um halb<br />

sieben zwecks Stadtbesichtigung beim Rosengarten<br />

treffen würde. Nachdem sich Gregor in seinem<br />

Hotelzimmer in Windeseile rasiert und geduscht<br />

hatte, schnappte er sich in der Hotelvorfahrt<br />

ein Taxi und fuhr zum vereinbarten Treffpunkt.<br />

Der Taxifahrer war wieder einmal einer von der<br />

üblichen Sorte. Während Gregor die prachtvoll<br />

geschmückten Häuser bewunderte und wissen<br />

wollte, wo man denn in Bern gut und gemütlich<br />

essen könne, meinte das kettenrauchende Wrack<br />

hinter dem Lenkrad, man bekomme überall etwa<br />

den gleichen Fraß vorgesetzt. Und als Gregor<br />

sich erkundigte, ob das Wetter in der Schweiz<br />

schon lange so schön gewesen sei, er sei halt gerade<br />

von Australien zurückgekehrt, da entgegnete<br />

der Taxifahrer, er hätte vor zwanzig Jahren<br />

in Australien eine Stelle als Koch antreten<br />

können, und er könnte sich heute noch ohrfei-<br />

49


gen, daß er es nicht getan habe.<br />

»Warum haben Sie es nicht getan?« wollte Gregor<br />

wissen.<br />

»Ach wissen Sie, das ist alles nicht so einfach«,<br />

war die Antwort.<br />

»Na ja, das ist ja dann wohl Grund genug«, dachte<br />

Gregor, fest entschlossen, sich nicht den Abend<br />

verderben zu lassen, und er war froh, als er endlich<br />

am Rosengarten aussteigen konnte.<br />

Seine Begleiterin war bereits dort, ebenfalls zehn<br />

Minuten früher als verabredet, so daß sie gleich<br />

losmarschieren konnten.<br />

»Zuerst zeige ich Ihnen die schönste Aussicht von<br />

Bern.«<br />

Fräulein Camenzind gab sich Mühe, beim Anblick<br />

der vielen bunten Rosen nicht allzu sehr<br />

auszuflippen, aber Gregor spürte ihre kindliche<br />

Freude, und ihn beschlich ein Gefühl von Wehmut.<br />

»Ich muß wieder lernen, mich zu freuen«,<br />

dachte er, »wenn ich nur wüßte, wie man das<br />

macht.«<br />

»Wollen Sie etwas trinken?«<br />

50


Sie zeigte auf das Gartenrestaurant am Ende des<br />

Kiesweges und Gregor nickte dankbar. Er war<br />

froh, diesem intensiven Blumenduft für eine<br />

Weile zu entfliehen. Irgendwie machte er ihn<br />

melancholisch, und dafür war jetzt wirklich nicht<br />

der richtige Zeitpunkt.<br />

Gregor bestellte ein alkoholfreies Bier, seine<br />

Begleiterin ebenfalls, obwohl sie wahrscheinlich<br />

lieber eine Cola getrunken hätte. So jedenfalls<br />

schätzte Gregor sie ein.<br />

»Also, mit meinen Reiseleiterinnen war ich schon<br />

immer per Du.«<br />

Gregor war froh, daß ihm dieser Satz eingefallen<br />

war, denn langsam aber sicher hing ihm dieses<br />

Fräulein-Getue zum Hals heraus.<br />

»Ich heiße Rebecca. Die meisten sagen Becky zu<br />

mir.«<br />

»Gregor. Hallo Becky. Schön, daß ich dich getroffen<br />

habe.«<br />

»Ja, ich war auch froh, daß du gekommen bist.<br />

Sonst hätte ich zu Fuß nach Hause müssen, und<br />

weißt du, wie hätte mich das genervt.«<br />

51


Gregor konnte mit knapper Not einen Lacher<br />

unterdrücken. Diese schweizerische Ausdrucksweise<br />

war einfach zu komisch.<br />

»Erzähl’ mir doch ein wenig von dir.« Gregor war<br />

langsam neugierig geworden. »Woher kommst<br />

du? Was machst du in Bern? Lebst du alleine<br />

hier?«<br />

»Also, meine Eltern haben ein Hotel im Kanton<br />

Graubünden, in Arosa, das kennt ihr Deutschen<br />

sicher auch. Ich habe bei der Post Telefonistin<br />

gelernt, und jetzt arbeite ich in einem großen<br />

Telekommunikations-Betrieb am Empfang. Was<br />

wolltest du noch wissen?«<br />

»Ob du hier alleine lebst.«<br />

»Ja, jetzt wieder.«<br />

»Was heißt das?«<br />

»Das heißt, daß ich meinen Freund vor zwei<br />

Wochen fortgeschickt habe. Er ging mir auf die<br />

Nerven.«<br />

»Der Mann muß aber ziemlich blöd sein, wenn<br />

er sich von dir fortschicken läßt. Ich hätte bis<br />

zum letzten Mann dafür gekämpft, bei dir blei-<br />

52


en zu dürfen.«<br />

Die Hitze und das Bier, obschon alkoholfrei,<br />

hinterließen bei Gregor offensichtlich Spuren.<br />

Jedenfalls wurde er mit jedem Wort mutiger.<br />

»Du kennst mich ja noch gar nicht«, meinte Becky<br />

mit gespielter Zurückhaltung.<br />

»Du sagst es richtig, noch nicht. Aber das kann<br />

sich doch ändern, nicht?«<br />

Der Kellner, schon wieder einer der mürrischen<br />

Sorte, wollte einkassieren. Er habe Zimmerstunde.<br />

»Als ob das jemanden interessieren würde«,<br />

dachte Gregor und wunderte sich einmal<br />

mehr, warum die Schweizer, die seiner Meinung<br />

nach im Schlaraffenland lebten, einen solchen<br />

Hang zum Unglücklichsein hatten.<br />

Die beiden standen auf und schlenderten auf die<br />

Mauer zu, die den Rosengarten abgrenzte und<br />

von der aus man, da hatte Becky völlig recht<br />

gehabt, einen umwerfenden Blick über ganz Bern<br />

genoß. Friedlich und behäbig lag sie da, diese<br />

achthundert Jahre alte Stadt, selbstsicher eingebettet<br />

in einer der zahlreichen Flußschlaufen<br />

53


der Aare, und das friedliche Bild wurde nur ab<br />

und zu unterbrochen von ein paar krachenden<br />

Feuerwerkskörpern, die diese kleinen Schweizer<br />

Rotzlöffel respektlos »Frauenfürze« nannten.<br />

»Was machst denn du eigentlich in Bern«, wollte<br />

Becky wissen.<br />

Gregor hatte sich auf die Mauer gesetzt, sein<br />

Gesicht halb zur abendlichen Stadt und halb zu<br />

seiner hübschen Begleiterin gewandt. Er hätte<br />

sie gerne bei der Hand genommen, aber das<br />

schien ihm noch ein wenig verfrüht.<br />

»Ich bin Area Sales Manager«, sagte er mit leicht<br />

verschämter Übertreibung. »Klingt gut, nicht?«<br />

»Was ist das? Etwas mit Verkauf, das habe ich<br />

verstanden.«<br />

»Ja, eine Art Gebietsverkaufsleiter. Ich arbeite<br />

für eine Firma in Hamburg. Wir stellen schlüsselfertige<br />

Anlagen für Tonstudios her.«<br />

»Dann macht Ihr Schallplatten-Aufnahmen und<br />

so?« Gregor schmunzelte innerlich über Beckys<br />

Ahnungslosigkeit.<br />

»Nein, wir installieren nur die Anlagen dafür.<br />

54


Aber auch für Film- und Fernsehstudios. Und<br />

natürlich für den Funk.«<br />

»Was für Funk?«<br />

»Rundfunk-Studios. Radio heißt das bei euch.«<br />

»Dann bist du ja ein halber Filmstar. Kennst du<br />

jemanden vom Fernsehen?«<br />

»Meinst du, jemanden vom Programm? Nein, mit<br />

denen kommen wir nicht in Kontakt. Ich habe<br />

meistens mit den Technikern zu tun.«<br />

»Das muß wahnsinnig interessant sein. Ich habe<br />

früher davon geträumt, zum Fernsehen zu gehen.«<br />

Das unschuldige Ding hatte offenbar noch immer<br />

nicht begriffen, daß Gregor mit den Leuten<br />

vor der Kamera gar nichts zu tun hatte. Aber<br />

gerade das konnte er als Chance nutzen, Becky<br />

ein wenig an sich zu binden, wenigstens bis zum<br />

nächsten Tag.<br />

»Ich besuche morgen das Fernsehstudio im Bundeshaus«,<br />

fiel ihm ein. »Wenn du willst, kannst<br />

du mitkommen.«<br />

»Ou, ehrlich? Das wäre dann super!«<br />

55


Gregor zeigte zum Regierungsgebäude hinüber<br />

und erklärte Becky, daß das Fernseh- und Radiostudio<br />

schwimmend in der hellgrünen Kuppel<br />

aufgehängt sei.<br />

«Schwimmend?« fragte Becky ungläubig. »Wie<br />

geht denn das?«<br />

»Das erkläre ich dir morgen.«<br />

Gregor hatte das Interesse dieses kleinen Engels<br />

gewonnen, und er nutzte seinen Vorteil sogleich<br />

aus, um seinen Arm kollegial um Beckys<br />

Schultern zu legen und sie mit einem weltmännischen<br />

»let’s go« zu dem kleinen, mit Pflastersteinen<br />

besetzten Weg zu drängen, der hinunter<br />

zum Bärengraben führte.<br />

56


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Wenn Ihnen die ganze Story langsam aber sicher<br />

zu billig wird, dann möchte ich Ihnen nur<br />

sagen, daß 97 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung<br />

sich tagtäglich mit solchem »geistigem<br />

Schmalz« ernährt. Und der ist zum Teil noch<br />

schlechter geschrieben als meiner!<br />

Gregor hat das Stichwort geliefert: Meditation.<br />

Sie ist eine der wenigen Werkzeuge, die uns helfen,<br />

unsere Yin- und Yang-Energie auszubalancieren.<br />

Meditation hat nichts anderes zum Zweck<br />

als den »inneren Schwätzer« zu beruhigen.<br />

Was das ist, der »innere Schwätzer«?<br />

Schließen Sie Ihre Augen und horchen Sie in sich<br />

hinein… hören Sie etwas?<br />

Falls Sie nichts gehört haben, dann hat es in<br />

Ihnen drin etwa so geklungen: »Ich soll etwas<br />

hören? Ich höre überhaupt nichts! Ein Schwätzer<br />

soll da sein? Was für ein Schwätzer? Ich habe<br />

keinen!« Genau das war er!<br />

Es gibt drei Vorstufen zur Meditation:<br />

57


1. Körperliche Entspannung<br />

2. Geistige Entspannung<br />

3. Geistige Konzentrations-Übungen<br />

Körperliche und geistige Entspannung können<br />

Sie selbst zu Hause üben. Dazu gibt es sehr viele<br />

hilfreiche Kassetten-Programme.<br />

Wenn Sie geistige Konzentration lernen möchten,<br />

empfehle ich Ihnen eines der zahlreichen<br />

Mentaltrainings, die heutzutage angeboten werden.<br />

Wenn Sie dann reif sind für die Stufe vier, wird<br />

Ihnen der richtige Lehrer oder das richtige Buch<br />

mit Sicherheit über den Weg laufen.<br />

Ich sage Ihnen nur so viel: Meditation ist der<br />

Schlüssel! Der Schlüssel zu was? Das müssen Sie<br />

schon selber herausfinden.<br />

Haben Sie übrigens den Taxifahrer wiedererkannt?<br />

Gibt’s diese Sorte in Ihrer Stadt auch?<br />

»Vor Jahren mal die Chance gehabt… könnte<br />

mich heute noch ohrfeigen…«<br />

58


Und wie ist es mit Ihnen? Packen Sie die Chancen,<br />

die Ihnen das Universum auf dem Silberteller<br />

anbietet?<br />

Welche Chancen haben Sie heute, um Ihre Lebensqualität<br />

sofort zu verbessern?<br />

59


6<br />

»Ladies and Gentlemen, this is your captain<br />

speaking.«<br />

Die Stimme aus dem Cockpit klang etwas nervös.<br />

Gregor streckte sich und fuhr mit einem<br />

Knopfdruck seine automatische Fußstütze ein.<br />

Er mußte wohl beim Gedanken an Becky eingeschlafen<br />

sein.<br />

»Wir waren gerade gezwungen, eines unserer<br />

Triebwerke abzuschalten wegen Überhitzung«,<br />

fuhr der Pilot weiter. »Wir vermuten, daß es sich<br />

nur um ein defektes Instrument handelt. Zugunsten<br />

Ihrer Sicherheit verzichten wir auf das Servieren<br />

des Frühstücks. Bitte stellen Sie das Rauchen<br />

ein, schnallen Sie sich an, und stellen Sie<br />

Ihre Sitzlehne senkrecht. Wir werden in ungefähr<br />

einer Stunde in Anchorage landen. Im übrigen<br />

folgen Sie bitte den Anweisungen des Bordpersonals.«<br />

Gregor hatte das schon öfter erlebt. Seit sich die<br />

amerikanischen Fluggesellschaften mit unsinnigen<br />

Preiskämpfen gegenseitig das Leben schwer<br />

61


machten, wurde offenbar an allen Ecken und<br />

Enden gespart. Und so war es schon öfter vorgekommen,<br />

daß ein Instrument, das wahrscheinlich<br />

längst zum Austausch fällig gewesen wäre,<br />

plötzlich während des Fluges seinen Geist aufgegeben<br />

hatte.<br />

»Das kommt vom ewigen Sparenwollen«, murmelte<br />

Gregor in Englisch vor sich hin, in der<br />

Hoffnung, eine der Stewardessen würde seine<br />

Verärgerung wahrnehmen und er würde ihr seine<br />

unzimperliche Ansicht in Sachen amerikanische<br />

Wirtschaft mitteilen können.<br />

»What do you mean by that?« Der Passagier auf<br />

der anderen Seite des Ganges hatte Gregors<br />

Bemerkung offenbar mitbekommen und lehnte<br />

sich zu ihm hinüber. Gregor rutschte auf den freien<br />

Sitz links neben ihm, so daß sich zwischen<br />

ihm und dem Fremden nur noch der Korridor<br />

befand.<br />

»Was ich damit meine?« fing er an. »Ich meine,<br />

daß die Amerikaner überall nur sparen wollen.<br />

Und dann wundern sie sich, daß sie immer nur<br />

62


auf Leute treffen, die ebenfalls sparen wollen.<br />

Die USA sind eine Nation von Sparern.«<br />

»Aber das ist doch normal, daß jeder möglichst<br />

viel für möglichst wenig Geld bekommen will.<br />

Das ist die freie Marktwirtschaft. Daß es anders<br />

nicht geht, hat man ja in Rußland gesehen.«<br />

»Diese Amis,« dachte Gregor, »können kaum die<br />

Schweiz von Schweden unterscheiden, wollen<br />

uns Europäern aber vormachen, sie wüßten über<br />

Rußland Bescheid.«<br />

Er mußte sich wirklich Mühe geben, höflich zu<br />

bleiben. Dieser rotblond gelockte Profi-Sparer<br />

weckte Aggressionen in ihm.<br />

»Es ist eben nicht normal«, sagte er in leicht<br />

belehrendem Ton, »wenn eine ganze Nation mehr<br />

als die Hälfte ihrer wertvollen Zeit für das Aushandeln<br />

von Rabatten verwendet. Das geht meinetwegen<br />

auf einem marokkanischen Teppichmarkt,<br />

aber doch nicht in einem Land, das sozusagen<br />

die Welt regiert!«<br />

»Wie macht Ihr’s denn in Europa?« wollte der<br />

andere wissen. Er hatte offenbar an Gregors<br />

63


Akzent erkannt, in welche Ecke er ihn zu stellen<br />

hatte.<br />

»Wir haben fixe Preise und klare, schriftliche<br />

Rabatt-Regelungen. Wir handeln nicht mit Rabatt,<br />

sondern mit Qualität und Service. Außer<br />

ein paar Branchen, die sich aber mittlerweile<br />

selbst kaputtgemacht haben.«<br />

Gregor war sich bewußt, daß sein Ton jetzt mehr<br />

als schulmeisterlich geworden war. Aber das war<br />

ihm egal. Er war sauer, und der Typ kam ihm<br />

zum Abreagieren seiner Laune sehr gelegen.<br />

»Interessante Ansicht,« Mister Sparer war offenbar<br />

fest entschlossen, höflich zu bleiben, wie man<br />

ihm das in der High School beigebracht hatte,<br />

»aber wenn Sie Qualität und Service und Rabatt<br />

bekommen, dann sagen Sie doch auch nicht<br />

nein?«<br />

»Doch, ich bin eben so konsequent. Schauen Sie,<br />

nehmen Sie mal an, Sie kaufen mir eine Anlage<br />

ab. Nach wochenlangen Rabatt-Gerangel gestehe<br />

ich Ihnen zehn Prozent Preisnachlaß zu. Sie<br />

lachen sich ins Fäustchen und denken ›ich hab’s<br />

64


wieder mal geschafft‹. Drei Monate später erzählen<br />

Sie die Geschichte voller Stolz einem Kollegen,<br />

der lacht Ihnen ins Gesicht und sagt, beim<br />

Kaspach mußt du nur lange genug pickeln, dann<br />

kriegst du zwanzig Prozent. Was halten Sie dann<br />

von mir? Und wie fühlen Sie sich?«<br />

»Ich würde denken, daß Sie ein Schwindler sind.<br />

Und ich käme mir hereingelegt vor.«<br />

»Sehen Sie?« Gregor triumphierte. »Das ist die<br />

amerikanische Wirtschaft. Jeder ist den ganzen<br />

Tag mit Verhandeln beschäftigt und legt sich<br />

abends mit einem unguten Gefühl schlafen, weil<br />

er nicht sicher ist, ob er wirklich den tiefsten<br />

Preis ausgehandelt hat oder nicht. Und so etwas<br />

nennt sich eine Weltmacht!«<br />

Jetzt war er wohl zu weit gegangen, denn Mister<br />

Rotblond gab indigniert zur Antwort, die<br />

Deutschen seien ja auch nicht immer Musterknaben<br />

gewesen.<br />

Jedenfalls waren beide froh, als ihre Diskussion<br />

durch ein lautes Geschrei aus der Touristenklasse<br />

unterbrochen wurde. Eine Dame mittleren<br />

65


Alters hatte offenbar seit der Ankündigung wegen<br />

des defekten Triebwerks still vor sich hingeweint<br />

und brach jetzt in völlige Hysterie aus.<br />

Sie wolle noch nicht sterben, rief sie, ihr Sohn<br />

habe sie nach Fairbanks eingeladen, und man<br />

solle sie sofort rauslassen.<br />

Die Stewardessen hatten alle Mühe, die Hysterikerin<br />

von der Türe fernzuhalten. Schließlich<br />

fragten sie über Lautsprecher, ob zufälligerweise<br />

ein Arzt an Bord sei, worauf sich prompt ein<br />

kleines, hageres Männchen aus den hinteren Reihen<br />

meldete.<br />

Nachdem er der Frau eine Beruhigungsspritze<br />

verabreicht hatte, luden ihn die Stewardessen<br />

ein, zum Dank den Rest des Fluges bis Los<br />

Angeles in der Ersten Klasse zu verbringen.<br />

»Fein, ich wollte schon immer wissen, wie die<br />

Reichen und Berühmten reisen«, sagte der Mann<br />

scherzend und erkundigte sich bei Gregor, ob der<br />

Fensterplatz neben ihm noch frei sei.<br />

»Wenn wir schon abstürzen, dann will ich ganz<br />

vorne mit dabei sein«, scherzte er weiter, nach-<br />

66


dem er sich hingesetzt und vorschriftsgemäß<br />

angeschnallt hatte. Gregor konnte sich nur wundern<br />

über so viel Witz bei so wenig Fleisch.<br />

Ȇbrigens, mein Name ist Franz. Wenn wir schon<br />

gemeinsam in den Tod gehen, dann sollten wir<br />

wenigstens wissen, wie wir heißen, finden Sie<br />

nicht auch?« Der Mann war einfach umwerfend.<br />

Gregors anfängliche Skepsis wandelte sich langsam<br />

aber sicher in Bewunderung. So fröhlich<br />

möchte er auch einmal sein können.<br />

»Franz? Das klingt so deutsch.«<br />

»Ich bin auch Deutscher«, meinte der Arzt, und<br />

sein perfektes Englisch verriet keine Spur von<br />

Akzent. »Ich bin vor zehn Jahren nach Amerika<br />

ausgewandert. Vorher war ich in Castrop-Rauxel,<br />

in der Nähe von Düsseldorf, wenn Sie wissen,<br />

wo das ist.«<br />

»Castrop, die Weltstadt im Grünen«, scherzte<br />

Gregor jetzt auf Deutsch, worauf sich der hagere<br />

Arzt natürlich unbändig freute, einen Landsmann<br />

getroffen zu haben.<br />

»Also, wir Auslandsdeutschen duzen uns unter-<br />

67


einander, wie gesagt, ich bin der Franz. Und wie<br />

heißt du?«<br />

»Gregor, hallo Franz.« Gregor konnte sich nicht<br />

dagegen wehren, daß dieser kleine Kobold seine<br />

gute Laune allmählich auf ihn übertrug. Als er<br />

sich diesen Franz genauer betrachtete, hatte er<br />

für einen kurzen Augenblick das Gefühl, als sähe<br />

er über dessen schütterem Haar einen hellblauen<br />

Lichtschimmer. Aber beim nächsten Augenzwinkern<br />

war das wieder vorbei. Schuld daran<br />

war sicher die Zeitverschiebung. Immerhin hatte<br />

Anchorage einen Zeitunterschied von siebzehn<br />

Stunden gegenüber Hong Kong. Sie hatten Hong<br />

Kong am Mittwoch abend um 23 Uhr verlassen,<br />

waren seit zehn Stunden unterwegs, und in<br />

Anchorage war es erst Mittwoch nachmittag.<br />

»Hast du auch immer so ein komisches Gefühl,<br />

wenn du die internationale Datumsgrenze überschreitest?«<br />

Es war, als ob Franz Gregors Gedanken<br />

erraten hätte. »Ich warte jedesmal darauf,<br />

daß ein Grenzwächter kommt und sagt ›Sie<br />

dürfen da nicht hinüber, Sie hatten Ihren Mitt-<br />

68


woch schon‹.« Dabei äffte er im Zwitscherton einen<br />

Zollbeamten nach, so daß sich die halbe Erste<br />

Klasse nach ihnen umdrehte.<br />

Gregor wollte gerade etwas sagen, da unterbrach<br />

ihn sein Sitznachbar, indem er ihn wie ein kleines<br />

Kind am Ärmel zupfte: »Schau mal, schau<br />

mal, Gregor, diese Landschaft! Ohhh! Schau mal,<br />

wie alles verschneit ist! Ist das nicht wie im<br />

Märchen? Ohhh!«<br />

Leicht verlegen, wie ein Vater, der sich zwar über<br />

die kindliche Begeisterung freut, selbst aber<br />

schon so abgeklärt ist, daß er sich nicht aus vollem<br />

Herzen mitfreuen kann, fragte Gregor: »Bist<br />

du zum ersten Mal hier?«<br />

»Nein, wo denkst du hin, ich mache diese Reise<br />

fast alle zwei Monate einmal. Es ist für mich jedesmal<br />

ein unglaubliches Erlebnis. Und jetzt<br />

darf ich auch noch in der Ersten Klasse sitzen.<br />

Davon werde ich noch lange zehren, das kannst<br />

du mir glauben.«<br />

Gregor dachte mit Wehmut daran, wie abgestumpft<br />

er selbst doch eigentlich geworden war.<br />

69


Manch einer würde viel darum geben, wenn er<br />

nur eine Woche in seiner Haut stecken könnte.<br />

Und er, undankbar und verwöhnt wie er war,<br />

wußte das überhaupt nicht zu schätzen. Ja, er<br />

hatte sich sogar schon beim Gedanken ertappt,<br />

daß ihm ein Herzinfarkt oder eine tödliche<br />

Krankheit ganz gelegen gekommen wäre. Warum<br />

eigentlich? Was war es denn, was ihm fehlte?<br />

Hatte er einen Hirnschaden? War er einfach<br />

anders als alle anderen?<br />

Sein Bruder Bert hatte einmal zu ihm gesagt:<br />

»Die meisten Menschen wünschen sich Unsterblichkeit;<br />

dabei wissen sie nicht einmal, was sie<br />

mit einem verregneten Sonntagnachmittag anfangen<br />

sollen.«<br />

Wie recht er hatte! Aber dieser Franz da neben<br />

ihm, dieses Zwerglein von Arzt, der wußte offenbar<br />

ganz genau, was er mit seinem Leben anfangen<br />

wollte.<br />

»Ladies and Gentlemen«, klang es aus dem Lautsprecher,<br />

»we are going to land in Anchorage in<br />

about 15 minutes».<br />

70


Die übliche Routine-Ansage, nur daß der Pilot<br />

diesmal noch ein paar Sicherheitstips mitlieferte.<br />

Man solle sich bitte nicht beunruhigen, wenn<br />

die Maschine seitlich etwas schwanke; er müsse<br />

mit dem Seitenruder den fehlenden Triebwerk-<br />

Schub ausgleichen. Im übrigen sei die Notfall-<br />

Crew in Anchorage informiert, und man solle<br />

bitte seine Brille absetzen bis nach der Landung.<br />

»Ach, ist das aufregend!« rief Franz aus, während<br />

Gregor seine Brille im Seitenfach der Sitzlehne<br />

verstaute. Zwischendurch konnte auch er<br />

an der hageren Gestalt seines Platznachbarn<br />

vorbei einen Blick durch das Fenster erhaschen.<br />

Zum ersten Mal fand er dieses Anchorage irgendwie<br />

schön. Die tiefverschneite Landschaft weit<br />

weg von der Zivilisation hatte etwas Friedliches,<br />

fast wie Weihnachten. Nein, er möchte jetzt nicht<br />

abstürzen. Einmal möchte er noch mit offenen<br />

Augen durch Anchorage spazieren, möchte diesen<br />

lebensfrohen Menschen zulächeln, die er<br />

sonst immer als »dreckige Zivilisations-Flüchtlinge«<br />

abgetan hatte.<br />

71


»Keine Angst, Gregor!« Franz hatte ihn wieder<br />

am Ärmel gepackt. »Wir stürzen schon nicht ab.<br />

Ich weiß das, sonst wäre ich nicht so fröhlich.«<br />

Gregor war aufs neue überrascht. Es war, als ob<br />

dieser Mensch seine Gedanken lesen würde. Und<br />

obwohl es keinen vernünftigen Grund gab, ihm<br />

zu glauben, war Gregor auf einen Schlag innerlich<br />

ruhig geworden.<br />

Das Flugzeug war jetzt nur noch ungefähr fünfzig<br />

Fuß über Grund, und man konnte die vielen<br />

Notfall-Fahrzeuge erkennen, die sich mit laufenden<br />

Blinklichtern entlang der Piste aufgestellt<br />

hatten. Die Maschine machte einen letzten<br />

Schlenker nach rechts und setzte dann zweimal<br />

kurz hintereinander auf.<br />

Gregor atmete erleichtert auf. Doch in diesem<br />

Augenblick setzte der Gegenschub ein, und offensichtlich<br />

gelang es den Piloten nicht, die fehlende<br />

Kraft des linken Triebwerks auszugleichen.<br />

Die Maschine brach brüsk nach rechts aus, Gregor<br />

hielt seine Hände schützend vor sein Gesicht<br />

und spürte im nächsten Augenblick einen ste-<br />

72


chenden Schmerz in seinem Unterleib…<br />

Er war darauf gefaßt, daß er gleich in seinem<br />

Bett aufwachen würde, heilfroh, dies alles nur<br />

geträumt zu haben. Aber das Geschrei aus der<br />

Touristenklasse brachte ihn wieder in die Wirklichkeit<br />

zurück.<br />

Um den Lärm zu übertönen, mußte der Pilot die<br />

Lautsprecher-Anlage so laut aufdrehen, daß es<br />

Gregor richtig wehtat. Er konnte nun mal keinen<br />

schlechten Sound vertragen.<br />

»Ladies and Gentlemen«, die Stimme des Piloten<br />

klang wie ein heiseres Krächzen, »es besteht<br />

kein Grund zur Panik. Wir sind etwas von der<br />

Piste abgekommen, so daß unser Fahrwerk im<br />

Gras eingesunken ist. Bitte gehen Sie zurück auf<br />

Ihre Plätze und warten Sie auf die Anweisungen<br />

des Bordpersonals! Ich wiederhole: Es besteht<br />

kein Grund zur Panik!«<br />

»Na, das gibt mir wieder was zu erzählen zu<br />

Hause«, lachte Franz und wischte sich mit einer<br />

Serviette über seine Stirn.<br />

»Mein Gott, du blutest ja!« rief Gregor besorgt.<br />

73


»No problem, nur eine kleine Platzwunde.<br />

Komm, lass’ mich mal vor, ich muß ja wohl meinen<br />

Pflichten als Onkel Doktor nachkommen.«<br />

Gregor zog seine Beine ein und erkundigte sich<br />

bei der vorbeihetzenden Stewardeß, wie es denn<br />

jetzt weitergehe.<br />

»Ich mache gleich eine Durchsage«, vertröstete<br />

diese und verschwand in der Pantry.<br />

74


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Da ist einiges passiert, was?<br />

