Moment mal… - Hans-Peter Zimmermann
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<strong>Hans</strong>-<strong>Peter</strong> <strong>Zimmermann</strong><br />
In den Sand<br />
geschrieben<br />
Ein Arbeitsroman<br />
ISBN 3-9050-91-02-X<br />
© 1995 Dr. <strong>Zimmermann</strong> + Partner, alle Rechte beim Autor<br />
@ 2001 Internet-Version Dr. <strong>Zimmermann</strong> + Partner<br />
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und<br />
Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des<br />
Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder<br />
ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages<br />
reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme<br />
gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.<br />
1
Wichtige Bemerkung<br />
zur Online-Version<br />
September 2001<br />
Mein erster und einziger Roman "In den Sand geschrieben",<br />
erstmals erschienen 1995, ist ausverkauft.<br />
Anstatt eine neue Auflage zu drucken, habe<br />
ich beschlossen, ihn im Internet gratis zur Verfügung<br />
zu stellen.<br />
Als kleine Gegenleistung bitte ich Sie, den folgenden<br />
Kommentar zu lesen, damit Sie besser begreifen,<br />
was ich mit diesem Werk bezweckt habe:<br />
Es war 1995 im sonnigen Kalifornien. Ich regte<br />
mich immer wieder über die oberflächlichen und<br />
schlecht gemachten Drehbücher von Action-Filmen<br />
auf.<br />
"So etwas schüttle ich dir in drei Tagen aus dem<br />
Ärmel", sagte ich zu meiner Frau, nachdem wir uns<br />
im Westwood Village den Film "Speed" mit Sandra<br />
Bullock reingezogen hatten.<br />
Sie kennen meine Frau nicht! Sie ließ nicht locker,<br />
bis ich wenigstens die Hälfte des Versprechens eingelöst<br />
hatte. Nach drei Wochen waren 280 Seiten<br />
2
zu Papier gebracht, und jede Testperson, die sie<br />
gelesen hatte, wollte dringendst wissen, wie es weitergeht.<br />
Ein bisschen stolz war ich auch auf die Tatsache,<br />
dass ich alles genau recherchiert und geplant hatte,<br />
was man von den meisten Hollywood-Stories nicht<br />
behaupten kann. Oder hat man uns in einem 007-<br />
Schinken jemals erklärt, wo James Bond unter seinem<br />
Maßanzug das ganze Equipment für den Einbruch<br />
beim Bösewicht versteckt hält, und wer ihm<br />
kurz nach dem Auftauchen auf der Ölplattform den<br />
frisch gereinigten und gebügelten Smoking fürs<br />
Abschieds-Dinner mit dem Dreckspatz reicht?<br />
Sollte jemand von Euch in meinem Roman solche<br />
Ungereimtheiten finden, bekommt er von mir postwendend<br />
einen Warengutschein zugeschickt. Ihr<br />
könnt auch gerne den Zeitplan überprüfen: Wenn<br />
mein Romanheld Gregor zu einer bestimmten Zeit<br />
in Anchorage abfliegt, kommt er zu einer bestimmten<br />
Zeit in Los Angeles an.<br />
Wenn Sie allerdings zu der Sorte Leser gehören,<br />
die immer ein Happy End brauchen, dann muss ich<br />
Sie enttäuschen. Mitten im Roman hatte ich nämlich<br />
ein mystisches Erlebnis. Der Erzengel Gabriel,<br />
verkleidet als meine Frau, kam zu mir ins Büro<br />
und sagte:<br />
3
"Du sollst das Ende dieses Romans für dich behalten,<br />
auf dass die Menschen sich Gedanken darüber<br />
machen, warum sie immer solche Geschichten brauchen.<br />
Außerdem sollst du nach jedem Kapitel unbequeme<br />
und blöde Frage stellen, auf dass der Leser<br />
sich nicht einlullen lasse von Geschichten, von<br />
denen er glaubt, dass sie nichts mit ihm zu tun haben."<br />
Ich wusste zwar nicht, was meine Frau damit meinte,<br />
tat aber, wie geheissen. Und so entstand dieser<br />
Arbeitsroman. Lesen Sie ihn oder lassen Sie es bleiben.<br />
Aber bitte schicken Sie mir keine gutgemeinten<br />
Verbesserungs-Vorschläge, denn ich werde mit<br />
Sicherheit keinen weiteren Roman schreiben.<br />
Letzteres betrachte ich als mein bisher nützlichstes<br />
Opfer an die Menschheit.<br />
4
»Wenn dich deine Probleme<br />
zu erdrücken drohen,<br />
dann setze dich an den Strand<br />
und schaue.<br />
Schaue eine Stunde lang.<br />
Dann höre.<br />
Höre eine Stunde lang.<br />
Dann fühle.<br />
Fühle eine Stunde lang.<br />
Und dann schreibe deine Probleme<br />
in den Sand und beobachte,<br />
wie lange sie dort bleiben.«<br />
(Anonymus)<br />
Dieses Manuskript darf nur von folgenden Web Sites<br />
legal heruntergeladen werden:<br />
www.hpz.com<br />
www.hbechter.at<br />
5
1<br />
Gregor Kaspach lehnte sich im bequemen Sessel<br />
der Erstklaß-Lounge zurück und mußte sich<br />
kurz gewahr werden, wo er sich eigentlich befand.<br />
Das war ihm in letzter Zeit immer öfter<br />
passiert. Es mußte wohl daran liegen, daß er seit<br />
Monaten fast nur noch von Flughafen zu Flughafen<br />
und von Hotel zu Hotel hetzte. So hatte er<br />
sich sein Leben eigentlich nicht vorgestellt, als<br />
er vor sieben Jahren den Job als Gebietsverkaufsleiter<br />
angenommen hatte.<br />
Er konnte sich zwar nicht beklagen. Er flog Erste<br />
Klasse, kam in der ganzen Welt herum, logierte<br />
in den schicksten Hotels und dinierte wie<br />
die Reichen und Berühmten. Im Grunde genommen<br />
hatte er alles, was er sich immer schon gewünscht<br />
hatte. Aber irgend etwas fehlte. Wenn<br />
er nur gewußt hätte, was es war.<br />
»Du mußt dich damit abfinden, daß das Leben<br />
längst begonnen hat«, hatte Markus vor dem<br />
Abflug zu ihm gesagt. »Viel interessanter wird’s<br />
nicht!«<br />
6
Vielleicht hatte er auch nur zu viel Kaffee getrunken.<br />
In der Zwischenzeit hatte Gregor sein Ticket aus<br />
der typischen Geschäftsherren-Reisetasche gezogen.<br />
Er war also in Hong Kong. Der Flug Nummer<br />
88 hatte wieder einmal Verspätung. Die MD-<br />
11, die ihn um 20 Uhr hätte nach Anchorage bringen<br />
sollen, habe einen defekten Cockpit-Defroster.<br />
Das hatte man ihm bereits um 17 Uhr ins<br />
Hotel gemeldet.<br />
Das »Harbor View« Hotel war direkt am Wasser<br />
gelegen, sein Zimmer im fünfundzwanzigsten<br />
Stock, mit großen, blitzblankgeputzten Fenstern.<br />
Unten hatte Gregor die alten, grünen Fähren<br />
beobachten können, die die bunte Schar der<br />
größtenteils einheimischen Geschäftsleute nach<br />
Kowloon und zurück beförderten. Gregor mußte<br />
immer lächeln, wenn er die mit einem tragbaren<br />
Telefon bewaffneten Chinesen umherhetzen<br />
sah. Chinesen hatten für ihn schon immer et-<br />
7
was Kindliches gehabt, und mit diesen modernen<br />
Spielzeugen ausgerüstet, sahen sie erst recht<br />
aus wie kleine Kinder.<br />
»Man sollte einfach mehr Zeit haben«, hatte Gregor<br />
während seines Aufenthaltes öfter gedacht<br />
und rechts hinüber zu den Wolkenkratzern der<br />
Causeway Bay geblickt, die im Licht der untergehenden<br />
Sonne wie riesige, goldene Tempel in<br />
den Himmel ragten.<br />
8
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Falls Sie sich bequem hingesetzt haben, um gemütlich<br />
dieses Buch zu lesen, dann muß ich Sie<br />
enttäuschen. Dies ist kein gewöhnlicher Roman.<br />
Und ich werde es nicht zulassen, daß Sie so einfach<br />
Ihrem Alltag entfliehen.<br />
Haben Sie sich schon einmal überlegt, woher eigentlich<br />
Ihr Drang kommt, immer wieder neue<br />
Geschichten zu hören?<br />
Könnte es sein, daß Ihre eigene Lebensgeschichte<br />
nicht spannend genug ist?<br />
Möchten Sie etwas lesen über Menschen, denen<br />
es noch schlechter geht als Ihnen, damit Sie sich<br />
wenigstens für eine kurze Zeit etwas besser fühlen<br />
können?<br />
Oder möchten Sie etwas lesen über Menschen,<br />
die aus ihrem Leben ein Abenteuer gemacht haben,<br />
damit Sie sich für einmal nicht mit Ihrer<br />
selbstgeschaffenen Langeweile befassen müssen?<br />
Wenn Sie jetzt schon sauer auf mich sind, dann<br />
denken Sie bitte daran: Ich habe Ihnen nichts<br />
9
unterstellt. Ich stelle nur ein paar freche Fragen<br />
in den Raum.<br />
Wenn Sie Romane bloß lesen, um die Zeit totzuschlagen,<br />
dann dürfen Sie meine Zwischenbemerkungen<br />
getrost überspringen. Unser Held<br />
Gregor Kaspach würde das vermutlich auch tun.<br />
Wenn Ihnen Ihre Zeit jedoch etwas wert ist, dann<br />
empfehle ich Ihnen dringend, diesen Roman als<br />
Arbeitsbuch aufzufassen und die Fragen, die ich<br />
Ihnen zwischendurch immer wieder stellen werde,<br />
schriftlich zu beantworten. Wenn Sie das tun,<br />
dann verspreche ich Ihnen, daß sich in Ihrem<br />
Leben sehr vieles zum Positiven verändern wird.<br />
Ich freue mich darauf!<br />
10
Hier also meine ersten Fragen:<br />
1. Sind Sie zufrieden in Ihrem Beruf?<br />
2. Sind Sie glücklich in Ihrem Privatleben?<br />
Warum ich das frage? Ganz einfach. Unzufriedenheit<br />
im Beruf und Unglücklichsein im Privatleben<br />
sind die Haupt-Ursachen für Herz-<br />
Kreislauf-Krankheiten. Und Herz-Kreislauf-<br />
Krankheiten sind in unserer westlichen Zivilisation<br />
die Todesursache Nummer eins.<br />
Wenn Sie also bis heute geglaubt haben, daß solche<br />
Krankheiten rein »zufällig« irgendwelche<br />
unschuldigen Menschen überfallen, vergessen<br />
Sie’s!<br />
Sehr interessant sind auch die Antworten, die<br />
man auf solche Fragen immer wieder bekommt.<br />
Da heißt es zum Beispiel:<br />
»Eigentlich kann ich zufrieden sein!« (Offensichtlich<br />
ist man es nicht!)<br />
»Es könnte schlimmer sein!« (Es könnte aber<br />
auch besser sein, oder?)<br />
11
»Verglichen mit anderen Menschen in meinem<br />
Alter habe ich vieles erreicht!« (Aha, mehr darf<br />
man offensichtlich vom Leben nicht erwarten!)<br />
Sehen Sie, wie absurd das ist?<br />
Um zu wissen, wie es ihnen geht, müssen sich<br />
die meisten Menschen zuerst mit anderen Zeitgenossen<br />
vergleichen, und erst noch mit solchen,<br />
die sie nicht mögen.<br />
Wir wollen jedoch nicht an den Problemen hängenbleiben,<br />
sondern Lösungen suchen. Wenn Sie<br />
die beiden folgenden Fragen beantwortet haben,<br />
dürfen Sie sich wieder unserem Romanhelden<br />
zuwenden:<br />
1. Was müßte ich tun, um zufriedener zu werden<br />
im Beruf?<br />
12
2. Was müßte ich tun, um glücklicher zu werden<br />
im Privatleben?<br />
13
Zwei kleine Hinweise muß ich Ihnen noch geben:<br />
Viele Menschen schreiben als Lösung hin,<br />
daß sie die Stelle wechseln und sich scheiden<br />
lassen sollten. Vorsicht Falle! Wenn Sie solch<br />
radikale Maßnahmen als einzige Lösung sehen,<br />
dann gehören Sie zu jener Sorte von Menschen,<br />
die die Ursachen für ihre Probleme immer außen<br />
suchen. Entweder ist der Chef schuld oder<br />
die Mitarbeiter oder der Ehepartner.<br />
Bevor Sie zu radikaleren Mitteln greifen, suchen<br />
Sie doch einmal die Lösungen bei sich selbst, bei<br />
Ihrer Einstellung zu den Dingen. Vielleicht ist<br />
diese Erkenntnis neu für Sie: Die Dinge können<br />
Sie oftmals nicht ändern. Was Sie jedoch immer<br />
verändern können, ist Ihre Einstellung zu den<br />
Dingen.<br />
Nun aber zurück zu unserer Geschichte…<br />
14
2<br />
Bevor Gregor zum Flughafen gefahren war, hatte<br />
er sich noch rasch mit einem seiner ältesten<br />
Kunden getroffen. Charles Huang, Inhaber der<br />
Yin-Yang-Studios, war wie immer gewesen, überfreundlich<br />
und voller wohlwollender Gelassenheit.<br />
Aber vielleicht war es gerade das, was Gregor<br />
so nervös machte. Leute, die eine zu große<br />
Ruhe ausstrahlten, konnte er auf den Tod nicht<br />
ausstehen. Das konnte ja nicht echt sein!<br />
Gregor erinnerte sich an ein Gespräch, das er<br />
kürzlich mit seinem Bruder Bert geführt hatte.<br />
»Weißt du, was du bist«, hatte ihm Gregor an<br />
den Kopf geworfen, »ein Seminar-Tourist, jawohl.<br />
Du eilst von Seminar zu Seminar, liest gescheite<br />
Bücher und behauptest zu wissen, wie alles<br />
zusammenhängt, aber sieh dich einmal an. Hast<br />
du dir schon jemals überlegt, daß man aus diesem<br />
Wissen auch etwas machen könnte? Du bist<br />
jetzt 38 Jahre alt, und was hast du aus deinem<br />
Leben gemacht?«<br />
»Jetzt hast du wieder deine Yang-Phase«, war<br />
15
Berts Antwort gewesen, und Gregor hatte die<br />