Komische Figur, dieser Franz, nicht wahr? Aber<br />

Hand aufs Herz: Wäre es nicht normal, wenn<br />

wir ebenfalls diese kindliche Freude am Leben<br />

empfinden würden?<br />

Ich fliege viermal im Jahr von meiner Wahlheimat<br />

Südkalifornien aus in die Schweiz. Und ich<br />

muß immer lachen, wenn ich die vielen »Profi-<br />

Flieger« beobachte, wie sie ihre ach so wichtigen<br />

Aktivitäten entfalten. Sie lesen eine langweilige<br />

Zeitung, diskutieren mit ihrem langweiligen<br />

Geschäftspartner oder tippen irgendwelche langweiligen<br />

Daten in ihren Computer. Es käme ihnen<br />

nicht im Traum in den Sinn, das Geschäft<br />

für einmal Geschäft sein zu lassen und sich an<br />

der spektakulären Landschaft zu freuen, die<br />

unter ihnen vorbeizieht. Würde ein Außerirdischer<br />

eine solche Szene beobachten, er würde vermutlich<br />

denken, es handle sich um ein fliegendes<br />

Sanatorium für Gehirnamputierte!<br />

75


Was stand da sonst noch? »…hatte er für einen<br />

kurzen Augenblick das Gefühl, als sähe er über<br />

dessen schütterem Haar einen hellblauen Lichtschimmer.«<br />

Dieses Phänomen können Sie besonders gut in<br />

der Abenddämmerung beobachten, wenn Sie einen<br />

Menschen anblicken und dabei Ihre Augen<br />

auf Unscharf stellen. Nach einiger Zeit werden<br />

Sie einen hellen Schimmer wahrnehmen. Das ist<br />

ein Teil der sogenannten »Aura« eines Menschen.<br />

Die Wahrnehmung der Aura verbessert sich übrigens<br />

auch, wenn Sie regelmäßig meditieren.<br />

Mit der Zeit werden Sie ein Energiefeld wahrnehmen<br />

können, das sich bei einigen Menschen<br />

etwa acht Meter um ihren Körper herum ausdehnt.<br />

An den verschiedenen Farben dieser Aura<br />

werden Sie auch erkennen können, welche Bereiche<br />

des Körpers krank sind.<br />

Klingt Ihnen das zu abgehoben?<br />

Dann will ich Sie gleich auf den Boden der Tatsachen<br />

zurückholen. Sind Sie einverstanden, daß<br />

die Erd-Atmosphäre zur Erde gehört? Und sind<br />

76


Sie auch einverstanden, daß die Erd-Atmosphäre<br />

unsichtbar ist? Dann ist es doch auch nicht<br />

abwegig anzunehmen, daß es um den Menschen<br />

herum ein unsichtbares Energiefeld gibt, das<br />

ebenfalls zu ihm gehört. Oder?<br />

Übrigens… selbst wenn Sie die Aura nicht sehen,<br />

spüren tun Sie sie in jedem Fall! Ist es Ihnen<br />

nicht auch schon so ergangen, daß Sie neben<br />

einem wildfremden Menschen standen und<br />

sich nicht wohl fühlten? Offenbar spürten Sie<br />

sein Energiefeld, das nicht mit dem Ihrigen<br />

»kompatibel« war. Wir Menschen sagen ja oft »Er<br />

hat nicht meine Wellenlänge« oder »die Schwingung<br />

stimmt nicht» oder »wir sind nicht im Einklang<br />

miteinander«. Vermutlich ist das wortwörtlich<br />

zu nehmen!<br />

»Es war, als ob dieser Mensch seine Gedanken<br />

lesen würde.«<br />

Auch hier habe ich Ihnen gute Neuigkeiten: Jeder<br />

Mensch ist hellsichtig, ob Sie es glauben oder<br />

nicht! An meinen Seminaren nehmen ganz »nor-<br />

77


male« Menschen wie Sie und ich teil. Es handelt<br />

sich größtenteils um Inhaberinnen und Inhaber<br />

von Kleinbetrieben, die sich als »Realisten« und<br />

»gesunde Skeptiker« bezeichnen. Die meisten haben<br />

noch nicht einmal viel Erfahrung in Meditation.<br />

Wenn man ihnen die Daten eines wildfremden<br />

Menschen liefert und sie auffordert, eine<br />

Geschichte zu erfinden, stimmt diese Geschichte<br />

in 95 Prozent aller Fälle mit der Wirklichkeit<br />

überein!<br />

Sie können mich für einen Scharlatan halten,<br />

ich kann es dennoch nicht ändern. Diese Dinge<br />

existieren, egal, ob wir sie wahrhaben wollen<br />

oder nicht. Die Menschheit war allerdings schon<br />

immer gefordert, ihr Bild von der sogenannten<br />

»Realität« flexibel zu halten. Es ist noch gar nicht<br />

so lange her, da glaubten die »Realisten« unter<br />

uns noch, die Erde sei flach, und die Sonne drehe<br />

sich um die Erde. Heute weiß jedes Kind, daß<br />

dem nicht so ist. Und wenn Sie im Mittelalter<br />

jemandem die Fernbedienung Ihres Fernsehers<br />

erklärt hätten, dann hätte er vermutlich dafür<br />

78


gesorgt, daß die Regierung für Sie ein nettes kleines<br />

Scheiterhäufchen bereithält.<br />

Zwei Dinge möchte ich dazu noch sagen:<br />

Erstens, es scheint ungesund zu sein, wenn jemand<br />

mit seinen hellsichtigen Fähigkeiten Geld<br />

verdienen will. Man schaue sich nur einmal all<br />

die Wahrsagerinnen und Wahrsager an. Sie sehen<br />

in der Regel nicht besonders gesund aus, um<br />

nicht zu sagen: Es handelt sich oftmals um psychische<br />

und körperliche Wracks. Ich denke, Hellsichtigkeit,<br />

Hellhörigkeit und Hellfühligkeit sind<br />

natürliche Nebenprodukte des Erwachens. Sie<br />

sollen uns helfen, feinfühliger mit uns und unseren<br />

Mitmenschen umzugehen. Manche Wahrsager<br />

kommen mir vor wie kleine Kinder, die sich<br />

in ein Spielzeug verliebt haben und nicht mehr<br />

davon loskommen.<br />

Zweitens, es mag Ihnen ebenfalls aufgefallen<br />

sein, daß zur Zeit eine Art globales Erwachen<br />

stattfindet. Vor zwanzig Jahren wurde ein Mann<br />

namens Uri Geller noch des Satanskults bezichtigt,<br />

weil er es wagte, mit Hilfe seiner Geistes-<br />

79


kraft einen Löffel zu biegen. Heute wird diese<br />

Geist-über-Materie-Übung als »metaphysischer<br />

Anfänger-Stoff« betrachtet.<br />

Gottseidank darf man heute über solche Dinge<br />

sprechen. Und ich möchte Sie dazu ermuntern,<br />

es ebenfalls zu tun. Sie werden überrascht sein,<br />

wie viel tiefgründiger und lehrreicher die Gespräche<br />

mit Ihren Mitmenschen werden, wenn Sie<br />

sich einmal ein wenig auf die Äste hinauswagen.<br />

Denn jeder Mensch hat spirituelle Erlebnisse<br />

hinter sich; die meisten reden nur nicht<br />

darüber, weil sie befürchten, mißachtet und verspottet<br />

zu werden.<br />

Meine Fragen:<br />

1.<br />

Hatten Sie (vielleicht als Kind) schon einmal einen<br />

»Geist-Austritt«, das heißt einen <strong>Moment</strong>,<br />

wo Sie sich außerhalb Ihres Körpers befanden<br />

und sich selber beobachteten?<br />

Vielleicht haben Sie dieses Ereignis damals ver-<br />

80


drängt, und es fällt Ihnen heute wieder ein. Dann<br />

halten Sie es bitte hier fest:<br />

2. Haben Sie schon einmal so etwas wie eine<br />

Aura wahrgenommen? Sei es bei Pflanzen,<br />

Tieren oder Menschen? Und können Sie diese<br />

»Aura-Sicht« nach Belieben ein- und ausschalten?<br />

81


7<br />

Es war ein Uhr morgens in Sankt <strong>Peter</strong>sburg,<br />

und das riesige Büro am Nevsky-Prospekt war<br />

immer noch hell erleuchtet. Anatoli Mirschnikow<br />

blickte wehmütig durch das hohe, vergitterte<br />

Bogenfenster. Früher hätte die Stadt um diese<br />

Zeit geschlafen, dachte er, man hätte höchstens<br />

ab und zu eine einsame Patrouille der allgegenwärtigen<br />

Miliz beobachten können. Aber jetzt,<br />

seit dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs,<br />

tummelte sich Gesindel aller Art in den<br />

Prachtsstraßen des ehemaligen Leningrad.<br />

Drogenhändler, Prostituierte und Gauner gaben<br />

sich zu nächtlicher Stunde ein Stelldichein und<br />

machten die Stadt für anständige Bürger zur<br />

Schlangengrube.<br />

Mirschnikow sehnte sich nach der Zeit zurück,<br />

wo er noch etwas gegolten hatte in Sankt <strong>Peter</strong>sburg,<br />

wo er noch »General Mirschnikow« gewesen<br />

war. Er hatte den Aufstand kommen sehen,<br />

und er hatte genau gewußt, was man hätte ändern<br />

müssen am kommunistischen System, da-<br />

83


mit es funktioniert hätte. Sogar mit Gorbatschov<br />

persönlich hatte er sich einmal darüber unterhalten.<br />

Aber dieser schien ihn für einen unbelehrbaren<br />

Spinner zu halten, einen typischen<br />

Vertreter der alten Garde, die allmählich ihre<br />

Generals-Abzeichen und damit ihre Macht<br />

davonschwimmen sah.<br />

Mirschnikow hatte in den letzten paar Wochen<br />

nicht mehr richtig schlafen können. Er mußte<br />

es endlich jemandem sagen. Aber würde man ihm<br />

überhaupt Beachtung schenken? Waren die Leute<br />

von der Regierung nicht Tag und Nacht damit<br />

beschäftigt, die schädlichen Einflüsse aus<br />

dem Westen einigermaßen in den Griff zu bekommen?<br />

Es klingelte. Mirschnikow blickte kurz auf die<br />

Video-Überwachungsanlage, die bis vor drei<br />

Monaten noch funktioniert hatte. Früher hätte<br />

er nur auf einen Knopf gedrückt, und die schwere<br />

Panzertür unten am Haupteingang hätte sich<br />

automatisch geöffnet. Jetzt mußte er seinem<br />

nächtlichen Besucher eigenhändig die Tür auf-<br />

84


machen. Mirschnikow griff nach seinem Schlüsselbund<br />

und begab sich, leicht hinkend, auf den<br />

dunklen Flur.<br />

»Danke, daß Sie gekommen sind, Genosse<br />

Oberst«, sagte er zu dem Mann, der, in einen dikken<br />

Zobel gehüllt, und mit der typisch russischen<br />

Pelzmütze auf dem Kopf, auf Einlaß drängte.<br />

»Ich bin nicht mehr Oberst«, entgegnete dieser<br />

mit leicht georgischem Akzent, »und Genosse<br />

schon gar nicht mehr.«<br />

»Ich weiß ja, Boris Iwanowitsch, ich weiß«, beschwichtigte<br />

ihn Mirschnikow, »aber lassen Sie<br />

mich alten Mann doch noch ein wenig in dieser<br />

Illusion. Bei Ihnen darf ich das doch.«<br />

Boris Iwanowitsch Belinsky war einer von<br />

Mirschnikows besten und strengsten Männern<br />

gewesen. Aber er hatte sich anscheinend sehr<br />

schnell an die neue Situation gewöhnt. Es war<br />

wie damals in Deutschland nach dem Zusammenbruch<br />

des Dritten Reiches. Plötzlich wollte<br />

niemand mehr etwas mit den Greueltaten des<br />

Regimes zu tun gehabt haben. Auf einmal war<br />

85


keiner mehr ein SS-General, und jeder hatte<br />

heimlich gegen Hitler und für die Juden gekämpft.<br />

Deutschland war von einem Tag auf den<br />

anderen zu einem Volk von verkannten Kriegshelden<br />

geworden.<br />

»Boris Iwanowitsch, Sie waren immer einer meiner<br />

besten Männer«, sagte Mirschnikow, während<br />

sie gemeinsam die Treppe zum Büro hochstiegen.<br />

»Das mag sein, Anatoli Sergejewitsch«, gab Belinsky<br />

zurück, und der Ton in seiner Stimme<br />

drückte aus, daß er möglichst rasch zur Sache<br />

kommen und wieder zu Hause ins warme Bett<br />

schlüpfen wollte.<br />

»Daher möchte ich Ihnen etwas anvertrauen«,<br />

fuhr Mirschnikow fort. »Ich kann es nicht mehr<br />

für mich behalten, aber ich weiß auch nicht, was<br />

ich tun soll. Vielleicht wissen Sie Rat.«<br />

Belinsky schluckte einmal leer. Wenn General<br />

Mirschnikow ihn früher um Rat gefragt hatte,<br />

dann war das immer eine Art Alibi-Übung gewesen.<br />

Dieser alte Fuchs hatte seine Entschei-<br />

86


dungen jeweils längst gefällt gehabt und wollte<br />

nur noch eine Bestätigung für sein Tun bekommen.<br />

»Dawajtje, Towarischtsch«, sagte Belinsky, wohl<br />

wissend, daß die alte kommunistische Anrede<br />

das Denken des verrosteten Generals beschleunigen<br />

würde.<br />

»Nun, Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht<br />

mehr an das Projekt ›Rastajanje‹ aus dem Jahr<br />

1964«, begann Mirschnikow, »das war lange vor<br />

Ihrer Zeit.«<br />

»Rastajanje, nein, sagt mir nichts«, erwiderte<br />

Belinsky.<br />

»Ich werde es Ihnen erklären«, sagte Mirschnikow.<br />

»Aber kurz, Genosse, kurz«, mahnte Belinsky, der<br />

die ganze Zeit gähnen mußte.<br />

»1964 erlebte die Computer-Industrie einen<br />

gewaltigen Aufschwung«, holte Mirschnikow aus,<br />

»die amerikanische Firma IBM hatte das System/<br />

360 auf den Markt gebracht und konnte bis zu<br />

tausend Bestellungen pro Monat verbuchen.«<br />

87


Belinsky klopfte mit seinen Fingern nervös auf<br />

die Tischkante. Wenn Mirschnikow geschichtliche<br />

Fakten aufzählte, konnte es lange dauern.<br />

»Übrigens, nehmen Sie auch ein Wässerchen,<br />

Genosse?« Mirschnikow hielt ihm die halbvolle<br />

Wodka-Flasche unter die Nase.<br />

»Nein«, winkte Belinsky dankend ab, »ich habe<br />

damit aufgehört. Es macht den Kopf schwer und<br />

das Herz traurig.«<br />

»Und Sie sind sicher, daß das am Wodka liegt<br />

und nicht an der politischen Situation?« versuchte<br />

Mirschnikow zu scherzen, schenkte sich ein<br />

Glas von dem starken Schnaps ein und leerte es<br />

in einem Zug, wie sie es früher immer gemeinsam<br />

getan hatten.<br />

»Was ist mit dem Computerzeug, Genosse, erzählen<br />

Sie!« Belinsky konnte ein erneutes Gähnen<br />

knapp unterdrücken.<br />

»Nun, im gleichen Jahr wurde die Satelliten-<br />

Organisation INTELSAT gegründet, und das<br />

Thema »Satelliten« war ebenfalls in aller Munde.<br />

So kam einer unserer Agenten, ein ziemli-<br />

88


cher Exzentriker, auf die Idee, man müßte ein<br />

Gerät entwickeln, mit dem man sämtliche Computer<br />

auf der ganzen Welt auf einen Schlag würde<br />

lahmlegen können.«<br />

»Wie sollte das denn gehen?« fragte Belinsky<br />

ungläubig.<br />

»Fragen Sie mich nicht, ich bin kein Techniker«,<br />

sagte Mirschnikow, »er erzählte uns irgend etwas<br />

von elektromagnetischer Induktion, die über<br />

ein zukünftiges Netz von Satelliten ausgestrahlt<br />

werden sollte. Chruschtschow jedenfalls schien<br />

ihm zu glauben. Er stellte den Mann frei und<br />

sagte ihm volle Unterstützung zu.«<br />

»Ja, und dann?« Belinskys Müdigkeit wich langsam<br />

einem zunehmenden Grad von Interesse.<br />

»Dann folgte die Absetzung Chruschtschows«,<br />

fuhr Mirschnikow fort, »und Breschnew hielt<br />

nichts vom Projekt Rastajanje. Es wurde aufs<br />

Eis gelegt und geriet bald in Vergessenheit.«<br />

»Und weshalb erzählen Sie mir das alles, Anatoli<br />

Sergejewitsch?« fragte Belinsky.<br />

»Weil ich«, Mirschnikow senkte seine Stimme ge-<br />

89


heimnisvoll und rückte seinen Stuhl näher an<br />

Belinsky heran, »weil eine Kopie der Rastajanje-<br />

Pläne immer bei mir im Tresor lag.«<br />

»Was heißt ›lag‹?« fragte Belinsky weiter. »Wo<br />

liegt sie denn jetzt?«<br />

»Das weiß ich nicht«, erklärte Mirschnikow<br />

achselzuckend, »vor etwa drei Monaten wurde<br />

bei mir eingebrochen. Zuerst war ich völlig verwirrt,<br />

denn ich vermißte gar nichts. Bis mir plötzlich<br />

diese alte Rastajanje-Geschichte einfiel.«<br />

»Kann ich einen Tee haben?« fragte Belinsky, der<br />

ahnte, daß diese Unterredung länger dauern<br />

würde.<br />

Mirschnikow deutete auf den elektrischen Samowar,<br />

der auf einem Eckregal stand. »Falls Sie<br />

wissen, wie man das Ding bedient. Ich lasse mir<br />

den Tee immer von meinem Sekretär machen,<br />

und da der abends nicht hier ist, muß ich eben<br />

Wodka trinken.«<br />

Er füllte sich nochmals ein Glas randvoll und<br />

stürzte es mit zusammengekniffenen Augen hinunter,<br />

während sich Belinsky am Samowar zu<br />

90


schaffen machte.<br />

»Wer sollte denn die Pläne geklaut haben?« fragte<br />

er, immer noch unsicher, was er von der Geschichte<br />

halten sollte.<br />

»Deswegen wollte ich mit Ihnen reden, das ist es<br />

ja, was mir Sorgen macht. Es gibt einen Neonazi-Führer<br />

namens Gerd Hafenkamp…«<br />

»Den kenn’ ich«, fuhr ihm Belinsky ins Wort,<br />

während er seinen Tee, wie in Rußland üblich,<br />

mit Erdbeer-Marmelade süßte, »der will von Singapur<br />

aus die Welt unter Kontrolle bringen und<br />

das vollenden, was Hitler begonnen hat.«<br />

»Woher kennen Sie Hafenkamp?« fragte Mirschnikow<br />

erstaunt.<br />

»Man hat so seine Quellen«, antwortete Belinsky<br />

wichtigtuerisch, »aber ich verstehe nicht, warum<br />

Sie sich solche Sorgen machen. Erstens sind<br />

doch die Pläne uralt und sicher nicht mehr<br />

brauchbar, und zweitens ist Hafenkamp strohdumm.«<br />

»Er selbst vielleicht schon«, erwiderte Mirschnikow,<br />

»aber er hat ein paar sehr gebildete Leu-<br />

91


te, die für ihn arbeiten, unter anderem den<br />

Astrophysiker Kirchberg. Und die Pläne mögen<br />

nicht mehr ganz aktuell sein, aber stellen Sie<br />

sich vor, jemand würde sie an die heutige Zeit<br />

anpassen! Vielleicht war der Genosse, der die<br />

Idee ursprünglich gehabt hat, seiner Zeit voraus,<br />

und sein Plan hat heute, bei dem dichten<br />

Netz von Satelliten, eine ganz andere Bedeutung.«<br />

»Das scheint mir unwahrscheinlich«, sagte Belinsky,<br />

während er vorsichtig an seinem heißen Tee<br />

schlürfte.<br />

»Ja, aber warum sollten die denn den Weg nach<br />

Leningrad auf sich nehmen, bei mir einbrechen<br />

und riskieren, daß wir sie nach Sibirien schikken?«<br />

»Sankt <strong>Peter</strong>sburg heißt unsere Stadt, Anatoli<br />

Sergejewitsch, und das mit Sibirien ist auch vorbei.«<br />

Offensichtlich hatte der heiße Tee den ehemaligen<br />

Oberst in die Gegenwart zurückgeholt.<br />

»Dennoch, ich habe ein ungutes Gefühl«, gab<br />

92


Mirschnikow zurück, »vielleicht stecken auch die<br />

Amerikaner dahinter.«<br />

»Na und, was soll’s? Denen gehört ja jetzt sowieso<br />

die ganze Welt!« rief Belinsky aus, und Mirschnikow<br />

glaubte in seiner Stimme einen Hauch von<br />

Resignation zu vernehmen.<br />

»Aber«, fuhr Belinsky fort, »warum haben Sie den<br />

Einbruch eigentlich nicht gleich gemeldet?«<br />

»Wem hätte ich es denn melden sollen?« Mirschnikow<br />

verrührte die Hände. »Es ist ja niemand<br />

mehr zuständig in diesem Scheißland! Und ich<br />

will schließlich nicht, daß man mich noch einsperrt.«<br />

Belinsky starrte eine Weile über den Rand seiner<br />

Teetasse in die Ferne. Dann sagte er mit<br />

bestimmtem Ton: »General, wenn Sie es wünschen,<br />

werde ich mich darum kümmern. Aber Sie<br />

müssen mir eines versprechen: Keine Menschenseele<br />

darf davon erfahren.«<br />

»Ich danke Ihnen!« Mirschnikow atmete erleichtert<br />

auf und dachte seit Wochen zum ersten Mal<br />

wieder an ein warmes Bett.<br />

93


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Da gibt es gar nichts zu unterbrechen. Ich finde,<br />

Sankt <strong>Peter</strong>sburg ist eine schöne Stadt, Russisch<br />

ist eine schöne Sprache, und russischer Tee, mit<br />

Marmelade gesüßt, ist auch nicht von schlechten<br />

Eltern.<br />

Außerdem kommen mir wehmütige Erinnerungen<br />

an meinen ersten Konsalik, »Liebesnächte<br />

in der Taiga«…<br />

Also lesen wir noch ein wenig weiter…<br />

94


8<br />

Immer noch leicht benommen standen die Leute<br />

am Förderband der Gepäckausgabe herum.<br />

Immerhin hatten sie sich schon wieder so weit<br />

vom Schrecken erholt, daß sie sich gegenseitig<br />

fast auf die Füße traten, um die beste Aussicht<br />

auf die herannahenden Koffer zu erhaschen.<br />

Neben Gregor äugte die Hysterikerin aus der<br />

Touristenklasse nervös in Richtung des quietschenden<br />

Förderbands und regte sich furchtbar<br />

darüber auf, daß sie aufgrund der Verspätung<br />

ihr Flugzeug nach Fairbanks verpaßt habe.<br />

»Mein Gott«, dachte Gregor, »gerade eben hat sie<br />

noch um ihr Leben gebangt, und jetzt regt sie<br />

sich schon wieder über Kleinigkeiten auf.«<br />

In solchen <strong>Moment</strong>en verspürte er einen abgrundtiefen<br />

Haß gegen die gesamte Menschheit,<br />

sich selber eingeschlossen.<br />

»Hey, Mister Käspätsch«, rief jemand von ferne.<br />

Es war Franz, der offensichtlich seine Arztpflichten<br />

im Flugzeug erfüllt hatte und sich jetzt<br />

einen Weg durch die wartende Menge bahnte.<br />

95


»Mmmhhh, dieses Aroma, wenn du nach einem<br />

Langstrecken-Flug auf Schulterhöhe durch eine<br />

dicht gedrängte Menschenschar wandelst, einfach<br />

unübertroffen! Das würde ich nie erleben,<br />

wenn ich nicht so kleingewachsen wäre. Was für<br />

ein Segen! Was für ein Segen!«<br />

»Sag’ mal, bist du eigentlich nie müde oder abgespannt?«<br />

wollte Gregor wissen. Die gute Laune<br />

dieses Mannes grenzte langsam an ein Wunder,<br />

und Gregor begann sich zu fragen, ob das alles<br />

nicht einfach eine gewaltige Show sei, nur um<br />

nicht zugeben zu müssen, daß man genau so<br />

deprimiert ist wie der Rest der Menschheit.<br />

»Doch, aber ich bin dann müde, wenn ich es will,<br />

und nicht, wenn irgendwelche Umstände danach<br />

verlangen.«<br />

So etwas Ähnliches hatte Gregor als Antwort<br />

bereits erwartet.<br />

»Übrigens, danke der Nachfrage«, fuhr Franz<br />

ungefragt fort, »es war niemand ernsthaft verletzt.<br />

Ich bin lediglich um ein paar Heftpflaster<br />

ärmer. Gehen wir noch zusammen einen trinken?<br />

96


Ich habe eine halbe Stunde Aufenthalt, bevor es<br />

weiter geht nach Los Angeles. Die Maschine sei<br />

scheint’s nicht kaputt, es war nur ein defektes<br />

Instrument. Und das Fahrgestell hat wundersamerweise<br />

keinen Schaden genommen. Außerdem<br />

sollten wir uns beeilen, wenn wir den ersten<br />

Fernsehreportern entfliehen wollen.«<br />

Gregor wollte gerade dankend ablehnen. Er hätte<br />

längst in seiner Firma anrufen sollen, und außerdem<br />

brauchte er jetzt dringend ein heißes<br />

Vollbad. Aber da fiel ihm ein, daß es in Hamburg<br />

ja mitten in der Nacht war und daß er seine<br />

Sekretärin nicht unnötigerweise aus dem<br />

Schlaf holen wollte.<br />

»Okay, aber nur zehn Minuten«, entgegnete er,<br />

während er seinen schweren, grauen Reisekoffer<br />

vom Band hievte, ihn auf einen der bereitstehenden<br />

Gepäckwagen lud und in Richtung der<br />

wartenden Zollbeamten schritt.<br />

»Na denn, auf deine Gesundheit!« Franz hob sein<br />

Glas und prostete Gregor zu. »Du kannst es brau-<br />

97


chen. Paß’ auf, mein Lieber, dein Herz sieht mir<br />

sehr nach funktionellen Störungen aus. Hast<br />

eine etwas hektische Zeit hinter dir, was?«<br />

Gregor verschlug es die Sprache. Woher wollte<br />

Franz wissen, wie es mit seinem Herzen stand.<br />

Er hatte diesen Mann vor einer knappen Stunde<br />

zum ersten Mal getroffen, und jetzt wollte er<br />

ihm eine medizinische Diagnose liefern, ohne ihn<br />

je untersucht zu haben.<br />

»Also, du gibst mir ja wirklich zu denken». Gregor<br />

versuchte, seine Fassungslosigkeit einigermaßen<br />

unter Kontrolle zu halten. »Woher willst<br />

du wissen, wie es mit meiner Gesundheit steht?«<br />

»Ich bin zufällig Arzt. Hast du das schon vergessen?«<br />

»Ja, aber du hast mich ja gar nicht untersucht!«<br />

»Ach Gregor, wir hätten noch so viel miteinander<br />

zu besprechen. Weißt du, man muß nicht<br />

immer alles sehen. Dein Druck auf der Brust und<br />

das taube Gefühl in deinem Arm existieren auch,<br />

ohne daß ich sie gesehen habe.«<br />

»Woher weißt du, daß ich eine Allergie habe?«<br />

98


Gregor wurde es langsam mulmig zumute.<br />

»Allergie? Daß ich nicht lache. Du hast eine Allergie,<br />

ja, du bist allergisch auf die Menschen, auf<br />

das Leben, auf dich selbst!«<br />

»Willst du damit sagen, daß jede Allergie psychischer<br />

Natur ist?«<br />

»Nicht jede«, gab Franz zur Antwort, »aber deine<br />

ganz bestimmt. Schau, ich kenne das von mir<br />

selbst. Sonst wäre ich nicht so unverschämt, dir<br />

das direkt ins Gesicht zu sagen.«<br />

»Hast du auch eine Allergie?« wollte Gregor wissen.<br />

»Eine? Ich hatte ein ganzes Dutzend davon! Und<br />

darüber hinaus einen sauren Magen, einen<br />

schmerzenden Rücken und alles, was das Hypochonder-Herz<br />

begehrt! Und ob du’s mir glaubst<br />

oder nicht: Ich wußte haargenau, woher das kam.<br />

Und dennoch mußte ich warten, bis mir mein<br />

Kollege einen Dickdarmkrebs diagnostizierte,<br />

nachdem ich mitten in einem Karajan-Konzert<br />

einen klassischen Kollaps produziert hatte.«<br />

»Und? Was hast du dann gemacht?«<br />

99


»Mein Kollege wollte mich zur Chemotherapie<br />

anmelden, obwohl dieses Scheißding bereits<br />

Metastasen gebildet hatte. Aber ich war lange<br />

genug Arzt gewesen, um zu wissen, ich hatte<br />

keine Chance, wenn ich nicht radikalere Maßnahmen<br />

ergreifen würde.«<br />

»Was gibt es denn Radikaleres als eine Chemotherapie?«<br />

Gregor mußte an das langsame Zugrundegehen<br />

seiner Mutter denken. Er sah sie<br />

noch heute vor sich, ausgemergelt bis auf die<br />

Knochen, keine Haare auf dem Kopf, völlig ohne<br />

Energie und seelisch total am Ende. War es das<br />

wirklich wert gewesen, nur um ihr Leben vielleicht<br />

um ein mickriges Jährchen zu verlängern?<br />

Er war wirklich gespannt zu erfahren, welche<br />

noch radikaleren Methoden dieser kleine Wicht<br />

auf Lager hatte.<br />

»Schau, mir wurde plötzlich bewußt, wie sehr ich<br />

eigentlich noch das Leben meiner Eltern lebte.<br />

Bei uns zu Hause war es einfach von Anfang an<br />

klar, daß ›klein Fränzsche‹ einmal die Praxis<br />

seines Vaters übernimmt. Nicht einmal ich selbst<br />

100


habe das je in Frage gestellt. Es gab schlicht und<br />

einfach keinen anderen Weg, verstehst du? Und<br />

erst als ich auf einmal mit der Tatsache konfrontiert<br />

wurde, daß ich demnächst sterben könnte,<br />

wurde mir klar, daß es ja hier schon die ganze<br />

Zeit um mich gegangen war. Verstehst du, um<br />

mich. Ich allein bin ja derjenige, der bis zum<br />

Schluß bei mir bleibt. Ich allein bin derjenige,<br />

der mein Leben lebt. Es tut’s kein anderer. Und<br />

wenn du einmal auf dem Totenbett liegst und<br />

feststellst, daß du ja gar nicht gelebt hast, dann<br />

ist es zu spät. Und dann hilft es dir auch nichts,<br />

wenn du deine Eltern herpfeifst und ihnen Vorwürfe<br />

machst. Die haben ja auch nur wieder von<br />

ihren Eltern gelernt, was Leben heißt, und die<br />

Großeltern wissen es von den Urgroßeltern, und<br />

alle denken, so ist es nun mal, so war es schon<br />

immer, so muß es wohl sein. Herrgottnocheinmal«,<br />

Franz wurde richtiggehend wütend, »wann<br />

beginnen wir endlich, diese verhängnisvollen<br />

Kreisläufe zu unterbrechen? Das geht doch nicht,<br />

daß wir alle so wertvolles Leben vergeuden! Kein<br />

101


Wunder, daß wir überall Krieg haben, wenn in<br />

unseren Köpfen Krieg herrscht! Kein Wunder,<br />

wenn unsere Körperzellen wildes, antisoziales<br />

Verhalten an den Tag legen, wenn wir es ihnen<br />

täglich vormachen!«<br />

Franz mußte einen <strong>Moment</strong> lang tief durchatmen,<br />

so sehr hatte er sich aufgeregt, und Gregor<br />

nutzte die Pause, um dem Thema eine etwas<br />

andere Richtung zu geben: »Was hast du denn<br />

gemacht? Wie sah deine Radikal-Kur aus?«<br />

»Ich hatte von einem Arzt in Boston gehört«, fuhr<br />

Franz etwas ruhiger fort, »der eine extrem hohe<br />

Quote an spontanen Remissionen vorweisen<br />

konnte…«<br />

»Spontane Remission? Was ist das denn?« Gregor<br />

war mittlerweile so gefesselt, daß er kaum<br />

noch auf die Uhr sah und auch nicht bemerkte,<br />

daß die meisten Passagiere sich wieder in die<br />

Abflughalle begeben hatten.<br />

»Spontane Remission«, fuhr Franz fort, »ist, populär<br />

ausgedrückt, wenn der Körper zum Krebs<br />

sagt ›geh’ weg, ich brauch’ dich nicht mehr! Ich<br />

102


kann meine Probleme auch ohne dich lösen!‹ «<br />

»Und das gibt es?« fragte Gregor ungläubig.<br />

»Ja, das gibt es. Und die Schulmediziner geben<br />

sich in der Regel Mühe, diese Fälle so rasch als<br />

möglich wieder zu vergessen. Manchmal zweifeln<br />

sie an ihren früheren Diagnosen, geben irgend<br />

ein defektes Gerät schuld oder finden sonst<br />

eine Ausrede. Oder sie glauben tatsächlich an<br />

ein kleines Wunder. Aber du weißt ja, wie das<br />

ist. Selbst wenn wir an Wunder glauben, handeln<br />

wir oftmals nicht danach.«<br />

»Das stimmt«, mußte Gregor ihm zustimmen,<br />

»wenn ich da an meinen Bruder denke, der hat<br />

an Seminaren schon gelernt, mit seiner Geisteskraft<br />

Löffel zu verbiegen und über glühende<br />

Kohlen zu gehen, ohne sich zu verbrennen. Aber<br />

du solltest ihn mal sehen, das ist die letzte Krükke<br />

von einem Menschen! Der handelt überhaupt<br />

nicht so, als wüßte er das alles!«<br />

»Ja, das ist leider so. Wir sind so festgefahren in<br />

unseren Programmen, daß einfach nicht ist, was<br />

nicht sein darf. Das Schlimmste für den Men-<br />

103


schen ist offenbar, wenn er aus seiner Komfort-<br />

Zone ausbrechen soll.«<br />

»Passenger Schuller, passenger Doctor Fraans<br />

Schuller,« klang es von der Decke, »your plane is<br />

ready for departure, please proceed to the gate<br />

without delay…«<br />

»Oh, das bin ich,« sagte Franz und griff nach seinem<br />

Handgepäck. »Mann, ist die Zeit wieder<br />

verflogen. Du, es war schön, mit dir zu reden.<br />

Hier ist meine Karte. Wenn du mal in San Diego<br />

bist, komm’ doch auf einen Sprung vorbei.«<br />

Gregor warf einen Blick auf die hellgrüne Visitenkarte,<br />

die er in seinen Händen hielt: Franz<br />

Schuler M.D., Consulting physician UNICEF,<br />

und irgendeine Adresse in La Jolla, Kalifornien.<br />

»Du arbeitest für die UNICEF?« fragte Gregor,<br />

während sie hastig die Rolltreppe zur Abflughalle<br />

bestiegen, »ich habe immer gedacht, die leisten<br />

sich grundsätzlich Erste Klasse?«<br />

»Schön wär’s,« lachte Franz zurück, »seit ein paar<br />

Jahren arbeite ich mehr oder weniger kostenlos.<br />

Weißt du, ich habe ja alles, was ich brauche.<br />

104


Mein Haus in Castrop wirft so viel an Zinsen ab,<br />

daß ich davon leben kann. Und irgendwann muß<br />

man mal beginnen, den Sauerstoff, den man hier<br />

verbraucht, zurückzuzahlen.«<br />

Mittlerweile waren sie am Gate angekommen,<br />

und der ungeduldige Blick der Stewardeß verriet<br />

ihnen, daß sie jetzt keine Zeit mehr für Plaudereien<br />

hätten.<br />

»Also, tschüß Gregor. Ach, jetzt fällt mir endlich<br />

ein, wem du ähnlich siehst. Einem alten Freund<br />

von mir, er heißt Anton.«<br />

»Mein Vater hieß auch Anton«, sagte Gregor beiläufig.<br />

»Ja, aber mein Anton lebt im Paradies, auf St.<br />

Thomas. Also, tschüß…« Franz zeigte der Stewardeß<br />

seine Bordkarte, entschuldigte sich mit<br />

einem höflichen »Sorry about that« und verschwand<br />

mit flinken Schritten in der Gangway.<br />

105


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Da war wieder einiges an Zündstoff drin. Mal<br />

sehen… »das Leben ihrer Eltern leben.« Wie ist<br />

das bei Ihnen? Leben Sie Ihr eigenes Leben? Oder<br />

vielmehr dasjenige Ihrer Eltern, Ihres Lebenspartners,<br />

Ihrer Kinder?<br />

Was würden Sie tun, wenn Sie völlig unabhängig<br />

von anderen Menschen wären?<br />

106


Sind Sie wirklich abhängig von diesen Menschen,<br />

und wenn ja, wieso?<br />

Glauben Sie, daß die Menschen »rein zufällig«<br />

irgendwelche Krankheiten bekommen?<br />

Ich hatte einmal einen Teilnehmer an einem<br />

meiner Seminare, der ein Jahr zuvor an Krebs<br />

erkrankt war. Nachdem wir uns über den Sinn<br />

von Krankheiten unterhalten hatten, wollte er<br />

von mir wissen, was er denn falsch gemacht habe.<br />

Ich antwortete, dies sei die falsche Fragestellung.<br />

Er müsse sich fragen, was sich denn seit seiner<br />

Krankheit verändert habe.<br />

»Nun«, antwortete er, »früher glaubte ich nur das,<br />

107


was ich mit meinen Augen sehen konnte. Heute<br />

weiß ich, daß es mehr gibt als nur das, was wir<br />

mit unseren beschränkten Sinnen wahrnehmen.<br />

Meine Frau war schon immer offener, und sie<br />

litt früher darunter, daß ich so verschlossen war.<br />

Meine Lebensqualität hat sich seither auf allen<br />

Ebenen verbessert.«<br />

»Na also«, sagte ich, »dann hast du deine Lektion<br />

gelernt. Der Krebs wird nicht mehr zurückkommen.«<br />

Es gibt in Amerika mehrere Kliniken, unter anderem<br />

diejenige eines Dr. Carl Simonton, die sich<br />

auf das Heilen von Krebskranken spezialisiert<br />

haben. Soweit ich informiert bin, werden dort<br />

ausschließlich natürliche Heilmethoden angewendet.<br />

Die Patienten lernen meditieren, sie stellen<br />

ihre Ernährung um, sie bekommen zweimal<br />

am Tag ausgiebige Massagen, und sie lernen,<br />

ihre Krankheit zu akzeptieren und sogar »mit<br />

ihr zu sprechen«. Resultat: Die Quote an spontanen<br />

Remissionen ist um ein Vielfaches höher<br />

als bei herkömmlichen Heilverfahren. Das müßte<br />

108


uns doch zumindest zu denken geben. Finden Sie<br />

nicht auch?<br />

Und zum Schluß möchte ich noch wissen, was<br />

Sie zu diesem Satz sagen: »Und irgendwann muß<br />

man mal beginnen, den Sauerstoff, den man hier<br />

verbraucht, zurückzuzahlen.«<br />

Wie ist es mit Ihnen? In welcher Form zahlen<br />

Sie den Sauerstoff, den Sie auf der Erde verbrauchen,<br />

zurück?<br />

109


110


9<br />

Das Flugzeug aus Atlanta war zehn Minuten früher<br />

als erwartet gelandet. Ein braungebrannter,<br />

älterer, aber noch ziemlich rüstiger Mann mit<br />

einer großen, braunen Reisetasche bahnte sich<br />

seinen Weg durch die sich begrüßenden Menschen,<br />

drückte der schwarzen Sicherheits-Beamtin<br />

an der Glastüre seinen Gepäck-Abschnitt in<br />

die Hand und überquerte die Straße, die wie<br />

immer um diese Zeit von hupenden Taxis und<br />

Kleinbussen wimmelte.<br />

»Hupt man jetzt in Los Angeles auch?« rief er<br />

halb scherzend einem Taxifahrer zu, der ihn<br />

anblickte, als käme er von einem anderen Stern.<br />

Er hatte sich unter das dreieckige, grüne Leuchtschild<br />

gestellt, unter dem die Kleinbusse hielten,<br />

die einen kostenlos zu den Schaltern der verschiedenen<br />

Mietwagen-Firmen brachten.<br />

So gedankenversunken, wie es nur ältere Menschen<br />

sein können, betrachtete er eine Weile die<br />

Palmen zwischen den Parkhäusern und Fußgänger-Überführungen,<br />

die der sanfte, kalifornische<br />

111


Abendwind leicht hin- und herwiegte.<br />

Dann winkte er einem der Kleinbusse zu, stieg<br />

ein und setzte sich ganz vorne beim Fahrer hin.<br />

Drei weitere Passagiere, alles ziemlich unauffällige<br />

Geschäftsherren, folgten ihm. Kurz bevor<br />

der Fahrer die Türen schloß, packte der Alte flink<br />

seine braune Reisetasche und verließ den Bus<br />

über die Vordertüre. Einer der Geschäftsherren,<br />

ein Blonder von mittelgroßer Statur, blickte ihm<br />

aus dem davonfahrenden Bus scheinbar ziemlich<br />

verärgert nach.<br />

112


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Das geht ja zu wie in einem James-Bond-Film.<br />

Hong Kong hatten wir schon. Dann kam Singapur,<br />

Bern, St. <strong>Peter</strong>sburg und Los Angeles. Jetzt<br />

ist Anchorage an der Reihe. Wo das liegt? Na,<br />

wozu hat man denn ein Lexikon?!<br />

Wie bitte?<br />

Nein, ich besitze keine Reisebüro-Aktien!<br />

113


10<br />

Gregor saß wie in Trance auf dem Rücksitz, während<br />

der Fahrer, ein ausnahmsweise zufriedener<br />

Mensch, das gelbe Taxi vom Flughafen zum<br />

Hotel Quilton in Downtown Anchorage steuerte.<br />

Das Quilton, wie fast alle Quiltons schon etwas<br />

heruntergekommen und seinen gastfreundlichen<br />

Grundsätzen untreu geworden, war immer<br />

noch die einzige Unterkunft, die man hier<br />

als einigermaßen standesgerecht bezeichnen<br />

konnte.<br />

»Mein Anton lebt im Paradies, auf St. Thomas«,<br />

hatte Franz beim Abschied gesagt. St. Thomas,<br />

die Karibikinsel, auf der sein Vater vor vierzig<br />

Jahren gestorben war. Gregor schüttelte den<br />

Kopf.Er hatte ja heute schon einiges erlebt, aber<br />

das konnte nun wirklich nicht sein, daß es sich<br />

bei diesem Anton um den Mann handelte, der<br />

vorgab, sein Vater zu sein.<br />

Gregor drückte dem Gepäckträger fünf Dollar<br />

in die Hand und schloß die Zimmertüre hinter<br />

114


ihm zu. Dann tat er, was er immer tat, wenn er<br />

nach einem langen Flug in ein Hotelzimmer kam.<br />

Er drehte den Wasserhahn bei der Badewanne<br />

voll auf, holte sich aus der Minibar ein kühles<br />

Bier, schaltete den Fernseher ein und legte sich<br />

erst einmal für ein paar Minuten aufs Bett.<br />

Auf Kanal sieben brachten sie wieder eine dieser<br />

typischen amerikanischen Talkshows. Gregor<br />

traute seinen Augen nicht. Eingeladen war<br />

ein 65-jähriger Mann vom Typ »deutscher Bierbrauer«,<br />

der die ganze Zeit Händchen hielt mit<br />

einer etwa 40-jährigen Frau, mit der er schon<br />

seit einem Jahr zusammen war. Der Clou war:<br />

Mister Bierbrauer hatte erst kürzlich entdeckt,<br />

daß sein Schätzchen in Wirklichkeit ein Mann<br />

war. Dieser bezeichnete sich vorsichtshalber als<br />

»präoperativer Transsexueller« und war überglücklich,<br />

daß Mister Bierbrauer immer noch zu<br />

ihm stand. Dann eine Satellitenschaltung in ein<br />

Gerichtsgebäude nach Minneapolis, wo drei lesbische<br />

Frauen, die häßlichsten und kettenrauchendsten,<br />

die Gregor je gesehen hatte, auf<br />

115


ihren Prozeß warteten. Grund: Sie hatten Mister<br />

Transsexuell zusammengeschlagen, um angeblich<br />

Mister Bierbrauer vor ihm zu schützen.<br />

Die tiefsinnige Frage des Talkmasters war dann:<br />

»Hatten diese Frauen das Recht, den Mann, der<br />

eine Frau sein will, zusammenzuschlagen?« Die<br />

drei Frauen verteidigten sich mit dem Argument,<br />

sie hätten mit Mister Transsexuell lesbische Liebe<br />

gemacht, und im Verlaufe dieser Aktivitäten<br />

hätte dieser eben masochistische Züge entwikkelt.<br />

Das hingegen konnte der ebenfalls eingeladene<br />

Enkel von Mister Bierbrauer nun nicht<br />

gelten lassen: »Lesbische Liebe mit einem Mann,<br />

wie soll denn das gehen?« Außerdem gab er zum<br />

besten, er möge seinen Großvater sehr, dieser<br />

werde ihm demnächst seine Hochzeit finanzieren,<br />

er möge auch Mister Transsexuell, aber die<br />

Beziehung der beiden werde er nie akzeptieren<br />

können.<br />

Kopfschüttelnd schaltete Gregor den Fernseher<br />

aus und begab sich in Richtung des Badezimmers.<br />

»Wenn es tatsächlich so ist«, dachte er, »daß<br />

116


jede Nation das Fernsehen hat, das sie verdient,<br />

dann mache ich mir langsam wirklich Sorgen um<br />

die Zukunft Amerikas.«<br />

Er hatte sich gerade wohlig im warmen Wasser<br />

ausgestreckt, da klingelte das Telefon. Ob das<br />

wohl dieser Typ war, der ihn in Hong Kong schon<br />

belästigt hatte? Gregors Puls begann schneller<br />

zu schlagen. Seine Schläfen pochten. Er schnappte<br />

sich eines der zahlreichen Handtücher von der<br />

Stange, trocknete sich flüchtig ab und humpelte<br />

zum Apparat.<br />

Der Anrufer hatte bereits eingehängt, und Gregor<br />

wollte gerade die Reception anrufen, um zu<br />

erfahren, ob jemand eine Nachricht hinterlassen<br />

hatte. Da begann die rote Message-Lampe<br />

am Telefon auch schon zu blinken. Gregor schaltete<br />

den Fernseher auf Kanal 88, den Kanal, auf<br />

dem man in modernen Hotels die persönlichen<br />

Nachrichten abrufen kann. Prompt hieß es da:<br />

»You have one new message, Mister Kaspach.«<br />

Sichtlich nervös fingerte Gregor an der Fernbedienung<br />

herum, bis er endlich den Knopf ge-<br />

117


funden hatte, mit dem er seine Nachricht zum<br />

Vorschein bringen konnte. »Please call (714) 555<br />

as soon as possible«. Was sollte denn das nun<br />

wieder? Eine Vorwahl und nur drei Ziffern? Er<br />

schaute in der Agenda die Nummer von Sonja<br />

nach. Laguna Beach hatte tatsächlich die Vorwahl<br />

714. Aber Sonjas Nummer begann nicht mit<br />

555. Dennoch wählte er ihren Anschluß, um sich<br />

zu vergewissern, ob es sich um ein Mißverständnis<br />

handelte. »Hi, this is Sonjas answering machine,<br />

bitte hinterlassen Sie eine Nachricht…«<br />

Gregor legte auf.<br />

Dann prüfte er, ob die sechs Ziffern zu einem<br />

örtlichen Anschluß gehörten. Auch das war nicht<br />

der Fall. Er wollte gerade zum Hörer greifen, um<br />

sich bei der Reception zu erkundigen, wer den<br />

Anruf entgegengenommen hatte, da beschloß er,<br />

daß er das wohl besser gleich persönlich erledigen<br />

würde. Er zog sich rasch etwas an und begab<br />

sich in die Hotelhalle.<br />

»Wer hat diese Nachricht entgegengenommen?«<br />

wollte er von dem jungen Mann an der Reception<br />

118


wissen. Dieser bemerkte offenbar Gregors aggressiven<br />

Ton und schaltete innerlich bereits auf<br />

Verteidigung.<br />

»Ist etwas nicht in Ordnung, Sir?« fragte er halb<br />

höflich, halb beleidigt.<br />

»Und ob etwas nicht in Ordnung ist!«<br />

Gregor wurde noch etwas lauter. Diese jungen<br />

Receptionisten in den großen Hotels gingen ihm<br />

jedesmal auf die Nerven. Fühlten sich schon fast<br />

wie Hoteldirektoren in ihren piekfeinen Anzügen,<br />

aber hatten keinen blassen Schimmer, wie<br />

man ein Problem löst, geschweige denn, wie man<br />

eine Reklamation behandelt.<br />

»Schauen Sie sich einmal diese Telefonnummer<br />

an!« Gregor hielt dem Mann den Zettel hin.<br />

»Ja, was ist damit?«<br />

Gab es denn wirklich so viel Dummheit? Der Typ<br />

hätte wunderbar in die Talkshow gepaßt, die er<br />

sich vor ein paar Minuten angeschaut hatte.<br />

»Na, was ist wohl damit? Haben Sie schon einmal<br />

eine dreistellige Telefonnummer gesehen<br />

hierzulande?«<br />

119


»Ja Sir, die Notfall-Nummer 911, oder die Auskunft<br />

411.«<br />

Jetzt wurde der Kerl auch noch unverschämt.<br />

Gregor mußte sich zusammennehmen, um nicht<br />

die ganze Hotelhalle zusammenzutrommeln.<br />

»Finden Sie jetzt endlich heraus, wer diese Nachricht<br />

entgegengenommen hat!«<br />

»Das darf ich nicht, Sir!«<br />

»Was soll das heißen, das darf ich nicht?«<br />

»Die Telefonistinnen sind bei uns anonym. Sie<br />

dürfen keinen Gastkontakt haben.«<br />

Gregor gab es auf, nachdem er dem Mann einen<br />

ohrfeigenden Blick zugeworfen hatte. So etwas<br />

war ihm nicht zum ersten Mal passiert, und es<br />

wurde jedesmal schlimmer.<br />

Das ist auch wieder eine Auswirkung dieser blöden<br />

Sparerei, dachte er bei sich, in zehn Jahren<br />

werden wir wahrscheinlich von Schimpansen<br />

bedient, weil die am billigsten zu haben sind.<br />

Dabei lancierten all diese Busineß-Hotels immer<br />

so schöne Kampagnen. Sie sind wichtig für uns,<br />

hatte er kürzlich in einem anderen Hotel gele-<br />

120


sen. Und hier hingen überall kleine Flaggen<br />

umher mit den Buchstaben WLP. Ein Flugblatt<br />

im Zimmer erklärte dann den Gästen, was das<br />

bedeutete: »We love people – wir mögen Menschen!«<br />

»Ich auch«, murmelte Gregor ärgerlich<br />

vor sich hin, »fragt sich nur, welche!«<br />

Im Zimmer angelangt, schluckte er erst einmal<br />

eine Schlaftablette. Er mußte sich dringend ein<br />

paar Stunden ausruhen, denn heute abend wollte<br />

er ja noch sein Büro in Hamburg anrufen, um<br />

die kommenden Tage zu planen.<br />

Gregor starrte zur Decke und wartete darauf,<br />

daß die Wirkung der Schlaftablette einsetzte.<br />

Seltsamerweise kam ihm dieses »WLP – we love<br />

people« immer wieder in den Sinn. Er dachte<br />

daran, wie gerne die Amerikaner Abkürzungen<br />

verwenden…<br />

Auf einmal kam ihm ein Gedanke. Was hatte es<br />

in der Nachricht geheißen? »Please call (714) 555<br />

as soon as possible.« As soon as possible, das hieß<br />

sobald als möglich, abgekürzt ASAP. Natürlich!<br />

Selbst im Büro in Hamburg benutzten sie jeweils<br />

121


diese Kurzform, wenn sie sich gegenseitig Nachrichten<br />

auf den Schreibtisch legten. Vielleicht<br />

sollte die Nummer heißen (714) 555-ASAP. Die<br />

Amerikaner hatten ja auf ihren Telefonen neben<br />

den Ziffern auch Buchstaben, die sie oftmals verwendeten,<br />

um sich eine Nummer besser merken<br />

zu können. ASAP, das wäre also 2727. Die Wahrscheinlichkeit<br />

war zwar klein, aber man konnte<br />

es ja zumindest einmal versuchen.<br />

»We’re sorry, your call cannot be completed as<br />

dialed,« meldete eine Computerstimme.<br />

Ob man die Ziffern vielleicht in umgekehrter<br />

Reihenfolge wählen müßte? Gregor versuchte es.<br />

Es klingelte zweimal, dann meldete sich eine<br />

Männerstimme: »Gregor?«<br />

»Woher wissen Sie, daß ich das bin?« Gregor begann<br />

schon wieder zu schwitzen.<br />

»Das ist eine Geheimnummer, und du bist der<br />

einzige, der so clever ist, daß er mein Rätsel lösen<br />

konnte. Hör’ mir jetzt ganz gut zu, Gregor.<br />

Das ist deine letzte Chance, mir Glauben zu<br />

schenken, sonst überlasse ich dich deinem<br />

122


Schicksal. Ich kann dich nicht um die halbe Welt<br />

verfolgen, nur um dich zu deinem Glück zu zwingen.<br />

Hast du mich verstanden?«<br />

Gregor schluckte leer.<br />

»Ob du mich verstanden hast?«<br />

Gregor wußte nicht, warum, aber ihm war das<br />

Weinen zuvorderst.<br />

»Herrgottnochmal, ich weiß doch nicht, was ich<br />

davon halten soll. Mein Vater ist tot. Ich habe<br />

seinen Totenschein mit eigenen Augen gesehen.«<br />

»Ich weiß doch, Gregor, ich selbst habe ihn seinerzeit<br />

auf die Post gebracht. Ich werde dir das<br />

alles erklären, wenn du mir endlich Gelegenheit<br />

dazu gibst.«<br />

Gregor hatte immer noch diesen Kloß im Hals,<br />

und er fühlte sich so miserabel wie noch nie.<br />

Wenn das wirklich sein Vater sein sollte, dann<br />

hätte er einiges mit ihm abzurechnen. Wie oft<br />

hatte er diesen Mann verflucht! Ein Nazi, und<br />

erst noch einer der feigen Sorte! Ließ Frau und<br />

Kinder einfach im Stich, um sich in der Karibik<br />

ein schönes Leben zu machen. Wenn er nur schon<br />

123


daran dachte, zog sich ihm der Magen zusammen.<br />

»Gregor, das mit dem Triebwerk war eine Warnung<br />

von denen. Das nächste Mal wirst du nicht<br />

mehr so glimpflich davonkommen.«<br />

Nein, das durfte nicht sein! Dann war dieser<br />

Zwischenfall im Flugzeug also geplant?<br />

»Haben Sie einen Beweis für diese ungeheuerliche<br />

Behauptung?«<br />

Gregor war froh, daß er sich wieder einigermaßen<br />

unter Kontrolle hatte.<br />

»Hör’ doch bitte auf mit der Siezerei, Gregor, ich<br />

bin dein Vater.«<br />

»Auch dafür haben Sie keinen Beweis!«<br />

Gregor war fest entschlossen, die Oberhand zu<br />

behalten.<br />

»Okay Gregor, ich sehe, du hast meine Skepsis<br />

geerbt. Paß’ auf, wenn du mir auch nur ein Fünkchen<br />

Glauben schenken kannst, dann melde dich<br />

morgen früh um elf bei der Firma ›Skyline<br />

Aviation‹ am Lake Hood. Der Lake Hood ist ein<br />

großer Wasser-Flughafen, direkt neben dem in-<br />

124


ternationalen Flughafen. ›Skyline Aviation‹ liegt<br />

am südlichen Ende des Sees. Tust du mir den<br />

Gefallen, Gregor? Gehst du bitte dorthin?«<br />

»Ich werde es mir überlegen«, vertröstete Gregor<br />

den mysteriösen Anrufer, immer noch nicht<br />

wissend, was er von all dem halten sollte.<br />

»Gut, mehr kann ich nicht verlangen. Ich danke<br />

dir…«<br />

Wie schon beim letzten Mal in Hong Kong legte<br />

der Mann sehr rasch auf.<br />

125


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Hoffentlich haben Sie sich durch die eingestreuten<br />