Luft anhalten müssen, um ihm nicht vor allen<br />
Leuten eine runterzuhauen.<br />
Wahrscheinlich war es das, was ihn an Charles<br />
Huang und seinen Yin-Yang-Studios störte. Bert<br />
hatte ihm das mit dem Yin und Yang einmal erklärt.<br />
Was sollte das! »Weibliche und männliche<br />
Komponente hin oder her«, hatte Gregor unwirsch<br />
geantwortet, »wie wär’s, wenn du mal<br />
deinen Mann stellen würdest, oder meinetwegen<br />
deinen Yang!«<br />
Bert fand diese Bemerkung so daneben, daß er<br />
sich sogleich zwecks Meditation zurückzog. Er<br />
mußte »seine Mitte wiederfinden«, »seine Harmonie<br />
wieder ausbalancieren« und »seine Energieströme<br />
wieder in Gang bringen«.<br />
»Entsetzlich, was der Mensch alles für Wörter<br />
erfindet«, hatte Gregor ihm nachgerufen, »nur<br />
um der Welt nicht die Stirn bieten zu müssen!«<br />
Der leichte Druck auf seiner Brust erinnerte<br />
Gregor daran, daß er im Flughafen Hong Kong<br />
16
saß und auf sein Flugzeug nach Anchorage wartete.<br />
Es war wieder einmal Frühling, und seine<br />
Allergie meldete sich zu Wort. Er nahm zwei tiefe<br />
Züge aus dem Taschen-Inhalator, den er für<br />
solche Fälle immer bei sich trug, und fühlte sich<br />
gleich darauf wesentlich besser. Die Erstklaß-<br />
Lounge war um diese Zeit fast leer. Auf der Sitzgruppe<br />
ihm gegenüber saß ein ziemlich fettleibiger<br />
Amerikaner im Trainingsanzug, der gerade<br />
dabei war, das halbe Gratis-Buffet leerzuplündern<br />
und einem Mitreisenden zu erzählen,<br />
daß er Spielzeugfabrikant sei und in Hong Kong<br />
das Geschäft seines Lebens abgeschlossen habe.<br />
Hinter ihm saß eine etwa vierzigjährige Inderin<br />
in voller Montur, Sari oder wie das Ding hieß,<br />
mitsamt Kind (wahrscheinlich englische Privatschule,<br />
dachte Gregor) und einer ganzen Batterie<br />
von Vuitton-Koffern, so daß sich Gregor unweigerlich<br />
fragen mußte, was die beiden wohl in<br />
Anchorage wollten. Da fiel ihm ein, daß der Kurs<br />
Nummer 88 ja weiterflog nach Los Angeles. Er<br />
selbst würde in zwei Tagen diese Maschine be-<br />
17
steigen, um sich in Laguna Beach mit Sonja zu<br />
treffen.<br />
»Gottseidank gibt es auch Flüge, die mich von<br />
Alaska wieder wegbringen«, dachte er, »länger<br />
als drei Tage würde ich es in diesem Tramper-<br />
Kaff nicht aushalten.«<br />
Der Gedanke an seine Frau ließ auch nicht gerade<br />
Stimmung aufkommen. Er hatte nie begreifen<br />
können, daß Sonja ihn verlassen hatte. Und<br />
erst noch grundlos, nicht einmal ein anderer<br />
Mann hatte dahintergesteckt!<br />
»Ich verlasse dich aus Liebe«, hatte sie auf einen<br />
Zettel geschrieben, »daher suche bitte nicht<br />
nach Gründen.«<br />
So ein Unsinn! Dabei hatte sie sich immer Kinder<br />
gewünscht, und er war sogar damit einverstanden<br />
gewesen.<br />
»Ich mache dir so viele Kinder, wie du brauchst,<br />
um glücklich zu sein«, hatte er zu ihr gesagt.<br />
Am nächsten Tag war sie verschwunden.<br />
18
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Können Sie sich vorstellen, warum ein indischer<br />
Weiser einmal gesagt hat »Der Westen hat das<br />
Sterben verlernt, und der Osten das Leben«?<br />
Fallen Ihnen Parallelen auf zu Gregor und seinem<br />
Bruder Bert?<br />
Das ist das alte chinesische Symbol<br />
für Yin und Yang. Die alten<br />
Chinesen sprachen von zwei verschieden<br />
gepolten Energien, die<br />
das ganze Universum in Gang halten sollen, ganz<br />
ähnlich dem Minus- und Plus-Pol bei der elektrischen<br />
Energie:<br />
Yin Die weibliche Energie<br />
Die Erde (»Mutter Erde«)<br />
Der Minus-Pol<br />
Das empfangende Prinzip<br />
Passivität<br />
Die göttliche Energie<br />
19
Yang Die männliche Energie<br />
Der Himmel (Der »Vater« im Himmel)<br />
Der Plus-Pol<br />
Das gebende Prinzip<br />
Die Aktivität<br />
Die irdische Energie<br />
Die Hauptaufgabe der alten chinesischen Medizin<br />
bestand darin, diese beiden Energien auszubalancieren.<br />
Fällt Ihnen bereits etwas auf? Wie gut ist eigentlich<br />
Ihre Balance? Zwischen Aktivität und Meditation?<br />
Zwischen Handeln und Nachdenken?<br />
Zwischen Geben und Empfangen?<br />
Gregor ist der typische »Erfolgsmensch« unserer<br />
Tage mit einem Ungleichgewicht zugunsten<br />
der Yang-Energie.<br />
Sein Bruder Bert ist das pure Gegenteil. Er hat<br />
sich alle Aktivitäten abgeschminkt und hängt<br />
nur noch an Seminaren herum.<br />
20
Bitte beantworten Sie zwei Fragen, bevor Sie<br />
weiterlesen:<br />
1. Wie produktiv wäre wohl ein Mensch, der beide<br />
Energien ausbalanciert hat?<br />
2. Können Sie sich vorstellen, warum Sonja<br />
Gregor verlassen hat?<br />
21
3<br />
Gerade wollte Gregor seinen Laptop-Computer<br />
in Gang bringen, um das Angebot für Huang<br />
aufzusetzen, da verlangte die Lautsprecher-<br />
Stimme im gewohnten Singsang nach einem<br />
»Mister Käspätsch«, der sich bitte in der Erstklaß-Lounge<br />
melden solle. Gregor stand auf,<br />
schnappte sich im Vorbeigehen ein paar Erdnüsse<br />
vom Buffet und schlenderte zur Empfangsdame,<br />
bereits gefaßt auf die Nachricht, daß das<br />
Flugzeug heute abend nicht mehr starten würde.<br />
Die Adern an seinen Schläfen schwollen vorsorglich<br />
ein wenig an, bereit für den großen Ausbruch.<br />
»Mister Käspätsch?« fragte die hübsche Chinesin<br />
überfreundlich.<br />
»Äh, Kaspach, yes, Gregor Kaspach«.<br />
Das tiefausgeschnittene Dekolleté hatte ihn einen<br />
<strong>Moment</strong> lang beinahe aus der ärgerlichen<br />
Stimmung gebracht. Ohne sich viel anmerken<br />
zu lassen, griff er nach dem Telefonhörer, den<br />
ihm die junge Frau entgegenstreckte, und ver-<br />
23
suchte, beiläufig einen Blick auf ihre wohlgeformten<br />
Beine zu ergattern. Er malte sich schon<br />
aus, wie er das Markus schildern würde. Sein<br />
langjähriger Freund Markus Keller war der geborene<br />
Casanova und für solche Geschichten immer<br />
zu haben.<br />
»Weißt du«, würde Gregor zu ihm sagen, »das<br />
Girl hat mich mit ihrer weißblauen Uniform total<br />
angemacht. Nur schade, daß ich zu wenig Zeit<br />
hatte, sonst…«<br />
»Mister Kaspach«, säuselte die Empfangsdame<br />
mit sanfter Stimme, »it’s your father, please press<br />
number one to get the line«.<br />
Was hatte sie da gesagt? Sein Vater? Also, entweder<br />
hatte das Mädchen da etwas mißverstanden,<br />
oder jemand erlaubte sich einen ziemlich<br />
geschmacklosen Scherz. Sein Vater, Anton Kaspach,<br />
war vor vierzig Jahren gestorben. Gregor<br />
war damals gerade fünf Jahre alt gewesen. Mutter<br />
hatte ihm nie etwas über ihn erzählt. Gregor,<br />
seine um zwei Jahre ältere Schwester Ma-<br />
24
ia und der kleine Bruder Bert hatten sich selbst<br />
einen Reim machen müssen, was mit ihrem Vater<br />
geschehen war. In der Schule hatte jemand<br />
einmal das Gerücht in die Welt gesetzt, Anton<br />
Kaspach sei ein Nazi gewesen, und zwar einer<br />
der ganz schlimmen, Hilfsleiter eines Konzentrationslagers<br />
oder so etwas. Kurz vor Hitlers<br />
Untergang sei er dann unter falschem Namen<br />
untergetaucht und lebe heute vermutlich irgendwo<br />
in der Karibik.<br />
Daß sein Vater noch leben sollte, stimmte mit<br />
Sicherheit nicht, das wußte Gregor aufgrund eines<br />
Totenscheins, den seine Schwester im Sekretär<br />
ihrer Mutter gefunden hatte. Vor dreieinhalb<br />
Jahren, kurz bevor Mutter ihrer heimtückischen<br />
Krankheit erlegen war, hatte sie noch zu den<br />
Kindern gesagt »Vergeßt euren Vater nicht« und<br />
dabei auf den alten Sekretär an der Südwand<br />
des Wohnzimmers gedeutet. Mehr war damals<br />
aus ihr nicht herauszukriegen, und nachdem sie<br />
im Krankenhaus ihren letzten gramerfüllten<br />
Seufzer getan hatte, entdeckte Maria eben die-<br />
25
sen Totenschein. Er bezeugte, daß ein gewisser<br />
Anton Kaspach, geboren 1909 in Travemünde,<br />
im Jahre 1954 auf der Karibikinsel St. Thomas<br />
an Herzversagen gestorben sei.<br />
»Hello«, meldete sich Gregor vorsichtig.<br />
»Gregor?« entgegnete eine sonore, leicht rauchige<br />
Männerstimme mit fragendem Unterton.<br />
»Gregor, bist Du’s?«<br />
»Ja, wer ist am Apparat?« Gregors Stimme klang<br />
schon etwas unwirsch. Er hatte weiß Gott Gescheiteres<br />
zu tun als hier in einer Lounge nachts<br />
um zehn die Rätsel irgend eines Witzboldes zu<br />
lösen.<br />
»Gregor, ich bin’s, dein Vater…«<br />
Dann hatte die Frau also doch richtig gehört.<br />
Gregors Puls begann zu rasen, die Adern an seinen<br />
Schläfen schwollen zu unansehnlichen blauen<br />
Regenwürmern an, wie immer, wenn er sich<br />
maßlos ärgerte. Was erlaubte sich dieser Kerl<br />
eigentlich? Woher wußte er überhaupt, daß Gregor<br />
hier war und auf seinen Flug nach Anchorage<br />
wartete? Gregor atmete einmal tief durch und<br />
26
gab sich Mühe, seine Aufgebrachtheit zu verbergen.<br />
»Hören Sie, ich bin seit heute morgen um sechs<br />
Uhr auf den Beinen und mein Flugzeug hat Verspätung.<br />
Es tut mir leid, wenn ich nicht zu Scherzen<br />
aufgelegt bin. Bitte nennen Sie mir jetzt Ihren<br />
Namen oder ich lege auf. Okay?«<br />
Das letzte Wort klang mehr wie ein heiseres<br />
Krächzen. Gregor war noch nie besonders gut<br />
gewesen im Überspielen von Ärger.<br />
»Nein, Gregor, nicht aufhängen, bitte. Ich muß<br />
dringend mit dir sprechen. Wir beide sind in großer<br />
Gefahr. Ich tue das nicht meinetwegen, ich<br />
bin ein alter Mann, der ohnehin bald sterben<br />
muß. Aber du, Gregor, du hast noch eine Aufgabe<br />
zu erfüllen. Bitte, bitte, glaube mir, hänge<br />
nicht ein, bitte!«<br />
Gregor war völlig verwirrt. Schweißperlen rollten<br />
ihm von der Stirn und formten auf seinen<br />
Wangen kleine Bächlein.<br />
»Are you okay, Sir?« fragte die schöne Chinesin,<br />
und ein Blick auf ihren kleinen, zarten Körper<br />
27
erinnerte Gregor wieder daran, wo er sich befand.<br />
Die Kleine war sich offenbar von Geschäftsleuten<br />
einiges gewöhnt, jedenfalls war sie sofort<br />
mit ein paar Kleenex-Tüchern zur Stelle.<br />
»It’s okay«, versuchte er sie zu beruhigen, »nur<br />
ein wenig Ärger im Geschäft.«<br />
Gregor räusperte sich und versuchte, so bestimmt<br />
wie möglich in den Hörer zu sprechen.<br />
»Also, ich sage Ihnen jetzt zum letzten Mal, entweder<br />
Sie verraten mir, wer Sie sind und was<br />
Sie wollen, oder ich rufe die Flughafen-Polizei<br />
und lasse herausfinden, von wo aus Sie anrufen.«<br />
»Schon gut, Gregor, ich weiß, das ist alles nicht<br />
so einfach für dich. Ich melde mich wieder, wenn<br />
du in Anchorage bist…«<br />
»<strong>Moment</strong>!« Gregor wollte dem mysteriösen Unbekannten<br />
gerade erklären, daß sein Vater seit<br />
vierzig Jahren tot sei, da hatte dieser bereits<br />
eingehängt.<br />
»Mister Kaspach, your flight is now boarding«,<br />
flüsterte die Chinesin in der aufreizenden Uni-<br />
28
form, »is there anything I can do for you, before<br />
you leave?«.<br />
Wenn Markus dabei gewesen wäre, hätte Gregor<br />
scherzend gesagt »ja, Sie könnten mir einen<br />
Gutenachtkuß geben«, aber dazu fehlte ihm im<br />
<strong>Moment</strong> der Humor.<br />
29
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Bitte entschuldigen Sie die leicht sexistischen<br />
Szenen im letzten Kapitel. Aber ich muß ja denjenigen<br />
unter Ihnen, die nur die Geschichte lesen<br />
wollen, ein wenig »Sex and Crime« liefern.<br />
Außerdem hat mich mein Manager Björn Walker<br />
um ein paar solche Szenen gebeten. Nicht<br />
daß er so etwas braucht, neeeeeiiinnn… er benötigt<br />
dieses Material nur zu Studienzwecken!<br />
Ich habe diesmal nur eine Frage, dann dürfen<br />
Sie sofort weiterlesen:<br />
Wenn Sie an Ihre Eltern denken, empfinden Sie<br />
Seelenfrieden oder herrscht da »Krieg der Emotionen«?<br />
Wenn bei Ihnen das zweite zutrifft, und wenn<br />
Sie etwas mehr Seelenfrieden haben möchten,<br />
dann empfehle ich Ihnen die folgende Übung:<br />
Stellen Sie sich vor, Sie setzen sich mit demjenigen<br />