Management-Themen nicht allzu sehr stören<br />

lassen. Ich bin nun mal Unternehmensberater<br />

und kein Roman-Autor.<br />

Die Quilton-Hotels gibt es natürlich nicht. Und<br />

jede Ähnlichkeit mit einer tatsächlich heruntergekommenen<br />

Hotelkette wäre rein zufällig. (Was<br />

sage ich da? Es gibt doch gar keine Zufälle!)<br />

Die Fernseh-Talkshow, so erfunden sie klingen<br />

mag, hat tatsächlich stattgefunden. Und im<br />

amerikanischen Fernsehen kann man sich jeden<br />

Tag solche Stories zu Gemüte führen. Oftmals<br />

habe ich das Gefühl, es handle sich bei den Teilnehmern<br />

um eine andere Spezies als den »Homo<br />

sapiens sapiens«. Vielleicht ist das ja auch tatsächlich<br />

der Fall! Nur weil wir uns alle ähnlich<br />

sehen, heißt das noch lange nicht, daß wir geistig<br />

alle gleich strukturiert sind. Oder?<br />

126


Es ist offensichtlich, daß unser Gregor nicht besonders<br />

viel von der Erde und ihren Bewohnern<br />

hält. Entsprechend mühsam sind denn auch die<br />

Erfahrungen, die er macht. Dazu fällt mir nur<br />

ein Spruch ein: Die Welt ist das, was wir von ihr<br />

denken! Stimmt doch, oder nicht? Wie erklären<br />

Sie sich sonst die Tatsache, daß die einen finden,<br />

unsere Erde sei der Himmel, und die anderen<br />

finden, sie sei die Hölle? Es ist die gleiche<br />

Erde für alle!<br />

Schreiben Sie doch einmal auf, was Sie von der<br />

Erde und ihren Bewohnern halten. Ergänzen Sie<br />

bitte die folgenden Sätze!<br />

Die Welt ist…<br />

127


Ich bin ein Mensch, der…<br />

Die Menschen sind im allgemeinen…<br />

Ich führe diese Übung in einem meiner Seminare<br />

durch. Da gab es einmal eine Frau, die ergänzte<br />

die Sätze folgendermaßen: »Die Welt ist<br />

langsam aber sicher am Vergiften.« »Ich bin ein<br />

Mensch, der etwas tun will.« »Die Menschen sind<br />

im allgemeinen dumm und uneinsichtig.«<br />

128


Die Gute hat wahrscheinlich geglaubt, sie gebe<br />

ein Urteil über die Welt und die Menschen ab.<br />

Dabei gab sie nichts anderes ab als ein Urteil<br />

über sich selbst. Wundert es Sie, daß diese Frau<br />

ziemlich vergiftet aussah, daß keiner gern mit<br />

ihr zusammen war und daß sie nur dumme und<br />

uneinsichtige Menschen anziehen konnte?<br />

Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal<br />

versucht sind, etwas zu beurteilen oder zu verurteilen:<br />

Die Welt ist das, was wir von ihr denken.<br />

Ihr Lebenspartner ist das, was Sie von ihm<br />

denken. Ihre Kinder sind das, was Sie von ihnen<br />

denken. Ihr Chef ist das, was Sie von ihm denken.<br />

Ihre Mitarbeiter sind das, was Sie von ihnen<br />

denken.<br />

Wenn Sie jetzt denken, das sei völlig falsch und<br />

dieser <strong>Zimmermann</strong> sei ein ausgewachsener<br />

Trottel, dann lege ich es Ihnen nochmals ins Ohr:<br />

Ich bin das, was Sie von mir denken!<br />

129


130


11<br />

»Määääääähhhhh…!«<br />

Um Gottes willen, was war das? Gregor schaute<br />

sich um. Wo war er? Was war geschehen? Was<br />

war das für ein graubrauner Wollknäuel vor ihm?<br />

Langsam dämmerte es ihm. Er war auf einer<br />

Wiese eingeschlafen. Und dieses durchdringende<br />

»Määäääääähhhhh« kam von einem Schaf,<br />

das vor seinen Augen weidete. Aber wo war er?<br />

Er konnte sich nicht erinnern, wie er auf diese<br />

Wiese gekommen war. Der Himmel war wolkenverhängt.<br />

Es herrschte diese düstere Stimmung,<br />

wie kurz vor einem Gewitter, aber so, daß man<br />

weiß, es wird nie ein Gewitter geben. Gregor<br />

wollte sich gerade aufmachen, um die Gegend<br />

zu erkunden, da fiel sein Blick auf ein Haus. Es<br />

lag auf einem Hügel, nur wenige Schritte von<br />

ihm entfernt.<br />

»Seltsam«, dachte Gregor, »das Haus kommt mir<br />

so bekannt vor.«<br />

Er wollte aufstehen und herausfinden, was es<br />

mit diesem Haus auf sich hatte. Aber er konnte<br />

131


kaum gehen. Es war, als hätte er Beine aus Blei.<br />

Mühsam schleppte er sich vorwärts. Dieses Gefühl<br />

hatte er doch schon einmal gehabt: Diese<br />

unsichtbare Kraft, die ihn antrieb; und dabei<br />

konnte er sich kaum bewegen. Gregor befaßte<br />

sich schon mit dem Gedanken, sich wieder hinzulegen<br />

und noch ein wenig zu schlafen, da kam<br />

ihm vom Haus her sein Onkel entgegen.<br />

»Onkel Alfred!« rief Gregor überrascht. »Was tust<br />

du denn hier?«<br />

Sein Onkel blickte ihn verständnislos an. Tiefe<br />

Furchen zeichneten sein altes Gesicht.<br />

»Frag’ nicht so blöd«, herrschte er Gregor an, »das<br />

ist dein Elternhaus, was sonst?«<br />

»Ja, aber«, gab Gregor völlig verwirrt zur Antwort,<br />

»warum ist das Haus jetzt plötzlich auf einem<br />

Hügel? Es war doch früher immer im Tal<br />

unten!«<br />

»Nach dem, was du deiner Mutter angetan hast,<br />

mußten wir etwas unternehmen».<br />

Die Antwort klang traurig, aber bestimmt. Da<br />

war es wieder, dieses Gefühl. Gregor wußte, er<br />

132


hatte etwas Furchtbares getan, aber er hatte<br />

keine Ahnung, was. Und das Schlimmste daran<br />

war: Alle anderen schienen es zu wissen. Wie oft<br />

war es schon geschehen, daß selbst die entferntesten<br />

Bekannten sich mit seinem Onkel verbündet<br />

hatten, um Gregor ins Gewissen zu reden.<br />

»Onkel Alfred«, flehte Gregor seinen Onkel an,<br />

»was habe ich denn getan? Bitte sag’ es mir. Und<br />

bitte hilf mir; ich kann kaum gehen.«<br />

Gregors Onkel lächelte spöttisch: »Ich habe ja<br />

gesagt, wir mußten etwas unternehmen. Schau’<br />

dir doch mal deine Hosen an!«<br />

Gregor schaute an sich hinunter und konnte es<br />

kaum glauben: Seine Hosen waren aus Blei!<br />

»Warum habt ihr das getan«, fragte Gregor<br />

weinerlich, »ich kann doch kaum gehen!«<br />

»Mach’ nicht so ein Geschrei«, gab sein Onkel<br />

unwirsch zur Antwort, »du kannst sie ja ausziehen».<br />

Aber Gregor glaubte einen drohenden Unterton<br />

in der Stimme seines Onkels zu hören. Er wollte<br />

nicht schon wieder etwas falsch machen, also<br />

133


ehielt er seine Bleihosen erst einmal an.<br />

»Määääääähhhhh…!«<br />

Das erste, was Gregor sah, war die weiße Badezimmer-Kachel<br />

mit dem Sprung, den er einmal<br />

mit einem Whiskyglas verursacht hatte, als er<br />

wütend war. Er lag im Badezimmer seines Vierzimmer-Hauses<br />

und war offenbar beim Rasieren<br />

eingeschlafen.<br />

»Das kommt davon«, dachte er, »wenn man nur<br />

noch für die Arbeit da ist.«<br />

Gottseidank war dieser blöde Traum vorbei. Was<br />

sollte das denn? Sein Elternhaus auf einem Hügel,<br />

undefinierbare Schuldgefühle und Bleihosen,<br />

die ihn am Gehen hinderten. So ein Quatsch! Er<br />

wollte die ganze Geschichte so rasch wie möglich<br />

vergessen, sich rasieren und duschen und<br />

dann zur Arbeit fahren.<br />

»<strong>Moment</strong> mal«, dachte Gregor, »Arbeit? Was für<br />

eine Arbeit mache ich eigentlich?«<br />

Das durfte doch nicht wahr sein. Er wußte nicht<br />

mehr, welche Arbeit er ausübte! Gregor nahm<br />

sich vor, sich in den nächsten Tagen beim Arzt<br />

134


anzumelden. Er wollte gerade seine Frau unter<br />

irgendeinem Vorwand dazu bringen, ihm etwas<br />

über seine Arbeit zu verraten, da merkte er, daß<br />

er ihren Namen vergessen hatte.<br />

»Aber Herrgottnocheinmal«, rief er halb wütend,<br />

halb verzweifelt, »ich kann doch nicht alles vergessen<br />

haben!«<br />

»Schrei nicht so, du weckst ja alle auf!« Gregor<br />

fuhr herum.<br />

Es war seine Mutter, und sie saß splitternackt<br />

in seiner Badewanne.<br />

»Mutti, gut daß du da bist!«<br />

Gregor übersah, daß seine Mutter nackt war, und<br />

er mochte sich auch gar nicht fragen, was sie in<br />

seiner Badewanne zu suchen hatte.<br />

»Mutti, mir ist etwas Schreckliches passiert. Ich<br />

weiß nicht mehr, wie meine Frau heißt.«<br />

»Aber aber, Gregor«, meinte seine Mutter mit<br />

leicht spöttischem Unterton, »ich bin doch deine<br />

Frau!«<br />

»Määääääähhhhh…!«<br />

wo war dieser verdammte Rasierapparat?<br />

135


»Määääääähhhhh…!«<br />

Gregor tappte im Dunkeln umher.<br />

»Määääääähhhhh…!«<br />

Endlich konnte er diesen blöden Wecker zum<br />

Schweigen bringen.<br />

Schweißgebadet setzte sich Gregor auf die Bettkante<br />

und begann die Ereignisse geistig zu sortieren.<br />

Das mit den Bleihosen, dem Elternhaus<br />

und seiner Mutter in der Badewanne, das hatte<br />

er nur geträumt, gottseidank. Und das mit den<br />

undefinierbaren Schuldgefühlen ebenfalls, obwohl<br />

sie ihm immer noch ganz schön im Nacken<br />

saßen.<br />

Hingegen der Anruf eines Unbekannten, der behauptete,<br />

sein Vater zu sein, der hatte tatsächlich<br />

stattgefunden, das bewies die Notiz, die auf<br />

seinem Nachttisch lag: »Donnerstag 11 Uhr, Skyline<br />

Aviation, Lake Hood.«<br />

Gregor sah auf den Wecker, den er vorhin beinahe<br />

zerstört hätte. Es war kurz nach 22 Uhr. In<br />

Hamburg war es jetzt morgens um acht. Er hol-<br />

136


te seinen Terminkalender aus der Reisetasche<br />

und wählte die Nummer seines Büros.<br />

Nach achtmaligem Klingeln meldete sich eine<br />

ziemlich verschlafene und unwillige Frauenstimme:<br />

»Marvosound GmbH…«<br />

Gregor war gleich auf hundertachtzig. Er hatte<br />

diesen Telefonistinnen schon hundert Mal gesagt,<br />

daß sie einen Anruf nach zweimaligem Klingeln<br />

beantworten und sich mit ihrem Namen<br />

melden sollten.<br />

»Und wer von der lieben Firma Marvosound ist<br />

bitte am Apparat, wer?« herrschte er zynisch in<br />

den Hörer.<br />

»Oh, Herr Kaspach, hallo! Sie möchten sicher den<br />

Herrn Schüßler.«<br />

Gregor hatte die Stimme natürlich längst erkannt.<br />

Sie gehörte Petra Grießbach, der jungen<br />

Telefonistin, die seit ungefähr einem Jahr bei<br />

Marvosound arbeitete.<br />

»Nein, ich möchte nicht den Herrn Schüßler.«<br />

Gregor hatte wieder seine Schulmeister-Stimme<br />

drauf. »Ich möchte zuerst einmal wissen, wer am<br />

137


Apparat ist.«<br />

»Ja, Sie kennen doch meine Stimme, Herr<br />

Kaspach.«<br />

»Ich vielleicht schon«, gab Gregor ungeduldig<br />

zurück, »aber wie ist das mit unseren Kunden?«<br />

Es war einfach zum Verrücktwerden! Was dachten<br />

sich diese jungen Dinger eigentlich, wenn sie<br />

sich um so einen Job bewarben? Daß man auf<br />

sie gewartet hatte? Daß man nichts anderes zu<br />

tun hatte, als ihre Disco-Abende und ihre Antibaby-Pillen<br />

zu finanzieren und geduldig zuzusehen,<br />

wie sie sich während der Arbeitszeit ihre<br />

Fingernägel lackierten und stundenlang mit ihren<br />

Freundinnen telefonierten? Was war bloß mit<br />

der heutigen Generation los? Kein Ehrgeiz, kein<br />

Stolz, rein gar nichts!<br />

»Geben Sie mir bitte die Frau Müller.«<br />

Gregor mochte jetzt nicht weiter diskutieren. Er<br />

würde dem Schüßler bei der nächsten Geschäftsleitungssitzung<br />

nahelegen, daß man die Grießbach<br />

ersetzen sollte. »Schickt eure Enten nicht<br />

zur Adlerschule; sie lernen’s nie!« hatte er ein-<br />

138


mal irgendwo gehört. Und die Grießbach war nun<br />

mal eine geborene Ente, da konnte man offenbar<br />

nichts machen.<br />

Es knackte in der Leitung. Die Grießbach fand<br />

es nicht für nötig zu sagen: »<strong>Moment</strong> bitte, ich<br />

verbinde Sie gleich.« Ein Mensch, der sie so zur<br />

Schnecke machte, hatte in ihren Augen keine<br />

Höflichkeit verdient.<br />

»Elisabeth Müller, hallo Herr Kaspach!« Die<br />

Stimme klang freundlich, aber Gregor war sich<br />

bewußt, daß das nur Maskerade war.<br />

Die Müller war seine Sekretärin und das pure<br />

Gegenteil von der Grießbach. Sie ging gegen die<br />

Sechzig zu, legte großen Wert auf Körperpflege,<br />

die sie jedoch im Gegensatz zur Grießbach zu<br />

Hause erledigte, und hatte nur ein großes Problem:<br />

Sie war nie verheiratet gewesen. Ja, es war<br />

sogar noch schlimmer: Man vermutete im Geschäft,<br />

daß sie immer noch Jungfrau sei. Das<br />

wäre alles kein Problem gewesen, wenn die gute<br />

Frau nicht diese stereotypen Symptome älterer<br />

Jungfern an den Tag gelegt hätte. Auf der einen<br />

139


Seite wollte sie möglichst allen Männern gefallen.<br />

In ihrem Alter war sie offenbar nicht mehr<br />

wählerisch; selbst vor Bierbäuchen schreckte sie<br />

nicht zurück. Auf der anderen Seite hatte sie von<br />

ihrem strengen Vater das geistige Programm<br />

geerbt, daß man sich wehren müsse, wenn man<br />

nicht zertrampelt werden wolle. Diese Mischung<br />

sorgte in ihr drin für einen ständigen Kampf, so<br />

daß sie ziemlich nervös war und sehr wenig Kritik<br />

ertragen konnte. In den Männern sah sie<br />

potentielle Liebhaber und Erzfeinde zugleich,<br />

und die Frauen versuchte sie als Verbündete auf<br />

ihre Seite zu bringen. Verbündete allerdings, die<br />

es aushalten mußten, wie Töchter behandelt zu<br />

werden, denn die Müller mußte ja irgendwo ihre<br />

Mutterinstinkte ausleben können.<br />

Zu den Kunden war Elisabeth Müller eine Seele<br />

von Mensch. Und auch der Schüßler gab bei jeder<br />

Gelegenheit bekannt, wie froh er um diese<br />

Frau sei. Aber was er nicht sah, waren all die<br />

versteckten Intrigen und Gerüchte, die ihren<br />

Ursprung allesamt bei der Müller hatten. So<br />

140


manche gute Mitarbeiterin hatten sie aufgrund<br />

eines Müllerschen Machtkampfes schon verloren.<br />

»Hallo, Frau Müller. Wie geht’s Ihnen denn?«<br />

»Sicher nicht so gut wie Ihnen!« Da war er, dieser<br />

typisch Müllersche Unterton, den er bereits<br />

erwartet hatte. »Von welchem Badestrand aus<br />

rufen Sie mich an?«<br />

Von jedem anderen Menschen hätte Gregor das<br />

als Witz aufgefaßt, nur von der Müller nicht.<br />

Wenn sie so etwas sagte, dann war es absichtlich<br />

böse gemeint. Und es zeigte wieder einmal,<br />

wie wenig eigentlich die Leute im Büro von der<br />

Arbeit da draußen wußten. Nur weil es in Flugzeugen<br />

und Hotels keine Stempeluhren gab,<br />

glaubten die doch tatsächlich, daß die Außendienstler<br />

das schönste Flohnerleben genossen.<br />

Glaub’ der Teufel, daß es der Wirtschaft nicht<br />

besonders gut ging, wenn jeder gegen jeden arbeitete.<br />

»Nix Badestrand. Schön wär’s!« entgegnete Gregor<br />

und gab sich Mühe, seine leichte Gereiztheit<br />

141


zu unterdrücken. Die Müller mußte man mit<br />

Samthandschuhen anfassen, denn schließlich<br />

hatte sie im Geschäft das Zepter in der Hand.<br />

Eigentlich verrückt, dachte Gregor, die Frau war<br />

eine kleine Angestellte und hatte null Ahnung<br />

von Verkauf und Management, aber de facto genoß<br />

sie die Befugnisse einer Vizedirektorin.<br />

»Ich bin in Alaska, in Anchorage, und es ist saukalt.«<br />

»Oh, à propos Anchorage, der Chef ist ganz schön<br />

sauer auf Sie!«<br />

Das war wieder typisch Müller. Zuerst einmal<br />

mit dem Holzhammer eins aufs Dach geben,<br />

dann schauen, ob noch was übrigblieb, und diesen<br />

Rest dann noch langsam und genüßlich zugrunde<br />

richten.<br />

»Warum soll der Chef sauer sein? Was hab’ ich<br />

denn getan?«<br />

Gregor fühlte sich beinahe wie in seinem Traum,<br />

als sein Onkel diese versteckten Vorwürfe gegen<br />

ihn vorgebracht hatte.<br />

»Die Red-Moose Studios in Anchorage haben bei<br />

142


der Konkurrenz gekauft, weil die billiger waren.«<br />

»Na und, das ist doch ihr gutes Recht. Wenn denen<br />

der Preis wichtiger ist als unser Service.«<br />

Zum Glück war die Müller nicht im Verkauf<br />

beschäftigt. Sie hätte wahrscheinlich die Preise<br />

bis zum Gehtnichtmehr gesenkt, nur um es allen<br />

Leuten recht zu machen, und die Firma wäre<br />

längst bankrott.<br />

»Ja, ja, nur wissen Sie, Sie haben natürlich etliche<br />

Arbeitsstunden mit diesem Projekt verplempert.«<br />

Wie geschickt doch diese Frau ihre Worte wählte!<br />

Jetzt hieß es also plötzlich Sie, dabei hatte er<br />

von Anfang an gesagt, die Red-Moose-Leute seien<br />

nur auf den billigsten Deal aus und es wäre<br />

besser, wenn man nicht zu viel Zeit in sie investieren<br />

würde. Aus dem Investieren machte die<br />

Müller natürlich jetzt ein Verplempern, das war<br />

ja klar!<br />

»Frau Müller, wie wäre es, wenn Sie ausnahmsweise<br />

mal mit etwas Positivem begännen.« Gregor<br />

versuchte es auf die sanfte Tour. »Können<br />

143


Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn man müde,<br />

abgespannt und gebeutelt von der Zeitverschiebung<br />

sich abends um zehn wecken läßt, um Sie<br />

anzurufen, und das erste, was man zu hören bekommt,<br />

ist ein geistiger Holzhammer.«<br />

»Ja, was kann ich denn dafür, wenn Sie einen<br />

Mißerfolg produzieren?«<br />

Mißerfolg, das war’s, was er noch gebraucht hatte.<br />

Gregors Puls stieg wieder ins Unermeßliche,<br />

die Adern an seinen Schläfen schwollen an.<br />

»Jetzt reicht’s, Frau Müller«, schrie er in den<br />

Hörer. »Sie wissen haargenau, daß ich immer<br />

noch siebzig Prozent des Umsatzes in diese Bude<br />

bringe! Wenn ich kündige, können Sie den Laden<br />

dicht machen! Ich habe es nicht nötig, mir<br />

von Ihnen ein schlechtes Gewissen einimpfen zu<br />

lassen. Und ich sage Ihnen eines. Wenn der<br />

Schüßler mich nicht anständig behandelt, dann<br />

habt ihr mich alle zum letzten Mal gesehen.«<br />

Um Gottes willen, was war bloß in ihn gefahren?<br />

So hatte er sich der Müller gegenüber noch<br />

nie verhalten! Jetzt war’s wahrscheinlich aus<br />

144


und vorbei. Er konnte sich schon ausmalen, wie<br />

ihm zu Hause die Kündigung auf den Tisch flattern<br />

würde.<br />

»Regen Sie sich mal nicht so auf, Herr Kaspach«,<br />

versuchte die Müller ihn zu besänftigen, und<br />

Gregor glaubte einen leicht ängstlichen Unterton<br />

in ihrer Stimme zu vernehmen. »Wir wissen<br />

doch, daß Sie unser Zugpferd sind. Und was den<br />

Chef angeht, so habe ich vielleicht ein wenig<br />

übertrieben. Er meinte nur, das nächste Mal<br />

müßte man etwas früher herauszufinden versuchen,<br />

wie groß unsere Verkaufschancen seien.«<br />

Hoppla, das hatte Gregor nicht erwartet. Das waren<br />

ja ganz neue Töne. Offenbar mußte man mit<br />

der Müller anders umspringen, als er das bisher<br />

getan hatte. Vielleicht genügte es, sich einfach<br />

mal anders zu verhalten, als die Leute es erwarteten.<br />

Er war fest entschlossen, demnächst auch<br />

beim Schüßler einen solchen Versuch zu wagen.<br />

»Frau Müller, das hab’ ich ja getan. Wer hat denn<br />

die ganze Zeit gesagt, die Red-Moose-Leute seien<br />

nur auf den billigsten Deal aus, wer?«<br />

145


»Na ja, jetzt brauchen wir ja darüber nicht mehr<br />

zu diskutieren.« Das war das typisch Müllersche<br />

Ausweich-Manöver. Wie gut er diese Frau doch<br />

kannte!<br />

»Ich werde denen morgen nachmittag einen Besuch<br />

abstatten. Wir werden ja sehen, ob ich die<br />

nicht doch noch von unserem Produkt überzeugen<br />

kann.«<br />

»Was, den Red-Moose-Leuten? Aber Herr Kaspach,<br />

die haben bereits gekauft. Ich hab’ doch<br />

das Fax hier! Was wollen Sie denn da noch? Die<br />

werden doch nur sauer, wenn Sie sie nochmals<br />

belästigen!«<br />

»Frau Müller, irgendwann einmal schicke ich Sie<br />

noch zu einem Verkaufskurs.« Gregor war im<br />

<strong>Moment</strong> mehrere Punkte im Vorsprung, das<br />

wußte er, und das sollte auch so bleiben. »Wenn<br />

der Kunde sagt, er habe bei der Konkurrenz gekauft,<br />

dann kann das so vieles bedeuten. Was es<br />

genau bedeutet, muß man an Ort und Stelle herausfinden.<br />

Vielleicht liegt die Bestellung an die<br />

Konkurrenz erst auf dem Schreibtisch und wir<br />

146


haben noch eine Chance, das Geschäft zu machen.<br />

Das wäre ja nicht das erste Mal, oder?<br />

Denken Sie nur an die Brentwood Studios in<br />

London!«<br />

»Ja, gut, Sie müssen’s ja wissen«, gab die Müller<br />

klein bei.<br />

»Ja, tu’ ich auch. Und jetzt geben Sie mir bitte<br />

den Chef. Okay?«<br />

Gregor nahm ein paar tiefe Atemzüge. Er mußte<br />

sich unbedingt beruhigen. Am liebsten hätte<br />

er seine Stelle gleich telefonisch aufgekündigt.<br />

Aber er war lange genug in der Welt herumgereist,<br />

um zu wissen, wie negativ sich die Zeitverschiebung<br />

auf den Hormonhaushalt auswirken<br />

konnte. Und wer garantierte ihm denn, daß<br />

die Gefühle, die er im <strong>Moment</strong> gegenüber seiner<br />

Firma hatte, tatsächlich echt waren und nicht<br />

einfach ein Spiel seiner durcheinandergeratenen<br />

Körperchemie?<br />

»Schüßler, Morgen’e Kaspach!« Der Schüßler<br />

hatte so eine Art, das Herr zu verschlucken, daß<br />

man nie recht wußte, ob er es nur verschluckte<br />

147


oder ob er es tatsächlich nicht aussprach. Vermutlich<br />

war es eher Letzteres. Erwin Schüßler<br />

war ein Mann der alten Garde, ein Preuße in<br />

Reinkultur. Wenn er Anweisungen erteilte, klangen<br />

sie stets wie Befehle, und am liebsten wäre<br />

ihm wahrscheinlich gewesen, der Befehlsempfänger<br />

hätte die Hacken zusammengeschlagen<br />

und mit einem zackigen »Jawoll, Herr General«<br />

quittiert. Schüßler war auch ein Mitglied der<br />

seltenen Spezies der »freiwilligen Kahlköpfe».<br />

Seine Haartracht bestand lediglich aus einer feinen,<br />

knapp millimeterdicken Schicht von grauen<br />

Stoppeln, die er täglich mindestens dreimal<br />

kämmte und regelmäßig vom Friseur zurechtstutzen<br />

ließ. In der Buchhaltungs-Abteilung hatten<br />

sie einmal darüber gewitzelt, der Schüßler<br />

sei sicher so ein Perversling, der sich heimlich<br />

mit Damenunterwäsche und einer preußischen<br />

Pickelhaube bekleidet an Nacktfotos von jungen<br />

Männern aufgeile.<br />

»’n Abend, Herr Schüßler, wie geht’s Ihnen?« Gregor<br />

wußte, daß er seinen Chef immer ein wenig<br />

148


einstimmen mußte, obwohl dieser äußerlich den<br />

Eindruck machte, als wollte er immer gleich zur<br />

Sache kommen.<br />

»Gut, und Ihnen? Wie lief ’s in Hong Kong?«<br />

»Das erzähle ich Ihnen gleich. Sofern Sie mir<br />

vorher verraten, wie’s Ihrem Sohn beim Abitur<br />

ergangen ist.«<br />

»Ach so, ja, der hat ziemlich gut abgeschnitten.<br />

Als Zweitbester seiner Klasse, glaub’ ich.«<br />

Das war wieder typisch. Der Mann war sicher<br />

sowas von stolz, daß er den ganzen Tag nichts<br />

anderes denken konnte. Aber wenn man ihn danach<br />

fragte, tat er so, als sei das nicht besonders<br />

wichtig.<br />

»He, ist ja Spitze! Da können Sie aber stolz sein<br />

auf ihn, was?«<br />

»Ja, bin ich schon. Jetzt soll er erst einmal Urlaub<br />

machen, dann wollen wir weitersehen«,<br />

Gregor spürte, daß sein Chef allmählich auftaute,<br />

so daß er mit seiner Hong-Kong-Überraschung<br />

aufwarten konnte.<br />

»Sind Sie bereit für eine weitere gute Nachricht,<br />

149


Herr Schüßler?«<br />

»Ja, immer. Schießen Sie los!«<br />

»Das nationale Fernsehen von Macau baut einen<br />

neuen Studiokomplex. Wir kriegen den Auftrag<br />

für drei schlüsselfertige Post-Production-<br />

Studios. Die wollen alle Schikanen drin haben:<br />

Computerisierte 50-Kanal-Mischpulte, einige<br />

Mehrspur-Maschinen, alles tutti quanti. Das gibt<br />

etwa drei Millionen Mark.«<br />

»Schön, Kaspach, dann sorgen Sie mal dafür, daß<br />

wir die Daten heute noch auf den Tisch bekommen,<br />

damit wir mit dem Planen anfangen können.«<br />

Na, das war ja wieder der Hammer! Gregor hatte<br />

das Geschäft des Jahrzehnts an Land gezogen,<br />

und der Schüßler hatte nicht einmal ein<br />

»Herr Kaspach« für ihn übrig, geschweige denn<br />

ein anständiges Lob.<br />

»Ach, ehhhm Kaspach, haben Sie das mit den<br />

Red-Moose-Studios gehört?«<br />

Gregor deckte den Hörer zu und stieß einen tiefen<br />

Seufzer aus. Durfte das denn wirklich wahr<br />

150


sein, daß dieser Mensch tatsächlich auf einem<br />

Mißerfolg umherritt, wenn er ihm doch soeben<br />

einen Super-Erfolg hatte präsentieren können?<br />

Gregor bemühte sich, ruhig zu bleiben: »Ja, habe<br />

ich gehört. Ich gehe morgen nachmittag bei denen<br />

vorbei und bringe ihnen ein Muster von unserem<br />

neuen Koax-Kabel mit.«<br />

»Wozu denn?« wollte Schüßler wissen. »Diese<br />

Knilche bekommen keine Minute mehr von unserer<br />

kostbaren Zeit. Sie kennen doch meine<br />

Devise, Kaspach: Wer nicht bei mir kauft, ist<br />

mein Feind!«<br />

Gregor wollte nur noch eines: Die Decke über<br />

seinen Kopf ziehen und endlich schlafen. Zum<br />

ersten Mal seit sieben Jahren wurde ihm bewußt,<br />

in welches Affentheater er da eigentlich geraten<br />

war. Das hatte seinerzeit schon damit begonnen,<br />

daß man ihn als Gebietsverkaufsleiter für Amerika<br />

und Kanada eingestellt hatte. Seine Reisetätigkeit,<br />

so hatte es geheißen, würde etwa vierzig<br />

Prozent betragen. Doch sehr bald hatte sich<br />

herausgestellt, daß man den Mann, der für Asien<br />

151


zuständig gewesen war, beim besten Willen nicht<br />

brauchen konnte. Logischerweise gab man dieses<br />

Gebiet demjenigen, der die besten Zahlen<br />

einfuhr, und das war zufälligerweise Gregor gewesen.<br />

Als er dann auch noch den Verkaufsleiter<br />

in Sachen Umsatz um gute hundert Prozent<br />

übertroffen hatte, da hatte der Schüßler gemeint,<br />

man bräuchte eigentlich nur noch den Kaspach.<br />

So kam es, daß er heute alle fünf Kontinente<br />

bereiste, etwa 95 Prozent seiner Lebenszeit in<br />

Flugzeugen und Hotels verbrachte und sieben<br />

Tage in der Woche am Schuften war. Sein Gehalt<br />

und seine Visitenkarte jedoch wiesen ihn<br />

immer noch als »Gebietsverkaufsleiter« aus. Als<br />

Markus ihn einmal darauf aufmerksam machte,<br />

wich Gregor aus: »Das kommt dann schon.<br />

Wir werden bald neues Verkaufspersonal einstellen,<br />

und dann werde ich wieder ein normales<br />

Leben führen können.«<br />

»Es tut mir leid, Herr Schüßler, ich bin etwas<br />

müde, können wir das morgen besprechen? Dann<br />

würde ich jetzt mit der Frau Müller noch die<br />

152


Termine für Los Angeles durchgehen?«<br />

»Was sind Sie? Müde?« Schüßlers preußischspöttisches<br />

Lachen tat Gregor förmlich in den<br />

Ohren weh. »Wozu lassen wir Sie denn Erster<br />

Klasse reisen, wenn Sie trotzdem müde werden?«<br />

Gregor hätte ihm gerne zuwider gehalten, daß<br />

es ja nicht die Firma sei, die ihn Erster Klasse<br />

reisen lasse, sondern daß er einzig und allein<br />

aufgrund seiner vielen Flugmeilen und der Vielflieger-Programme<br />

der Airlines diesen Vorzug<br />

genoß. Aber er mochte sich um diese Zeit nicht<br />

mehr auf Diskussionen einlassen. Und außerdem<br />

hatte dieser Schüßler etwas an sich, was einen<br />

schlicht und einfach verstummen ließ.<br />

»Ich verspreche Ihnen, Herr Schüßler, morgen<br />

früh bin ich wieder der alte Kaspach. Und dann<br />

dürfen Sie von mir auch wieder Unmenschliches<br />

verlangen.«<br />

Ob Schüßler wohl diesen feinen Wink verstanden<br />

hatte?<br />

»Gut, Kaspach, halten Sie die Ohren steif! Und<br />

frohes Schaffen!«<br />

153


Er hatte ihn nicht verstanden, aber das hatte<br />

Gregor eigentlich auch nicht erwartet.<br />

Nachdem die Müller mit ihm die Termine für Los<br />

Angeles durchgegangen war und ihm versprochen<br />

hatte, ein Memo durchzufaxen, das er dringend<br />

benötigte, gönnte sich Gregor endlich die<br />

wohlverdiente Nachtruhe.<br />

154


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Sind Sie etwa auch angestellt, wie Gregor? Und<br />

kamen Ihnen die Szenen vertraut vor? Wenn ja,<br />

dann überlegen Sie sich doch einmal, warum Sie<br />

noch in dieser Firma bleiben! Ist es das Gehalt?<br />

Glauben Sie, daß Sie anderswo nicht so viel verdienen<br />

würden? Oder denken Sie, daß man Sie<br />

woanders gar nicht mehr brauchen kann?<br />

Fallen Ihnen Parallelen auf zu Gregors Traum?<br />

Schauen Sie einmal an sich hinunter! Tragen Sie<br />

Ihre Bleihosen auch noch? Und genau so freiwillig<br />

wie Gregor in seinem Traum?<br />

Dann überlegen Sie sich doch einfach, ob Sie<br />

Ihren sinnlosen Ballast nicht heute loswerden<br />

wollen. Denn ob Sie es glauben oder nicht: Sie<br />

sind der einzige Mensch, der Ihr Leben lebt! Sie<br />

sind es, der sich die Bleihosen übergestreift hat!<br />

Und Sie sind auch der einzige Mensch, der sie<br />

wieder abstreifen kann!<br />

155


Gibt es eine Last, von der Sie sich so rasch als<br />

möglich befreien möchten?<br />

Was könnten Sie heute tun, um sich davon zu<br />

befreien?<br />

156


12<br />

»Meine Männer haben ihn aus den Augen verloren,<br />

Führer!«<br />

Schulze hielt zitternd den Hörer in der Hand und<br />

machte sich auf ein Donnerwetter gefaßt, das<br />

auch prompt eintraf.<br />

»Was soll das heißen?« wetterte der Mann, den<br />

Schulze mit einem fanatischen Unterton »Führer«<br />

nannte und der offenbar Gerd Hafenkamp<br />

hieß.<br />

»Er hat sie ausgetrickst, sie konnten überhaupt<br />

nichts machen, ehrlich!«<br />

Schulze wußte, er mußte jetzt maßlos übertreiben,<br />

wenn er nicht innerhalb einer Woche als<br />

Leiche enden wollte.<br />

Am anderen Ende hörte man, wie Hafenkamp<br />

offenbar den Telefonhörer wütend gegen eine<br />

Wand schlug.<br />

»Nein, nein, nein, nein«, wiederholte er immer<br />

wieder, »was sind Sie doch für ein Trottel, Schulze.<br />

Wenn ich mich nicht selbst davon überzeugt<br />

hätte, daß Sie ein Arier sind, dann würde ich<br />

157


sagen, Sie sind ein verfluchter, stinkblöder, hirnrissiger<br />

Polacke.«<br />

Das war das zweitschlimmste Wort, was Hafenkamp<br />

verwendete, wenn er sauer war. Solange<br />

er ihn keinen »Saujuden« nannte, bestand noch<br />

Grund zur Hoffnung. Aber er würde sich keinen<br />

Fehler mehr erlauben dürfen, so viel war sicher.<br />

»Schulze, Sie fliegen heute noch persönlich ’rüber«,<br />

Hafenkamp hatte sich wieder einigermaßen<br />

gefaßt, »und dann ziehen Sie diese Sache<br />

sauber durch, sonst gnade Ihnen Gott!«<br />

»Jawohl, Führer. Ich werde Sie nicht enttäuschen.<br />

Heil…«<br />

»Halten Sie die Klappe, Schulze«, fuhr Hafenkamp<br />

ihm ins Wort, »wie oft muß ich Ihnen noch<br />

sagen, Sie sollen mich in der Öffentlichkeit nicht<br />

Führer nennen, solange wir noch nicht an der<br />

Macht sind. Und das Heil Hitler tragen Sie gefälligst<br />

im Herzen und nicht auf der Zunge!«<br />

»Jawoll, Fü…, jawoll, Herr Hafenkamp«, salutierte<br />

Schulze kleinlaut in den Hörer und war<br />

froh, das Gespräch beenden zu können.<br />

158


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Gottseidank geben wir dieses Buch im Eigenverlag<br />

heraus. Sonst müßte ich mir jetzt den<br />

Kommentar sämtlicher humanistisch gebildeten<br />

Lektorinnen der ehrwürdigen deutschen Verlagsanstalten<br />

anhören: »Der Autor arbeitet mit stereotypen<br />

Figuren, die nicht im entferntesten der<br />

Wirklichkeit entsprechen…«<br />

Denkste! Typen wie Hafenkamp und Schulze gibt<br />

es zuhauf. Ich weiß es, denn ich habe mehr amerikanische<br />

Talkshows gesehen als sämtliche<br />

deutschen Lektorinnen zusammen!<br />

Außerdem… wenn der unsägliche Herbert Reinklecker<br />

seine eintausensiebenhundertdreiunddreißigste<br />

Folge von »Derrick« ins Land wirft,<br />

wird sie kommentarlos verfilmt. Da werde ich<br />

mir wohl auch einmal ein paar abgewetzte Figuren<br />

zusammenschreiben dürfen. Oder?<br />

Ich freue mich schon auf den Kommentar von<br />

Marcel Reich-Ranicki: »Diethäm Mann thollte<br />

man dath Shräibän verbietän!« (Das »th« ist als<br />

Lispel-Laut auszusprechen. Denn der Mann hat<br />

159


selbst nach sechzig Jahren seine Zunge noch<br />

nicht im Griff…)<br />

160


13<br />

»Lake Hood, Skyline Aviation.« Gregor hielt seine<br />

Anweisung an den Taxifahrer knapp und präzise,<br />

um diesen ja nicht zu einer Unterhaltung<br />

anzuregen. Er war an diesem Donnerstagmorgen<br />

mit stechenden Kopfschmerzen aufgewacht,<br />

und obwohl er wie immer versucht hatte, sie mit<br />

Hilfe von Tabletten zu beseitigen, blieb sein Kopf<br />

dumpf und müde. Typisch Jet Lag, dachte Gregor,<br />

wann würde er sich wohl endlich daran gewöhnen.<br />

Was ihn noch mehr irritierte, war die Tatsache,<br />

daß er fast keine Luft bekam und die ganze Zeit<br />

seinen Inhalator bemühen mußte. Bei so kaltem<br />

und trockenem Wetter hatte er sonst nie Probleme<br />

gehabt.<br />

»Lake Hood, aha. Gehen Sie mit dem Wasserflugzeug<br />

eine Runde drehen?«<br />

Da war Gregor offenbar an den Richtigen geraten.<br />

Ausgerechnet heute, wo er sich einen stillen<br />

Griesgram gewünscht hatte, mußten die ihm<br />

eine Quasseltante schicken.<br />

161


»Nein, nur eine Geschäftssitzung«, winkte Gregor<br />

einsilbig ab.<br />

»Ah, ich dachte nur, weil Sie Lake Hood sagten.<br />

Sie wissen, daß das einer der verkehrsreichsten<br />

Wasserflughäfen der Welt ist?«<br />

Das interessierte Gregor nun überhaupt nicht.<br />

Er überlegte sich, was er zu diesem Mann sagen<br />

würde, der behauptete, sein Vater zu sein. Vor<br />

allem wollte er herausfinden, warum der mysteriöse<br />

Anrufer so viel über ihn wußte, und dann<br />

würde er dieser Angelegenheit wenn nötig mit<br />

Hilfe eines Anwalts ein Ende setzen.<br />

Gregor war froh, als der Fahrer seinen Wagen<br />

rechts auf einen schmalen Kiesweg lenkte, der<br />

zu einer Art Baracke führte.<br />

»Da sind wir, Sir. Soll ich Sie zu einem bestimmten<br />

Zeitpunkt wieder abholen?«<br />

»Nein, ich weiß noch nicht, wie lange es dauern<br />

wird«, entgegnete Gregor, während er ein paar<br />

Dollarscheine aus seiner Brieftasche klaubte.<br />

»Okay, hier ist meine Karte.« Der Taxifahrer ließ<br />

sich nicht so leicht abschütteln. »Wenn Sie fer-<br />

162


tig sind, rufen Sie diese Nummer an. In zehn<br />

Minuten bin ich zur Stelle.«<br />

Als Gregor durch die Tür trat, mußte er sich erst<br />

einmal an die Dunkelheit gewöhnen. Die Firma<br />

»Skyline Aviation« legte ganz offensichtlich keinen<br />

Wert auf Äußerlichkeiten. Hinter einer alten<br />

Holztheke, unter deren trüben Glasplatte<br />

eine vergilbte Fliegerkarte der Region dahinvegetierte,<br />

stand eine von der Kälte und vom<br />

vielen Rauchen ziemlich mitgenommene Dame<br />

mittleren Alters.<br />

»Hi, Sie sind sicher Gregor, richtig?«<br />

»Woher wissen Sie das?« fragte Gregor erstaunt.<br />

Die Frau überhörte die Frage und zündete sich<br />

statt dessen mit ihrem brennenden Zigarettenstummel<br />

eine neue Marlboro an.<br />

»Kommen Sie, Bob wartet bereits auf Sie,« sagte<br />

sie mit rauchiger Stimme und schlurfte mit langsamen<br />

Schritten in Richtung Hinterausgang, der<br />

zum See hinaus führte.<br />

Gregor zögerte, als er die drei Wasserflugzeuge<br />

163


erblickte, die entlang des Bootssteges festgemacht<br />

waren.<br />

»Kommen Sie«, drängte Missis Marlboro, »Bob<br />

ist gerade mit dem Preflight Check beschäftigt.«<br />

»Preflight Check?« fragte Gregor, »wir gehen doch<br />

nicht etwa fliegen?!«<br />

Er hatte wirklich weder Zeit noch Lust, den ganzen<br />

Tag in einer dieser fliegenden Kisten zu vertrödeln.<br />

»Hallo, Sie müssen Gregor sein. Mein Name ist<br />

Bob.« Der Mann, der aussah wie einer der Gebrüder<br />

Wright persönlich, verriegelte die Motorhaube<br />

des Flugzeugs, wischte seine Hände an<br />

einem Taschentuch ab und streckte sie Gregor<br />

entgegen.<br />

»Ich lasse euch allein«, sagte Missis Marlboro und<br />

schlurfte zurück in die geheizte Baracke.<br />

»Wissen Sie etwas über diese seltsame Geschichte?«<br />

fragte Gregor vorsichtig, noch unschlüssig,<br />

ob er diesem Menschen trauen konnte oder nicht.<br />

»Ich weiß gar nichts«, antwortete Bob. »Ich habe<br />

lediglich Order von Ihrem Vater, Sie zum Vic-<br />

164


toria-Gletscher zu bringen.«<br />

»Zum Victoria-Gletscher? Was soll ich dort?«<br />

»Keine Ahnung. Es hieß, dort würden wir dann<br />

weitere Anweisungen bekommen. Ich gehe nur<br />

noch rasch den Flugplan einreichen, dann können<br />

wir losfliegen.«<br />

Gregor wußte nicht, was er davon halten sollte.<br />

Aber irgendwie mußte er diesem Spuk ja ein<br />

Ende setzen.<br />

»Sind Sie schon einmal in einem Wasserflugzeug<br />

geflogen?« Bob war aus der Baracke zurückgekehrt.<br />

»In einem Wasserflugzeug nicht, aber ein Freund<br />

von mir besitzt eine Cessna 182. Mit ihm bin ich<br />

schon oft geflogen.«<br />

»Das hier ist eine kanadische Maschine, eine De<br />

Havilland DHC-2. Wir nennen sie hier »Beaver«.<br />

Sie hat den Vorteil, daß man mit ihr sowohl auf<br />

dem Land wie auch im Wasser landen kann,«<br />

erklärte Bob, glücklich darüber, daß er es offensichtlich<br />

nicht mit einem blutigen Laien zu tun<br />

hatte.<br />

165


»Übrigens, das Rauchen in den Gängen und in<br />

den Toiletten ist nicht gestattet,« witzelte Bob,<br />

während er routinemäßig kontrollierte, ob sich<br />

Gregor richtig angeschnallt hatte. Dann gab er<br />

dem Flugzeug einen Schubs und sprang im letzten<br />

<strong>Moment</strong> auf.<br />

»Sind Sie schon einmal selbst am Steuerknüppel<br />

gesessen?« fragte Bob, während er den Motor<br />

startete und die Beaver langsam in Richtung<br />

Startposition gleiten ließ.<br />

»Ja, mein Freund hat mich auch schon fliegen<br />

lassen, aber meistens nur in der Luft. Vom Starten<br />

und Landen habe ich keine große Ahnung,«<br />

antwortete Gregor wahrheitsgetreu.<br />

»Na, dann wollen wir die Kiste mal gemeinsam<br />

in die Luft bringen, okay?« rief Bob fröhlich aus,<br />

während er Gregor half, seinen Kopfhörer überzuziehen.<br />

Gregors Kopfschmerzen waren auf einmal verschwunden,<br />

und die Sache begann ihm allmählich<br />

Spaß zu machen. Er hatte schon fast vergessen,<br />

warum er eigentlich hergekommen war.<br />

166


Der Himmel über Anchorage war strahlend blau,<br />

und die verschneite Landschaft um den Lake<br />

Hood glitzerte märchenhaft in der winterlichen<br />

Mittagssonne.<br />

Nachdem sie vom Tower die Startfreigabe erhalten<br />

hatten, machte Bob ein Zeichen, daß Gregor<br />

seine Füße auf die Pedale und seine Hände an<br />

den Steuerknüppel legen sollte.<br />

»Throttle auf Vollgas, mit den Pedalen die Richtung<br />

halten, Geschwindigkeit beobachten, bei 50<br />

Knoten ganz leicht am Steuerknüppel ziehen…«<br />

Als sich die Maschine in die Luft erhob, überfiel<br />

Gregor ein ganz eigenartiges Gefühl. Ein Teil von<br />

ihm war voll auf diesen Augenblick konzentriert,<br />

ein anderer Teil war meilenweit weg.<br />

»Warum eigentlich nicht fliegen?« dachte er euphorisch.<br />

»Warum nicht ein Leben lang fliegen?«<br />

»Heading 095.« Bobs Anweisung riß Gregor aus<br />

seinen Gedanken. Er kippte den Steuerknüppel<br />

leicht nach links Richtung Osten. Sie waren bereits<br />

auf 3000 Fuß gestiegen und flogen südlich<br />

der Chugach Mountains in Richtung Prince<br />

167


William Sound.<br />

Es war ein prächtiger Tag. Zum ersten Mal in<br />

seinem Leben wünschte sich Gregor, die Zeit<br />

möge stillstehen. Er nahm auf einmal Dinge<br />

wahr, die er früher nie beachtet hatte. Links drüben<br />

auf einer der verschneiten Bergkuppen konnte<br />

er eine Herde Dallschafe ausfindig machen,<br />

die dort friedlich beieinander standen.<br />

»Beneidenswert«, dachte Gregor, »ein sorgloses<br />

Leben abseits von der Zivilisation…«<br />

Auf einmal kam ihm all der Luxus, den er in den<br />

vergangenen Jahren in sein Leben gezogen hatte,<br />

völlig überflüssig vor. Was half ihm denn die<br />

Tatsache, daß er in den besten Hotels der Welt<br />

absteigen und die teuersten Luxusautos fahren<br />

durfte, wenn er doch nur überall der gleiche,<br />

unglückliche Gregor blieb! War es wirklich möglich,<br />

daß man mit 45 Jahren nochmals von vorn<br />

beginnen konnte, wie Sonja ihm das seit ihrer<br />

Trennung einzureden versuchte? Oder wollte er<br />

weitere 40 Jahre in dieser Grauzone zwischen<br />

Frustration und Depression verbringen? Jeden-<br />

168


falls würde er sein Leben nach dieser Reise einmal<br />

gründlich überdenken, das war sicher.<br />

»Schauen Sie, Gregor,« Bob zeigte nach unten,<br />

»der Prince William Sound. Das ist da, wo im<br />

Jahr 1991 etwa elf Millionen Gallonen Öl ins<br />

Meer geflossen sind. Erinnern Sie sich an die<br />

Tankerkatastrophe mit der Exxon Valdez?«<br />

Und ob sich Gregor daran erinnerte. Die Bilder<br />

von den ölverklebten Vögeln und Seeottern hatten<br />

ihn damals wochenlang verfolgt, und am liebsten<br />

hätte er den Kapitän der Exxon Valdez eigenhändig<br />

ermordet. Die Hilflosigkeit gegenüber<br />

solchen Katastrophen war etwas, was Gregor oft<br />

fast um den Verstand brachte. »Wenn es einen<br />

Gott gibt«, hatte er damals zu seinem Bruder<br />

Bert gesagt, »wie kann er dann so etwas zulassen?<br />

Das macht doch keinen Sinn!«<br />

»Wenn es keinen Gott gibt,« hatte Bert entgegengehalten,<br />

»dann brauchst du dir auch die Frage<br />

nach dem Sinn nicht zu stellen. Dann sind wir<br />

alle Zufallsprodukte in einem Zufalls-Universum,<br />

und es wäre diesem Universum völlig egal,<br />

169


wie du dich fühlst.«<br />

Damals hatte Gregor das für eine typische Bert-<br />

Antwort gehalten. Aber jetzt ergab das alles<br />

irgendwie einen Sinn.<br />

Bob, der offenbar gemerkt hatte, daß Gregor in<br />

Gedanken versunken war, nahm das Gas zurück<br />

und leitete den Sinkflug ein.<br />

»Wir landen auf einem See unterhalb des Victoria-Gletschers,<br />

so lautet die Anordnung,« informierte<br />

er Gregor, während er die Maschine nach<br />

links in einen Seitenarm des Prince William<br />

Sound lenkte.<br />

Gregors Herz begann wieder schneller zu schlagen,<br />

da ihn Bob daran erinnert hatte, daß er sich<br />

hier nicht auf einem Vergnügungsflug befand.<br />

Einen kurzen Augenblick lang überlegte er sich,<br />

ob er Bob zur Umkehr überreden sollte. Weshalb<br />

sollte er, Gregor Kaspach, der 45-jährige, gestandene<br />

Verkaufsleiter, hier in dieser Wildnis Alaskas<br />

sich mit einem Psychopathen herumschlagen,<br />

der nichts Besseres zu tun hatte, als wildfremde<br />

Menschen mit seinen Hirngespinsten zu<br />

170


elästigen! Aber dann kam ihm wieder dieser<br />

Arzt, dieser Franz aus dem Flugzeug, in den<br />

Sinn, der beim Abschied gesagt hatte: »Mein<br />

Anton lebt im Paradies!«<br />

»Paradies« war auch das Wort, das Gregor als<br />

erstes in den Sinn kam, als Bob die Maschine<br />

auf dem kleinen, verlassenen Bergsee unterhalb<br />

des Victoria-Gletschers abgesetzt hatte. Eine<br />

solche Landschaft hatte Gregor noch nie gesehen.<br />

Er kam sich vor wie in einem Traum. Das<br />

Ufer des Sees war von alten, knorrigen Bäumen<br />

bewachsen, an denen lange, graugrüne Moosfetzen<br />

baumelten. Es sah aus, als hätte ein Engel<br />

persönlich die Landschaft mit Lametta geschmückt.<br />

Unter den Bäumen sonnten sich exotische<br />

Hochmoor-Pflanzen in sattem Frühlingsgrün<br />

und leuchtendem Karminrot.<br />

»Der See nennt sich ›Lake Magic‹«, sagte Bob,<br />

der Gregors staunenden Blick bemerkt hatte.<br />

»Am Südufer herrscht ein völlig untypisches Klima,<br />

etwa zehn Grad wärmer als sonst in dieser<br />

Gegend.«<br />

171


Das war es also. Gregor hatte sich schon gewundert,<br />

warum hier kein Schnee lag, wo doch die<br />

Umgebung tief verschneit war.<br />

Bob hatte den Motor abgestellt und das Flugzeug<br />

in eine kleine Bucht gleiten lassen.<br />

»Er wird sicher bald kommen«, sagte er zu Gregor,<br />

während er ausstieg und die Maschine mit<br />

einem Tau an einem Baumstrunk festmachte.<br />

»Steigen Sie aus und vertreten Sie sich ein wenig<br />

die Füße. Eine Thermosflasche mit Kaffee<br />

ist unter Ihrem Sitz. Ich muß mal eben austreten.<br />

Passen Sie auf, daß Sie nicht einsinken; der<br />

Boden hier ist ziemlich sumpfig!«<br />

Den letzten Satz hatte Gregor nicht mehr bewußt<br />

wahrgenommen. Er verspürte auf einmal<br />

einen unbändigen Drang, seine Schuhe auszuziehen<br />

und sich barfuß unter einen dieser alten<br />

Bäume zu setzen. Was war nur in ihn gefahren?<br />

Er, Gregor, der Realist, der Mann, der seine Frau<br />

immer als weltfremde Träumerin bezeichnet<br />

hatte, saß barfuß unter einem Baum in der<br />

alaskischen Wildnis!<br />

172


Gregor horchte in die Stille hinein. Es war diese<br />

eigenartige Stille, die er schon einmal an einem<br />

Bergsee in der Schweiz erlebt hatte. Es ist, als<br />

ob die Stille ein Echo hätte, dachte er. Kann man<br />

Stille vervielfachen?<br />

Ein hohles Klopfen, das vom See herkam, unterbrach<br />

ihn in seinen Gedanken. Es war ein Seeotter,<br />

der, kaum fünfzig Meter von Gregor entfernt,<br />

lässig auf dem Rücken in der Gegend herumschwamm<br />

und sich einen großen Stein auf<br />

den Bauch gelegt hatte, um sich, in typischer<br />

Otter-Manier, einen Krebs oder sonst einen Lekkerbissen<br />

aufzuklopfen. Gregor überlegte sich<br />

gerade, wie gerne er mit diesem Seeotter getauscht<br />

hätte, da fiel ihm wieder die Öl-Katastrophe<br />

mit der Exxon Valdez ein. Nicht einmal<br />

im Paradies ist man vor dem Verderben sicher,<br />

dachte er und tat, um seinem Gedanken etwas<br />

theatralischen Nachdruck zu verleihen, einen<br />

tiefen Seufzer.<br />

»Hey, Sie scheinen es ja richtig zu genießen«, rief<br />

Bob, der sein Geschäft beendet hatte und gera-<br />

173


de dabei war, seine Hände im See zu waschen.<br />

»Es ist traumhaft«, stammelte Gregor, der Mühe<br />

hatte, die richtigen Worte zu finden.<br />

»Augenblick, verweile doch, du bist so schön«,<br />

das war der einzige Satz aus Goethes Faust gewesen,<br />

an den er sich nach seinem Abitur noch<br />

hatte erinnern können. Und was hatte Faust<br />

dem Teufel versprochen? Wenn er das einmal<br />

sagen könnte, dann würde er ihm, dem Teufel,<br />

auf ewig dienen. In diesem <strong>Moment</strong> hätte selbst<br />

Gregor einen Pakt mit dem Teufel unterschrieben,<br />

wenn er nur die Zeit hätte anhalten können.<br />

Der Teufel. Glaubte er überhaupt daran, daß es<br />

so etwas gab? War das nicht etwas, was er nach<br />

seinem letzten Sonntagsschul-Besuch abgelegt<br />

hatte wie ein Kleidungsstück, das zu eng geworden<br />

war? Und doch, hier an diesem einsamen<br />

Bergsee schien es von Geistern nur so zu wimmeln.<br />

Diese märchenhafte Landschaft konnte<br />

doch nicht per Zufall entstanden sein, durch einen<br />

Urknall vom Nichts ins Dasein gerufen.<br />

174


»Er kommt!« unterbrach ihn Bob in seinen Gedanken.<br />

»Wo? Wer?« fragte Gregor ganz erstaunt. Er<br />

konnte weit und breit keine Menschenseele ausmachen.<br />

Einzig das weit entfernte Klopfen eines<br />

Hubschraubers lag in der Luft.<br />

»Der Helikopter, das muß er sein!« Bob deutete<br />

mit dem Zeigefinger nach oben.<br />

Dieser Anton würde sich also mit einem Hubschrauber<br />

zu seinem Treffen fliegen lassen. Dann<br />

stand wenigstens eines fest: Wenn es sich um<br />

einen Spinner handelte, mußte er ein sehr wohlhabender<br />

Spinner sein, daß er sich solche Extravaganzen<br />

leisten konnte.<br />

Der Hubschrauber-Pilot zog eine Schleife über<br />

dem See, offenbar um herauszufinden, welcher<br />

Landeplatz sich am besten eignen würde. Er<br />

schien sich für eine kleine Lichtung, nicht weit<br />

von Gregor entfernt, zu entscheiden.<br />

»Passen Sie auf den Heckrotor auf!« rief Bob.<br />

»Gehen Sie von vorne auf die Kiste zu. Halten<br />

Sie immer Augenkontakt mit dem Piloten!«<br />

175


Gregor erkannte jetzt einen etwa 35-jährigen<br />

Mann am Steuerknüppel. Er trug einen dunkelgrünen<br />

Armee-Overall.<br />

»Das kann nicht mein Vater sein!« rief Gregor<br />

leicht irritiert, und er überlegte sich, ob er hier<br />

das Opfer eines Komplotts oder einfach eines<br />

dummen Scherzes geworden war.<br />

»Nein, das ist Jeff!« gab Bob wie selbstverständlich<br />

zur Antwort. »Er wird Sie zu Ihrem Vater<br />

bringen!«<br />

Was für ein Affentheater, dachte Gregor. Konnte<br />

dieser Mensch nicht einfach sagen, was er<br />

wollte, und dann wieder aus seinem Leben verschwinden!<br />

Kurz vor der Landung schien Jeff es sich anders<br />

zu überlegen. Er machte Bob ein Zeichen, das<br />

Gregor nicht verstand.<br />

»Was will er?« rief er Bob zu.<br />

»Er kann die Kiste nicht absetzen, weil der Boden<br />

zu sumpfig ist! Wir machen’s fliegend. Steigen<br />

Sie auf die linke Kufe, ich helfe Ihnen beim<br />

Einsteigen.«<br />

176


»Worauf habe ich mich da bloß eingelassen«,<br />

dachte Gregor, während er sich überlegte, wie<br />

er wohl am besten den etwa einen Meter über<br />

dem Boden schwebenden Hubschrauber besteigen<br />

würde.<br />

Bob hielt ihm seine rechte Schulter hin, damit<br />

sich Gregor auf ihn stützen konnte, und mit der<br />

linken Hand griff er nach oben zur Türklinke.<br />

»Links von Ihnen ist der Sicherheitsgurt«, rief<br />

Bob durch den ohrenbetäubenden Lärm hindurch,<br />

während Jeff sich offenbar darauf konzentrierte,<br />

seine Maschine exakt im Schwebeflug<br />

zu halten. »Und hinter Ihnen finden Sie einen<br />

Kopfhörer. Ziehen Sie ihn über und klappen<br />

Sie das Mikrofon herunter. Links unten ist ein<br />

großer Knopf. Wenn Sie mit Ihrem Fuß drauf<br />

drücken, können Sie sich mit Jeff unterhalten.<br />

Guten Flug!«<br />

»Und Sie?« fragte Gregor verwundert. »Kommen<br />

Sie nicht mit?«<br />

»Meine Mission ist hiermit beendet, Sir!« rief Bob<br />

und hielt scherzend seine Hand zum Gruß an<br />

177


die Schläfe.<br />

Der Hubschrauber hob fast senkrecht ab, bis er<br />

etwa drei Meter über den Bäumen schwebte.<br />

Dann beschleunigte er langsam in Richtung<br />

Victoria-Gletscher.<br />

»Hallo, mein Name ist Jeff, hören Sie mich?« fragte<br />

der Pilot über die Bord-Gegensprechanlage.<br />

»Loud and clear«, sagte Gregor, nicht ohne Stolz<br />

auf diesen professionellen Flieger-Ausdruck, den<br />

er von seinem Freund Markus gelernt hatte.<br />

»Wo fliegen wir hin?« wollte Gregor wissen.<br />

Jeff deutete auf ein Gerät, das aussah wie eine<br />

Kombination zwischen einer Landkarte und einem<br />

Radarschirm.<br />

»Ich habe nur die Koordinaten bekommen. Das<br />

liegt hier irgendwo nördlich. Auf dem GPS sehen<br />

Sie, daß wir noch genau 102,5 Meilen davon<br />

entfernt sind.«<br />

»GPS, was ist das?«<br />

»Global Positioning System, Satelliten-Navigation«,<br />

erklärte Jeff. »Sind Sie schon einmal Helikopter<br />

geflogen?«<br />

178


»Vor Jahren einmal in San Francisco«, gab Gregor<br />

zur Antwort, »eigentlich wollte ich immer<br />

lernen, selbst Helikopter zu fliegen. Aber Sie<br />

wissen ja, wie das ist: Entweder hat man das<br />

Geld oder die Zeit; beides zusammen ist eher<br />

selten.«<br />

»Welches von beiden haben Sie im <strong>Moment</strong><br />

eher?« fragte Jeff, der offensichtlich etwas Humor<br />

vertragen konnte.<br />

»Das Geld«, meinte Gregor lächelnd, »Sie kennen<br />

ja den Spruch, daß man die ersten vierzig<br />

Jahre seines Lebens auf Kosten der Gesundheit<br />

dem Geld hinterherrennt, um dann in der zweiten<br />

Lebenshälfte auf Kosten des Geldes der Gesundheit<br />

hinterherzurennen.«<br />

Jeff lächelte höflich zurück, wie die Amerikaner<br />

das immer tun, wenn sie einen Witz aus Übersee<br />

nicht so ganz verstehen.<br />

Mittlerweile hatten sie den Victoria-Gletscher<br />

hinter sich gelassen und flogen über eine tiefverschneite<br />

Bergkette in Richtung Nordwesten.<br />

»Was geschieht eigentlich, wenn bei so einem<br />

179


Helikopter der Motor ausfällt«, erkundigte sich<br />

Gregor, der gemerkt hatte, daß man sich mit Jeff,<br />

wie fast mit allen Piloten, am besten über seinen<br />

Beruf unterhielt.<br />

»Das ist kein Problem«, meinte Jeff, »mit Autorotation<br />

bringen Sie den Vogel immer zu Boden.«<br />

»Autorotation? Wie geht das?« Gregor war fest<br />

entschlossen, diese Reise, wenn sie schon etwas<br />

fragwürdiger Natur war, doch wenigstens dazu<br />

zu benutzen, etwas zu lernen.<br />

»Soll ich Ihnen eine zeigen? Haben Sie keine<br />

Angst, wenn wir etwas schnell sinken?«<br />

»Vor dem Sinken hab’ ich nie Angst«, scherzte<br />

Gregor, »der Aufprall ist es, der mir Mühe<br />

macht!«<br />

»Okay, schauen Sie, der Steuerknüppel, den Sie<br />

vor sich haben, nennt man im Helikopter den<br />

Cyclic Stick,« erklärte Jeff. »Damit verstellen wir<br />

die Rotor-Ebene. Wenn wir sie nach vorne kippen,<br />

beschleunigen wir die Maschine, nach hinten<br />

bedeutet verlangsamen, links und rechts<br />

bewirkt eine Links- oder eine Rechtskurve. Und<br />

180


das Ding da links neben Ihrem Sitz, das aussieht<br />

wie eine Handbremse, das ist der Collective<br />

Pitch. Wenn ich ihn nach oben ziehe, steigen wir,<br />

wenn ich ihn nach unten schiebe, sinken wir.<br />

Soweit klar?«<br />

Jeff hatte seine Erklärungen jeweils mit dem<br />

entsprechenden Manöver untermauert, so daß<br />

sie eine Weile kreuz und quer durch die Gegend<br />

flogen.<br />

»Die dritte Achse«, schloß Jeff seine Ausführungen<br />

ab, »wird von den Fußpedalen kontrolliert.<br />

Mit ihnen bestimmen wir, in welche Richtung<br />

die Nase des Helikopters zeigen soll.«<br />

Jeff forderte Gregor auf, sich ein wenig mit den<br />

einzelnen Komponenten vertraut zu machen.<br />

»Sie können nicht viel falsch machen«, beruhigte<br />

er ihn, nachdem er Gregors zweifelnden Blick<br />

bemerkt hatte, »die Tourenzahl wird automatisch<br />

gehalten.«<br />

Gregor kam Jeffs Aufforderung gerne nach.<br />

Wenn er es sich richtig überlegte, hatte er heute<br />

wohl mehr Spaß gehabt als in den letzten zehn<br />

181


Jahren zusammen. Was war es eigentlich, was<br />

ihn daran gehindert hatte, Hubschrauber-Pilot<br />

in Alaska zu werden? Welcher unsichtbaren<br />

Macht war er gefolgt, als er seine Träume begrub<br />

und sich nur noch auf das Normale, das<br />

»Machbare« und das Alltägliche zu beschränken?<br />

Seine sicherheitsbedürftige Mutter, die ihn früher<br />

ab und zu ermahnt hatte, sich an seiner jetzigen<br />

Arbeitsstelle um Gottes willen »stillzuhalten«,<br />

war seit über drei Jahren tot. Er brauchte<br />

niemandem mehr Rechenschaft abzulegen. Aber<br />

würde er mit seinen 45 Jahren noch den Mut<br />

und die Energie aufbringen, um nochmals von<br />

vorn zu beginnen?<br />

»Okay«, jetzt drehe ich das Gas zu«, unterbrach<br />

ihn Jeff in seinen Gedanken.<br />

Die Nase des Hubschraubers schlug wild nach<br />

links aus, was Jeff mit dem rechten Pedal sofort<br />

ausglich, während er den Collective mit einem<br />

entschlossenen Ruck ganz nach unten schob und<br />

den Steuerknüppel leicht an sich zog.<br />

»Jetzt dreht sich der Rotor nur noch aufgrund<br />

182


der Luft, die von unten nach oben strömt«, erklärte<br />

Jeff. »Wichtig ist, daß man die Maschine<br />

waagerecht hält, und daß die Vorwärtsgeschwindigkeit<br />

nicht unter 60 Knoten sinkt. Sonst hat<br />

man vor dem Aufsetzen nicht genügend Energie<br />

im Rotorsystem gespeichert, um den Helikopter<br />

abzubremsen.«<br />

»Und wie lange hat man Zeit, um nach einem<br />

Motorausfall zu reagieren?« interessierte sich<br />

Gregor weiter.<br />

Jeff gab keine Antwort, da er sich offenbar auf<br />

sein Manöver konzentrieren mußte. Statt dessen<br />

deutete er mit einem leichten Kopfnicken auf<br />

eine Art Hochplateau. »Da unten können wir landen«,<br />

sagte er, während er ungefähr vierzig Fuß<br />

über Grund die Maschine stark nach hinten kippte,<br />

was eine schlagartige Verlangsamung zur<br />

Folge hatte.<br />

Nachdem der Hubschrauber sich etwa fünf Meter<br />

über der verschneiten Hochebene in die Waagerechte<br />

eingependelt hatte, drehte Jeff das Gas<br />

auf, beschleunigte die Maschine in geringer Höhe<br />

183


und ließ sie dann elegant über den nächsten<br />

Bergkamm steigen.<br />

»Wie lange die Reaktionszeit ist?« nahm er Gregors<br />

Frage von vorhin auf. »Das kommt drauf<br />

an. Bei kleineren Helikoptern sind das zwei Sekunden.<br />

Der hier hat ein trägeres Rotorsystem,<br />

so daß man etwas länger Zeit hat.«<br />

»Und wenn man nicht rasch genug reagiert?«<br />

Gregor wußte, daß das eine ziemlich blöde Frage<br />

war. Dennoch wollte er hören, was Jeff dazu<br />

sagen würde.<br />

»Wenn man nicht rasch genug reagiert?« wiederholte<br />

Jeff die Frage. »Ja, dann wird’s wohl besonders<br />

spannend.«<br />

Das war eine schöne Umschreibung für die Tatsache,<br />

daß ein Hubschrauber wie ein Stein vom<br />

Himmel fällt.<br />

Was wohl in einem Menschen vorgeht, der plötzlich<br />

merkt, daß es abwärts geht, versuchte sich<br />

Gregor auszumalen. Diese bangen Sekunden<br />

kurz vor dem Aufprall mußten doch schier unerträglich<br />

sein. Was er wohl tun würde? Fluchen?<br />

184


Beten? Weinen? Schreien? Er konnte es sich beim<br />

besten Willen nicht vorstellen.<br />

Sein Bruder Bert hatte ihm des öfteren von sogenannten<br />

Nahtodes-Erlebnissen erzählt. Menschen,<br />

die während Sekunden oder gar Minuten<br />

klinisch tot gewesen waren und dann wiederbelebt<br />

wurden, wollten angeblich wunderschöne<br />

Dinge gesehen haben. Von viel weißem Licht und<br />

wunderschöner Sphärenmusik war da die Rede,<br />

sowie von einem Lebensfilm, der vor einem ablaufe<br />

und einem zeige, wo man ethisch richtig<br />

gehandelt habe und wo nicht. Gregor hatte diese<br />

Berichte immer angezweifelt. Er würde sicher<br />

keine Lust haben, sich seinen Lebensfilm anzuschauen,<br />

während er in höchster Todesgefahr<br />

schwebte.<br />

»Da hinten am Horizont«, Jeff zeigte auf einen<br />

Berg in der Ferne, dessen Gipfel von dunklen<br />

Wolken verhüllt war, »das ist der Mount McKinley,<br />

der höchste Berg Nordamerikas. Er hat einen<br />

Süd- und einen Nordgipfel. Der Südgipfel<br />

ist der höhere, etwas über 20’000 Fuß.«<br />

185


Das sind mehr als 6000 Meter, dachte Gregor,<br />

ganz schön hoch.<br />

»Das Wetter dort oben ist fast immer schlecht«,<br />

fuhr Jeff weiter. »Windgeschwindigkeiten bis<br />

hundert Meilen pro Stunde sind keine Seltenheit.<br />

Mit dem Helikopter gehe ich nicht so<br />

gern…«<br />

Jeff hatte plötzlich aufgehört zu sprechen, die<br />

Nase des Hubschraubers schnellte nach oben<br />

und die Maschine begann rapide zu steigen. Gregor<br />

dachte zunächst an ein Ausweichmanöver,<br />

aber er sah weit und breit nichts, dem man hätte<br />

ausweichen müssen.<br />

Ein Blick zu Jeff hinüber schaffte augenblicklich<br />

Klarheit. Der Mann lag bewußtlos in seinem<br />

Sitz. Mit der rechten Hand hielt er den Steuerknüppel<br />

umklammert, mit der linken hatte er<br />

sich, offenbar von einem Krampf überrascht, ans<br />

Herz gegriffen.<br />

»Um Gottes willen!« durchfuhr es Gregor. »Jetzt<br />

ist alles vorbei.« Während eines Sekundenbruchteils<br />

dachte er an einen Satz, den Markus<br />

186


einmal geäußert hatte: »Einen Helikopter fliegst<br />

du höchstens ein paar Sekunden lang, wenn du<br />

kein Pilot bist. Dann stürzt du unweigerlich ab!«<br />

Im nächsten Augenblick geschah etwas Seltsames.<br />

Die anfängliche Angst wich einer seltsamen<br />

Entschlossenheit. »Du hast noch einiges zu erledigen<br />

auf dieser Welt«, sagte eine innere Stimme<br />

zu ihm, »du wirst noch gebraucht. Egal wie,<br />

aber du wirst das hier überleben.«<br />

Mittlerweile hatte Gregor sich so weit gefaßt, daß<br />

er Jeffs verkrampfte Finger vom Steuerknüppel<br />

lösen und die Maschine einigermaßen ins Gleichgewicht<br />

bringen konnte.<br />

»Nicht unter 60 Knoten«, hatte Jeff gesagt. Der<br />

Geschwindigkeitsmesser zeigte etwas über vierzig<br />

Knoten an. Gregor kippte den Steuerknüppel<br />

leicht nach vorn, bis das Instrument etwa 75<br />

Knoten anzeigte. Ganz sanft versuchte er, den<br />

Collective-Hebel zuerst ein wenig nach oben,<br />

dann wieder nach unten zu schieben. Der Höhenmesser<br />

reagierte entsprechend. Markus hatte<br />

also nicht recht gehabt; er konnte einen Hub-<br />

187


schrauber länger als ein paar Sekunden fliegen.<br />

Über die Gegensprech-Anlage versuchte er jetzt,<br />

Jeff wieder zum Bewußtsein zu bringen. Doch<br />

dieser zeigte keine Reaktion, sondern rutschte<br />

stattdessen noch tiefer in den Sitz hinein. Sein<br />

Kopfhörer hatte sich offensichtlich bei dem Anfall<br />

verschoben, denn jetzt fiel er zu Boden, und<br />

zwar ausgerechnet unter den Collective Pitch.<br />

Während Gregor mit der rechten Hand versuchte,<br />

die Maschine auf Kurs zu halten, griff er mit<br />

der linken über seinen rechten Oberschenkel und<br />

holte den Kopfhörer unter dem Hebel hervor.<br />

Ob er dieses Ding wohl würde landen können?<br />

Wenn er doch nur einmal ein paar Lektionen<br />

Hubschrauber-Unterricht genommen hätte, das<br />

hätte vielleicht schon genügt, um die Kiste zu<br />

Boden zu bringen…<br />

Auf einmal ging alles sehr schnell. Die Nase des<br />

Hubschraubers schnellte scharf nach links und<br />

neigte sich vornüber. Gregor reagierte wie in<br />

Trance. »Zwei Sekunden«, hörte er Jeff in Gedanken<br />

sagen, »zwei Sekunden hat man Zeit, um<br />

188


eine Autorotation einzuleiten.«<br />

Gregor knallte mit einem panikartigen Ruck den<br />

Collective nach unten, zog den Cyclic nach hinten<br />

und drückte das rechte Pedal voll durch. Sein<br />

Herz pochte wie wild. Nach einer Sekunde, die<br />

ihm wie eine Ewigkeit vorkam, hatte sich die<br />

Maschine aufgefangen und näherte sich rasch,<br />

aber mit konstanter Geschwindigkeit der Erdoberfläche.<br />

Gregor traute sich kaum nach unten<br />

zu blicken. Gottseidank, die Bergkette hatten sie<br />

bereits überflogen, und unter ihm öffnete sich<br />

eine weites, verschneites Tal, das sich bis zum<br />

Mount McKinley hinzustrecken schien.<br />

Ein flüchtiger Blick auf den Höhenmesser zeigte<br />

Gregor, daß er sich auf ungefähr 6000 Fuß<br />

über Meer befand. Wieviel über Grund das wohl<br />

sein mochte? Die Geschwindigkeit zeigte knapp<br />

unter 60 Knoten an, aber die Maschine blieb stabil,<br />

so daß er vorerst nichts verändern wollte.<br />

»Gott, hilf mir, daß ich das überstehe«, murmelte<br />

er leise vor sich hin. »Ich verspreche dir, daß<br />

ich dann an dich glaube.«<br />

189


Offenbar hatte er unbewußt den Steuerknüppel<br />

nach hinten gezogen, denn der Geschwindigkeitsmesser<br />

zeigte nur noch knappe 40 Knoten<br />

an.<br />

»Geschwindigkeit, ich brauche Geschwindigkeit«,<br />

stieß Gregor mit zusammengebissenen<br />

Zähnen hervor und drückte den Steuerknüppel<br />

nach vorn. Im selben Augenblick ertönte im Kopfhörer<br />

ein markerschütterndes Tuten, während<br />

am Instrumentenbrett eine orangefarbene Lampe<br />

mit der Bezeichnung »Low RPM« aufleuchtete.<br />

Zu Tode erschrocken, zog Gregor den Steuerknüppel<br />

wieder zurück und schloß die Augen.<br />

Das letzte, was er spürte, war ein kurzer, dumpfer<br />

Schlag, der ihm in Sekundenbruchteilen die<br />

Beine, den Oberkörper und schließlich das Gehirn<br />

lahmlegte.<br />

190


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Zuerst muß ich wohl die übliche Warnung aussprechen:<br />