Elternteil, der Ihnen Probleme bietet, zusammen<br />
und besprechen mit dieser Person alles,<br />
was Sie verletzt hat. Tun Sie das bitte nur in<br />
30
Ihrer Vorstellung! Sie brauchen also niemanden<br />
wirklich einzuladen. Und es spielt auch keine<br />
Rolle, ob Sie Ihre Eltern kennen oder nicht. Laden<br />
Sie sie einfach in Ihr »geistiges« Wohnzimmer<br />
ein und erfinden Sie einen klärenden Dialog.<br />
Zum Schluß sagen Sie zu dieser Person:<br />
»Jetzt lasse ich dich endgültig ziehen. Du hast<br />
keine Macht mehr über mich. Ich verzeihe dir.<br />
Bitte geh’ jetzt!«<br />
Es ist durchaus möglich, daß Sie sich im <strong>Moment</strong><br />
noch gegen diese Übung wehren, weil Sie glauben,<br />
daß man so etwas nicht verzeihen darf. Aber<br />
ich garantiere Ihnen: Wenn Sie sich dazu durchringen,<br />
werden Sie sich selbst befreien von einer<br />
zentnerschweren Last. Und Sie werden den<br />
Boden ebnen für Glück und Erfolg wie nie zuvor!<br />
Denken Sie daran: Derjenige, der etwas<br />
nachträgt, trägt die Last!<br />
31
4<br />
Die beiden Männer, die sich anschickten, in eine<br />
der Gondeln Richtung Sentosa-Island zu steigen,<br />
sahen aus wie deutsche oder skandinavische<br />
Touristen. Es war heiß und feucht in Singapur,<br />
typisches Frühlingswetter für diese Gegend. Wie<br />
in einer Waschküche, dachte der Größere der<br />
beiden, ein über zwei Meter großer Hüne mit<br />
blondem Haar und einer etwa drei Zentimeter<br />
langen Narbe über dem rechten Auge. Sein Begleiter<br />
war ebenfalls blond, von mittlerer Statur,<br />
und auch ihm schien es entschieden zu heiß<br />
zu sein, obwohl er nur ein Paar weiße Shorts,<br />
ein blaurot geblümtes Hawaii-Hemd und ein<br />
paar weiße Tennisschuhe anhatte.<br />
»Warum eigentlich Sentosa, Führer?« wandte er<br />
sich an den großen Blonden, während er mit seiner<br />
Gestik auszudrücken versuchte, daß es kühlere<br />
Orte gäbe als ausgerechnet die Gondelbahn<br />
auf Singapurs Vergnügungsinsel.<br />
»Warum wohl, Schulze?« gab der andere unwirsch<br />
zur Antwort.<br />
33
»Diese Leute machen Ihnen ziemlich zu schaffen,<br />
was?«<br />
»Das kann man wohl sagen. Aber ich versichere<br />
Ihnen eines, Schulze, wir werden das Gerät bekommen,<br />
koste es, was es wolle. Es gehört in den<br />
Besitz von verantwortungsvollen Menschen, die<br />
eine Vision haben für eine bessere Welt, die wissen,<br />
was es bedeutet, für eine reine Menschenrasse<br />
zu kämpfen.«<br />
»Wo ist es denn jetzt?«<br />
»Das werden Sie herausfinden, Schulze. Das einzige,<br />
was wir wissen, ist, daß sein Sohn Gregor<br />
offenbar die Pläne hat.«<br />
»Und wo finde ich diesen Gregor?« fragte Schulze,<br />
der bereits hoffte, daß er dieses drückende<br />
Klima für eine Weile würde verlassen können.<br />
»Im Augenblick sitzt er im Flugzeug zwischen<br />
Hong Kong und Anchorage«, gab der Hüne zur<br />
Antwort, »unser Mann am Flughafen Hong Kong<br />
hat schon mal für eine kleine Warnung gesorgt.«<br />
Beim letzten Satz verzog er sein häßliches Narbengesicht<br />
zu einer hämischen Fratze.<br />
34
»Gerd Hafenkamps Warnungen kenne ich«, sagte<br />
Schulze, wobei er sich im Ton nicht so recht<br />
zwischen aufgesetzter Schmeichelei und ängstlichem<br />
Respekt entscheiden mochte.<br />
»Kaspach bleibt einen Tag in Anchorage«, fuhr<br />
der Große weiter, »dann ist er für den Weiterflug<br />
nach Los Angeles gebucht. Seine weiteren<br />
Pläne kennen wir noch nicht; sie werden oft erst<br />
in letzter Minute von seinem Büro in Hamburg<br />
festgelegt. Rufen Sie dort unter einem Vorwand<br />
an und versuchen Sie, weiteres herauszufinden.«<br />
»Wird gemacht, Führer«, schloß Schulze die Konversation<br />
ab, während die Gondel mit dem üblichen<br />
metallenen Geräusch in die Station einfuhr.<br />
Die beiden Männer stiegen aus, als ob sie sich<br />
nicht kennen würden, und gingen in verschiedenen<br />
Richtungen davon.<br />
35
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Gibt es da überhaupt etwas dazu zu sagen?<br />
Ach ja, vielleicht dies: Neonazi-Zeug kommt immer<br />
gut an, oder? Wie heißt es so schön: »Nie<br />
vergessen, was im Dritten Reich passiert ist!«<br />
Als ob ein vernünftig denkender Mensch jemals<br />
vergessen könnte, was eine Nation fertigbringt,<br />
die vom Sicherheitsdenken geprägt ist. Und diejenigen,<br />
die es bereits vergessen haben, werden<br />
sich auch nicht verändern, wenn man sie daran<br />
erinnert.<br />
Aber lesen wir noch ein wenig weiter. Es wird<br />
grad so schön spannend…<br />
36
5<br />
Normalerweise hätte Gregor sich kurz nach dem<br />
Start schlafen gelegt, aber diesmal war das anders.<br />
Er hatte sich das »Wall Street Journal« vom<br />
Zeitungswagen geschnappt und versucht, den<br />
routinierten Vielflieger zu mimen, doch er konnte<br />
sich keine Sekunde konzentrieren. Die Gedanken<br />
surrten wie wild in seinem Kopf herum. Was<br />
war das bloß für ein geschmackloser, hirnrissiger,<br />
unverschämter Typ gewesen vorhin am Telefon?<br />
Was meinte er mit »wir sind in Gefahr»? Und<br />
würde er die Frechheit besitzen, sich in Anchorage<br />
nochmals zu melden?<br />
Gregor spürte wieder diesen Druck auf der Brust,<br />
und er war froh, als die beiden Stewardessen endlich<br />
mit dem Kaviarwagen auffuhren und ihn fragend<br />
anblickten.<br />
»Von allem ein wenig«, meinte Gregor müde, und<br />
während die eine Stewardeß, eine blutjunge, aber<br />
sichtlich gelangweilte Asiatin, damit beschäftigt<br />
war, Beluga-Kaviar, Eigelb, gehackte Zwiebeln,<br />
Sauerrahm und eine Handvoll Blinis auf Gre-<br />
37
gors Teller zu laden, wollte die andere wissen,<br />
ob er heute noch bis nach Los Angeles fliege.<br />
»Nein, leider nicht«, meinte Gregor, »ich habe<br />
noch zwei Tage in Anchorage zu tun.«<br />
»Sie reisen wohl sehr viel?«<br />
Gregor betrachtete die Fragerin von oben bis<br />
unten. Sie war Amerikanerin, stellte sich heraus,<br />
in Atlanta geboren und aufgewachsen, eigentlich<br />
hatte sie mal Philosophie studiert, dann<br />
geheiratet, zwei Kinder, das Übliche, und jetzt,<br />
wo die Kinder groß waren, wollte sie wieder ein<br />
bißchen was arbeiten, ein wenig unter die Leute<br />
kommen.<br />
Die Frau sieht nicht aus, als hätte sie zwei erwachsene<br />
Kinder, dachte Gregor bei sich, und<br />
während er sie so betrachtete, mit ihren blondgrau<br />
gelockten, halblangen Haaren, ihrem sehr<br />
freundlichen, jedoch bestimmten Ausdruck im<br />
Gesicht, da überfiel ihn wieder dieses eigenartige<br />
Gefühl. Einen kurzen Augenblick lang wußte<br />
er nicht mehr, wo er war. Auch sein Zeitgefühl<br />
ließ ihn vollkommen im Stich. Dies alles hätte<br />
38
genauso gut in einem Flugzeug zwischen Hamburg<br />
und Rom geschehen können, oder im Greyhound-Bus<br />
zwischen Chicago und Los Angeles.<br />
Und es hätte genauso gut Herbst sein können<br />
anstatt Frühling.<br />
Ob es das wohl war, was sein Bruder immer<br />
meinte, wenn er davon erzählte, wie er bei der<br />
Meditation sämtliches Raum- und Zeitgefühl<br />
verlor?<br />
»Would you like Champagne or Vodka, Mister<br />
Kaspach? Mister Kaspach!«<br />
Gottseidank, die mütterlich-erotische Amerikanerin<br />
hatte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen<br />
zurückgeholt.<br />
»Sorry, I was just meditating. Champagne<br />
please.«<br />
Was war den bloß in ihn gefahren? Er und meditieren!<br />
Er hatte wirklich dringend Urlaub nötig.<br />
»Oh, Sie meditieren? Das ist aber interessant!«<br />
Die junge Asiatin hatte offensichtlich für einen<br />
<strong>Moment</strong> ihre Langeweile vergessen. Sie habe das<br />
auch schon immer lernen wollen, aber bisher<br />
39
hätte sie keine Zeit dazu gehabt. Das müsse<br />
furchtbar schwierig sein. Und wie lange er denn<br />
gebraucht hätte, bis er es richtig beherrschte.<br />
»Ach wissen Sie, meditieren, das beherrscht man<br />
eigentlich nicht, das tut man einfach.« Irgendwie<br />
mußte er diese Show jetzt zu Ende spielen.<br />
Bert würde sich wahrscheinlich gekugelt haben<br />
vor Lachen. Und Markus erst recht.<br />
»Hey,« würde er ihm mit einem etwas zu groben<br />
Schubs auf die Schulter zuraunen, »du hast hier<br />
zwei Frauen vor dir, verstehst du, zwei Vertreterinnen<br />
des weiblichen Geschlechts. Was meinst<br />
du, erwarten die von dir? Dein Geschwafel über<br />
Meditation oder sonst was Heiliges? Sieh zu, daß<br />
du die beiden in Anchorage treffen kannst. Denen<br />
wird’s sonst langweilig!«<br />
»Do you know a good night club in Anchorage?«<br />
Gregor wußte nicht so recht, ob er die Frage an<br />
»Miss Meditation« oder an »Missis Mütterliche<br />
Geborgenheit« richten sollte. Aber die beiden<br />
schienen ihn nicht zu hören.<br />
»Meditation ist so faszinierend, findest du nicht<br />
40
auch?« wollte die Jüngere von der Älteren wissen,<br />
worauf jene zur Antwort gab, sie meditiere<br />
regelmäßig, das heiße, eigentlich seien es mehr<br />
so Entspannungsübungen. Aber wenn man das<br />
immer mache, werde man ein ganz anderer<br />
Mensch.<br />
Wenn Markus dabei gewesen wäre, dann hätte<br />
Gregor jetzt geantwortet »um Sie herum wird mir<br />
auch ganz anders«, und beide hätten herzhaft<br />
gelacht. Aber Gregor war nicht zum Scherzen<br />
aufgelegt, dazu war er heute zu lange auf den<br />
Beinen gewesen.<br />
Statt dessen mußte er an Becky denken.<br />
Diese Geborgenheit, diese reife und doch erotische<br />
Ausstrahlung war es wohl, die er an ihr ein<br />
wenig vermißte. Er erinnerte sich noch genau<br />
an damals, als sie sich kennenlernten…<br />
Es war an einem schwülen Sommertag in Bern<br />
gewesen. Genauer gesagt, am ersten August,<br />
denn die sonst eher zurückhaltenden Schweizer<br />
hatten ihre Hauptstadt zur Nationalfeier wun-<br />
41
derschön herausgeputzt. In allen Straßen hingen<br />
Fahnen mit dem weißen Schweizerkreuz auf<br />
rotem Grund und dem schwarzen Berner Bären,<br />
der dem Betrachter seine lange Zunge zeigte. An<br />
jeder Straßenecke waren Kinder damit beschäftigt,<br />
ihr schon vor Wochen eingekauftes Feuerwerk<br />
abzubrennen. Und selbst die Drogensüchtigen<br />
bei der alten Barockkirche schauten etwas<br />
patriotischer in die Welt als sonst.<br />
Gregor hatte in der Zeitung gelesen, daß die<br />
Berner als erste in Europa in ihren Stadtbädern<br />
das Baden »oben ohne« erlaubt hatten. Das mochte<br />
zwar für das sonst so bieder und verschlafen<br />
daherkommende Bern enorm fortschrittlich klingen,<br />
aber Gregor wußte, daß die Bewohner der<br />
alten Zähringer-Stadt sich seit Jahren alle Mühe<br />
gaben, ihr mittelalterliches Image loszuwerden.<br />
So hatten sie es auch geschafft, sämtliche Fußgänger<br />
an einem der historisch interessantesten<br />
Plätze Europas in den Untergrund zu verbannen,<br />
und eine, wie man ihm sagte, einmalige<br />
Barockkirche zur Verkehrsinsel zu degradieren.<br />
42
Dennoch wollte sich Gregor an diesem heißen<br />
August-Nachmittag mit eigenen Augen überzeugen,<br />
ob die Bernerinnen von diesem großzügigen<br />
Angebot auch wirklich Gebrauch machten.<br />
Er schmunzelte beim Gedanken daran, daß einige<br />
Regierungsbeamte von ihren Büros aus einen<br />
herrlichen Blick auf das Stadtbad Marzili<br />
genossen. Die Fernrohr-Verkäufer, sinnierte er,<br />
dürften in der Bundesstadt jetzt einiges zu tun<br />
haben. Und ihm fiel der Scherzbold ein, der in<br />
der Straßenbahn lauthals den neuesten Beamten-Witz<br />
zum besten gegeben hatte: »Die Beamten<br />
haben im Frühling die härteste Zeit zu überstehen:<br />
Sie gehen vom Winterschlaf direkt in die<br />
Frühjahrsmüdigkeit!«<br />
Damals hatte er darüber lauthals lachen müssen.<br />
Jetzt spürte er nur wieder seinen Druck auf<br />
der Brust. Außerdem fing sein Arm an zu schmerzen;<br />
offenbar hatte er im Fitneß-Club in Hong<br />
Kong doch ein wenig übertrieben mit seinen morgendlichen<br />
Kraftübungen.<br />
43
Das Stadtbad war eine ziemliche Enttäuschung<br />
gewesen. »Nur die Häßlichen kommen oben ohne<br />
daher«, hatte er Markus am Telefon berichtet,<br />
»die Schönen halten sich bedeckt.«<br />
»Und sonst, was läuft sonst so?« hatte Markus<br />
ungeduldig gefragt, wohl wissend, daß das noch<br />
nicht alles sein konnte.<br />
»Tja, und sonst führe ich Berns hübschestes<br />
Mädchen heute abend zum Essen aus.«<br />
Becky war ihm sofort aufgefallen. Er war gerade<br />
dabei gewesen, in die Marzilibahn, die kürzeste<br />
Drahtseilbahn Europas, einzusteigen, die ihn<br />
auf die Bundesterrasse bringen sollte. Anschließend<br />
wäre es nur ein kurzer Spaziergang zu seinem<br />
Hotel gewesen, einem typischen Berner<br />
Luxusbunker, der sich zwar das beste Haus am<br />
Platz nannte, aber immer noch weit unter dem<br />
internationalen Standard dahinvegetierte. Am<br />
Vorabend hatte sich Gregor tödlich über den<br />
Einfaltspinsel von Maître d’Hôtel aufgeregt, der<br />
leicht schwänzelnd und mit übertrieben gespielter<br />
Vornehmheit in blumigsten Worten »sein«<br />
44
Gourmet-Menu zum Besten zu geben wußte, jedoch<br />
hintenherum seine Angestellten wie drittklassige<br />
Lakaien behandelte.<br />
Doch diese kritischen Gedanken waren in den<br />
nächsten Sekunden aus seinem Kopf verbannt,<br />
als er im Schatten eines riesigen Kastanienbaums<br />
ein Mädchen erblickte, das offenbar schon<br />
länger erfolglos versucht hatte, sein bockiges<br />
Mofa in Gang zu setzen. Es kam anscheinend,<br />
wie er, direkt aus dem Stadtbad und war nur<br />
mit einem schneeweißen Bikini, einem leichten,<br />
rosa und hellblau geblümten Sommerhemd und<br />
schwarzen Badeschuhen bekleidet, so daß Gregor<br />
sich ungehindert an diesem makellosen,<br />
braungebrannten Körper weiden konnte.<br />
»Mein Gott, so viel Schönheit auf einem Haufen«,<br />
rief er innerlich aus und eilte der jungen<br />
Frau flinken Schrittes zu Hilfe.<br />
»Haben Sie Werkzeug dabei?« wollte er wissen.<br />
»Ou, das ist aber schaurig lieb, daß Sie mir helfen<br />
wollen, ja, hier hinten in der Satteltasche«,<br />
gab das Mädchen mit unverkennbarem Schwei-<br />
45
zer Akzent zur Antwort.<br />
Gregor schraubte fachmännisch die Zündkerze<br />
aus der Halterung, rieb sie mit einem Taschentuch<br />
sauber, prüfte den Abstand der beiden Elektroden,<br />
schraubte sie wieder ein und setzte mit<br />
einem lässigen Schlag die Zündkappe auf.<br />
»So, jetzt können Sie’s nochmals versuchen«, forderte<br />
er das Mädchen auf, insgeheim hoffend,<br />
daß das Mofa noch nicht auf Anhieb anspringen<br />
würde und er sich noch eine Weile an diesem<br />
traumhaften Geschöpf würde ergötzen können.<br />
»Hey, Wahnsinn! Sie sind ja Spitze!« rief das<br />
Mädchen aus, nachdem ihr Mofa bereits beim<br />
ersten Versuch gestartet war. »Wie kann ich Ihnen<br />
danken!«<br />
Letzteres war möglicherweise nicht als echte<br />
Frage gedacht, aber Gregor war dennoch augenblicklich<br />
mit einer Antwort zur Stelle: »Sie könnten<br />
mir Bern zeigen. Ich kenne diese Stadt nämlich<br />
noch viel zu wenig, obwohl ich geschäftlich<br />
oft hier bin.«<br />
Ein wenig flunkern mußte ja wohl unter den<br />
46
gegebenen Umständen erlaubt sein. Außerdem<br />
würde ihm das Markus nie verzeihen, wenn er<br />
sich eine solch einmalige Gelegenheit durch die<br />
Latten gehen ließ.<br />
»Sie sind aus Deutschland, oder?« fragte das<br />
Mädchen mit unschuldigem Blick.<br />
»Ja, aus Hamburg«, gab Gregor zur Antwort.<br />
»Hamburg muß schaurig schön sein. Ich habe<br />
eine Freundin, die immer davon schwärmt.« Das<br />
leicht holprige Schweizer Hochdeutsch machte<br />
dieses junge Ding nur noch begehrenswerter.<br />
»Darf ich fragen, wie Sie heißen?« wagte Gregor<br />
den nächsten Vorstoß.<br />
»Camenzind, und Sie?«<br />
»Kaspach, Gregor Kaspach.« Gregor war sich von<br />
seinen häufigen Reisen nach Amerika gewohnt,<br />
sich mit Vornamen vorzustellen, und irgendwie<br />
kam ihm diese distanzierte Siezerei in deutschsprachigen<br />
Ländern etwas komisch vor.<br />
»Frau Camenzind, sehr erfreut.« Gregor streckte<br />
der Frau seine Hand entgegen. »Ist das ein<br />
holländischer Name?«<br />
47
Die junge Dame auf dem Mofa lachte lauthals<br />
auf und zeigte dabei ihre blendend weißen Zähne.<br />
»Nein, nein, mein Vater kommt aus dem Kanton<br />
Graubünden. Camenzind ist ein typisches<br />
Bündner Geschlecht. Übrigens… Fräulein.«<br />
»Fräulein was?«<br />
»Fräulein Camenzind, nicht Frau. Ich bin noch<br />
ledig.«<br />
»Das kann auch nur in der Schweiz passieren«,<br />
dachte Gregor. Da gab man sich als alter Macho<br />
alle Mühe, das Wort »Fräulein« endlich aus dem<br />
männlichen Wortschatz zu streichen, und schon<br />
sehnten sich die Frauen wehmütig danach zurück.<br />
»Ja, dürfen denn so junge Fräuleins schon mit<br />
so alten Onkels sprechen?« Gregor war jetzt wieder<br />
zur Höchstform aufgeblüht.<br />
»Sie, also geht’s eigentlich noch? Ich werde nächstes<br />
Jahr 23.« Fräulein Camenzind spielte Entsetzen.<br />
Und sie spielte es so entzückend, daß<br />
Gregors unterschwelliger Wunsch in diesem<br />
Augenblick zum festen Entschluß reifte: Er muß-<br />
48
te diese Frau haben, koste es was es wolle.<br />
Sie hatten abgemacht, daß man sich um halb<br />
sieben zwecks Stadtbesichtigung beim Rosengarten<br />
treffen würde. Nachdem sich Gregor in seinem<br />
Hotelzimmer in Windeseile rasiert und geduscht<br />
hatte, schnappte er sich in der Hotelvorfahrt<br />
ein Taxi und fuhr zum vereinbarten Treffpunkt.<br />
Der Taxifahrer war wieder einmal einer von der<br />
üblichen Sorte. Während Gregor die prachtvoll<br />
geschmückten Häuser bewunderte und wissen<br />
wollte, wo man denn in Bern gut und gemütlich<br />
essen könne, meinte das kettenrauchende Wrack<br />
hinter dem Lenkrad, man bekomme überall etwa<br />
den gleichen Fraß vorgesetzt. Und als Gregor<br />
sich erkundigte, ob das Wetter in der Schweiz<br />
schon lange so schön gewesen sei, er sei halt gerade<br />
von Australien zurückgekehrt, da entgegnete<br />
der Taxifahrer, er hätte vor zwanzig Jahren<br />
in Australien eine Stelle als Koch antreten<br />
können, und er könnte sich heute noch ohrfei-<br />
49
gen, daß er es nicht getan habe.<br />
»Warum haben Sie es nicht getan?« wollte Gregor<br />
wissen.<br />
»Ach wissen Sie, das ist alles nicht so einfach«,<br />
war die Antwort.<br />
»Na ja, das ist ja dann wohl Grund genug«, dachte<br />
Gregor, fest entschlossen, sich nicht den Abend<br />
verderben zu lassen, und er war froh, als er endlich<br />
am Rosengarten aussteigen konnte.<br />
Seine Begleiterin war bereits dort, ebenfalls zehn<br />
Minuten früher als verabredet, so daß sie gleich<br />
losmarschieren konnten.<br />
»Zuerst zeige ich Ihnen die schönste Aussicht von<br />
Bern.«<br />
Fräulein Camenzind gab sich Mühe, beim Anblick<br />
der vielen bunten Rosen nicht allzu sehr<br />
auszuflippen, aber Gregor spürte ihre kindliche<br />
Freude, und ihn beschlich ein Gefühl von Wehmut.<br />
»Ich muß wieder lernen, mich zu freuen«,<br />
dachte er, »wenn ich nur wüßte, wie man das<br />
macht.«<br />
»Wollen Sie etwas trinken?«<br />
50
Sie zeigte auf das Gartenrestaurant am Ende des<br />
Kiesweges und Gregor nickte dankbar. Er war<br />
froh, diesem intensiven Blumenduft für eine<br />
Weile zu entfliehen. Irgendwie machte er ihn<br />
melancholisch, und dafür war jetzt wirklich nicht<br />
der richtige Zeitpunkt.<br />
Gregor bestellte ein alkoholfreies Bier, seine<br />
Begleiterin ebenfalls, obwohl sie wahrscheinlich<br />
lieber eine Cola getrunken hätte. So jedenfalls<br />
schätzte Gregor sie ein.<br />
»Also, mit meinen Reiseleiterinnen war ich schon<br />
immer per Du.«<br />
Gregor war froh, daß ihm dieser Satz eingefallen<br />
war, denn langsam aber sicher hing ihm dieses<br />
Fräulein-Getue zum Hals heraus.<br />
»Ich heiße Rebecca. Die meisten sagen Becky zu<br />
mir.«<br />
»Gregor. Hallo Becky. Schön, daß ich dich getroffen<br />
habe.«<br />
»Ja, ich war auch froh, daß du gekommen bist.<br />
Sonst hätte ich zu Fuß nach Hause müssen, und<br />
weißt du, wie hätte mich das genervt.«<br />
51
Gregor konnte mit knapper Not einen Lacher<br />
unterdrücken. Diese schweizerische Ausdrucksweise<br />
war einfach zu komisch.<br />
»Erzähl’ mir doch ein wenig von dir.« Gregor war<br />
langsam neugierig geworden. »Woher kommst<br />
du? Was machst du in Bern? Lebst du alleine<br />
hier?«<br />
»Also, meine Eltern haben ein Hotel im Kanton<br />
Graubünden, in Arosa, das kennt ihr Deutschen<br />
sicher auch. Ich habe bei der Post Telefonistin<br />
gelernt, und jetzt arbeite ich in einem großen<br />
Telekommunikations-Betrieb am Empfang. Was<br />
wolltest du noch wissen?«<br />
»Ob du hier alleine lebst.«<br />
»Ja, jetzt wieder.«<br />
»Was heißt das?«<br />
»Das heißt, daß ich meinen Freund vor zwei<br />
Wochen fortgeschickt habe. Er ging mir auf die<br />
Nerven.«<br />
»Der Mann muß aber ziemlich blöd sein, wenn<br />
er sich von dir fortschicken läßt. Ich hätte bis<br />
zum letzten Mann dafür gekämpft, bei dir blei-<br />
52
en zu dürfen.«<br />
Die Hitze und das Bier, obschon alkoholfrei,<br />
hinterließen bei Gregor offensichtlich Spuren.<br />
Jedenfalls wurde er mit jedem Wort mutiger.<br />
»Du kennst mich ja noch gar nicht«, meinte Becky<br />
mit gespielter Zurückhaltung.<br />
»Du sagst es richtig, noch nicht. Aber das kann<br />
sich doch ändern, nicht?«<br />
Der Kellner, schon wieder einer der mürrischen<br />
Sorte, wollte einkassieren. Er habe Zimmerstunde.<br />
»Als ob das jemanden interessieren würde«,<br />
dachte Gregor und wunderte sich einmal<br />
mehr, warum die Schweizer, die seiner Meinung<br />
nach im Schlaraffenland lebten, einen solchen<br />
Hang zum Unglücklichsein hatten.<br />
Die beiden standen auf und schlenderten auf die<br />
Mauer zu, die den Rosengarten abgrenzte und<br />
von der aus man, da hatte Becky völlig recht<br />
gehabt, einen umwerfenden Blick über ganz Bern<br />
genoß. Friedlich und behäbig lag sie da, diese<br />
achthundert Jahre alte Stadt, selbstsicher eingebettet<br />
in einer der zahlreichen Flußschlaufen<br />
53
der Aare, und das friedliche Bild wurde nur ab<br />
und zu unterbrochen von ein paar krachenden<br />
Feuerwerkskörpern, die diese kleinen Schweizer<br />
Rotzlöffel respektlos »Frauenfürze« nannten.<br />
»Was machst denn du eigentlich in Bern«, wollte<br />
Becky wissen.<br />
Gregor hatte sich auf die Mauer gesetzt, sein<br />
Gesicht halb zur abendlichen Stadt und halb zu<br />
seiner hübschen Begleiterin gewandt. Er hätte<br />
sie gerne bei der Hand genommen, aber das<br />
schien ihm noch ein wenig verfrüht.<br />
»Ich bin Area Sales Manager«, sagte er mit leicht<br />
verschämter Übertreibung. »Klingt gut, nicht?«<br />
»Was ist das? Etwas mit Verkauf, das habe ich<br />
verstanden.«<br />
»Ja, eine Art Gebietsverkaufsleiter. Ich arbeite<br />
für eine Firma in Hamburg. Wir stellen schlüsselfertige<br />
Anlagen für Tonstudios her.«<br />
»Dann macht Ihr Schallplatten-Aufnahmen und<br />
so?« Gregor schmunzelte innerlich über Beckys<br />
Ahnungslosigkeit.<br />
»Nein, wir installieren nur die Anlagen dafür.<br />
54
Aber auch für Film- und Fernsehstudios. Und<br />
natürlich für den Funk.«<br />
»Was für Funk?«<br />
»Rundfunk-Studios. Radio heißt das bei euch.«<br />
»Dann bist du ja ein halber Filmstar. Kennst du<br />
jemanden vom Fernsehen?«<br />
»Meinst du, jemanden vom Programm? Nein, mit<br />
denen kommen wir nicht in Kontakt. Ich habe<br />
meistens mit den Technikern zu tun.«<br />
»Das muß wahnsinnig interessant sein. Ich habe<br />
früher davon geträumt, zum Fernsehen zu gehen.«<br />
Das unschuldige Ding hatte offenbar noch immer<br />
nicht begriffen, daß Gregor mit den Leuten<br />
vor der Kamera gar nichts zu tun hatte. Aber<br />
gerade das konnte er als Chance nutzen, Becky<br />
ein wenig an sich zu binden, wenigstens bis zum<br />
nächsten Tag.<br />