Versuchen Sie dieses Hubschrauber-<br />

Experiment bitte nicht zu Hause! Ich bin zwar<br />

selber Hubschrauber-Pilot und weiß, daß ich die<br />

Manöver grundsätzlich richtig beschrieben habe.<br />

Dennoch: Autor und Verlag übernehmen keinerlei<br />

Haftung! Dasselbe gilt übrigens auch, wenn<br />

Sie eine »Beaver« bei 50 Knoten hochziehen und<br />

abstürzen. Studieren Sie vorher nochmals das<br />

Handbuch!<br />

A propos Miss Marlboro: Nein, Marlboro hat keinen<br />

finanziellen Beitrag zu diesem Buch geleistet.<br />

Meinen Sie, man sollte dort mal anklopfen?<br />

Wie finden Sie meine Landschafts-Beschreibungen?<br />

Die habe ich dem »Traumschiff« im Deutschen<br />

Fernsehen abgeschaut. Da leiert doch dieser<br />

Schönling (wie heißt er doch gleich?) immer<br />

solche Monologe herunter, die vom Nationalen<br />

Fremdenverkehrsbüro gesponsert wurden. Na ja,<br />

191


ich denke, wenn Sie schon Schund lesen, sollen<br />

Sie wenigstens etwas dabei lernen.<br />

Nun aber zum Ernst des Lebens: Wie oft pro<br />

Woche haben Sie eigentlich so einen <strong>Moment</strong>,<br />

wo Sie sagen möchten: »Augenblick, verweile<br />

doch, du bist so schön«? Wie oft pro Monat? Wie<br />

oft pro Jahr? Und genügt Ihnen das?<br />

Glauben Sie an ein Zufalls-Universum?<br />

192


Falls Sie an ein Zufalls-Universum glauben, wer<br />

ist dann für Ihr Leben verantwortlich?<br />

Es ist immer wieder interessant festzustellen,<br />

daß Menschen, die an ein Zufalls-Universum<br />

glauben, voller Groll sind. Ich frage mich immer,<br />

gegen wen sich dieser Groll wohl richten mag.<br />

Gegen den Zufall? Dem ist es sicher egal. Der<br />

schlägt einfach zu, eben zufällig. Gegen Gott, an<br />

den die Zufallsgläubigen gar nicht glauben?<br />

Für mich hat sich sehr vieles vereinfacht, seit<br />

ich weiß, daß wir nicht in einem Zufalls-Universum<br />

leben. Denn wäre das so, dann wäre unser<br />

Planet längst von seiner Bahn abgekommen und<br />

in einen anderen Stern gerast. Von daher weiß<br />

193


ich heute, daß jeder für sein Leben selbst verantwortlich<br />

ist.<br />

Haben Sie eigentlich einen Lebenstraum? Oder<br />

hatten Sie früher mal einen? Wollten Sie einmal<br />

Hubschrauber-Pilot in Alaska werden? Oder<br />

Schafhirt in Neuseeland? Oder Malerin in der<br />

Toskana? Wenn Sie sich ein Traumleben zusammenschustern<br />

dürften, wie würde es aussehen?<br />

194


Welches sind die Gründe, warum Sie dieses<br />

Traumleben heute nicht leben?<br />

195


Was könnten Sie heute tun, um in sieben Jahren<br />

dieses Traumleben zu leben?<br />

196


14<br />

Sonja schloß die Tür zu ihrem kleinen Schmuckgeschäft<br />

auf. Es war morgens um acht, und sie<br />

war wie immer die erste im Village. Sonja war<br />

um die vierzig, eine sehr attraktive, gepflegte<br />

Frau mit reifen Gesichtszügen und hellbraunem,<br />

gewelltem Haar, das sie etwas mehr als schulterlang<br />

trug. Sie gehörte zu jener Sorte Frauen,<br />

die ewig jung bleiben, aber dennoch nicht gerne<br />

in den Spiegel schauen aus lauter Furcht, auf<br />

ihrer makellosen Haut könnte sich eines Tages<br />

eine Falte bilden.<br />

Das Laguna Village war ein kleines, malerisches<br />

Ladendörfchen mitten in Laguna Beach, einem<br />

Städtchen südlich von Los Angeles, dem man<br />

nachsagte, daß es das Künstler- und Schwulen-<br />

Zentrum der Westküste sei. Vielleicht war es<br />

Letzteres, was Sonja vor drei Jahren dazu bewogen<br />

hatte, sich in Laguna Beach niederzulassen.<br />

Von Männern hatte sie damals die Nase<br />

ziemlich voll, und von Homosexuellen hatte sie<br />

schließlich nichts zu befürchten.<br />

197


Sonja war verliebt ins Village. Zu dieser frühen<br />

Tageszeit hatte es etwas geradezu Magisches an<br />

sich. Von der Terrasse des kleinen Restaurants<br />

aus, 30 Meter über dem blauen Pazifik, konnte<br />

sie die unentwegten Surfer beobachten, die sich<br />

geduldig in den kalten Fluten tummelten und<br />

die nächste große Welle abwarteten.<br />

Da das Restaurant wie immer um diese Zeit noch<br />

geschlossen war, klopfte Sonja beim Lieferanten-<br />

Eingang an. Die Türe öffnete sich und heraus<br />

trat ein kräftig gebauter, braungebrannter Mann<br />

in den Dreißigern.<br />

»Sonjaaaaa…«, rief er mit etwas tuntiger Stimme<br />

aus und unterstrich sein ohnehin schon offensichtliches<br />

Schauspiel noch mit aufgesetzt<br />

schwänzelnder Gestik.<br />

»Komm, hör auf, Andy«, sagte Sonja lachend. »Du<br />

kommst wohl nie darüber hinweg, daß ich dir<br />

einmal gesagt habe, ich fände schwule Männer<br />

gebildeter und interessanter, was?«<br />

»Nein, Sonja«, sagte Andy jetzt mit etwas übertrieben<br />

männlicher Stimme, »du hast mir das<br />

198


größte Dilemma meines Lebens bereitet.«<br />

Er ließ rasch zwei Tassen starken Kaffee aus der<br />

Espresso-Maschine und trug sie auf die Terrasse,<br />

wohin ihm Sonja leichten Schrittes folgte.<br />

»Schau, wenn ich dir gefallen will,« fuhr er fort,<br />

»muß ich schwul werden. Wenn ich aber schwul<br />

wäre, dann hätte ich kein Interesse mehr an dir.<br />

Was soll ich bloß tun?« Andy legte, wiederum mit<br />

übertriebener Theatralik, seinen braunen Lokkenkopf<br />

an Sonjas Brust.<br />

Sonja mochte diesen Mann sehr. Man hätte ihn<br />

als typisches Opfer des amerikanischen Traumes<br />

bezeichnen können. Andy, der mit vollem Namen<br />

Andreas hieß, war vor zehn Jahren aus dem<br />

österreichischen Tirol nach Kalifornien gekommen<br />

mit der festen Absicht, Schauspieler zu<br />

werden und Hollywood zu erobern. Nach den<br />

ersten Absagen mut- und vor allem geldlos geworden,<br />

fing er an, sich als Kellner zu betätigen.<br />

So schlug er sich mehr schlecht als recht durchs<br />

Leben, bekam zwischendurch mit viel Glück eine<br />

kleine Statistenrolle oder einen Nebenpart in ei-<br />

199


nem Werbespot, bis er eines Tages die bittere<br />

Tatsache anerkannte, daß aus ihm eben nicht<br />

ein Schauspieler, sondern ein Kellner geworden<br />

war. Da beschloß er, daß er das, was er tat, wenigstens<br />

perfekt tun wollte, und er setzte sich<br />

zum Ziel, der beste Kellner Hollywoods zu werden.<br />

Von diesem Tag an verdiente er so viel Trinkgeld,<br />

daß er innerhalb weniger Wochen zu einer<br />

Art Hollywood-Legende wurde und nach zwei<br />

Jahren sein erstes, eigenes Restaurant eröffnen<br />

konnte.<br />

»Sonja, warum gibst du mir keine Chance«, flehte<br />

Andy, der seinen Kopf noch immer an Sonjas<br />

Busen gelehnt hatte.<br />

»Ich bin verheiratet, hast du das vergessen?«<br />

Sonja streichelte liebevoll wie eine ältere Schwester<br />

über Andys Ohr.<br />

»Verheiratet!« kreischte Andy hysterisch. »Das<br />

darf doch nicht wahr sein. Dein Mann lebt seit<br />

drei Jahren in Deutschland, und du bist hier. Du<br />

lebst ja wie im Kloster. Sonja, glaube mir, wenn<br />

man diese Dinge nicht benutzt, vertrocknen sie!«<br />

200


Andy spielte wieder einmal auf den Sex an, den<br />

die Frauen seiner Meinung nach einfach brauchten,<br />

um überhaupt vernünftig existieren zu können.<br />

»Mach’ dir keine Sorgen, Andy, ich schaue regelmäßig<br />

nach dem rechten. Hast du übrigens von<br />

dieser Sex-Umfrage gehört, du kleiner Macho,<br />

wonach achtzig Prozent aller Frauen das Herumfummeln<br />

dem eigentlichen Geschlechtsakt<br />

vorziehen? Das wird ein schöner Schock werden<br />

für die amerikanische Männerwelt!«<br />

»Du meinst, die wollen meinen Dingsda gar nicht<br />

zu Gesicht bekommen?« sagte Andy, und die Bestürztheit<br />

klang diesmal ziemlich echt. »Aber<br />

dabei ist das doch so ein Prachtsexemplar!«<br />

»Sehen schon«, beruhigte Sonja ihn, »und auch<br />

berühren. Ach was, du weißt schon, was ich meine.«<br />

»Nein, erzähl mir mehr davon, du törnst mich<br />

mächtig an«, bettelte Andy, und Sonja wurde sich<br />

plötzlich bewußt, daß sie diesem frivolen Spielchen<br />

ein Ende setzen sollte.<br />

201


»Nun mal ehrlich«, sagte sie mit ernsthafter<br />

Stimme, »kann ich etwas mit dir besprechen?«<br />

Andy schlürfte ein wenig am heißen Kaffee.<br />

»Jajaaaa…«, gab er sich geschlagen, »ich weiß,<br />

ich bin der Mann zum Diskutieren und nicht der<br />

fürs Bett. Schieß los!«<br />

»Gestern abend rief mich ein Mann an. Er befinde<br />

sich am Flughafen in Los Angeles, sein Name<br />

sei Anton Kaspach, und er sei Gregors Vater.«<br />

»Aber du hast doch gesagt, der sei seit Ewigkeiten<br />

tot!« erwiderte Andy erstaunt.<br />

»Ist er auch. Als Gregor fünf war, ist er gestorben,<br />

irgendwo in der Karibik, ich weiß nicht<br />

mehr, wo genau.«<br />

»Na also, das ist doch wieder so ein Psychopath,<br />

wie es sie hier zu Tausenden gibt«, meinte Andy<br />

beschwichtigend.<br />

»Da bin ich mir eben nicht so sicher«, fuhr Sonja<br />

weiter. »Er hat mich gebeten, zum Flughafen zu<br />

kommen, er müßte mir dringend etwas sagen.<br />

Es gehe um Gregors Leben.«<br />

Andy fuhr hoch. »Du bist doch hoffentlich nicht<br />

202


hingefahren, ohne mich zu benachrichtigen?« rief<br />

er entsetzt.<br />

»Doch«, sagte Sonja, »er hat mir versprochen, daß<br />

es nicht länger als eine Stunde dauern würde.<br />

Seine Maschine nach Alaska würde um zehn Uhr<br />

starten.«<br />

»Und?« drängte Andy neugierig und etwas besorgt.<br />

»Ich weiß nicht, ich bin völlig verwirrt». Sonja<br />

rieb sich ihre Augen, wie immer, wenn sie intensiv<br />

nachdenken mußte. »Der Mann war sehr nett<br />

und sah sehr rüstig aus. Wenn er Gregors Vater<br />

wäre, dann hätte er sich sehr gut gehalten. Er<br />

bestand darauf, daß er 84 Jahre alt sei.«<br />

»Hat er dir seinen Paß gezeigt?« wollte Andy<br />

wissen.<br />

»Ja«, sagte Sonja, »und da steht auch, daß er 1909<br />

geboren ist, aber sein Name ist ›Anton Miller‹.«<br />

»Na, siehst du« sagte Andy und lehnte sich in<br />

seinem Stuhl zurück.<br />

»Ich weiß nicht. Die Amerikaner hätten ihm diesen<br />

neuen Namen beschafft, behauptete er, und<br />

203


er erzählte mir total wirres Zeug, daß Gregor in<br />

Gefahr sei, daß die Neonazis hinter einem bestimmten<br />

Gerät her seien und daß ich Gregor<br />

doch überreden solle, ihm wenigstens einmal<br />

zuzuhören.«<br />

»Neonazis, oh shit!« rief Andy aus, der nun ahnte,<br />

daß es sich hier eventuell um mehr als nur<br />

einen kleinen Scherz handelte.<br />

»Was mir Angst macht, ist die Tatsache, daß<br />

Gregors Vater scheint’s auch ein Nazi gewesen<br />

sein soll.«<br />

»Hast du ihn damit konfrontiert?«<br />

»Ja.«<br />

»Und? Was hat er geantwortet?« wollte Andy<br />

wissen.<br />

»Er sagte nur, daß ich es ihm ja wahrscheinlich<br />

nicht glauben würde, wenn er behauptete, er sei<br />

das Gegenteil von einem Nazi. Ich sagte, nein,<br />

das würde ich ihm nicht abkaufen, worauf er<br />

meinte, das sei völlig in Ordnung, seine Aufgabe<br />

bestünde jetzt nur noch darin, Gregor zu retten.«<br />

Sonja nahm einen Schluck Kaffee und zog ihre<br />

204


Sonnenbrille an, um ihre empfindlichen Augen<br />

gegen die stärker werdende Morgensonne zu<br />

schützen.<br />

»Und weiter«, sagte Andy fordernd. »Wie seid ihr<br />

verblieben?«<br />

»Er hat gesagt, er ruft mich wieder an. Ehrlich<br />

Andy, ich weiß nicht, was ich von der ganzen<br />

Sache halten soll.«<br />

Andy nahm Sonja liebevoll in die Arme und wurde<br />

sich auf einmal bewußt, wie vertraulich er<br />

doch mit dieser Frau umging. Was war es für<br />

ein Jammer, daß er mit ihr nicht endlich intim<br />

werden durfte, um die hunderttausend weiteren<br />

Facetten ihres faszinierenden Wesens erforschen<br />

und ergründen zu können.<br />

»Weißt du, Andy«, sagte Sonja mit ein wenig Hilflosigkeit<br />

in der Stimme, die man von ihr gar nicht<br />

gewohnt war, »das ist so ein seltsames Gefühl,<br />

wenn du plötzlich so einen Typen vor dir hast,<br />

der angeblich Hunderte von Menschen vergast<br />

haben soll.«<br />

»Ja, ich habe mich auch schon oft gefragt«, sin-<br />

205


nierte Andy vor sich hin, »wie Gott so etwas überhaupt<br />

zulassen konnte.«<br />

»So etwas Ähnliches habe ich zum Miller auch<br />

gesagt«, gab Sonja zur Antwort, »weißt du, was<br />

er geantwortet hat?«<br />

»Wahrscheinlich, daß das ganze Dritte Reich von<br />

Gott geplant gewesen sei!« meinte Andy zynisch.<br />

»Nein, er sagte, Gott hätte noch ganz andere Dinge<br />

zugelassen. Man müsse sich nur einmal überlegen,<br />

was die alten Römer und die Juden sich<br />

für Hinrichtungsmethoden ausgedacht hätten.<br />

Steinigen und Kreuzigen, etwas Schlimmeres<br />

gebe es doch nicht!«<br />

»Das stimmt allerdings,« warf Andy ein, »ich habe<br />

kürzlich einen Roman aus dieser Zeit gelesen.<br />

Die haben es doch tatsächlich fertiggebracht,<br />

einen Menschen so lange mit Steinen zu bewerfen,<br />

bis er zusammenbrach und langsam verreckte.<br />

Stell dir diese qualvollen Minuten vor. Und<br />

das Verrückte war, die hatten erst noch Spaß<br />

dabei, die verlachten und verspotteten den armen<br />

Kerl, während sie ihn zu Tode steinigten.«<br />

206


»Was waren das nur für Menschen!« sagte Sonja<br />

kopfschüttelnd.<br />

»Oder stell dir mal vor, was es bedeutete, wenn<br />

einer gekreuzigt wurde!« fuhr Andy weiter, und<br />

offenbar fand er Gefallen an der Tatsache, daß<br />

Sonja zusehends bleicher wurde. »Zuerst wirst<br />

du mit den Oberarmen an den Querbalken gebunden,<br />

dann jagt dir der Henker je einen Nagel<br />

durch beide Handgelenke, und dann schneidet<br />

man die Seile an deinen Oberarmen entzwei,<br />

so daß der ganze Körper absackt und dir dein<br />

Schlüsselbein bricht.«<br />

»Aahhh, hör’ auf, das ist ja furchtbar«, stöhnte<br />

Sonja und wandte sich angewidert ab.<br />

»Und dann«, fuhr Andy unbeirrt fort, »dann lassen<br />

sie dich so eine Woche lang hängen. So lange<br />

dauert es, bis dein Körper entweder ausgetrocknet<br />

oder aufgrund einer Brustfellentzündung<br />

vergiftet ist. Stell dir vor, Sonja, eine Woche,<br />

Tag und Nacht, mit solchen Schmerzen und<br />

bei vollem Bewußtsein. Und wenn sie es gut mit<br />

dir meinen, dann brechen sie dir nach einer Weile<br />

207


die Schienbeine mit einem großen Holzstecken,<br />

damit du nur noch an deinen genagelten Handgelenken<br />

hängst und die gebrochenen Schlüsselbeine<br />

dir die Luft abstellen, so daß der Tod gnädigerweise<br />

früher eintritt.«<br />

»Hör’ endlich auf«, schrie Sonja, »ich kann es<br />

nicht mehr hören!«<br />

»Tja«, erwiderte Andy schnippisch, »warum hast<br />

du nicht meine Einladung angenommen und bist<br />

mit mir ins Bett gegangen. Das wäre ein würdigerer<br />

Tagesanfang gewesen. Jetzt mußt du eben<br />

ein wenig leiden. Aber um das Thema zu beenden:<br />

Da hat dieser Miller vielleicht nicht unrecht,<br />

obwohl es bei ihm natürlich plumpe Rechtfertigungsversuche<br />

sind. Aber gegen diese früheren<br />

Hinrichtungsformen oder auch gegen jene<br />

im Mittelalter war das Vergasen im Dritten Reich<br />

ja geradezu human.«<br />

»Wie kannst du nur so etwas sagen!« rief Sonja<br />

und spielte die Entsetzte.<br />

»Beruhige dich«, sagte Andy, »ich will ja nichts<br />

beschönigen. Und ich würde eine Massenvernich-<br />

208


tung niemals gutheißen, so gut kennst du mich<br />

doch. Ich versuche nur, die Geschichte irgendwie<br />

in mein Weltbild zu passen. Das ist doch das<br />

größte Problem! Wir schauen uns Filme aus Hitlers<br />

Horrorreich an, fühlen uns anschließend eine<br />

Woche lang deprimiert und schwören uns, daß<br />

das nie wieder vorkommen soll. Und was geschieht?<br />

Überall in Deutschland, in Österreich<br />

und in der Schweiz und selbst hier in Amerika<br />

kommen mehr und mehr Neonazi-Gruppierungen<br />

auf. Wir scheinen das Gegenteil von dem zu<br />

erreichen, was wir eigentlich wollten.«<br />

»Ja, aber das sind doch Minderheiten, diese Neonazis«,<br />

versuchte Sonja zu beschwichtigen.<br />

»Mag sein. Aber Hitlers Anhänger waren am<br />

Anfang auch in der Minderheit!« gab Andy zurück.<br />

»Nein, ich fürchte, daß wir diese Lektion<br />

nochmals durchmachen müssen, bis wir ihren<br />

Inhalt begreifen.«<br />

»Du meinst, nochmals ein Nazi-Regime?« fragte<br />

Sonja und schaute Andy in die Augen, um herauszufinden,<br />

ob er einen Witz machte. Aber es<br />

209


schien ihm ernst zu sein.<br />

»In dem Buch, das ich gerade lese, vertritt der<br />

Autor diese Meinung, ja.«<br />

»Und was sollte das für eine Lektion sein, die<br />

wir nicht begriffen haben?« wollte Sonja wissen.<br />

»Nun, er meint, die Juden seien diejenigen gewesen,<br />

die den Teufel erfunden hätten, also hätten<br />

sie sich am allerwenigsten darüber wundern<br />

müssen, daß er leibhaftig in Form eines Adolf<br />

Hitler auf die Erde gekommen sei.«<br />

»Wie soll man das verstehen«, fragte Sonja verwundert,<br />

»daß die Juden den Teufel erfunden<br />

hätten? Das stimmt doch gar nicht!«<br />

»Na ja, die Griechen und die Römer hatten doch<br />

mehrere Götter; die meisten trugen mehr oder<br />

weniger menschliche Züge, waren mehr oder weniger<br />

vertrottelt. Die Juden hingegen hätten laut<br />

diesem Buch zwei totale Obertrottel erfunden.<br />

Der erste sei ein alter Knacker von einem Gott,<br />

der ihnen über 600 Regeln auferlegte, was sie<br />

tun durften und was nicht. Hast du gewußt, daß<br />

der Talmud über 600 Gebote enthält?«<br />

210


»Nein«, gab Sonja zu, »aber ich denke immer,<br />

wenn es einen Gott gibt, dann ist er mindestens<br />

so clever wie wir, und dann hat er sicher anderes<br />

zu tun als darüber zu wachen, ob die Menschen<br />

am Sabbat arbeiten oder nicht.«<br />

»Das steht in diesem Buch eben auch. Und der<br />

zweite Obertrottel, das sei der Teufel oder der<br />

Satan, wie ihn die sogenannten Christen gerne<br />

nennen, der früher einmal ein Engel gewesen sei.<br />

Ich frage dich, wie kann das denn gehen? Wenn<br />

Gott allmächtig ist, dann kann doch kein Engel<br />

gegen seinen Willen ausflippen? Und wenn er<br />

ein so lieber Gott ist, wie Juden und Christen<br />

gemeinsam beteuern, dann würde er selbst einem<br />

gefallenen Engel verzeihen!«<br />

»Deshalb mochte ich nie gern in die Sonntagsschule<br />

gehen«, versuchte Sonja zu scherzen. »Ich<br />

wußte doch, daß da irgend etwas nicht stimmen<br />

kann! Aber es sind ja nicht nur die Juden, die an<br />

einen herrsch- und rachsüchtigen Gott glauben;<br />

das ganze Christentum beruht doch auf dieser<br />

verwirrenden Mischung zwischen einem strafen-<br />

211


den und einem liebenden Gott.«<br />

»In dem Buch steht, daß alles, was in diesem<br />

Universum geschehe, von Nutzen sei, selbst ein<br />

Hitler, ein Mussolini und ein Hussein erfüllten<br />

hier ihre Aufgabe.«<br />

»Nimmt mich nur wunder, was das für eine Aufgabe<br />

sein soll«, warf Sonja ein.<br />

»Nun, der Autor sagt, für einen gläubigen Juden<br />

bedeute es etwas Großartiges, für seinen Glauben<br />

sterben zu dürfen. Und da er ja ans Paradies<br />

glaube, habe er auch nichts zu befürchten.«<br />

»Das Buch heißt nicht zufälligerweise ›Mein<br />

Kampf‹?« warf Sonja kopfschüttelnd ein. »So etwas<br />

kann doch nur ein Nazi gesagt haben!«<br />

»Nein, überleg’ doch mal, irgendwie hat er schon<br />

recht. Dieser ganze Glaube, auch der christliche,<br />

ist doch eine einzige verdammte Heuchelei!<br />

Schau, ich hatte einmal den größten Krach mit<br />

meiner Mutter, als ich unbedacht den Satz äußerte,<br />

ich würde bei ihrem Begräbnis sicher nicht<br />

zugegen sein.«<br />

»Hoppla, so feinfühlig kannst Du sein?« Sonja<br />

212


lickte ihn halb verwundert und halb belustigt<br />

an. Sie konnte sich etwa vorstellen, wie Andys<br />

Mutter darauf reagiert hatte.<br />

»Meine Mutter sagt die ganze Zeit, sie glaube<br />

daran, daß sie einmal in den Himmel komme.<br />

Also sagte ich zu ihr ›Mutti, dann kann es dir<br />

doch auch egal sein, wer an deiner Beerdigung<br />

anwesend ist und wer nicht‹! Dann wollte sie<br />

plötzlich nicht mehr darüber reden. Ich bitte<br />

dich, das ist doch zum Verrücktwerden! Oder<br />

schau einmal, wie viele Pfarrer bei einem Begräbnis<br />

eine Leidensmiene aufsetzen. Dabei<br />

müßte man sich doch für den Verstorbenen freuen.<br />

›Achtzig Jahre lang auf der Startbahn, und<br />

endlich hat er abgehoben‹ müßte man ausrufen.<br />

Aber nichts dergleichen. ›Mein herzliches Beileid‹<br />

heißt es«, Andy äffte einen heuchelnden<br />

Trauernden nach. »›Der arme Verstorbene‹ und<br />

solcher Käse, als ob der wirklich arm wäre.«<br />

»Menschenskind, an dir ist ein Prediger verloren<br />

gegangen«, sagte Sonja und mimte die Bewundernde.<br />

»Paß’ aber trotzdem auf, wem du<br />

213


diese Dinge erzählst. Nicht jeder begreift das so<br />

gut wie ich.«<br />

»Es sind ja auch nicht meine Gedanken«, gab<br />

Andy schnippisch zurück. »Übrigens sollten wir<br />

uns gar nicht so anstellen. Das Kreuzigen und<br />

Steinigen beherrschen wir heute noch genauso<br />

gut! Denke nur, was zur Zeit mit Michael Jackson<br />

passiert«, gab Andy zu bedenken, »hat man ihn<br />

nicht fast zum Messias erkoren. Der König des<br />

Pop, hieß es. Ich bitte dich, so ein schmächtiges<br />

Bübchen, das sich hinter seinen Schmachtlocken<br />

verstecken muß, um nicht vor Angst umzufallen!<br />

Aber wenn der Stein mal ins Rollen kommt,<br />

dann kann man ihn nicht mehr aufhalten. Die<br />

Menschen haben seit jeher die Lösungen für ihre<br />

Probleme außen gesucht, anstatt innen. Immer<br />

muß da ein Erlöser, ein Guru, ein Messias kommen,<br />

der ihnen alles abnimmt. Und wenn der<br />

dann nicht so ist, wie sie ihn sich vorgestellt<br />

haben, dann muß sein Kopf rollen und dann geht<br />

man zum nächsten, der in Frage kommt. Es<br />

braucht, wie bei Michael Jackson, nur ein geld-<br />

214


gieriger Kerl daherzukommen und irgend ein<br />

Gerücht in die Welt zu setzen, und dann beginnt<br />

die psychologische Steinigung, die wahrscheinlich<br />

hundertmal schlimmer ist als die körperliche.<br />

Dabei kann man den Journalisten nicht einmal<br />

einen Vorwurf machen. Denn wenn sie diese<br />

Gerüchte-Fürze nicht ebenfalls aufgreifen,<br />

wird ihr Käseblatt am nächsten Tag von keiner<br />

Menschenseele mehr gekauft.«<br />

»Was schlägt denn dieses Buch vor, was man tun<br />

soll?« fragte Sonja ratlos.<br />

»Nichts. Der Autor wollte damit nur ausdrücken,<br />

daß Hitler eben der fleischgewordene Satan gewesen<br />

sei, den wir selbst uns geschaffen hätten<br />

und der uns Menschen habe zeigen sollen, daß<br />

die Hölle nicht irgendwo außen oder ganz weit<br />

unten sei, sondern auf diesem Planeten oder besser<br />

in uns drin.«<br />

»Dann müßten wir Hitler sogar dankbar sein?«<br />

sagte Sonja.<br />

»Wenn wir die Bibel ernstnehmen und wirklich<br />

unsere Feinde lieben wollen, dann ja. Was denn<br />

215


sonst?« Andy schien das Provozierende an dieser<br />

Aussage in vollen Zügen zu genießen. »Aber<br />

das Schöne daran«, fuhr er fort, »ist doch die<br />

Tatsache, daß nicht nur die Hölle, sondern auch<br />

der Himmel hier auf der Erde ist. Schau’ dich<br />

einmal um, in was für einem Paradies wir beide<br />

leben!« Andy zeigte auf die tiefroten Bougainvilleen,<br />

die die halbe Terrasse mit ihrer Blütenpracht<br />

überwucherten. »A propos Paradies, wäre<br />

es nicht paradiesisch, liebe Sonja, wenn wir endlich<br />

heiraten würden?«<br />

»Du bist doch ein unmöglicher Kerl«, lachte Sonja<br />

und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf<br />

seine frischrasierte Wange. »Aber ich weiß jetzt<br />

noch immer nicht, was ich tun soll. Heute abend<br />

kommt Gregor nach Los Angeles, um unsere<br />

Scheidung zu besprechen.«<br />

Andy, der das Wort »Scheidung« mit Genugtuung<br />

zur Kenntnis genommen hatte, räumte die<br />

Kaffeetassen zusammen und stand auf, da sich<br />

die ersten Frühstücksgäste auf der Terrasse eingefunden<br />

hatten. »Warum erzählst du ihm nicht<br />

216


einfach alles?« sagte er. »Schließlich hat er dir<br />

das eingebrockt.«<br />

217


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Der Anfang dieses Kapitels hätte in einem Silvia-Roman<br />