»Ich besuche morgen das Fernsehstudio im Bundeshaus«,<br />
fiel ihm ein. »Wenn du willst, kannst<br />
du mitkommen.«<br />
»Ou, ehrlich? Das wäre dann super!«<br />
55
Gregor zeigte zum Regierungsgebäude hinüber<br />
und erklärte Becky, daß das Fernseh- und Radiostudio<br />
schwimmend in der hellgrünen Kuppel<br />
aufgehängt sei.<br />
«Schwimmend?« fragte Becky ungläubig. »Wie<br />
geht denn das?«<br />
»Das erkläre ich dir morgen.«<br />
Gregor hatte das Interesse dieses kleinen Engels<br />
gewonnen, und er nutzte seinen Vorteil sogleich<br />
aus, um seinen Arm kollegial um Beckys<br />
Schultern zu legen und sie mit einem weltmännischen<br />
»let’s go« zu dem kleinen, mit Pflastersteinen<br />
besetzten Weg zu drängen, der hinunter<br />
zum Bärengraben führte.<br />
56
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Wenn Ihnen die ganze Story langsam aber sicher<br />
zu billig wird, dann möchte ich Ihnen nur<br />
sagen, daß 97 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung<br />
sich tagtäglich mit solchem »geistigem<br />
Schmalz« ernährt. Und der ist zum Teil noch<br />
schlechter geschrieben als meiner!<br />
Gregor hat das Stichwort geliefert: Meditation.<br />
Sie ist eine der wenigen Werkzeuge, die uns helfen,<br />
unsere Yin- und Yang-Energie auszubalancieren.<br />
Meditation hat nichts anderes zum Zweck<br />
als den »inneren Schwätzer« zu beruhigen.<br />
Was das ist, der »innere Schwätzer«?<br />
Schließen Sie Ihre Augen und horchen Sie in sich<br />
hinein… hören Sie etwas?<br />
Falls Sie nichts gehört haben, dann hat es in<br />
Ihnen drin etwa so geklungen: »Ich soll etwas<br />
hören? Ich höre überhaupt nichts! Ein Schwätzer<br />
soll da sein? Was für ein Schwätzer? Ich habe<br />
keinen!« Genau das war er!<br />
Es gibt drei Vorstufen zur Meditation:<br />
57
1. Körperliche Entspannung<br />
2. Geistige Entspannung<br />
3. Geistige Konzentrations-Übungen<br />
Körperliche und geistige Entspannung können<br />
Sie selbst zu Hause üben. Dazu gibt es sehr viele<br />
hilfreiche Kassetten-Programme.<br />
Wenn Sie geistige Konzentration lernen möchten,<br />
empfehle ich Ihnen eines der zahlreichen<br />
Mentaltrainings, die heutzutage angeboten werden.<br />
Wenn Sie dann reif sind für die Stufe vier, wird<br />
Ihnen der richtige Lehrer oder das richtige Buch<br />
mit Sicherheit über den Weg laufen.<br />
Ich sage Ihnen nur so viel: Meditation ist der<br />
Schlüssel! Der Schlüssel zu was? Das müssen Sie<br />
schon selber herausfinden.<br />
Haben Sie übrigens den Taxifahrer wiedererkannt?<br />
Gibt’s diese Sorte in Ihrer Stadt auch?<br />
»Vor Jahren mal die Chance gehabt… könnte<br />
mich heute noch ohrfeigen…«<br />
58
Und wie ist es mit Ihnen? Packen Sie die Chancen,<br />
die Ihnen das Universum auf dem Silberteller<br />
anbietet?<br />
Welche Chancen haben Sie heute, um Ihre Lebensqualität<br />
sofort zu verbessern?<br />
59
6<br />
»Ladies and Gentlemen, this is your captain<br />
speaking.«<br />
Die Stimme aus dem Cockpit klang etwas nervös.<br />
Gregor streckte sich und fuhr mit einem<br />
Knopfdruck seine automatische Fußstütze ein.<br />
Er mußte wohl beim Gedanken an Becky eingeschlafen<br />
sein.<br />
»Wir waren gerade gezwungen, eines unserer<br />
Triebwerke abzuschalten wegen Überhitzung«,<br />
fuhr der Pilot weiter. »Wir vermuten, daß es sich<br />
nur um ein defektes Instrument handelt. Zugunsten<br />
Ihrer Sicherheit verzichten wir auf das Servieren<br />
des Frühstücks. Bitte stellen Sie das Rauchen<br />
ein, schnallen Sie sich an, und stellen Sie<br />
Ihre Sitzlehne senkrecht. Wir werden in ungefähr<br />
einer Stunde in Anchorage landen. Im übrigen<br />
folgen Sie bitte den Anweisungen des Bordpersonals.«<br />
Gregor hatte das schon öfter erlebt. Seit sich die<br />
amerikanischen Fluggesellschaften mit unsinnigen<br />
Preiskämpfen gegenseitig das Leben schwer<br />
61
machten, wurde offenbar an allen Ecken und<br />
Enden gespart. Und so war es schon öfter vorgekommen,<br />
daß ein Instrument, das wahrscheinlich<br />
längst zum Austausch fällig gewesen wäre,<br />
plötzlich während des Fluges seinen Geist aufgegeben<br />
hatte.<br />
»Das kommt vom ewigen Sparenwollen«, murmelte<br />
Gregor in Englisch vor sich hin, in der<br />
Hoffnung, eine der Stewardessen würde seine<br />
Verärgerung wahrnehmen und er würde ihr seine<br />
unzimperliche Ansicht in Sachen amerikanische<br />
Wirtschaft mitteilen können.<br />
»What do you mean by that?« Der Passagier auf<br />
der anderen Seite des Ganges hatte Gregors<br />
Bemerkung offenbar mitbekommen und lehnte<br />
sich zu ihm hinüber. Gregor rutschte auf den freien<br />
Sitz links neben ihm, so daß sich zwischen<br />
ihm und dem Fremden nur noch der Korridor<br />
befand.<br />
»Was ich damit meine?« fing er an. »Ich meine,<br />
daß die Amerikaner überall nur sparen wollen.<br />
Und dann wundern sie sich, daß sie immer nur<br />
62
auf Leute treffen, die ebenfalls sparen wollen.<br />
Die USA sind eine Nation von Sparern.«<br />
»Aber das ist doch normal, daß jeder möglichst<br />
viel für möglichst wenig Geld bekommen will.<br />
Das ist die freie Marktwirtschaft. Daß es anders<br />
nicht geht, hat man ja in Rußland gesehen.«<br />
»Diese Amis,« dachte Gregor, »können kaum die<br />
Schweiz von Schweden unterscheiden, wollen<br />
uns Europäern aber vormachen, sie wüßten über<br />
Rußland Bescheid.«<br />
Er mußte sich wirklich Mühe geben, höflich zu<br />
bleiben. Dieser rotblond gelockte Profi-Sparer<br />
weckte Aggressionen in ihm.<br />
»Es ist eben nicht normal«, sagte er in leicht<br />
belehrendem Ton, »wenn eine ganze Nation mehr<br />
als die Hälfte ihrer wertvollen Zeit für das Aushandeln<br />
von Rabatten verwendet. Das geht meinetwegen<br />
auf einem marokkanischen Teppichmarkt,<br />
aber doch nicht in einem Land, das sozusagen<br />
die Welt regiert!«<br />
»Wie macht Ihr’s denn in Europa?« wollte der<br />
andere wissen. Er hatte offenbar an Gregors<br />
63
Akzent erkannt, in welche Ecke er ihn zu stellen<br />
hatte.<br />
»Wir haben fixe Preise und klare, schriftliche<br />
Rabatt-Regelungen. Wir handeln nicht mit Rabatt,<br />
sondern mit Qualität und Service. Außer<br />
ein paar Branchen, die sich aber mittlerweile<br />
selbst kaputtgemacht haben.«<br />
Gregor war sich bewußt, daß sein Ton jetzt mehr<br />
als schulmeisterlich geworden war. Aber das war<br />
ihm egal. Er war sauer, und der Typ kam ihm<br />
zum Abreagieren seiner Laune sehr gelegen.<br />
»Interessante Ansicht,« Mister Sparer war offenbar<br />
fest entschlossen, höflich zu bleiben, wie man<br />
ihm das in der High School beigebracht hatte,<br />
»aber wenn Sie Qualität und Service und Rabatt<br />
bekommen, dann sagen Sie doch auch nicht<br />
nein?«<br />
»Doch, ich bin eben so konsequent. Schauen Sie,<br />
nehmen Sie mal an, Sie kaufen mir eine Anlage<br />
ab. Nach wochenlangen Rabatt-Gerangel gestehe<br />
ich Ihnen zehn Prozent Preisnachlaß zu. Sie<br />
lachen sich ins Fäustchen und denken ›ich hab’s<br />
64
wieder mal geschafft‹. Drei Monate später erzählen<br />
Sie die Geschichte voller Stolz einem Kollegen,<br />
der lacht Ihnen ins Gesicht und sagt, beim<br />
Kaspach mußt du nur lange genug pickeln, dann<br />
kriegst du zwanzig Prozent. Was halten Sie dann<br />
von mir? Und wie fühlen Sie sich?«<br />
»Ich würde denken, daß Sie ein Schwindler sind.<br />
Und ich käme mir hereingelegt vor.«<br />
»Sehen Sie?« Gregor triumphierte. »Das ist die<br />
amerikanische Wirtschaft. Jeder ist den ganzen<br />
Tag mit Verhandeln beschäftigt und legt sich<br />
abends mit einem unguten Gefühl schlafen, weil<br />
er nicht sicher ist, ob er wirklich den tiefsten<br />
Preis ausgehandelt hat oder nicht. Und so etwas<br />
nennt sich eine Weltmacht!«<br />
Jetzt war er wohl zu weit gegangen, denn Mister<br />
Rotblond gab indigniert zur Antwort, die<br />
Deutschen seien ja auch nicht immer Musterknaben<br />
gewesen.<br />
Jedenfalls waren beide froh, als ihre Diskussion<br />
durch ein lautes Geschrei aus der Touristenklasse<br />
unterbrochen wurde. Eine Dame mittleren<br />
65
Alters hatte offenbar seit der Ankündigung wegen<br />
des defekten Triebwerks still vor sich hingeweint<br />
und brach jetzt in völlige Hysterie aus.<br />
Sie wolle noch nicht sterben, rief sie, ihr Sohn<br />
habe sie nach Fairbanks eingeladen, und man<br />
solle sie sofort rauslassen.<br />
Die Stewardessen hatten alle Mühe, die Hysterikerin<br />
von der Türe fernzuhalten. Schließlich<br />
fragten sie über Lautsprecher, ob zufälligerweise<br />
ein Arzt an Bord sei, worauf sich prompt ein<br />
kleines, hageres Männchen aus den hinteren Reihen<br />
meldete.<br />
Nachdem er der Frau eine Beruhigungsspritze<br />
verabreicht hatte, luden ihn die Stewardessen<br />
ein, zum Dank den Rest des Fluges bis Los<br />
Angeles in der Ersten Klasse zu verbringen.<br />
»Fein, ich wollte schon immer wissen, wie die<br />
Reichen und Berühmten reisen«, sagte der Mann<br />
scherzend und erkundigte sich bei Gregor, ob der<br />
Fensterplatz neben ihm noch frei sei.<br />
»Wenn wir schon abstürzen, dann will ich ganz<br />
vorne mit dabei sein«, scherzte er weiter, nach-<br />
66
dem er sich hingesetzt und vorschriftsgemäß<br />
angeschnallt hatte. Gregor konnte sich nur wundern<br />
über so viel Witz bei so wenig Fleisch.<br />
Ȇbrigens, mein Name ist Franz. Wenn wir schon<br />
gemeinsam in den Tod gehen, dann sollten wir<br />
wenigstens wissen, wie wir heißen, finden Sie<br />
nicht auch?« Der Mann war einfach umwerfend.<br />
Gregors anfängliche Skepsis wandelte sich langsam<br />
aber sicher in Bewunderung. So fröhlich<br />
möchte er auch einmal sein können.<br />
»Franz? Das klingt so deutsch.«<br />
»Ich bin auch Deutscher«, meinte der Arzt, und<br />
sein perfektes Englisch verriet keine Spur von<br />
Akzent. »Ich bin vor zehn Jahren nach Amerika<br />
ausgewandert. Vorher war ich in Castrop-Rauxel,<br />
in der Nähe von Düsseldorf, wenn Sie wissen,<br />
wo das ist.«<br />
»Castrop, die Weltstadt im Grünen«, scherzte<br />
Gregor jetzt auf Deutsch, worauf sich der hagere<br />
Arzt natürlich unbändig freute, einen Landsmann<br />
getroffen zu haben.<br />
»Also, wir Auslandsdeutschen duzen uns unter-<br />
67
einander, wie gesagt, ich bin der Franz. Und wie<br />
heißt du?«<br />
»Gregor, hallo Franz.« Gregor konnte sich nicht<br />
dagegen wehren, daß dieser kleine Kobold seine<br />
gute Laune allmählich auf ihn übertrug. Als er<br />
sich diesen Franz genauer betrachtete, hatte er<br />
für einen kurzen Augenblick das Gefühl, als sähe<br />
er über dessen schütterem Haar einen hellblauen<br />
Lichtschimmer. Aber beim nächsten Augenzwinkern<br />
war das wieder vorbei. Schuld daran<br />
war sicher die Zeitverschiebung. Immerhin hatte<br />
Anchorage einen Zeitunterschied von siebzehn<br />
Stunden gegenüber Hong Kong. Sie hatten Hong<br />
Kong am Mittwoch abend um 23 Uhr verlassen,<br />
waren seit zehn Stunden unterwegs, und in<br />
Anchorage war es erst Mittwoch nachmittag.<br />
»Hast du auch immer so ein komisches Gefühl,<br />
wenn du die internationale Datumsgrenze überschreitest?«<br />
Es war, als ob Franz Gregors Gedanken<br />
erraten hätte. »Ich warte jedesmal darauf,<br />
daß ein Grenzwächter kommt und sagt ›Sie<br />
dürfen da nicht hinüber, Sie hatten Ihren Mitt-<br />
68
woch schon‹.« Dabei äffte er im Zwitscherton einen<br />
Zollbeamten nach, so daß sich die halbe Erste<br />
Klasse nach ihnen umdrehte.<br />
Gregor wollte gerade etwas sagen, da unterbrach<br />
ihn sein Sitznachbar, indem er ihn wie ein kleines<br />
Kind am Ärmel zupfte: »Schau mal, schau<br />
mal, Gregor, diese Landschaft! Ohhh! Schau mal,<br />
wie alles verschneit ist! Ist das nicht wie im<br />
Märchen? Ohhh!«<br />
Leicht verlegen, wie ein Vater, der sich zwar über<br />
die kindliche Begeisterung freut, selbst aber<br />
schon so abgeklärt ist, daß er sich nicht aus vollem<br />
Herzen mitfreuen kann, fragte Gregor: »Bist<br />
du zum ersten Mal hier?«<br />
»Nein, wo denkst du hin, ich mache diese Reise<br />
fast alle zwei Monate einmal. Es ist für mich jedesmal<br />
ein unglaubliches Erlebnis. Und jetzt<br />
darf ich auch noch in der Ersten Klasse sitzen.<br />
Davon werde ich noch lange zehren, das kannst<br />
du mir glauben.«<br />
Gregor dachte mit Wehmut daran, wie abgestumpft<br />
er selbst doch eigentlich geworden war.<br />
69
Manch einer würde viel darum geben, wenn er<br />
nur eine Woche in seiner Haut stecken könnte.<br />
Und er, undankbar und verwöhnt wie er war,<br />
wußte das überhaupt nicht zu schätzen. Ja, er<br />
hatte sich sogar schon beim Gedanken ertappt,<br />
daß ihm ein Herzinfarkt oder eine tödliche<br />
Krankheit ganz gelegen gekommen wäre. Warum<br />
eigentlich? Was war es denn, was ihm fehlte?<br />
Hatte er einen Hirnschaden? War er einfach<br />
anders als alle anderen?<br />
Sein Bruder Bert hatte einmal zu ihm gesagt:<br />
»Die meisten Menschen wünschen sich Unsterblichkeit;<br />
dabei wissen sie nicht einmal, was sie<br />
mit einem verregneten Sonntagnachmittag anfangen<br />
sollen.«<br />
Wie recht er hatte! Aber dieser Franz da neben<br />
ihm, dieses Zwerglein von Arzt, der wußte offenbar<br />
ganz genau, was er mit seinem Leben anfangen<br />
wollte.<br />
»Ladies and Gentlemen«, klang es aus dem Lautsprecher,<br />
»we are going to land in Anchorage in<br />
about 15 minutes».<br />
70
Die übliche Routine-Ansage, nur daß der Pilot<br />
diesmal noch ein paar Sicherheitstips mitlieferte.<br />
Man solle sich bitte nicht beunruhigen, wenn<br />
die Maschine seitlich etwas schwanke; er müsse<br />
mit dem Seitenruder den fehlenden Triebwerk-<br />
Schub ausgleichen. Im übrigen sei die Notfall-<br />
Crew in Anchorage informiert, und man solle<br />
bitte seine Brille absetzen bis nach der Landung.<br />
»Ach, ist das aufregend!« rief Franz aus, während<br />
Gregor seine Brille im Seitenfach der Sitzlehne<br />
verstaute. Zwischendurch konnte auch er<br />
an der hageren Gestalt seines Platznachbarn<br />
vorbei einen Blick durch das Fenster erhaschen.<br />
Zum ersten Mal fand er dieses Anchorage irgendwie<br />
schön. Die tiefverschneite Landschaft weit<br />
weg von der Zivilisation hatte etwas Friedliches,<br />
fast wie Weihnachten. Nein, er möchte jetzt nicht<br />
abstürzen. Einmal möchte er noch mit offenen<br />
Augen durch Anchorage spazieren, möchte diesen<br />
lebensfrohen Menschen zulächeln, die er<br />
sonst immer als »dreckige Zivilisations-Flüchtlinge«<br />
abgetan hatte.<br />
71
»Keine Angst, Gregor!« Franz hatte ihn wieder<br />
am Ärmel gepackt. »Wir stürzen schon nicht ab.<br />
Ich weiß das, sonst wäre ich nicht so fröhlich.«<br />
Gregor war aufs neue überrascht. Es war, als ob<br />
dieser Mensch seine Gedanken lesen würde. Und<br />
obwohl es keinen vernünftigen Grund gab, ihm<br />
zu glauben, war Gregor auf einen Schlag innerlich<br />
ruhig geworden.<br />
Das Flugzeug war jetzt nur noch ungefähr fünfzig<br />
Fuß über Grund, und man konnte die vielen<br />
Notfall-Fahrzeuge erkennen, die sich mit laufenden<br />
Blinklichtern entlang der Piste aufgestellt<br />
hatten. Die Maschine machte einen letzten<br />
Schlenker nach rechts und setzte dann zweimal<br />
kurz hintereinander auf.<br />
Gregor atmete erleichtert auf. Doch in diesem<br />
Augenblick setzte der Gegenschub ein, und offensichtlich<br />
gelang es den Piloten nicht, die fehlende<br />
Kraft des linken Triebwerks auszugleichen.<br />
Die Maschine brach brüsk nach rechts aus, Gregor<br />
hielt seine Hände schützend vor sein Gesicht<br />
und spürte im nächsten Augenblick einen ste-<br />
72
chenden Schmerz in seinem Unterleib…<br />
Er war darauf gefaßt, daß er gleich in seinem<br />
Bett aufwachen würde, heilfroh, dies alles nur<br />
geträumt zu haben. Aber das Geschrei aus der<br />
Touristenklasse brachte ihn wieder in die Wirklichkeit<br />
zurück.<br />
Um den Lärm zu übertönen, mußte der Pilot die<br />
Lautsprecher-Anlage so laut aufdrehen, daß es<br />
Gregor richtig wehtat. Er konnte nun mal keinen<br />
schlechten Sound vertragen.<br />
»Ladies and Gentlemen«, die Stimme des Piloten<br />
klang wie ein heiseres Krächzen, »es besteht<br />
kein Grund zur Panik. Wir sind etwas von der<br />
Piste abgekommen, so daß unser Fahrwerk im<br />
Gras eingesunken ist. Bitte gehen Sie zurück auf<br />
Ihre Plätze und warten Sie auf die Anweisungen<br />
des Bordpersonals! Ich wiederhole: Es besteht<br />
kein Grund zur Panik!«<br />
»Na, das gibt mir wieder was zu erzählen zu<br />
Hause«, lachte Franz und wischte sich mit einer<br />
Serviette über seine Stirn.<br />
»Mein Gott, du blutest ja!« rief Gregor besorgt.<br />
73
»No problem, nur eine kleine Platzwunde.<br />
Komm, lass’ mich mal vor, ich muß ja wohl meinen<br />
Pflichten als Onkel Doktor nachkommen.«<br />
Gregor zog seine Beine ein und erkundigte sich<br />
bei der vorbeihetzenden Stewardeß, wie es denn<br />
jetzt weitergehe.<br />
»Ich mache gleich eine Durchsage«, vertröstete<br />
diese und verschwand in der Pantry.<br />
74
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Da ist einiges passiert, was?<br />
Komische Figur, dieser Franz, nicht wahr? Aber<br />
Hand aufs Herz: Wäre es nicht normal, wenn<br />
wir ebenfalls diese kindliche Freude am Leben<br />
empfinden würden?<br />
Ich fliege viermal im Jahr von meiner Wahlheimat<br />
Südkalifornien aus in die Schweiz. Und ich<br />
muß immer lachen, wenn ich die vielen »Profi-<br />
Flieger« beobachte, wie sie ihre ach so wichtigen<br />
Aktivitäten entfalten. Sie lesen eine langweilige<br />
Zeitung, diskutieren mit ihrem langweiligen<br />
Geschäftspartner oder tippen irgendwelche langweiligen<br />
Daten in ihren Computer. Es käme ihnen<br />
nicht im Traum in den Sinn, das Geschäft<br />
für einmal Geschäft sein zu lassen und sich an<br />
der spektakulären Landschaft zu freuen, die<br />
unter ihnen vorbeizieht. Würde ein Außerirdischer<br />
eine solche Szene beobachten, er würde vermutlich<br />
denken, es handle sich um ein fliegendes<br />
Sanatorium für Gehirnamputierte!<br />
75
Was stand da sonst noch? »…hatte er für einen<br />
kurzen Augenblick das Gefühl, als sähe er über<br />
dessen schütterem Haar einen hellblauen Lichtschimmer.«<br />
Dieses Phänomen können Sie besonders gut in<br />
der Abenddämmerung beobachten, wenn Sie einen<br />
Menschen anblicken und dabei Ihre Augen<br />
auf Unscharf stellen. Nach einiger Zeit werden<br />
Sie einen hellen Schimmer wahrnehmen. Das ist<br />
ein Teil der sogenannten »Aura« eines Menschen.<br />
Die Wahrnehmung der Aura verbessert sich übrigens<br />
auch, wenn Sie regelmäßig meditieren.<br />
Mit der Zeit werden Sie ein Energiefeld wahrnehmen<br />
können, das sich bei einigen Menschen<br />
etwa acht Meter um ihren Körper herum ausdehnt.<br />
An den verschiedenen Farben dieser Aura<br />
werden Sie auch erkennen können, welche Bereiche<br />
des Körpers krank sind.<br />
Klingt Ihnen das zu abgehoben?<br />
Dann will ich Sie gleich auf den Boden der Tatsachen<br />
zurückholen. Sind Sie einverstanden, daß<br />
die Erd-Atmosphäre zur Erde gehört? Und sind<br />
76
Sie auch einverstanden, daß die Erd-Atmosphäre<br />
unsichtbar ist? Dann ist es doch auch nicht<br />
abwegig anzunehmen, daß es um den Menschen<br />
herum ein unsichtbares Energiefeld gibt, das<br />
ebenfalls zu ihm gehört. Oder?<br />
Übrigens… selbst wenn Sie die Aura nicht sehen,<br />
spüren tun Sie sie in jedem Fall! Ist es Ihnen<br />
nicht auch schon so ergangen, daß Sie neben<br />
einem wildfremden Menschen standen und<br />
sich nicht wohl fühlten? Offenbar spürten Sie<br />
sein Energiefeld, das nicht mit dem Ihrigen<br />
»kompatibel« war. Wir Menschen sagen ja oft »Er<br />
hat nicht meine Wellenlänge« oder »die Schwingung<br />
stimmt nicht» oder »wir sind nicht im Einklang<br />
miteinander«. Vermutlich ist das wortwörtlich<br />
zu nehmen!<br />
»Es war, als ob dieser Mensch seine Gedanken<br />
lesen würde.«<br />
Auch hier habe ich Ihnen gute Neuigkeiten: Jeder<br />
Mensch ist hellsichtig, ob Sie es glauben oder<br />
nicht! An meinen Seminaren nehmen ganz »nor-<br />
77
male« Menschen wie Sie und ich teil. Es handelt<br />
sich größtenteils um Inhaberinnen und Inhaber<br />
von Kleinbetrieben, die sich als »Realisten« und<br />
»gesunde Skeptiker« bezeichnen. Die meisten haben<br />
noch nicht einmal viel Erfahrung in Meditation.<br />
Wenn man ihnen die Daten eines wildfremden<br />
Menschen liefert und sie auffordert, eine<br />
Geschichte zu erfinden, stimmt diese Geschichte<br />
in 95 Prozent aller Fälle mit der Wirklichkeit<br />
überein!<br />
Sie können mich für einen Scharlatan halten,<br />
ich kann es dennoch nicht ändern. Diese Dinge<br />
existieren, egal, ob wir sie wahrhaben wollen<br />
oder nicht. Die Menschheit war allerdings schon<br />
immer gefordert, ihr Bild von der sogenannten<br />
»Realität« flexibel zu halten. Es ist noch gar nicht<br />
so lange her, da glaubten die »Realisten« unter<br />
uns noch, die Erde sei flach, und die Sonne drehe<br />
sich um die Erde. Heute weiß jedes Kind, daß<br />
dem nicht so ist. Und wenn Sie im Mittelalter<br />
jemandem die Fernbedienung Ihres Fernsehers<br />
erklärt hätten, dann hätte er vermutlich dafür<br />
78
gesorgt, daß die Regierung für Sie ein nettes kleines<br />
Scheiterhäufchen bereithält.<br />
Zwei Dinge möchte ich dazu noch sagen:<br />
Erstens, es scheint ungesund zu sein, wenn jemand<br />
mit seinen hellsichtigen Fähigkeiten Geld<br />
verdienen will. Man schaue sich nur einmal all<br />
die Wahrsagerinnen und Wahrsager an. Sie sehen<br />
in der Regel nicht besonders gesund aus, um<br />
nicht zu sagen: Es handelt sich oftmals um psychische<br />
und körperliche Wracks. Ich denke, Hellsichtigkeit,<br />
Hellhörigkeit und Hellfühligkeit sind<br />
natürliche Nebenprodukte des Erwachens. Sie<br />
sollen uns helfen, feinfühliger mit uns und unseren<br />
Mitmenschen umzugehen. Manche Wahrsager<br />
kommen mir vor wie kleine Kinder, die sich<br />
in ein Spielzeug verliebt haben und nicht mehr<br />
davon loskommen.<br />
Zweitens, es mag Ihnen ebenfalls aufgefallen<br />
sein, daß zur Zeit eine Art globales Erwachen<br />
stattfindet. Vor zwanzig Jahren wurde ein Mann<br />
namens Uri Geller noch des Satanskults bezichtigt,<br />
weil er es wagte, mit Hilfe seiner Geistes-<br />
79
kraft einen Löffel zu biegen. Heute wird diese<br />
Geist-über-Materie-Übung als »metaphysischer<br />
Anfänger-Stoff« betrachtet.<br />
Gottseidank darf man heute über solche Dinge<br />
sprechen. Und ich möchte Sie dazu ermuntern,<br />
es ebenfalls zu tun. Sie werden überrascht sein,<br />
wie viel tiefgründiger und lehrreicher die Gespräche<br />
mit Ihren Mitmenschen werden, wenn Sie<br />
sich einmal ein wenig auf die Äste hinauswagen.<br />
Denn jeder Mensch hat spirituelle Erlebnisse<br />
hinter sich; die meisten reden nur nicht<br />
darüber, weil sie befürchten, mißachtet und verspottet<br />
zu werden.<br />
Meine Fragen:<br />
1.<br />
Hatten Sie (vielleicht als Kind) schon einmal einen<br />
»Geist-Austritt«, das heißt einen <strong>Moment</strong>,<br />
wo Sie sich außerhalb Ihres Körpers befanden<br />
und sich selber beobachteten?<br />
Vielleicht haben Sie dieses Ereignis damals ver-<br />
80
drängt, und es fällt Ihnen heute wieder ein. Dann<br />
halten Sie es bitte hier fest:<br />
2. Haben Sie schon einmal so etwas wie eine<br />
Aura wahrgenommen? Sei es bei Pflanzen,<br />
Tieren oder Menschen? Und können Sie diese<br />
»Aura-Sicht« nach Belieben ein- und ausschalten?<br />
81
7<br />
Es war ein Uhr morgens in Sankt <strong>Peter</strong>sburg,<br />
und das riesige Büro am Nevsky-Prospekt war<br />
immer noch hell erleuchtet. Anatoli Mirschnikow<br />
blickte wehmütig durch das hohe, vergitterte<br />
Bogenfenster. Früher hätte die Stadt um diese<br />
Zeit geschlafen, dachte er, man hätte höchstens<br />
ab und zu eine einsame Patrouille der allgegenwärtigen<br />
Miliz beobachten können. Aber jetzt,<br />