stehen können, finden Sie nicht auch?<br />

Vielleicht sollte ich mich einmal beim Bastei-<br />

Verlag als Ghostwriter melden…<br />

Übrigens… wenn Sie dieses Kapitel sehr provozierend<br />

fanden, dann muß ich Ihnen gestehen:<br />

Ich auch! Ich entschuldige mich offiziell für das,<br />

was die beiden da von sich gegeben haben. Es<br />

entspricht nicht unbedingt der Meinung von<br />

Verlag und Autor. Allerdings, Nachdenken ist<br />

erlaubt!<br />

»Da beschloß er, daß er das, was er tat, wenigstens<br />

perfekt tun wollte, und er setzte sich zum<br />

Ziel, der beste Kellner Hollywoods zu werden.«<br />

Wie ist es mit Ihnen? Haben Sie sich auch einmal<br />

zum Ziel gesetzt, der Beste Ihrer Branche<br />

zu werden? Und wenn nein, warum eigentlich<br />

nicht? Warum geben Sie sich freiwillig mit dem<br />

Mittelmaß zufrieden? Und warum sind Sie dann<br />

218


enttäuscht, daß Ihr Leben mittelmäßig verläuft?<br />

Ich garantiere es Ihnen: Jeder Mensch wird wohlhabend,<br />

sofern er beschließt, auf seinem Gebiet<br />

absolute Spitzenleistungen zu vollbringen. Das<br />

funktioniert auch bei »geringeren« Arbeiten. Man<br />

kann auch die beste Putzfrau, der beste Straßenwischer<br />

und der beste Tellerwäscher werden.<br />

Solche Menschen bleiben nicht lange unten.<br />

Es gibt einen schönen Spruch, den wir auf unsere<br />

Firmen-T-Shirts gedruckt haben: »Erfolg ist<br />

reine Glückssache… das wird dir jeder Versager<br />

bestätigen!«<br />

Ja, schon gut! Meine Predigt ist zu Ende. Sie<br />

dürfen weiterlesen…<br />

219


220


15<br />

Was war das bloß für ein gleißendes Licht? Gregor<br />

hielt schützend seine rechte Hand vor die<br />

Augen. Wo er hinsah, nichts als Licht. Und eine<br />

eigenartige Musik war zu hören. Gregor konnte<br />

nicht ausmachen, woher sie kam. Sie lag irgendwie<br />

in der Luft, oder vielmehr, sie war einfach<br />

da, durchdrang sein ganzes Wesen. Es war eine<br />

Musik, die er noch nie gehört hatte, und dennoch<br />

war sie ihm völlig vertraut.<br />

Gregor blickte nach unten und stellte fest, daß<br />

er schwebte. Aber es erstaunte ihn gar nicht. Er<br />

nahm diese Tatsache zur Kenntnis, als ob das<br />

schon immer so gewesen wäre. Unter sich sah<br />

er einen völlig zerstörten Hubschrauber in einer<br />

verschneiten Landschaft.<br />

Richtig, dämmerte es ihm, ich bin ja abgestürzt.<br />

Gregor war ganz erstaunt, wie gelassen er blieb.<br />

Er beobachtete die Szene wie ein Arzt, der bei<br />

einem seiner Patienten eine unheilbare Krankheit<br />

diagnostiziert, halb anteilnehmend, da es<br />

ja sein Patient ist, und halb froh, nicht selbst<br />

221


davon betroffen zu sein.<br />

Er sah sich das Wrack nochmals genauer an.<br />

Nahe der Unfallstelle konnte er einen halbgeknickten<br />

Hochspannungsmast erkennen, dessen<br />

Kabel nur etwa zwei Meter über dem zerstörten<br />

Hubschrauber baumelten. Da waren zwei Menschen<br />

im Cockpit, die er nicht sehen konnte.<br />

Dennoch hatte er die glasklare Gewißheit, daß<br />

sie sich dort befanden. Einer der beiden war er<br />

selbst. Sein Körper lag völlig in sich eingesunken<br />

im Hohlsockel, auf dem vorher der Sitz befestigt<br />

gewesen war. Gregor mußte sogar ein wenig<br />

schmunzeln. Es sah aus, als ob er auf einem<br />

Klo säße und von einer unsichtbaren Hand in<br />

den Abfluß gezogen würde. Beide Körper lagen<br />

regungslos da. Jeff blutete aus beiden Ohren.<br />

Wahrscheinlich Genickbruch, dachte Gregor, erstaunt<br />

über seine Sachlichkeit. Es war ihm, als<br />

hörte er Jeffs letzte Gedanken: »Wenn ich das<br />

gewußt hätte, was ich jetzt weiß…« und »danke,<br />

Gregor, für deine Zeit.«<br />

Das war’s dann also gewesen, dachte er kopf-<br />

222


schüttelnd. Alle Sorgen, alle Schuldgefühle, alle<br />

Enttäuschungen, alle Phasen der Hoffnungslosigkeit,<br />

der Verzweiflung, der Depression, lagen<br />

da unten in diesem Häufchen aus Haut und<br />

Knochen. Er dachte das, ohne daß sich irgend<br />

eine Gefühlsregung eingestellt hätte. Eigentlich<br />

hatte er gar kein Gefühl, auch kein schlechtes.<br />

Das einzige, was ihm immer wieder einfiel, war<br />

der Satz: »Und siehe, es war alles gut.«<br />

Es kam ihm vor wie damals, als er aus diesem<br />

Alptraum aufgewacht war. Was ihm wie ein<br />

wochenlanger, vergeblicher Kampf gegen sämtliche<br />

Ungeheuer der Welt vorgekommen war,<br />

entpuppte sich nach dem Aufwachen als ein<br />

Nichts, ein »Furz der Natur«, wie er sich einmal<br />

ausgedrückt hatte, »der nach Auskunft der<br />

Traumforscher höchstens drei Sekunden dauert.«<br />

Vor ein paar Minuten war all dies noch seine<br />

Realität gewesen: Seine Frau Sonja, seine Freundin<br />

Becky, sein Chef Erwin Schüßler, der komische<br />

Kauz namens Franz im Flugzeug nach<br />

Anchorage, und der Fremde, der steif und fest<br />

223


ehauptete, sein leiblicher Vater zu sein.<br />

Jetzt war er einfach aus dieser Wirklichkeit<br />

davonspaziert, wie damals, als er, sehr zum Leidwesen<br />

seiner Frau, aus dem Kino geflüchtet war,<br />

weil ihm die Geschichte auf der Leinwand nicht<br />

gepaßt hatte.<br />

Schlagartig wurde ihm bewußt, daß ja die ganze<br />

Zeit über er selbst der Operateur seines Lebensfilms<br />

gewesen war. Er hatte darüber bestimmt,<br />

wer in sein Leben treten sollte und wer draußen<br />

bleiben mußte. Auf einmal erschien ihm alles so<br />

logisch und klar.<br />

Wie ein Schleier löste sich etwas vor seinen Augen,<br />

und er konnte sein gesamtes Leben überblicken.<br />

Es war keineswegs ein Film mit hintereinandergereihten<br />

Bildern, sondern vielmehr ein<br />

Ineinander, ein gleichzeitig stattfindendes Panoptikum,<br />

wobei Gregor jede einzelne Handlung<br />

selbst bewertete. Was ihn dabei erstaunte, war<br />

die Tatsache, daß er gewisse Dinge, für die er<br />

sich sein ganzes Leben lang Vorwürfe gemacht<br />

hatte, nun auf einmal positiv beurteilte, woge-<br />

224


gen anderes, womit er sich seinerzeit als selbstlos<br />

und großzügig gebrüstet hatte, seinem harten,<br />

aber verständnisvollen Urteil nicht standhielt.<br />

Da war zum Beispiel diese eine Episode mit einem<br />

Berufskollegen, dessen außereheliche Affäre<br />

er aus purem Neid hatte auffliegen lassen,<br />

weil dieser eine Gehaltserhöhung bekommen<br />

hatte und er nicht. Für diesen Vorfall hatte sich<br />

Gregor zwanzig Jahre lang in Grund und Boden<br />

geschämt. Jetzt erkannte er, wieviel Gutes diesem<br />

Kollegen seither widerfahren war. Er hatte<br />

eine neue Stelle gefunden, die ihm viel mehr<br />

Erfüllung brachte. Er hatte sich aus einer unbefriedigenden<br />

Ehe befreit und war mit seiner jetzigen<br />

Frau glücklicher denn je. Seine Ex-Frau<br />

hatte nach der Scheidung endlich lernen müssen,<br />

selbst Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen<br />

und führte heute ein aufregendes und<br />

selbstbestimmtes Leben. Und dies alles hatte er,<br />

Gregor, bewirkt oder zumindest beschleunigt,<br />

weil er für jemanden den Trottel gespielt hatte.<br />

225


Auf der anderen Seite war da die Episode, auf<br />

die er immer so stolz gewesen war. Als sein Patenkind<br />

Rainer zwanzig geworden war, hatte<br />

Gregor ihm einen nagelneuen Kleinwagen geschenkt.<br />

Die Überraschung war natürlich perfekt<br />

gewesen, und Gregor wurde damals als der<br />

Superstar der ganzen Geburtstagsparty gefeiert.<br />

Jetzt sah er, daß er das Ganze nur veranstaltet<br />

hatte, um sein eigenes Ego zu befriedigen. Und<br />

er verstand plötzlich, was er seinem Patenkind<br />

dadurch alles weggenommen hatte: Das süße<br />

Begehren nach dem ersten eigenen Gebrauchtwagen,<br />

den man sich nach monatelanger Schufterei<br />

endlich leisten kann… Der Stolz, selbst etwas<br />

erreicht zu haben und der Antrieb für weitere<br />

Taten, der daraus entstand… Rainer war<br />

jetzt, mit 26 Jahren, ein verwöhnter Rotzlöffel,<br />

dem man mit nichts mehr eine Freude machen<br />

konnte. Und dazu hatte Gregor zu einem großen<br />

Teil beigetragen.<br />

Rechts von ihm, leicht erhöht, konnte Gregor<br />

jetzt eine Theaterbühne wahrnehmen, auf der<br />

226


gerade die Szene aus dem Faust gespielt wurde,<br />

wo sich Mephisto zu erkennen gibt als »einen Teil<br />

von jener Kraft, die stets das Böse will und stets<br />

das Gute schafft.« Gregor fiel es wie Schuppen<br />

von den Augen. Dann wäre dieser Teufel, vor dem<br />

ihm sein Religionslehrer stets eine solche Angst<br />

eingejagt hatte, nichts weiter als ein Spielpartner<br />

Gottes, der es auf sich genommen hat, den häßlichen<br />

Gegenpart zu spielen?<br />

Das Leben auf der Erde, soweit hatte Gregor das<br />

begriffen, bestand aus lauter Polaritäten. Wer<br />

nicht weiß, was Traurigsein bedeutet, kennt auch<br />

die Fröhlichkeit nicht. Wer die Kälte nicht kennt,<br />

kann auch nicht erkennen, wenn ihm warm ist.<br />

Wer nicht weiß, was ein Tal ist, weiß auch nicht,<br />

was ein Berg ist. Offensichtlich hatte da eine<br />

höhere Macht solche Spannungsfelder geschaffen,<br />

damit die Menschen lernen und wachsen<br />

können. Aber wachsen wozu und wofür?<br />

Gregor blickte wieder nach oben. Ja, das mußte<br />

es sein. Dieses Licht mußte gleichzeitig der Ursprung<br />

und das Ziel sein für alle Freuden und<br />

227


Leiden, alles Lachen und alle Tränen, alle Hoffnung<br />

und alle Verzweiflung auf diesem verrückten<br />

Planeten.<br />

Dort wollte er hin, nur dorthin und nichts anderes.<br />

Endlich nach Hause, dachte Gregor sehnsüchtig,<br />

endlich wieder nach Hause!<br />

Er versuchte sich in Richtung des Lichts zu bewegen,<br />

was ihm irgendwie auch gelang. Das<br />

Licht wurde stärker und stärker, so daß er sich<br />

seine beiden Hände vor das Gesicht hielt und<br />

nur noch durch einen ganz feinen Spalt seiner<br />

gekreuzten Finger blickte.<br />

Auf einmal fühlte er, wie ihn vier starke Hände<br />

an seinen Schultern packten und ihn am Weitergehen<br />

hinderten. Es waren ein Mann und eine<br />

Frau, beide in mittleren Jahren, beide splitternackt<br />

und von außergewöhnlicher Schönheit.<br />

»Wer seid ihr denn?« fragte Gregor erstaunt, und<br />

er konnte es sich nicht verkneifen, einen verstohlenen<br />

Blick auf die schöne nackte Frau mit ihren<br />

geradezu unaussprechlich erotischen Formen<br />

zu werfen.<br />

228


»Wir sind deine Schutzengel«, gab der Mann zur<br />

Antwort. Gregor sah ihn ungläubig an, und dabei<br />

fiel ihm auf, wieviel Schönheit auch von diesem<br />

Mann ausging.<br />

Mann und Frau, dachte er, zwei weitere Polaritäten,<br />

die dazu gedacht gewesen wären, daß wir<br />

an ihnen wachsen.<br />

»Du mußt zurück, mein Freund«, sagte die Frau<br />

mit samtweicher Stimme, während sie Gregor<br />

mit zarten, kreisenden Bewegungen seinen kräftigen,<br />

männlichen Brustkorb massierte.<br />

Gregor erschauderte. Woher wußte diese Frau,<br />

wo er am liebsten gestreichelt werden wollte?<br />

»Ich kenne dich Gregor, das ist der Grund, ich<br />

war schon immer bei dir.«<br />

Die Frau schien seine Gedanken lesen zu können.<br />

»Wer bist du? Wie heißt du?« stammelte Gregor<br />

zwischen zwei Wollust-Schauern.<br />

»Name ist Schall und Rauch«, lachte die Frau,<br />

»diesen Satz habe ich schon einmal einem eurer<br />

Dichter in den Mund gelegt. Ihr scheint ihn noch<br />

229


immer nicht begriffen zu haben. Ich bin… je<br />

suis… Jesus… verstehst du?«<br />

»Du bist Jesus?« fragte Gregor verwirrt, »Jesus<br />

soll eine Frau sein?«<br />

Der Mann zu Gregors Linken konnte sich kaum<br />

halten vor Lachen. »Ach, du Unwissender«, stieß<br />

er glucksend hervor, »du bist wirklich noch nicht<br />

so weit. Entschuldige, wir mußten dich einfach<br />

mal holen, um dir ein paar Dinge klarzumachen.<br />

Aber jetzt sollten wir langsam zurück, sonst<br />

klappt das plötzlich nicht mehr.«<br />

Gregor wollte aufbegehren. Er wollte nicht zurück.<br />

Er wollte nach Hause, zum Licht. Doch die<br />

beiden Nackten deuteten wortlos nach unten auf<br />

das verschneite Feld, auf dem noch immer der<br />

zerstörte Hubschrauber lag. Gregor beobachtete,<br />

wie der halbgeknickte Hochspannungsmast<br />

jetzt mit lautem Geächze zu Boden fiel, und wie<br />

eines der herunterhängenden Kabel den linken<br />

Arm seines leblosen Körpers kurz berührte, der<br />

aus der aufgesprungenen Cockpit-Tür hervorschaute.<br />

Dann hörte er ein kurzes, heftig zischen-<br />

230


des Geräusch, und im nächsten Augenblick zog<br />

ihn eine unsichtbare Kraft ruckartig nach unten.<br />

Gregor brauchte etliche Minuten, bis er sich bewegen<br />

konnte. Sein Herz pochte wie ein Dampfhammer,<br />

und kalter Schweiß lief ihm, kleine<br />

Bächlein formend, an seinem zitternden Körper<br />

hinunter. Er saß hilflos eingepfercht im zusammengestürzten<br />

Sitz und konnte sich nicht von<br />

der Stelle rühren.<br />

Immer noch heftig keuchend sah er sich um.<br />

Neben ihm lag Jeff, reglos und aus beiden Ohren<br />

blutend. Es war also kein Traum gewesen.<br />

Er war tatsächlich abgestürzt. Aber was sollte<br />

das mit diesen beiden Nackten und diesem unglaublichen<br />

Licht? Du warst im Delirium, das<br />

ist normal, schien eine Stimme in Gregor drin<br />

zu sagen. Und Gregor war froh darüber, denn<br />

jetzt konnte er ein wenig kühlen Verstand dringend<br />

brauchen. Doch das Hochspannungskabel,<br />

das immer noch knisternd einen Meter vom<br />

231


Hubschrauber entfernt lag, machte ihn wieder<br />

zweifeln.<br />

Wenn das wahr wäre, dachte Gregor, daß wir<br />

nach dem Tod einfach in eine andere Dimension<br />

übergehen, warum machen wir dann immer ein<br />

solches Geschrei um alles, was mit dem Sterben<br />

zu tun hat?<br />

Ein heftiger Windstoß riß Gregor aus seinen<br />

Gedanken. Jetzt erst fiel ihm auf, daß die Sonne<br />

bereits untergegangen war. Die Nacht brach mit<br />

eisiger Kälte herein, und er mußte sich beeilen,<br />

wenn er nicht jämmerlich erfrieren wollte.<br />

Vorsichtig begann er, seinen Oberkörper im<br />

eingestürzten Sitz hin und her zu wippen. Jede<br />

Bewegung fühlte sich an, als ob ihm jemand einen<br />

Dolch mitten durch die Brust stoßen würde.<br />

Rippenbruch, dachte Gregor, wenn das das einzige<br />

ist, was ich von diesem Sturz abbekommen<br />

habe, dann glaube ich an Wunder. Jetzt hatte<br />

sich sein Oberkörper so weit aus seinem Gefängnis<br />

befreit, daß er sich mit beiden Händen am<br />

Rand des Sockels abstützen konnte. Die Arme<br />

232


schienen in Ordnung zu sein, so daß er sich, zwar<br />

unter lautem Stöhnen und mit viel Anstrengung,<br />

emporhieven konnte. Gregor tastete sich vorsichtig<br />

ab. Außer von einer Platzwunde an der Stirn,<br />

die wahrscheinlich vom Steuerknüppel stammte,<br />

konnte er nirgendwo Blut feststellen. Er schob<br />

die Cockpit-Tür beiseite und stieg langsam und<br />

vorsichtig aus. Seine Beine schmerzten, und er<br />

stand auf ziemlich wackligen Knien da, aber<br />

wenigstens konnte er gehen. Er schleppte sich<br />

um die zertrümmerte Kabine herum auf die andere<br />

Seite, um Jeff zu untersuchen. Er griff an<br />

Jeffs Handgelenk. Kein Puls. Er legte sein Ohr<br />

an Jeffs Herz. Nichts zu hören. Was er in seinem<br />

seltsamen Traum wahrgenommen hatte,<br />

traf offenbar zu. Genick- oder Schädelbruch. Jeff<br />

war auch nicht so tief eingesunken. Wahrscheinlich<br />

hatte er verschiedene harte Gegenstände<br />

unter seinem Sitz aufbewahrt, so daß dieser den<br />

Aufprall nicht wie vorgesehen hatte abfedern<br />

können.<br />

Eine Weile hielt Gregor Jeffs leblose Hand in der<br />

233


seinen. Er wünschte diesem Menschen Liebe und<br />

Harmonie in der neuen Dimension, die er nun<br />

endlich entdecken durfte. Eine unsägliche Wärme<br />

strömte durch seinen Körper, wenn er daran<br />

dachte, was hier vor ein paar Minuten geschehen<br />

war.<br />

Wenn man diesen Jeff kurz vor seinem Tod und<br />

dann kurz danach auf eine Waage gelegt hätte,<br />

dann wäre er beide Male gleich schwer gewesen.<br />

Materiell hatte sich also nichts verändert. Und<br />

doch hatte dieses leblose Etwas hier vor ihm<br />

nichts mehr mit Jeff zu tun. Wo war Jeff? Was<br />

war es denn, was einen Menschen zum Menschen<br />

machte? Mein Gott, wie einfach und einleuchtend<br />

doch dies alles war! Wie hatte er eigentlich<br />

je auf den Gedanken kommen können, daß der<br />

Mensch sterblich sei und daß nach dem Tod das<br />

Nichts kommen würde? Was hatte er sich bloß<br />

dabei gedacht, wenn er sich als »Realist« bezeichnet<br />

hatte, der nur glaubte, was er mit seinen<br />

eigenen Augen sah? Das war ungefähr so<br />

kurzsichtig und stur wie jene Menschen im Mit-<br />

234


telalter, die ihren Kopf darauf verwettet hätten,<br />

daß die Erde eine Scheibe sei, und daß sich die<br />

Sonne um die Erde drehe.<br />

Die Welt ist doch wirklich ein Narrenhaus, dachte<br />

Gregor, und war fast ein wenig neidisch auf<br />

Jeff, der dies alles jetzt hinter sich lassen durfte.<br />

Vorsichtig, als ob er ihn nicht aufwecken wollte,<br />

ließ er Jeffs Hand zurücksinken. Er mußte<br />

sich beeilen, wenn er das Licht der Dämmerung<br />

noch eine Weile ausnützen wollte. Vor ihm lag<br />

ein schier endloses, verschneites Tal, keine Häuser<br />

weit und breit, und er hatte nur seinen blauen<br />

Winter-Pullover an, den ihm Becky zu Weihnachten<br />

gestrickt hatte, keine Windjacke und gar<br />

nichts. Wie hätte er auch ahnen sollen, daß aus<br />

dem harmlosen Rendezvous am Lake Hood eine<br />

solch abenteuerliche Reise werden sollte. Er fragte<br />

sich, ob er sich wohl Jeffs Fliegerjacke ausleihen<br />

dürfte. Im nächsten Augenblick wurde ihm<br />

die Ironie dieser Frage bewußt, und er mußte<br />

ein wenig lachen, was er allerdings angesichts<br />

seiner gebrochenen Rippen sofort wieder aufgab.<br />

235


Doch halt, fiel es ihm plötzlich ein, der Hubschrauber<br />

hatte doch ein Funkgerät! Er könnte<br />

doch einfach Frequenz um Frequenz ausprobieren.<br />

Irgendwer würde auf seine SOS-Rufe sicher<br />

reagieren.<br />

Gregor pferchte sich zwischen den Sockel des<br />

Sitzes und das umgekippte Instrumenten-Panel<br />

und probierte systematisch alle Knöpfe aus, die<br />

als Schalter für das Funkgerät in Frage kamen.<br />

Ohne Erfolg. Das Panel blieb dunkel.<br />

Voller Hoffnung blickte er auf den halbgeknickten<br />

Hochspannungsmast. Vielleicht würde<br />

die Elektrizitätsgesellschaft merken, daß der<br />

Strom unterbrochen war, und eine Patrouille losschicken.<br />

Aber vielleicht würden die den Schaden<br />

auch erst bei Tagesanbruch beheben wollen,<br />

und dann wäre er längst der Kälte zum Opfer<br />

gefallen.<br />

Es gab also nichts anderes, als endlich loszumarschieren.<br />

Behutsam zog er Jeff die Lederjacke<br />

aus, wischte das geronnene Blut an dessen<br />

Hosen ab und suchte in den Gepäckfächern<br />

236


nach Utensilien, die ihm für seine Wanderung<br />

nützlich sein konnten. In einem Seitenfach fand<br />

er eine funktionierende Taschenlampe und ein<br />

Taschenmesser.<br />

Gregor mußte an Becky denken. Was sie jetzt<br />

wohl gerade tat? Er hatte die ganze Woche nichts<br />

von ihr gehört, da sie mit ein paar Kolleginnen<br />

und Kollegen ihres Schlittschuh-Clubs in der<br />

Toskana unterwegs war. Er versuchte, sich Becky<br />

beim Geschlechtsverkehr vorzustellen, vielleicht<br />

würde ihn das ein wenig aufwärmen. Doch seltsamerweise<br />

wurden die Bilder immer wieder<br />

überlagert von seiner Frau Sonja. Mit ihr war<br />

es immer ein Erlebnis gewesen, dachte Gregor,<br />

während es mit Becky oft ans Langweilige grenzte.<br />

Dieses junge Ding konnte den Sex einfach<br />

noch zu wenig genießen. Wahrscheinlich lag es<br />

daran, daß sie sich selbst noch zu wenig kannte<br />

und vielleicht auch nicht sonderlich mochte.<br />

Immer wieder kamen da irgendwelche verkrusteten<br />

Moralregeln zum Vorschein, die ihren<br />

Ursprung wohl bei Beckys puritanischen Eltern<br />

237


hatten. Becky war eine typische Vertreterin der<br />

jungen Generation, die eines Tages in die Welt<br />

hinaustritt und zum Universum sagt »Okay, zeig’<br />

mal, was du mir bieten kannst«, und die dann<br />

zutiefst erstaunt sind, wenn nichts kommt. Und<br />

das Schlimme war: Diese Haltung würde sich<br />

ungefiltert in die nächste Generation fortpflanzen,<br />

wenn er ihre mehrfach geäußerten<br />

Andeutungen ernstnehmen, sie heiraten und ihr<br />

ein Kind machen würde.<br />

Das erneute Ächzen des Hochspannungsmastes,<br />

der offenbar noch immer nicht ganz am Boden<br />

lag, erinnerte Gregor daran, daß jetzt nicht der<br />

richtige Zeitpunkt für sexuelle Phantasien war.<br />

Unter dem, was vom linken Sitz übriggeblieben<br />

war, fand sich eine Schutzdecke für den Hubschrauber,<br />

die notfalls als eine Art Zelt herhalten<br />

konnte. Nachdem er mit Hilfe des Taschenmessers<br />

den Kompaß abgeschraubt und eingesteckt<br />

hatte, lief er schleppenden Schrittes los<br />

in Richtung Westen. Das schien ihm die einzige<br />

Richtung zu sein, die ein Fünkchen Hoffnung<br />

238


zuließ. Etwa hundert Meilen nördlich von Anchorage<br />

befand sich nämlich, so erinnerte sich Gregor,<br />

der Denali-Nationalpark, und infolgedessen<br />

mußte hier im Westen irgendwo eine Straße sein.<br />

Die ersten zwei Stunden waren ziemlich rasch<br />

vergangen. Die Hoffnung hatte Gregor Kraft verliehen,<br />

obwohl er bei jedem Schritt mit dem stechenden<br />

Schmerz in seiner rechten Lunge zu<br />

kämpfen hatte. Mittlerweile war es sieben Uhr<br />

abends und bereits vollständig dunkel. Einmal<br />

hatte Gregor ganz weit oben die Navigationslichter<br />

eines Flugzeugs ausmachen können und<br />

versucht, mit seiner Taschenlampe Zeichen zu<br />

geben. Doch vermutlich hatte das nichts genützt.<br />

Weit und breit war keine Hilfe in Sicht.<br />

Es war eine klare Nacht, und das breite, verschneite<br />

Tal reflektierte das Mondlicht so stark,<br />

daß Gregor die Batterien seiner Taschenlampe<br />

die meiste Zeit schonen konnte. Gregor fror und<br />

schwitzte gleichzeitig. Sein anfängliches Hungerund<br />

Durstgefühl war allmählich einer allgemei-<br />

239


nen Erschöpfung gewichen, so daß er oft nicht<br />

mehr wußte, wie ihm eigentlich zumute war. Den<br />

schlimmsten Durst konnte er stillen, wenn er<br />

etwas Schnee aß. Doch die Erleichterung war<br />

immer nur von kurzer Dauer. Jedesmal, wenn<br />

die kalten Schneekristalle an seinen von der<br />

Anstrengung heißen Lippen schmolzen und das<br />

kalte Wasser sich seinen Weg in den ausgehungerten<br />

Magen bahnte, zuckte etwas krampfartig<br />

in ihm zusammen.<br />

Das Tal sah immer noch genau gleich aus wie<br />

am Anfang, als er losmarschiert war. Es schien<br />

endlos zu sein. Gregor wunderte sich, woher er<br />

eigentlich die Zuversicht nahm, daß er diese<br />

Geschichte heil überstehen würde. Aber etwas<br />

in ihm drin war überzeugt, daß es nicht seine<br />

Bestimmung sein konnte, einen Hubschrauber-<br />

Absturz zu überleben, um dann in diesem elenden,<br />

kalten und endlosen Tal jämmerlich zu erfrieren.<br />

Tapfer setzte er einen Fuß vor den anderen. Der<br />

Schnee war nach Gregors Schätzung mindestens<br />

240


einen halben Meter tief, aber die Sonne hatte<br />

tagsüber die Oberfläche geschmolzen, und durch<br />

die Kälte der Nacht hatte sich mittlerweile eine<br />

dicke Eisschicht gebildet, so daß Gregor, wenn<br />

er vorsichtig voranschritt, nur selten einsank.<br />

Wenn er allerdings einsank, dann jeweils so tief<br />

und so heftig, daß ihm seine gebrochenen Rippen<br />

beinahe den Atem abstellten und er sich<br />

zusammennehmen mußte, um nicht im Tiefschnee<br />

liegen zu bleiben und vor Erschöpfung<br />

einzuschlafen.<br />

Nach vier schmerzhaften und ohnmächtigen<br />

Stunden öffnete sich das Tal endlich. Es ging<br />

zwar immer noch leicht abwärts, aber offensichtlich<br />

hatte Gregor eine Art Hochebene erreicht.<br />

Mit etwas Schnee rieb er sich seine müden Augenlider<br />

aus, an denen sich kleine Eisklümpchen<br />

gebildet hatten. Inständig hoffte er, in der Ferne<br />

irgendwo ein Lichtlein auszumachen. Ein<br />

Fünkchen Hoffnung, das war alles, was er verlangte.<br />

Jetzt begriff er, warum so viele Menschen in der<br />

241


Not das Beten lernten. Auch er wäre versucht<br />

gewesen, irgend ein höheres Wesen, eine Art älteren<br />

Bruder oder von ihm aus auch eine Vaterfigur<br />

um Hilfe anzuflehen, da er weder aus noch<br />

ein wußte. Doch der seltsame Traum kurz nach<br />

seinem Absturz hatte ihm klargemacht, daß es<br />

so etwas nicht gab. Es gab das Licht, ja, es gab<br />

das Zuhause, es gab sogar die beiden Schutzengel,<br />

die ihn mit ihrer schamlosen Nacktheit irritiert<br />

hatten, aber all dies war nicht außen, sondern<br />

innen. In sich drin hatte er diese göttliche<br />

Kraft zu suchen; er war ein Teil dieser Kraft.<br />

»Gott in uns«, das hatte es doch schon in der<br />

Sonntagsschule geheißen, aber weder er noch<br />

seine Sonntagsschul-Lehrerein schienen diese<br />

Aussage je begriffen zu haben.<br />

Gregor wußte nicht mehr, wie lange er sich so<br />

dahingeschleppt hatte. Seine vom Eis verklebten<br />

Augen konnten die Zeiger auf seiner Armbanduhr<br />

nicht mehr erkennen, seine gebrochenen<br />

Rippen schienen sich bei jedem Schritt tiefer<br />

in seine Lungen zu bohren, und seine Zehen<br />

242


waren von der Kälte längst gefühllos geworden.<br />

Zwischendurch torkelte er halb bewußtlos durch<br />

die Gegend und wachte erst wieder auf, wenn er<br />

mit seinem Gesicht auf der Eisschicht aufgeschlagen<br />

war. Die Wunde an seiner Stirn war<br />

wieder aufgeplatzt, und sein Blut malte dicke,<br />

rote Punkte in den Schnee.<br />

Nach einer weiteren halben Stunde, die Gregor<br />

wie eine Ewigkeit vorkam, war er am Ende. Er<br />

war wohl zum hundertsten Male hingefallen, und<br />

er konnte noch immer weit und breit kein Licht<br />

und keinen Hinweis auf eine Straße erblicken.<br />

Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer<br />

Schneemulde, die sich mit seinem Blut gefüllt<br />

hatte, und sein letzter Satz klang mehr wie ein<br />

ersticktes Blubbern.<br />

»So nehmt mich halt«, konnte er gerade noch<br />

hervorbringen, dann rollte eine große, schwarze<br />

Wand über ihn hinweg, die alles unter sich begrub.<br />

243


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Na, wie fanden Sie meine Schilderung? Ganz<br />