seit dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs,<br />
tummelte sich Gesindel aller Art in den<br />
Prachtsstraßen des ehemaligen Leningrad.<br />
Drogenhändler, Prostituierte und Gauner gaben<br />
sich zu nächtlicher Stunde ein Stelldichein und<br />
machten die Stadt für anständige Bürger zur<br />
Schlangengrube.<br />
Mirschnikow sehnte sich nach der Zeit zurück,<br />
wo er noch etwas gegolten hatte in Sankt <strong>Peter</strong>sburg,<br />
wo er noch »General Mirschnikow« gewesen<br />
war. Er hatte den Aufstand kommen sehen,<br />
und er hatte genau gewußt, was man hätte ändern<br />
müssen am kommunistischen System, da-<br />
83
mit es funktioniert hätte. Sogar mit Gorbatschov<br />
persönlich hatte er sich einmal darüber unterhalten.<br />
Aber dieser schien ihn für einen unbelehrbaren<br />
Spinner zu halten, einen typischen<br />
Vertreter der alten Garde, die allmählich ihre<br />
Generals-Abzeichen und damit ihre Macht<br />
davonschwimmen sah.<br />
Mirschnikow hatte in den letzten paar Wochen<br />
nicht mehr richtig schlafen können. Er mußte<br />
es endlich jemandem sagen. Aber würde man ihm<br />
überhaupt Beachtung schenken? Waren die Leute<br />
von der Regierung nicht Tag und Nacht damit<br />
beschäftigt, die schädlichen Einflüsse aus<br />
dem Westen einigermaßen in den Griff zu bekommen?<br />
Es klingelte. Mirschnikow blickte kurz auf die<br />
Video-Überwachungsanlage, die bis vor drei<br />
Monaten noch funktioniert hatte. Früher hätte<br />
er nur auf einen Knopf gedrückt, und die schwere<br />
Panzertür unten am Haupteingang hätte sich<br />
automatisch geöffnet. Jetzt mußte er seinem<br />
nächtlichen Besucher eigenhändig die Tür auf-<br />
84
machen. Mirschnikow griff nach seinem Schlüsselbund<br />
und begab sich, leicht hinkend, auf den<br />
dunklen Flur.<br />
»Danke, daß Sie gekommen sind, Genosse<br />
Oberst«, sagte er zu dem Mann, der, in einen dikken<br />
Zobel gehüllt, und mit der typisch russischen<br />
Pelzmütze auf dem Kopf, auf Einlaß drängte.<br />
»Ich bin nicht mehr Oberst«, entgegnete dieser<br />
mit leicht georgischem Akzent, »und Genosse<br />
schon gar nicht mehr.«<br />
»Ich weiß ja, Boris Iwanowitsch, ich weiß«, beschwichtigte<br />
ihn Mirschnikow, »aber lassen Sie<br />
mich alten Mann doch noch ein wenig in dieser<br />
Illusion. Bei Ihnen darf ich das doch.«<br />
Boris Iwanowitsch Belinsky war einer von<br />
Mirschnikows besten und strengsten Männern<br />
gewesen. Aber er hatte sich anscheinend sehr<br />
schnell an die neue Situation gewöhnt. Es war<br />
wie damals in Deutschland nach dem Zusammenbruch<br />
des Dritten Reiches. Plötzlich wollte<br />
niemand mehr etwas mit den Greueltaten des<br />
Regimes zu tun gehabt haben. Auf einmal war<br />
85
keiner mehr ein SS-General, und jeder hatte<br />
heimlich gegen Hitler und für die Juden gekämpft.<br />
Deutschland war von einem Tag auf den<br />
anderen zu einem Volk von verkannten Kriegshelden<br />
geworden.<br />
»Boris Iwanowitsch, Sie waren immer einer meiner<br />
besten Männer«, sagte Mirschnikow, während<br />
sie gemeinsam die Treppe zum Büro hochstiegen.<br />
»Das mag sein, Anatoli Sergejewitsch«, gab Belinsky<br />
zurück, und der Ton in seiner Stimme<br />
drückte aus, daß er möglichst rasch zur Sache<br />
kommen und wieder zu Hause ins warme Bett<br />
schlüpfen wollte.<br />
»Daher möchte ich Ihnen etwas anvertrauen«,<br />
fuhr Mirschnikow fort. »Ich kann es nicht mehr<br />
für mich behalten, aber ich weiß auch nicht, was<br />
ich tun soll. Vielleicht wissen Sie Rat.«<br />
Belinsky schluckte einmal leer. Wenn General<br />
Mirschnikow ihn früher um Rat gefragt hatte,<br />
dann war das immer eine Art Alibi-Übung gewesen.<br />
Dieser alte Fuchs hatte seine Entschei-<br />
86
dungen jeweils längst gefällt gehabt und wollte<br />
nur noch eine Bestätigung für sein Tun bekommen.<br />
»Dawajtje, Towarischtsch«, sagte Belinsky, wohl<br />
wissend, daß die alte kommunistische Anrede<br />
das Denken des verrosteten Generals beschleunigen<br />
würde.<br />
»Nun, Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht<br />
mehr an das Projekt ›Rastajanje‹ aus dem Jahr<br />
1964«, begann Mirschnikow, »das war lange vor<br />
Ihrer Zeit.«<br />
»Rastajanje, nein, sagt mir nichts«, erwiderte<br />
Belinsky.<br />
»Ich werde es Ihnen erklären«, sagte Mirschnikow.<br />
»Aber kurz, Genosse, kurz«, mahnte Belinsky, der<br />
die ganze Zeit gähnen mußte.<br />
»1964 erlebte die Computer-Industrie einen<br />
gewaltigen Aufschwung«, holte Mirschnikow aus,<br />
»die amerikanische Firma IBM hatte das System/<br />
360 auf den Markt gebracht und konnte bis zu<br />
tausend Bestellungen pro Monat verbuchen.«<br />
87
Belinsky klopfte mit seinen Fingern nervös auf<br />
die Tischkante. Wenn Mirschnikow geschichtliche<br />
Fakten aufzählte, konnte es lange dauern.<br />
»Übrigens, nehmen Sie auch ein Wässerchen,<br />
Genosse?« Mirschnikow hielt ihm die halbvolle<br />
Wodka-Flasche unter die Nase.<br />
»Nein«, winkte Belinsky dankend ab, »ich habe<br />
damit aufgehört. Es macht den Kopf schwer und<br />
das Herz traurig.«<br />
»Und Sie sind sicher, daß das am Wodka liegt<br />
und nicht an der politischen Situation?« versuchte<br />
Mirschnikow zu scherzen, schenkte sich ein<br />
Glas von dem starken Schnaps ein und leerte es<br />
in einem Zug, wie sie es früher immer gemeinsam<br />
getan hatten.<br />
»Was ist mit dem Computerzeug, Genosse, erzählen<br />
Sie!« Belinsky konnte ein erneutes Gähnen<br />
knapp unterdrücken.<br />
»Nun, im gleichen Jahr wurde die Satelliten-<br />
Organisation INTELSAT gegründet, und das<br />
Thema »Satelliten« war ebenfalls in aller Munde.<br />
So kam einer unserer Agenten, ein ziemli-<br />
88
cher Exzentriker, auf die Idee, man müßte ein<br />
Gerät entwickeln, mit dem man sämtliche Computer<br />
auf der ganzen Welt auf einen Schlag würde<br />
lahmlegen können.«<br />
»Wie sollte das denn gehen?« fragte Belinsky<br />
ungläubig.<br />
»Fragen Sie mich nicht, ich bin kein Techniker«,<br />
sagte Mirschnikow, »er erzählte uns irgend etwas<br />
von elektromagnetischer Induktion, die über<br />
ein zukünftiges Netz von Satelliten ausgestrahlt<br />
werden sollte. Chruschtschow jedenfalls schien<br />
ihm zu glauben. Er stellte den Mann frei und<br />
sagte ihm volle Unterstützung zu.«<br />
»Ja, und dann?« Belinskys Müdigkeit wich langsam<br />
einem zunehmenden Grad von Interesse.<br />
»Dann folgte die Absetzung Chruschtschows«,<br />
fuhr Mirschnikow fort, »und Breschnew hielt<br />
nichts vom Projekt Rastajanje. Es wurde aufs<br />
Eis gelegt und geriet bald in Vergessenheit.«<br />
»Und weshalb erzählen Sie mir das alles, Anatoli<br />
Sergejewitsch?« fragte Belinsky.<br />
»Weil ich«, Mirschnikow senkte seine Stimme ge-<br />
89
heimnisvoll und rückte seinen Stuhl näher an<br />
Belinsky heran, »weil eine Kopie der Rastajanje-<br />
Pläne immer bei mir im Tresor lag.«<br />
»Was heißt ›lag‹?« fragte Belinsky weiter. »Wo<br />
liegt sie denn jetzt?«<br />
»Das weiß ich nicht«, erklärte Mirschnikow<br />
achselzuckend, »vor etwa drei Monaten wurde<br />
bei mir eingebrochen. Zuerst war ich völlig verwirrt,<br />
denn ich vermißte gar nichts. Bis mir plötzlich<br />
diese alte Rastajanje-Geschichte einfiel.«<br />
»Kann ich einen Tee haben?« fragte Belinsky, der<br />
ahnte, daß diese Unterredung länger dauern<br />
würde.<br />
Mirschnikow deutete auf den elektrischen Samowar,<br />
der auf einem Eckregal stand. »Falls Sie<br />
wissen, wie man das Ding bedient. Ich lasse mir<br />
den Tee immer von meinem Sekretär machen,<br />
und da der abends nicht hier ist, muß ich eben<br />
Wodka trinken.«<br />
Er füllte sich nochmals ein Glas randvoll und<br />
stürzte es mit zusammengekniffenen Augen hinunter,<br />
während sich Belinsky am Samowar zu<br />
90
schaffen machte.<br />
»Wer sollte denn die Pläne geklaut haben?« fragte<br />
er, immer noch unsicher, was er von der Geschichte<br />
halten sollte.<br />
»Deswegen wollte ich mit Ihnen reden, das ist es<br />
ja, was mir Sorgen macht. Es gibt einen Neonazi-Führer<br />
namens Gerd Hafenkamp…«<br />
»Den kenn’ ich«, fuhr ihm Belinsky ins Wort,<br />
während er seinen Tee, wie in Rußland üblich,<br />
mit Erdbeer-Marmelade süßte, »der will von Singapur<br />
aus die Welt unter Kontrolle bringen und<br />
das vollenden, was Hitler begonnen hat.«<br />
»Woher kennen Sie Hafenkamp?« fragte Mirschnikow<br />
erstaunt.<br />
»Man hat so seine Quellen«, antwortete Belinsky<br />
wichtigtuerisch, »aber ich verstehe nicht, warum<br />
Sie sich solche Sorgen machen. Erstens sind<br />
doch die Pläne uralt und sicher nicht mehr<br />
brauchbar, und zweitens ist Hafenkamp strohdumm.«<br />
»Er selbst vielleicht schon«, erwiderte Mirschnikow,<br />
»aber er hat ein paar sehr gebildete Leu-<br />
91
te, die für ihn arbeiten, unter anderem den<br />
Astrophysiker Kirchberg. Und die Pläne mögen<br />
nicht mehr ganz aktuell sein, aber stellen Sie<br />
sich vor, jemand würde sie an die heutige Zeit<br />
anpassen! Vielleicht war der Genosse, der die<br />
Idee ursprünglich gehabt hat, seiner Zeit voraus,<br />
und sein Plan hat heute, bei dem dichten<br />
Netz von Satelliten, eine ganz andere Bedeutung.«<br />
»Das scheint mir unwahrscheinlich«, sagte Belinsky,<br />
während er vorsichtig an seinem heißen Tee<br />
schlürfte.<br />
»Ja, aber warum sollten die denn den Weg nach<br />
Leningrad auf sich nehmen, bei mir einbrechen<br />
und riskieren, daß wir sie nach Sibirien schikken?«<br />
»Sankt <strong>Peter</strong>sburg heißt unsere Stadt, Anatoli<br />
Sergejewitsch, und das mit Sibirien ist auch vorbei.«<br />
Offensichtlich hatte der heiße Tee den ehemaligen<br />
Oberst in die Gegenwart zurückgeholt.<br />
»Dennoch, ich habe ein ungutes Gefühl«, gab<br />
92
Mirschnikow zurück, »vielleicht stecken auch die<br />
Amerikaner dahinter.«<br />
»Na und, was soll’s? Denen gehört ja jetzt sowieso<br />
die ganze Welt!« rief Belinsky aus, und Mirschnikow<br />
glaubte in seiner Stimme einen Hauch von<br />
Resignation zu vernehmen.<br />
»Aber«, fuhr Belinsky fort, »warum haben Sie den<br />
Einbruch eigentlich nicht gleich gemeldet?«<br />
»Wem hätte ich es denn melden sollen?« Mirschnikow<br />
verrührte die Hände. »Es ist ja niemand<br />
mehr zuständig in diesem Scheißland! Und ich<br />
will schließlich nicht, daß man mich noch einsperrt.«<br />
Belinsky starrte eine Weile über den Rand seiner<br />
Teetasse in die Ferne. Dann sagte er mit<br />
bestimmtem Ton: »General, wenn Sie es wünschen,<br />
werde ich mich darum kümmern. Aber Sie<br />
müssen mir eines versprechen: Keine Menschenseele<br />
darf davon erfahren.«<br />
»Ich danke Ihnen!« Mirschnikow atmete erleichtert<br />
auf und dachte seit Wochen zum ersten Mal<br />
wieder an ein warmes Bett.<br />
93
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Da gibt es gar nichts zu unterbrechen. Ich finde,<br />
Sankt <strong>Peter</strong>sburg ist eine schöne Stadt, Russisch<br />
ist eine schöne Sprache, und russischer Tee, mit<br />
Marmelade gesüßt, ist auch nicht von schlechten<br />
Eltern.<br />
Außerdem kommen mir wehmütige Erinnerungen<br />
an meinen ersten Konsalik, »Liebesnächte<br />
in der Taiga«…<br />
Also lesen wir noch ein wenig weiter…<br />
94
8<br />
Immer noch leicht benommen standen die Leute<br />
am Förderband der Gepäckausgabe herum.<br />
Immerhin hatten sie sich schon wieder so weit<br />
vom Schrecken erholt, daß sie sich gegenseitig<br />
fast auf die Füße traten, um die beste Aussicht<br />
auf die herannahenden Koffer zu erhaschen.<br />
Neben Gregor äugte die Hysterikerin aus der<br />
Touristenklasse nervös in Richtung des quietschenden<br />
Förderbands und regte sich furchtbar<br />
darüber auf, daß sie aufgrund der Verspätung<br />
ihr Flugzeug nach Fairbanks verpaßt habe.<br />
»Mein Gott«, dachte Gregor, »gerade eben hat sie<br />
noch um ihr Leben gebangt, und jetzt regt sie<br />
sich schon wieder über Kleinigkeiten auf.«<br />