schön spannend, was?<br />

Wie bitte? Ob ich ein Problem mit dem Sex habe?<br />

Nein wieso? Haben Sie eines?<br />

Weichen Sie mir jetzt nicht aus! Ich möchte mit<br />

Ihnen über Gregors »Nahtodes-Erlebnis« sprechen.<br />

Das, was Sie vielleicht als den Traum eines<br />

Bewußtlosen bezeichnen möchten, war in<br />

Wirklichkeit ein Vorgeschmack auf das Sterben.<br />

Wie Gregor haben Tausende von Menschen ein<br />

sogenanntes »Nahtodes-Erlebnis« hinter sich,<br />

das heißt, sie waren schon einmal für eine kurze<br />

Zeit klinisch tot. Und fast alle haben die gleichen<br />

Erlebnisse geschildert. Sie sahen sich von<br />

oben auf der Unfallstelle liegen, sie konnten beschreiben,<br />

wie die Ärzte aussahen, was sie sprachen,<br />

ja sogar, was sie dachten!<br />

Und das Ganze funktioniert auch bei Blinden.<br />

Es gibt, vor allem in Amerika, ausgedehnte Studien<br />

über Nahtodes-Erlebnisse von Blinden.<br />

244


Auch sie können in solchen <strong>Moment</strong>en plötzlich<br />

alles sehen.<br />

Kennen Sie übrigens die Sterbeforscherin Elisabeth<br />

Kübler-Ross? Nachdem sie Hunderte von<br />

sterbenden Kindern in den Tod begleitet hatte,<br />

stand für sie eindeutig fest: Es gibt ein Leben<br />

nach dem Tod! Das ist übrigens etwas, was jeder<br />

Sterbebegleiter weiß, nicht nur die Kübler-Ross.<br />

Wie wäre es sonst beispielsweise zu erklären, daß<br />

jedes Kind nach einem Nahtodes-Erlebnis darüber<br />

berichtet, wie es von einem geliebten Menschen<br />

abgeholt wurde, aber niemals von einem,<br />

der noch lebt?<br />

Ein paar Fragen an Sie:<br />

1. Haben Sie Angst vor dem Tod?<br />

245


2. Wenn ja, weshalb? Was genau macht Ihnen<br />

Angst?<br />

3. Möchten Sie ewig auf dieser Erde leben?<br />

4. Wenn nein, wie lange denn genau?<br />

5. Und warum ausgerechnet so lange?<br />

246


6. Stört Sie der Gedanke, daß Sie eventuell eine<br />

Seele sind, die immer wieder auf diese Erde<br />

(oder sonst einen Planeten) zurückkehrt, bis<br />

Sie alles gelernt haben, was es hier zu lernen<br />

gibt?<br />

7. Wenn ja, was genau stört Sie daran?<br />

247


8. Sind Sie sicher, daß Ihr Weltbild wirklich von<br />

Ihnen selbst stammt und nicht von Ihren<br />

Eltern, Ihren Lehrern oder den Medien?<br />

9. Wäre nicht manches besser zu erklären, wenn<br />

Sie an die Reinkarnations-Theorie glauben<br />

könnten?<br />

248


Bevor wir weiterlesen, möchte ich Ihnen noch<br />

eine kleine Geschichte erzählen:<br />

An meinen Seminaren mache ich mit den Teilnehmern<br />

zwischendurch immer wieder kleine<br />

geistige Konzentrations-Übungen. Vor einiger<br />

Zeit kam ich einmal auf die Idee, man könnte<br />

sie ja geistig in ihre Kindheit zurückführen. Das<br />

schien ganz gut zu klappen. Die Teilnehmer sahen<br />

Dinge, die sie längst vergessen geglaubt<br />

hatten. Der sechzehnte Geburtstag wurde in allen<br />

Einzelheiten wahrgenommen, der erste Tag<br />

im Kindergarten und vieles mehr.<br />

Durch den Erfolg ermutigt, begann ich die Menschen<br />

weiter zurück zu führen. Und siehe da:<br />

Selbst von ihrem zweiten Geburtstag schienen<br />

die meisten Menschen eine genaue Erinnerung<br />

zu haben. Sie beschrieben ihre damalige Wohnung<br />

im Detail, und einige haben diese Details<br />

später mit Hilfe ihrer Eltern überprüft. Die Resultate<br />

waren verblüffend. In einem Experiment<br />

mit einer Frau wagte ich mich dann schließlich<br />

noch weiter zurück. Sie schilderte mir ihre Ge-<br />

249


urt, und als ich sie neun Monate vor die Geburt<br />

zurückführte, beschrieb sie mir den Zeugungsakt,<br />

zusammen mit einem Kommentar,<br />

warum sie sich ausgerechnet diese Eltern für<br />

dieses Leben ausgesucht hatte. »Was hindert uns<br />

daran, noch weiter zurückzugehen«, dachte ich.<br />

Die Frau nannte mir eine bestimmte Jahreszahl<br />

zu Anfang dieses Jahrhunderts, und gleich darauf<br />

schilderte sie einen Bauernhof irgendwo in<br />

der Schweiz. Mit verschiedenen Techniken, auf<br />

die ich hier nicht näher eingehen will, loteten<br />

wir dieses »andere Leben« aus, und es kam die<br />

folgende Geschichte zum Vorschein: Die Frau sah<br />

sich als einen Jungen, der mit fünf Jahren an<br />

einer Lungenentzündung starb. Das Letzte, was<br />

dieser Junge noch wahrgenommen hatte, war ein<br />

kleines Mädchen, das staunend im Türrahmen<br />

gestanden hatte.<br />

»Dieses Mädchen fasziniert mich. Ich möchte zu<br />

ihm zurück«, sagte sie.<br />

»Kennst du es?« fragte ich.<br />

»Es sieht aus, wie meine jetzige Mutter«, war<br />

250


die Antwort. Wir fragten dann ihre Mutter, ob<br />

sie tatsächlich einen kleinen Bruder gehabt habe,<br />

der mit fünf Jahren gestorben sei. »Ja«, sagte<br />

die Mutter, »an einer Lungenentzündung.«<br />

Auch die Schilderung des Friedhofes haben wir<br />

später überprüft. Es war alles sehr verblüffend!<br />

Und was für mich das Schönste am Ganzen ist:<br />

Die Frau hatte ihrer Mutter früher große Vorwürfe<br />

gemacht, weil sie sich zeitlebens zu wenig<br />

geliebt gefühlt hatte. Nach diesem Erlebnis verzieh<br />

sie ihrer Mutter alles, und die beiden sind<br />

heute ein Herz und eine Seele.<br />

Ich habe mittlerweile Dutzende solcher Geschichten<br />

erlebt, so daß es für mich heute keinen<br />

Zweifel mehr daran gibt: Wir sind unsterbliche<br />

Seelen, die so lange wiederkommen, bis wir<br />

alles gelernt haben, was es auf der physischen<br />

Ebene zu lernen gibt.<br />

Wäre das nicht schön, wenn wir alle daran glauben<br />

könnten? Oder noch besser: Wenn wir alle<br />

davon überzeugt wären? Dann bräuchten wir<br />

keine Angst vor dem Tod zu haben und könnten<br />

251


uns endlich hundertprozentig unserem Leben<br />

widmen! Dieses Leben wäre dann so spannend,<br />

daß wir keine erfundenen Gregor-Geschichten<br />

mehr benötigten, um die Zeit totzuschlagen.<br />

Aber meinetwegen, lesen Sie noch ein wenig<br />

weiter…<br />

252


16<br />

»Was soll das heißen, er ist tot?« Hafenkampf<br />

schrie so laut, daß Schulze den Hörer vom Ohr<br />

nehmen mußte.<br />

»Das wollten Sie doch, Führer!« rechtfertigte sich<br />

Schulze mit leicht weinerlicher Stimme.<br />

»Schulze, Sie sind das größte Arschloch, das mir<br />

je untergekommen ist!« Hafenkamp war wirklich<br />

stocksauer, und er hätte Schulze auf der Stelle<br />

gefeuert, wenn da nicht diese kleinen Geheimnisse<br />

gewesen wären, die Schulze über ihn wußte,<br />

und deren Beweise dieser – offenbar in einem<br />

seltenen Anflug von gesundem Menschenverstand<br />

– bei einem Anwalt deponiert hatte.<br />

»Ich habe gesagt, ich will das Gerät haben und<br />

nicht einen toten Kaspach!« Hafenkamp versuchte,<br />

sich zu beherrschen. »Oder wenn das Gerät<br />

nirgends zu finden ist, dann wenigstens die Pläne,<br />

herrgottnochmal!«<br />

»Was soll ich jetzt tun?« fragte Schulze voller Enttäuschung<br />

darüber, daß er es seinem Meister<br />

schon wieder nicht hatte recht machen können.<br />

253


»Was soll ich jetzt tun, was soll ich jetzt tun«,<br />

äffte ihn Hafenkamp nach. »Lassen Sie sich was<br />

einfallen, Schulze. Weshalb habe ich Sie wohl zu<br />

meinem Ersten Mann gemacht?«<br />

Schulze verkniff sich eine Bemerkung zu den<br />

Geheimnissen, die er über Hafenkampf wußte<br />

und versuchte, seinen Kopf anzustrengen, der<br />

längst ein paar Stunden Schlaf nötig hatte.<br />

»Soll ich mich an seine Frau ’ranmachen?« fragte<br />

er etwas dümmlich.<br />

»Das wäre immerhin ein Anfang!« erwiderte<br />

Hafenkampf ungeduldig.<br />

»Und wieviel ist diesmal erlaubt?« erkundigte<br />

sich Schulze, der sich vorgenommen hatte, in<br />

Zukunft lieber einmal zuviel nach Hafenkamps<br />

Absichten zu fragen.<br />

»Alles!« antwortete dieser kurz und bündig. »Nur<br />

sterben darf sie nicht.«<br />

»Oh, das ist ein breites Spektrum«, freute sich<br />

Schulze mit einem hämischen Lächeln auf den<br />

Lippen, »zwischen Leben und Tod gibt es ein paar<br />

amüsante Zustände, die Ihnen ja nicht ganz<br />

254


unbekannt sind, Führer…«<br />

Hafenkamp tat so, als hätte er Schulzes Anspielung<br />

überhört und hängte nach einem knappen<br />

Gruß ein.<br />

255


17<br />

Der Zug der Alaska Railroad hatte seinen Heimat-Bahnhof<br />

Anchorage vor knapp sechs Stunden<br />

verlassen und befand sich auf dem Weg zum<br />

Denali-Nationalpark. Die hintersten beiden<br />

Wagen, sogenannte »Dome Cars« mit Panorama-<br />

Fenstern im Obergeschoß, einem separaten Restaurant-Abteil<br />

sowie einem Souvenirladen und<br />

einer Aussichtsplattform im Freien, waren etwa<br />

zu drei Vierteln mit vorwiegend amerikanischen<br />

Touristen gefüllt.<br />

Eine Hosteß namens Gretchen, ein Name, den<br />

wahrscheinlich ein Goethe-Fanatiker verbrochen<br />

hatte und der sich im Amerikanischen eher wie<br />

»Grättschen« anhörte, sorgte dafür, daß ihre<br />

Schäfchen auf dieser Reise auch etwas lernten<br />

und vor allem bei Stimmung blieben.<br />

Gerade erklärte sie mit ihrer von einer Erkältung<br />

und vom vielen Reden leicht heiseren Stimme,<br />

die einige ältere Herren besonders sexy fanden,<br />

was der Unterschied sei zwischen einem<br />

»Moose«, dem amerikanischen Wort für Elch, und<br />

256


einem »Elk«, der nur etwa halb so groß sei wie<br />

ein »Moose« und mehr so eine Art Hirsch.<br />

Ohne Gretchen zu kennen, hätte ein Blinder<br />

gemerkt, daß sie eine typische High-School-Absolventin<br />

war, die hier nur einen Urlaubsjob ausübte.<br />

Sie hatte so diese typische Art, die Vokale<br />

ganz offen auszusprechen und dabei ihr hübsches<br />

Köpfchen in den Nacken zu werfen, wie es auf<br />

der ganzen Welt nur amerikanische Studentinnen<br />

zustande bringen.<br />

Die Stimmung war heiter bis ausgelassen, wie<br />

man es fast nur in amerikanischen Zügen antrifft.<br />

Die beiden schmalen Wendeltreppen, die<br />

nach unten zur Aussichtsplattform und zum Restaurant<br />

führten, wurden rege benützt. Und jedesmal,<br />

wenn ein Passagier die falsche Treppe<br />

erwischte, wurde er von Gretchen daran erinnert,<br />

daß die linke Treppe für abwärts-, die rechte<br />

für aufwärtsschreitende Passagiere bestimmt<br />

sei. Als Strafe mußte der Fehlbare dann allen<br />

ein Liedchen vorsingen.<br />

Eines dieser Lieder wurde vom lauten Tuten der<br />

257


Lokomotive unterbrochen, was nicht weiter<br />

aufgefallen wäre, wenn sich das Tuten nicht zu<br />

einem nervösen und endlosen Gequieke entwikkelt<br />

hätte. Die Passagiere drückten ihre Nasen<br />

an die kalten Fensterscheiben, um zu sehen, was<br />

sich da draußen tat. Im nächsten Augenblick ging<br />

ein gewaltiger Ruck durch den ganzen Zug, der<br />

Gretchen und einen Barjungen heftig nach vorne<br />

schleuderte, wo sie zwischen zwei Abteilen<br />

liegenblieben.<br />

Der Zug stand still. Offenbar hatte jemand die<br />

Notbremse gezogen.<br />

Gretchen dachte als erstes an einen Bären oder<br />

einen Elch, der sich vielleicht auf den Schienen<br />

verirrt hatte. Deshalb gab sie dem Drängen der<br />

Passagiere vorerst nicht nach, die unbedingt die<br />

Türe öffnen wollten, um nachzuschauen, was los<br />

war.<br />

»Lassen Sie mich zuerst mit dem Lokführer sprechen«,<br />

sagte sie beschwichtigend über die Lautsprecher-Anlage<br />

und nahm ein Funkgerät aus<br />

einer Wandhalterung.<br />

258


»Engine, this is Princess«, sprach sie ins Mikrofon,<br />

und man sah ihr an, daß sie diesen wichtigen<br />

<strong>Moment</strong> so richtig auskosten wollte, »what’s<br />

up?«<br />

»Wir haben fast einen Menschen überfahren«,<br />

hörten die erstaunten Passagiere eine krächzende<br />

Stimme sagen.<br />

Ein älterer Mann in typisch amerikanischer<br />

Urlaubshose mit großen Karos und ohne Bund,<br />

der schon vorher durch seine unaufhörlichen<br />

Sprüche aufgefallen war, nutzte die Gelegenheit,<br />

sich endgültig als Clown zu profilieren: »Na, das<br />

sind mir vielleicht Selbstmörder heutzutage.<br />

Fahren stundenlang in die Wildnis hinaus, um<br />

sich umzubringen.«<br />

Gretchen versuchte, höflich zu lächeln, was ihr<br />

nicht sehr gut gelang, da sie sich beim Sturz von<br />

vorhin die Oberlippe aufgerissen hatte.<br />

»Ich komme zu euch«, rief sie aufgeregt ins Funkgerät,<br />

»muß nur noch rasch die Passagiere informieren.«<br />

Nachdem sie über die Lautsprecher-Anlage zur<br />

259


Ruhe gemahnt hatte, stieg sie ins Untergeschoß,<br />

wo ihr einer der Zugführer bereits die Türe geöffnet<br />

hatte. Gretchen war die einzige an Bord,<br />

die eine Ausbildung in Erster Hilfe hatte, und<br />

jetzt war sie froh darum, denn sie hatte sich<br />

schon immer gewünscht, einmal in eine wichtige<br />

Sache verwickelt zu sein. Das war mal etwas<br />

anderes, als immer nur ein paar vertrottelten<br />

Alten den Unterschied zwischen einem Elch und<br />

einem Bären klarzumachen.<br />

»Mein Gott, du hast ihn ja doch erwischt«, rief<br />

sie entsetzt aus, als sie den Mann am Boden liegen<br />

sah, um dessen leblosen Kopf sich der Schnee<br />

tiefrot gefärbt hatte.<br />

»Nein«, wehrte sich der Lokführer heftig, »ich<br />

schwöre dir, der lag bereits so da. Ich habe nur<br />

gehupt, weil er so nahe bei den Schienen lag und<br />

ich nicht sicher war, ob ich ihn streifen würde.<br />

Aber ich habe ihn nicht berührt, ehrlich!«<br />

»Jaja, schon gut«, beruhigte ihn Gretchen, »sag’<br />

bitte jemandem von der Küche, ich brauche heißes<br />

Wasser und ein paar Tücher.«<br />

260


Mittlerweile hatte sie, so wie sie es gelernt hatte,<br />

geprüft, ob der Verletzte ihr antwortete, was<br />

natürlich nicht der Fall war. Dann hielt sie ihre<br />

Wange an seine Nase, um festzustellen, ob er<br />

noch atmete. Gretchen konnte einen ganz leichten<br />

Luftzug feststellen. Als nächstes, daran erinnerte<br />

sie sich noch genau, da sie seinerzeit beim<br />

Erste-Hilfe-Kurs ohnmächtig geworden war, galt<br />

es festzustellen, wo der Mann überall blutete.<br />

Außer einer Platzwunde an der Stirn schien keine<br />

äußere Verletzung vorzuliegen.<br />

»Einen Schock hat er jedenfalls nicht«, sagte sie<br />

fachmännisch zu den Leuten aus der Küche, die<br />

mit dem heißen Wasser anrückten, »sonst wäre<br />

sein Puls schnell und schwach; seiner ist normal.<br />

Und den Schneespuren nach ist er zu Fuß<br />

hierher gekommen. Also kann er auch keine Verletzung<br />

an den Beinen haben. Ich schlage vor,<br />

daß wir ihn ein wenig waschen und dann hinein<br />

in die Wärme tragen. Im hintersten Wagen ist<br />

ein freies Abteil; ich kann ihm dort eine Art Bett<br />

herrichten.«<br />

261


»Sollten wir nicht einen Rettungshubschrauber<br />

kommen lassen«, meinte der Lokführer besorgt.<br />

Beim Wort »Hubschrauber« schien ein leichtes<br />

Zucken durch den Körper des Verletzten zu gehen.<br />

»Hat er sich nicht gerade bewegt?« fragte einer<br />

der Küchengehilfen.<br />

»Mag schon sein«, antwortete Gretchen, »ich<br />

glaube nicht, daß wir um diese Zeit noch einen<br />

Hubschrauber bekommen. Außerdem, in zwei<br />

Stunden sind wir im Denali, die haben einen<br />

Arzt, und der soll entscheiden, wie’s weitergeht.«<br />

»Okay, ich sag’ denen schon mal Bescheid, sie<br />

sollen eine Ambulanz zum Bahnhof schicken«,<br />

sagte der Lokführer und begab sich in die Führerkabine.<br />

Gretchen wusch dem Verletzten so gut es ging<br />

das vertrocknete Blut aus dem Gesicht und wies<br />

dann die beiden Küchengehilfen an, ihn vorsichtig<br />

in den hintersten Wagen zu tragen.<br />

Ein Raunen ging durch die Passagiere, als die<br />

beiden Männer das jämmerliche Häufchen Elend<br />

262


ins Innere des Wagens hievten.<br />

»Mein Gott, ist er tot?« fragte eine Frau, wahrscheinlich<br />

weniger besorgt um den fremden<br />

Mann, als vielmehr um sich selbst, weil sie in<br />

ihrem Aberglauben annahm, daß Tote Unglück<br />

brächten oder daß der Tod womöglich sogar ansteckend<br />

sei.<br />

Gretchen beruhigte die Passagiere: »Ladies and<br />

Gentlemen, wir werden unsere Reise sogleich<br />

fortsetzen. Der Mann lebt und dürfte vermutlich<br />

bald zu sich kommen. Ich bitte Sie, die Unannehmlichkeiten<br />

zu entschuldigen, da wir um<br />

diese Zeit vermutlich keinen Helikopter mehr<br />

bekommen. In der Denali-Lodge wird einer unserer<br />

Agenten Ihnen als kleinen Schadenersatz<br />

einen Essens-Gutschein überreichen.«<br />

»Gibt es auch Gratis-Bier?« rief der Witzbold aus<br />

dem hintersten Abteil, was hingegen niemand<br />

komisch fand.<br />

Gretchen hieß die beiden Küchengehilfen den<br />

Tisch im vordersten Abteil mit ein paar Handgriffen<br />

entfernen, dann setzte sich der Zug be-<br />

263


eits wieder in Bewegung.<br />

Mit ein paar Wolldecken und Kissen bereitete<br />

sie auf dem Boden des Abteils, dort, wo vorher<br />

der Tisch gestanden hatte, ein Lager für den<br />

Verletzten, dann rief sie dem Barjungen zu, daß<br />

er ihr einen trinkwarmen Punsch besorgen solle<br />

und begann, den unbekannten Mann leicht auf<br />

die Wangen zu tätscheln.<br />

»Hallo Sie, hören Sie mich?« flüsterte sie ihm ins<br />

Ohr. »Wer sind Sie? Was ist geschehen? Antworten<br />

Sie mir!«<br />

Inzwischen war der Barjunge mit dem Punsch<br />

gekommen, und Gretchen hielt dem Mann die<br />

Tasse vorsichtig an die Lippen.<br />

»Hier, trinken Sie, das wird Ihnen guttun«, ermutigte<br />

sie ihn, und während sie seinen Kopf<br />

mit dem rechten Arm liebevoll stützte, streifte<br />

ihre mädchenhafte und doch volle Brust sein linkes<br />

Ohr, immer wenn sie ein- oder ausatmete.<br />

»Er bewegt sich«, rief einer der Passagiere, »der<br />

Mann bewegt sich!«<br />

Und tatsächlich, der Unbekannte begann, unver-<br />

264


ständliche Worte stammelnd, seinen Kopf von<br />

einer Seite auf die andere zu wälzen, und schlug<br />

schließlich langsam seine Augen auf.<br />

Ein paar Sekunden lang sah er staunend in<br />

Gretchens zauberhafte, tiefbraune Augen, dann<br />

fragte er zaghaft: »Wo bin ich? Wer sind Sie?«<br />

»Sie sind in der Alaska Railroad zwischen Anchorage<br />

und Fairbanks«, sagte Gretchen wie zu einem<br />

kleinen Kind. »Und wer sind Sie? Was ist<br />

geschehen? Kommen Sie, trinken Sie das erst<br />

einmal aus.«<br />

Gretchen reichte ihm den warmen Punsch, den<br />

der Mann gierig packte und in einem Zug hinuntergoß.<br />

Langsam schien er sich wieder einigermaßen<br />

zurechtzufinden.<br />

»Ich heiße Gregor Kaspach… glaube ich wenigstens.<br />

Aber nach alledem, was heute passiert ist,<br />

bin ich da nicht mehr so sicher.«<br />

Gregor lehnte sich erschöpft zurück, und Gretchen<br />

ordnete ein paar Kissen unter seinem Kopf,<br />

damit er sich hinlegen konnte.<br />

»Was ist denn passiert, erzählen Sie!« ermunterte<br />

265


ihn Gretchen. »Ich heiße übrigens Gretchen, und<br />

ich bin hier die Hosteß.«<br />

»Gretchen?« fragte Gregor ungläubig, »wie das<br />

Gretchen im Faust? Sind Sie Deutsche?«<br />

»Meine Großmutter war eine deutsche Einwandererin.<br />

Und meine Mutter fand diesen Namen<br />

halt eben ›special‹.«<br />

»Das ist er in der Tat«, gab Gregor zurück. Das<br />

hübsche Mädchen mit seinen schulterlangen,<br />

fast schwarzen Haaren brachte seine Lebensgeister<br />

langsam aber sicher wieder auf Trab. So wie<br />

dieses reizende Geschöpf hatte er sich immer das<br />

Schneewittchen vorgestellt.<br />

»Darf ich Ihnen die Gretchenfrage stellen?«<br />

scherzte er mit einem müden Schmunzeln. Doch<br />

Gretchen schien den Witz nicht verstanden zu<br />

haben. Vermutlich waren sie in der High School<br />

noch nicht beim Faust angelangt.<br />

»Sie scheinen außer Lebensgefahr zu sein«, sagte<br />

sie stattdessen, »dann erzählen Sie mal, was<br />

passiert ist.«<br />

Unter andächtigem Staunen der Passagiere faß-<br />

266


te Gregor zusammen, was er heute alles erlebt<br />

hatte. Er konnte es selbst fast nicht glauben. War<br />

er tatsächlich knappe zwei Meter vor der Bahnlinie<br />

zusammengebrochen? Er mußte an die beiden<br />

nackten Schutzengel aus seinem eigenartigen<br />

Traum denken.<br />

»Du mußt zurück. Du hast noch eine Aufgabe zu<br />

erfüllen«, hatten sie gesagt.<br />

Und wenn das kein Traum gewesen war? Vorhin<br />

allerdings, als er im Schnee zusammengebrochen<br />

war, hatte er nichts Derartiges erlebt. Da<br />

war einfach plötzlich alles schwarz geworden,<br />

und er war in einen tiefen Schlaf gesunken.<br />

Mittlerweile hatte Gretchen dafür gesorgt, daß<br />

man dem ausgehungerten Mann eine kräftige<br />

»Beef-Barley-Soup« und ein Stück Brot brachte,<br />

was Gregor, während er bruchstückweise weitererzählte,<br />

dankbar verschlang.<br />

Die Zeit verging wie im Fluge, und einige der<br />

Passagiere sagten scherzend zu Gretchen, daß<br />

sie auf den Essens-Gutschein verzichten würden,<br />

da sie bereits in den Genuß eines Gratis-Aben-<br />

267


teuers gekommen seien.<br />

»In der Denali-Lodge wird man Sie ärztlich versorgen«,<br />

informierte Gretchen, »die haben dort<br />

ein Krankenzimmer.«<br />

»Um Gottes willen, nur kein Krankenzimmer«,<br />

protestierte Gregor, »das ist das Letzte, was ich<br />

jetzt brauchen kann. Kann ich nicht ein normales<br />

Hotelzimmer haben?«<br />

»Das wird der Arzt entscheiden müssen«, gab<br />

Gretchen zur Antwort.<br />

Gregor hätte sich nichts sehnlicher gewünscht,<br />

als an der kindlich-mütterlichen Brust dieses<br />

Mädchens einzuschlafen. Ob er ihr das wohl sagen<br />

sollte? Nachdem er heute zweimal knapp<br />

dem Tod entronnen war, hatte er eigentlich keine<br />

Angst mehr vor einer Blamage.<br />

»Wissen Sie, wie Sie mir am besten helfen können?«<br />

sagte er.<br />

»Nein, sagen Sie’s mir!« ermunterte ihn Gretchen<br />

mit ihrer leicht heiseren Stimme.<br />

Gregor nahm allen Mut zusammen und sagte mit<br />

einem unwiderstehlichen Bernhardinerblick:<br />

268


»Indem Sie meinen Kopf so halten wie vorhin.<br />

Ich glaube, ich bin nur deswegen zur Besinnung<br />

gekommen, weil ich Ihre mütterliche Fürsorge<br />

gespürt habe.«<br />

Gretchen ahnte, worauf Gregor, dessen Leben gerade<br />

noch in ihrer Hand gelegen hatte, offenbar<br />

hinauswollte, und unter normalen Umständen<br />

hätte sie sich züchtig gegen seine Anspielungen<br />

zur Wehr gesetzt. Aber etwas schien sie an diesem<br />

reifen Mann ebenfalls anzuziehen, und einen<br />

besseren Vorwand als den, einem armen<br />

Verletzten zu helfen, konnte sie ja wohl nicht finden.<br />

Sie setzte sich neben ihn auf den Boden und legte<br />

ihren Arm um ihn, während Gregor seinen<br />

Kopf an ihre warme, weiche Brust bettete.<br />

»Er will schlafen«, sagte sie entschuldigend zu<br />

den Passagieren, und ihr prüfender Blick bestätigte<br />

ihr, daß diese selbstlose Geste bei allen auf<br />

Verständnis stieß.<br />

269


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Also, das mit dem Namen Gretchen ist echt!<br />

Meine Frau kann das bezeugen. Gretchen war<br />

unsere Hosteß auf einer Reise in den Denali-<br />

Park.<br />

Und auch Gretchens Erste-Hilfe-Maßnahmen<br />

halten jeder Prüfung stand. Das Merkwort heißt<br />

GABI. Und es bedeutet Folgendes:<br />

Gibt er Antwort? (Gemeint ist der Patient)<br />

Atmet er?<br />

Blutet er?<br />

Ist der Puls normal?<br />

Warum ich Ihnen das erzähle? Weil Sie etwas<br />

lernen sollen, darum! Sagen Sie selbst: Haben<br />

Sie bei Konsalik oder Simmel schon mal so viele<br />

nützliche Dinge gelesen?<br />

270


18<br />

Als Sonja ihren kleinen, hellblauen Ford in die<br />

geräumige Doppelgarage fuhr, war es draußen<br />

bereits dunkel geworden. Mit leicht zittrigen<br />

Fingern drehte sie den Schlüssel im Zündschloß<br />

und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Sie schloß<br />

ihre Augen und nahm einen tiefen Atemzug.<br />

»Beruhige dich«, sagte sie zu sich selbst, »du hast<br />

keinen Grund zur Aufregung.«<br />

In einer Stunde würde ihr Ehemann kommen,<br />

den sie seit vier Jahren nicht mehr zu Gesicht<br />

bekommen hatte. Würden sie wohl miteinander<br />

vernünftig reden können? Würde Gregor ihren<br />

Schritt heute verstehen? Hatte er sich verändert?<br />

Und bestand am Ende gar Hoffnung auf eine<br />

gemeinsame Zukunft? Das waren die Fragen, die<br />

ihr unentwegt im Kopf herumschwirrten.<br />

Sonja nahm noch einmal einen tiefen Atemzug<br />

und stieg dann betont gemächlich aus ihrem<br />

Wagen. Durch das noch offene Garagentor<br />

schlenderte sie zum Briefkasten, leerte ihn und<br />

warf, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß<br />

271


der Inhalt nur aus Werbung bestand, das ganze<br />

Bündel in den blauen Recycling-Eimer, der in der<br />

Garage stand.<br />

Ein rumpelndes Geräusch ließ sie herumfahren.<br />

Es war Charles Turner, ihr Nachbar, der seine<br />

beiden Plastik-Mülltonnen zum Straßenrand<br />

rollte.<br />

»Richtig, morgen ist ja Freitag«, dachte Sonja und<br />

packte ihre beiden Eimer ebenfalls, um sie für<br />

die Müllabfuhr bereitzustellen.<br />

»Hi Son, how’s it goin’«, grüßte Charles hinüber.<br />

»Great, thanks, how about yourself?« gab Sonja<br />

zur Antwort. Mittlerweile hatte sie sich daran<br />

gewöhnt, daß die Amerikaner jeden noch so wohlklingenden<br />

Namen zu einer einzigen Silbe reduzierten.<br />

Die ersten zwei Jahre hatte sie versucht,<br />

sich dagegen zu wehren. Aber es war aussichtslos.<br />

Man konnte es den Amis einfach nicht<br />

zumuten, ihren Mund für einen anderen Menschen<br />

zweimal aufzumachen. Aus einem »Robert«<br />

machten sie einen »Bob«, aus »Patricia« eine<br />

»Pat«, aus »Edward« einen »Ted«, aus »Richard«<br />

272


einen »Dick«, aus »Barbara« eine »Barb«. Und<br />

Charles brachte es fertig, selbst den Namen »Sonja«<br />

noch zu verkürzen.<br />

»War ein schöner Tag heute, nicht?« antwortete<br />

Charles routinemäßig.<br />

Die Antwort auf die Frage, wie es ihm gehe, blieb<br />

er Sonja schuldig. Auch damit hatte sich Sonja<br />

mittlerweile abgefunden. Die Kalifornier waren<br />

in ihren Augen Weltmeister im Small Talk, im<br />

nichtssagenden Gequassel. Die Frage »wie<br />

geht’s« war ihnen geradezu angeboren, zusammen<br />

mit dem totalen Desinteresse, was die Antwort<br />

des Gegenübers anging. Einige schienen mit<br />

ihren Blicken sogar zu flehen »um Gottes willen,<br />

sag’ mir ja nicht, wie’s dir geht; ich weiß,<br />

daß das Leben beschissen ist«.<br />

Sonja war stolz darauf, daß sie die Hohe Schule<br />

des Small Talks ebenfalls beherrschte. »Haben<br />

Sie den spektakulären Sonnenuntergang heute<br />

gesehen?« war ihre nächste Frage.<br />

Charles schickte sich bereits an, die beleuchteten<br />

Steinstufen zu seinem Haus emporzusteigen.<br />

273


»Schön wär’s«, gab er zur Antwort, »den letzten<br />

Sonnenuntergang habe ich glaub’ ich vor zwei<br />

Jahren auf Hawaii erlebt.«<br />

Das war natürlich eine seiner koketten Übertreibungen,<br />

aber ein Fünkchen Wahrheit war bestimmt<br />

dabei. Charles hatte seinerzeit einiges<br />

dafür bezahlt, daß er von seinem Haus aus eine<br />

wunderbare Aussicht aufs Meer genoß, aber wie<br />

die meisten Kalifornier war er so sehr damit beschäftigt,<br />

seinen extravaganten Lebensstil zu<br />

finanzieren, daß ihm für Sonnenuntergänge und<br />

andere Späße keine Zeit mehr blieb.<br />

»See you later, Son«, rief Charles hinunter, bevor<br />

er im Haus verschwand.<br />

Das war so ziemlich das Maximum an Kontakt,<br />

was man in Kalifornien erwarten konnte. Man<br />

grüßte sich zwar beim Leeren des Briefkastens<br />

oder beim Hinausstellen der Mülltonnen, ansonsten<br />

aber hielt man sich seine Nachbarn auf Distanz.<br />

Das ist vielleicht auch ganz gut so, dachte<br />

Sonja in Erinnerung an die unerbittlichen<br />

Fehden unter Nachbarn, die sie in Hamburg<br />

274


manchmal hatte miterleben müssen.<br />

Eigentlich konnte sie sich ja nicht beklagen. Sie<br />

hatte Andy, mit dem sie über alles reden konnte.<br />

Und im übrigen kam ihr die oberflächliche<br />

Freundlichkeit der Amerikaner ganz gelegen,<br />

denn dieses einengende Beziehungsnetz in Hamburg<br />

war mit ein Grund dafür gewesen, daß sie<br />

vor vier Jahren nach Amerika geflohen war. Außerdem<br />

war sie den Amerikanern zutiefst dankbar,<br />

daß sie ihr wunderschönes Land benutzen<br />

durfte. Und gerade diese vielbeklagte amerikanische<br />

Anonymität verschaffte ihr ein Stück Freiheit,<br />

das sie nicht mehr missen mochte.<br />

Sonjas kleines, aber gemütliches Dreizimmer-<br />

Haus lag etwas erhöht am Eingang eines kleinen<br />

Canyons. Es war von alten, knorrigen Bäumen<br />

umgeben und schwamm geradezu in einem<br />

Meer von Blumen, die Sonja im Laufe der Jahre<br />

angehäuft hatte. Als alte Tierliebhaberin hatte<br />

sie außerdem mehrere Futterplätze für Vögel<br />

eingerichtet, und an jeder Ecke des Hauses hing<br />

ein Behälter mit leuchtend rotem Nektar für die<br />

275


putzigen, kleinen Kolibris, die das ganze Jahr<br />

über in den kalifornischen Gärten ihre Flugkünste<br />

zur Schau stellten.<br />

Das Haus war nur gemietet, obwohl sich Sonja<br />

aufgrund einer kleinen Erbschaft den Kauf hätte<br />

leisten können. Aber sie wollte nicht wieder<br />

den gleichen Fehler begehen wie früher in Hamburg.<br />

Sie wollte frei bleiben.<br />

»Besitz engt nur ein«, hatte sie einmal zu Andy<br />

gesagt, »ein Haus ist erst dann ein Zuhause,<br />

wenn du es innerhalb von vier Monaten verlassen<br />

kannst. Andernfalls besitzt das Haus dich<br />

und nicht umgekehrt.«<br />

Man mußte sich in ihrer Nachbarschaft nur einmal<br />

richtig umsehen. Je größer die Häuser, desto<br />

unglücklicher ihre Bewohner. Warum sollte<br />

man daraus nicht lernen?<br />

In der Zwischenzeit hatte Sonja ihre Tasche aus<br />

dem Auto geholt und das Garagentor zugemacht.<br />

Als sie ihren Fuß auf die unterste Stufe der steilen<br />

Steintreppe setzte, die zum Vordereingang<br />

ihres Häuschens führte, glaubte sie, in ihrem<br />

276


Wohnzimmerfenster einen Lichtschein wahrzunehmen.<br />

»Das wird wohl wieder Andy sein mit einer seiner<br />

berüchtigten Überraschungen«, dachte sie.<br />

277


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Das wird ja ganz schön spannend, was? Können<br />

Sie sich vorstellen, was Sonja erwartet, wenn sie<br />

ihr Haus betritt? Grusel, grusel…<br />

A propos Haus: Besitzen Sie auch eines? Und<br />

arbeiten Sie auch zwölf Stunden am Tag, um Ihre<br />

Hypotheken zu bezahlen? Grusel, grusel…<br />

Beantworten Sie doch bitte diese Fragen:<br />

1. Besitzen Sie Ihr Haus oder besitzt Ihr Haus<br />

Sie?<br />

2. Besitzen Sie Ihr Auto oder besitzt Ihr Auto<br />

Sie?<br />

278


3. Ist Ihr Beruf für Sie da oder sind Sie für Ihren<br />

Beruf da?<br />

4. Was ist Ihnen das Wichtigste? (Bitte nach<br />

Priorität ordnen!)<br />

Geld verdienen<br />

eine gute Beziehung<br />

mein Wohlbefinden (körperlich und seelisch)<br />

5. Und wofür investieren Sie die meiste Zeit?<br />

Geld verdienen<br />

eine gute Beziehung<br />

mein Wohlbefinden (körperlich und seelisch)<br />

279


280


19<br />

Es ging bereits gegen Mitternacht zu, als der Zug<br />

endlich an der kleinen Blockhütte hielt, die als<br />

Bahnhof des Denali-Nationalparks diente. Gregor<br />

war vor einer halben Stunde aus seinem tiefen<br />

Schlaf aufgewacht, als Gretchen ihn sanft<br />

daran erinnerte, daß sie ihren Pflichten als Hosteß<br />

nachkommen müsse. Die Passagiere standen<br />

im spärlichen Schein der Lampen neben ihren<br />

Koffern und warteten brav aufgereiht, wie<br />

sich das für Amerikaner gehörte, auf den Bus,<br />

der sie zur Denali-Lodge bringen sollte.<br />

»Wie geht es unserem Patienten?« fragte Gretchen,<br />

zu Gregor gewendet, der auf ihr Geheiß<br />

brav auf die Sanitäter wartete .<br />

»Was ist, wenn ich diese Frage falsch beantworte?«<br />

gab Gregor mit einem müden Lächeln zurück.<br />

Alles um ihn herum sah so unwirklich aus.<br />

Und wenn seine gebrochenen Rippen ihm nicht<br />

bei jedem Atemzug einen Dolch in die Brust gejagt<br />

hätten, dann hätte er dies alles vermutlich<br />

für einen Traum gehalten.<br />

281


»Der Krankenwagen wird gleich da sein«, sagte<br />

Gretchen, während sie zu Gregor niederkniete<br />

und ihm die Stirn fühlte. »Fieber scheinen sie<br />

nicht zu haben.«<br />

»Es tut aber trotzdem gut, Ihre Hand zu spüren«,<br />

antwortete Gregor. »Haben Sie heute abend<br />

schon etwas vor?«<br />

Gretchen blieb ihm die Antwort schuldig, denn<br />

in diesem Augenblick keuchten zwei kräftige<br />

Männer die Wendeltreppe hoch, gefolgt von einem<br />

älteren Mann mit einem Arztköfferchen, der<br />

die Nase eines Alkoholikers hatte, und einem<br />

weiteren Mann, der anhand des Sterns auf der<br />

Brust unschwer als Sheriff zu erkennen war.<br />

Letzterer witterte offensichtlich die einmalige<br />

Chance, endlich einmal etwas zu erleben, was<br />

eines amerikanischen Sheriffs würdig war. Jedenfalls<br />

zückte er sofort seinen Notizblock und<br />

begann, noch bevor der Arzt eine Chance hatte,<br />

etwas zu unternehmen, seine wohlvorbereiteten<br />

Fragen zu stellen.<br />

»Sir, Sie sind mit einem Hubschrauber abge-<br />

282


stürzt. Ist das richtig?«<br />

»Ja, so jedenfalls habe ich es in Erinnerung«,<br />

sagte Gregor mit einem fragenden Blick zu<br />

Gretchen.<br />

»Wo sind Sie gestartet und wo sind Sie abgestürzt?«<br />

wollte der Sheriff weiter wissen.<br />

»Gestartet sind wir am Lake Magic. Dort hat<br />

mich ein Pilot mit dem Wasserflugzeug abgesetzt.<br />

Wir sind dann etwa eine Stunde in nordwestlicher<br />

Richtung geflogen.«<br />

»Wer war sonst noch mit Ihnen im Hubschrauber?«<br />

»Nur der Pilot. Er heißt Jeff. Mehr weiß ich<br />

nicht.«<br />

»Wo ist dieser Jeff jetzt?«<br />

»Ich kann Ihnen sagen, wo sein Körper liegt,<br />

wenn sie das meinen. Er liegt an der Unfallstelle.<br />

Er ist tot.«<br />

Der Sheriff blickte vielversprechend zum Arzt,<br />

der offenbar froh war, daß er im Augenblick nicht<br />

gebraucht wurde.<br />

»Sir, Sie sagen, daß Sie nur den Vornamen des<br />

283


Piloten kennen. Bei welcher Firma haben Sie<br />

denn den Hubschrauber gemietet?«<br />

Gregor merkte plötzlich, daß er diesem Sheriff<br />

nicht die Wahrheit sagen durfte. Womöglich<br />

würde er das FBI verständigen und einen Riesenwirbel<br />

veranstalten. Er mußte vorher herausfinden,<br />

was es mit diesem mysteriösen Anrufer auf<br />

sich hatte.<br />

»Das hat alles eine Firma am Lake Hood für mich<br />

erledigt«, schwindelte er, »der Name ist mir im<br />

<strong>Moment</strong> entfallen. Aber ich schlage Ihnen vor,<br />

daß Sie mir erst einmal ein warmes Bett besorgen.<br />

Morgen fällt mir der Name bestimmt wieder<br />

ein, und dann können Sie sich auf die Suche<br />

nach dem Hubschrauber machen.«<br />

»Was wollten Sie denn mit einem Wasserflugzeug<br />

und einem Hubschrauber in dieser Wildnis? Und<br />

warum mußte sie der Hubschrauber am Lake<br />

Magic abholen?«<br />

»Na, was tut man mit einem Hubschrauber in<br />

dieser Gegend?« warf jetzt auf einmal Gretchen<br />

rettend ein. Sie hatte offenbar kapiert, daß hin-<br />

284


ter Gregors Unfall mehr steckte, als er diesen<br />

Männern verraten wollte. »Ich nehme an, er wollte<br />

sich die Gegend von oben betrachten. Übrigens,<br />

wäre es nicht an der Zeit, Herr Doktor, daß<br />

Sie den armen Mann endlich untersuchten?«<br />

Der Sheriff stand wiederwillig auf und überließ<br />

seinen Platz dem Arzt, der schon beinahe eingenickt<br />

war. »Dann komme ich morgen früh um<br />

sieben zu Ihnen«, sagte er, während er Gretchen<br />

eine abgegriffene Karte mit seiner Telefonnummer<br />

überreichte. »Sie, junge Dame, sind dafür<br />

verantwortlich, daß ich den Aufenthaltsort des<br />

Subjekts erfahre.«<br />

Beim Wort »Subjekt« warf Gretchen Gregor einen<br />

vielsagenden Blick zu. Diesen Sheriff hatte<br />

man offensichtlich in die Wildnis verbannt, weil<br />

er in der Stadt nicht mehr zu gebrauchen war.<br />

Und jetzt spielte er sich hier auf wie Inspektor<br />

Columbo persönlich.<br />

»Um acht Uhr ist auch noch früh genug«, rief sie<br />

ihm zu und war über ihre Keckheit selbst erstaunt.<br />

»Der Mann hat etwas Schlaf verdient!«<br />

285


Der Sheriff murmelte etwas Unverständliches<br />

vor sich hin und zog von dannen.<br />

Gretchen schien sich in ihrer Führerrolle richtig<br />

wohlzufühlen, denn jetzt begann sie, den Arzt<br />

und die Sanitäter in derselben Manier anzutreiben.<br />

»So, meine Herren, würden Sie den Patienten<br />

jetzt bitte hinausschaffen. Diese Wagen werden<br />

abgeschlossen, und der Zug fährt in einer<br />

Viertelstunde weiter nach Fairbanks.«<br />

Nachdem der Arzt die beiden gebrochenen Rippen<br />

bestätigt und Gregor für transportfähig befunden<br />

hatte, schafften ihn die beiden Sanitäter<br />

über die enge Wendeltreppe nach unten.<br />

»Und wo finde ich Sie, Gretchen?« rief Gregor.<br />

»Sie fahren doch nicht etwa nach Fairbanks?«<br />

»Nein, nein«, beruhigte ihn Gretchen, »wir übernachten<br />

in der Lodge und fahren morgen mit dem<br />

ersten Zug nach Anchorage zurück. Ich werde<br />

Sie schon finden. Gehen Sie jetzt!«


<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />

Nein, unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende.<br />

Geschichten sind nie zu Ende.<br />

Selbst wenn es sich herausstellen würde, daß<br />

Gregors Vater noch lebt, daß er kein Nazi war,<br />

sondern vor den Nazis flüchten mußte, weil er<br />

den Juden geholfen hatte, nach Amerika zu fliehen,<br />

selbst dann wäre dies nicht das Ende, sondern<br />

der Anfang einer neuen Vater-Sohn-Beziehung.<br />

Selbst wenn Gregor wieder mit Sonja zusammenfände,<br />

wäre das nicht das Ende, sondern der Anfang.<br />

Ich begreife nicht, weshalb alle Schnulzen-<br />

Romane mit einer Hochzeit enden. Die Hochzeit<br />

ist doch der Anfang! Da beginnt doch die spannendste<br />

Zeit!<br />

Wenn Sie sich also wünschen, daß diese Geschichte<br />

zu Ende geschrieben wird, welches Ende<br />

meinen Sie dann? Bis wohin möchten Sie die<br />

Geschichte kennen? Und wozu das?<br />

Ist Ihnen der Ausgang der Geschichte wichtiger<br />

als all das, was Sie dabei gelernt haben?


Vergessen Sie’s! Vergessen Sie Gregor, Sonja,<br />

Schulze und Hafenkamp! Schreiben Sie statt<br />

dessen an Ihrer eigenen Lebensgeschichte! Sorgen<br />

Sie dafür, daß sie spannender und aufregender<br />

wird als mein Roman!<br />

Denn im Gegensatz zu meiner Geschichte ist Ihr<br />

Leben nicht »in den Sand geschrieben…«<br />

Ich wünsche Ihnen eine spannende Zeit!<br />

Dieses Manuskript darf nur von folgender Web Site<br />

legal heruntergeladen werden:<br />

www.hpz.com

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!