In solchen <strong>Moment</strong>en verspürte er einen abgrundtiefen<br />
Haß gegen die gesamte Menschheit,<br />
sich selber eingeschlossen.<br />
»Hey, Mister Käspätsch«, rief jemand von ferne.<br />
Es war Franz, der offensichtlich seine Arztpflichten<br />
im Flugzeug erfüllt hatte und sich jetzt<br />
einen Weg durch die wartende Menge bahnte.<br />
95
»Mmmhhh, dieses Aroma, wenn du nach einem<br />
Langstrecken-Flug auf Schulterhöhe durch eine<br />
dicht gedrängte Menschenschar wandelst, einfach<br />
unübertroffen! Das würde ich nie erleben,<br />
wenn ich nicht so kleingewachsen wäre. Was für<br />
ein Segen! Was für ein Segen!«<br />
»Sag’ mal, bist du eigentlich nie müde oder abgespannt?«<br />
wollte Gregor wissen. Die gute Laune<br />
dieses Mannes grenzte langsam an ein Wunder,<br />
und Gregor begann sich zu fragen, ob das alles<br />
nicht einfach eine gewaltige Show sei, nur um<br />
nicht zugeben zu müssen, daß man genau so<br />
deprimiert ist wie der Rest der Menschheit.<br />
»Doch, aber ich bin dann müde, wenn ich es will,<br />
und nicht, wenn irgendwelche Umstände danach<br />
verlangen.«<br />
So etwas Ähnliches hatte Gregor als Antwort<br />
bereits erwartet.<br />
»Übrigens, danke der Nachfrage«, fuhr Franz<br />
ungefragt fort, »es war niemand ernsthaft verletzt.<br />
Ich bin lediglich um ein paar Heftpflaster<br />
ärmer. Gehen wir noch zusammen einen trinken?<br />
96
Ich habe eine halbe Stunde Aufenthalt, bevor es<br />
weiter geht nach Los Angeles. Die Maschine sei<br />
scheint’s nicht kaputt, es war nur ein defektes<br />
Instrument. Und das Fahrgestell hat wundersamerweise<br />
keinen Schaden genommen. Außerdem<br />
sollten wir uns beeilen, wenn wir den ersten<br />
Fernsehreportern entfliehen wollen.«<br />
Gregor wollte gerade dankend ablehnen. Er hätte<br />
längst in seiner Firma anrufen sollen, und außerdem<br />
brauchte er jetzt dringend ein heißes<br />
Vollbad. Aber da fiel ihm ein, daß es in Hamburg<br />
ja mitten in der Nacht war und daß er seine<br />
Sekretärin nicht unnötigerweise aus dem<br />
Schlaf holen wollte.<br />
»Okay, aber nur zehn Minuten«, entgegnete er,<br />
während er seinen schweren, grauen Reisekoffer<br />
vom Band hievte, ihn auf einen der bereitstehenden<br />
Gepäckwagen lud und in Richtung der<br />
wartenden Zollbeamten schritt.<br />
»Na denn, auf deine Gesundheit!« Franz hob sein<br />
Glas und prostete Gregor zu. »Du kannst es brau-<br />
97
chen. Paß’ auf, mein Lieber, dein Herz sieht mir<br />
sehr nach funktionellen Störungen aus. Hast<br />
eine etwas hektische Zeit hinter dir, was?«<br />
Gregor verschlug es die Sprache. Woher wollte<br />
Franz wissen, wie es mit seinem Herzen stand.<br />
Er hatte diesen Mann vor einer knappen Stunde<br />
zum ersten Mal getroffen, und jetzt wollte er<br />
ihm eine medizinische Diagnose liefern, ohne ihn<br />
je untersucht zu haben.<br />
»Also, du gibst mir ja wirklich zu denken». Gregor<br />
versuchte, seine Fassungslosigkeit einigermaßen<br />
unter Kontrolle zu halten. »Woher willst<br />
du wissen, wie es mit meiner Gesundheit steht?«<br />
»Ich bin zufällig Arzt. Hast du das schon vergessen?«<br />
»Ja, aber du hast mich ja gar nicht untersucht!«<br />
»Ach Gregor, wir hätten noch so viel miteinander<br />
zu besprechen. Weißt du, man muß nicht<br />
immer alles sehen. Dein Druck auf der Brust und<br />
das taube Gefühl in deinem Arm existieren auch,<br />
ohne daß ich sie gesehen habe.«<br />
»Woher weißt du, daß ich eine Allergie habe?«<br />
98
Gregor wurde es langsam mulmig zumute.<br />
»Allergie? Daß ich nicht lache. Du hast eine Allergie,<br />
ja, du bist allergisch auf die Menschen, auf<br />
das Leben, auf dich selbst!«<br />
»Willst du damit sagen, daß jede Allergie psychischer<br />
Natur ist?«<br />
»Nicht jede«, gab Franz zur Antwort, »aber deine<br />
ganz bestimmt. Schau, ich kenne das von mir<br />
selbst. Sonst wäre ich nicht so unverschämt, dir<br />
das direkt ins Gesicht zu sagen.«<br />
»Hast du auch eine Allergie?« wollte Gregor wissen.<br />
»Eine? Ich hatte ein ganzes Dutzend davon! Und<br />
darüber hinaus einen sauren Magen, einen<br />
schmerzenden Rücken und alles, was das Hypochonder-Herz<br />
begehrt! Und ob du’s mir glaubst<br />
oder nicht: Ich wußte haargenau, woher das kam.<br />
Und dennoch mußte ich warten, bis mir mein<br />
Kollege einen Dickdarmkrebs diagnostizierte,<br />
nachdem ich mitten in einem Karajan-Konzert<br />
einen klassischen Kollaps produziert hatte.«<br />
»Und? Was hast du dann gemacht?«<br />
99
»Mein Kollege wollte mich zur Chemotherapie<br />
anmelden, obwohl dieses Scheißding bereits<br />
Metastasen gebildet hatte. Aber ich war lange<br />
genug Arzt gewesen, um zu wissen, ich hatte<br />
keine Chance, wenn ich nicht radikalere Maßnahmen<br />
ergreifen würde.«<br />
»Was gibt es denn Radikaleres als eine Chemotherapie?«<br />
Gregor mußte an das langsame Zugrundegehen<br />
seiner Mutter denken. Er sah sie<br />
noch heute vor sich, ausgemergelt bis auf die<br />
Knochen, keine Haare auf dem Kopf, völlig ohne<br />
Energie und seelisch total am Ende. War es das<br />
wirklich wert gewesen, nur um ihr Leben vielleicht<br />
um ein mickriges Jährchen zu verlängern?<br />
Er war wirklich gespannt zu erfahren, welche<br />
noch radikaleren Methoden dieser kleine Wicht<br />
auf Lager hatte.<br />
»Schau, mir wurde plötzlich bewußt, wie sehr ich<br />
eigentlich noch das Leben meiner Eltern lebte.<br />
Bei uns zu Hause war es einfach von Anfang an<br />
klar, daß ›klein Fränzsche‹ einmal die Praxis<br />
seines Vaters übernimmt. Nicht einmal ich selbst<br />
100
habe das je in Frage gestellt. Es gab schlicht und<br />
einfach keinen anderen Weg, verstehst du? Und<br />
erst als ich auf einmal mit der Tatsache konfrontiert<br />
wurde, daß ich demnächst sterben könnte,<br />
wurde mir klar, daß es ja hier schon die ganze<br />
Zeit um mich gegangen war. Verstehst du, um<br />
mich. Ich allein bin ja derjenige, der bis zum<br />
Schluß bei mir bleibt. Ich allein bin derjenige,<br />
der mein Leben lebt. Es tut’s kein anderer. Und<br />
wenn du einmal auf dem Totenbett liegst und<br />
feststellst, daß du ja gar nicht gelebt hast, dann<br />
ist es zu spät. Und dann hilft es dir auch nichts,<br />
wenn du deine Eltern herpfeifst und ihnen Vorwürfe<br />
machst. Die haben ja auch nur wieder von<br />
ihren Eltern gelernt, was Leben heißt, und die<br />
Großeltern wissen es von den Urgroßeltern, und<br />
alle denken, so ist es nun mal, so war es schon<br />
immer, so muß es wohl sein. Herrgottnocheinmal«,<br />
Franz wurde richtiggehend wütend, »wann<br />
beginnen wir endlich, diese verhängnisvollen<br />
Kreisläufe zu unterbrechen? Das geht doch nicht,<br />
daß wir alle so wertvolles Leben vergeuden! Kein<br />
101
Wunder, daß wir überall Krieg haben, wenn in<br />
unseren Köpfen Krieg herrscht! Kein Wunder,<br />
wenn unsere Körperzellen wildes, antisoziales<br />
Verhalten an den Tag legen, wenn wir es ihnen<br />
täglich vormachen!«<br />
Franz mußte einen <strong>Moment</strong> lang tief durchatmen,<br />
so sehr hatte er sich aufgeregt, und Gregor<br />
nutzte die Pause, um dem Thema eine etwas<br />
andere Richtung zu geben: »Was hast du denn<br />
gemacht? Wie sah deine Radikal-Kur aus?«<br />
»Ich hatte von einem Arzt in Boston gehört«, fuhr<br />
Franz etwas ruhiger fort, »der eine extrem hohe<br />
Quote an spontanen Remissionen vorweisen<br />
konnte…«<br />
»Spontane Remission? Was ist das denn?« Gregor<br />
war mittlerweile so gefesselt, daß er kaum<br />
noch auf die Uhr sah und auch nicht bemerkte,<br />
daß die meisten Passagiere sich wieder in die<br />
Abflughalle begeben hatten.<br />
»Spontane Remission«, fuhr Franz fort, »ist, populär<br />
ausgedrückt, wenn der Körper zum Krebs<br />
sagt ›geh’ weg, ich brauch’ dich nicht mehr! Ich<br />
102
kann meine Probleme auch ohne dich lösen!‹ «<br />
»Und das gibt es?« fragte Gregor ungläubig.<br />
»Ja, das gibt es. Und die Schulmediziner geben<br />
sich in der Regel Mühe, diese Fälle so rasch als<br />
möglich wieder zu vergessen. Manchmal zweifeln<br />
sie an ihren früheren Diagnosen, geben irgend<br />
ein defektes Gerät schuld oder finden sonst<br />
eine Ausrede. Oder sie glauben tatsächlich an<br />
ein kleines Wunder. Aber du weißt ja, wie das<br />
ist. Selbst wenn wir an Wunder glauben, handeln<br />
wir oftmals nicht danach.«<br />
»Das stimmt«, mußte Gregor ihm zustimmen,<br />
»wenn ich da an meinen Bruder denke, der hat<br />
an Seminaren schon gelernt, mit seiner Geisteskraft<br />
Löffel zu verbiegen und über glühende<br />
Kohlen zu gehen, ohne sich zu verbrennen. Aber<br />
du solltest ihn mal sehen, das ist die letzte Krükke<br />
von einem Menschen! Der handelt überhaupt<br />
nicht so, als wüßte er das alles!«<br />
»Ja, das ist leider so. Wir sind so festgefahren in<br />
unseren Programmen, daß einfach nicht ist, was<br />
nicht sein darf. Das Schlimmste für den Men-<br />
103
schen ist offenbar, wenn er aus seiner Komfort-<br />
Zone ausbrechen soll.«<br />
»Passenger Schuller, passenger Doctor Fraans<br />
Schuller,« klang es von der Decke, »your plane is<br />
ready for departure, please proceed to the gate<br />
without delay…«<br />
»Oh, das bin ich,« sagte Franz und griff nach seinem<br />
Handgepäck. »Mann, ist die Zeit wieder<br />
verflogen. Du, es war schön, mit dir zu reden.<br />
Hier ist meine Karte. Wenn du mal in San Diego<br />
bist, komm’ doch auf einen Sprung vorbei.«<br />
Gregor warf einen Blick auf die hellgrüne Visitenkarte,<br />
die er in seinen Händen hielt: Franz<br />
Schuler M.D., Consulting physician UNICEF,<br />
und irgendeine Adresse in La Jolla, Kalifornien.<br />
»Du arbeitest für die UNICEF?« fragte Gregor,<br />
während sie hastig die Rolltreppe zur Abflughalle<br />
bestiegen, »ich habe immer gedacht, die leisten<br />
sich grundsätzlich Erste Klasse?«<br />
»Schön wär’s,« lachte Franz zurück, »seit ein paar<br />
Jahren arbeite ich mehr oder weniger kostenlos.<br />
Weißt du, ich habe ja alles, was ich brauche.<br />
104
Mein Haus in Castrop wirft so viel an Zinsen ab,<br />
daß ich davon leben kann. Und irgendwann muß<br />
man mal beginnen, den Sauerstoff, den man hier<br />
verbraucht, zurückzuzahlen.«<br />
Mittlerweile waren sie am Gate angekommen,<br />
und der ungeduldige Blick der Stewardeß verriet<br />
ihnen, daß sie jetzt keine Zeit mehr für Plaudereien<br />
hätten.<br />
»Also, tschüß Gregor. Ach, jetzt fällt mir endlich<br />
ein, wem du ähnlich siehst. Einem alten Freund<br />
von mir, er heißt Anton.«<br />
»Mein Vater hieß auch Anton«, sagte Gregor beiläufig.<br />
»Ja, aber mein Anton lebt im Paradies, auf St.<br />
Thomas. Also, tschüß…« Franz zeigte der Stewardeß<br />
seine Bordkarte, entschuldigte sich mit<br />
einem höflichen »Sorry about that« und verschwand<br />
mit flinken Schritten in der Gangway.<br />
105
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Da war wieder einiges an Zündstoff drin. Mal<br />
sehen… »das Leben ihrer Eltern leben.« Wie ist<br />
das bei Ihnen? Leben Sie Ihr eigenes Leben? Oder<br />
vielmehr dasjenige Ihrer Eltern, Ihres Lebenspartners,<br />
Ihrer Kinder?<br />
Was würden Sie tun, wenn Sie völlig unabhängig<br />
von anderen Menschen wären?<br />
106
Sind Sie wirklich abhängig von diesen Menschen,<br />
und wenn ja, wieso?<br />
Glauben Sie, daß die Menschen »rein zufällig«<br />
irgendwelche Krankheiten bekommen?<br />
Ich hatte einmal einen Teilnehmer an einem<br />
meiner Seminare, der ein Jahr zuvor an Krebs<br />
erkrankt war. Nachdem wir uns über den Sinn<br />
von Krankheiten unterhalten hatten, wollte er<br />
von mir wissen, was er denn falsch gemacht habe.<br />
Ich antwortete, dies sei die falsche Fragestellung.<br />
Er müsse sich fragen, was sich denn seit seiner<br />
Krankheit verändert habe.<br />
»Nun«, antwortete er, »früher glaubte ich nur das,<br />
107
was ich mit meinen Augen sehen konnte. Heute<br />
weiß ich, daß es mehr gibt als nur das, was wir<br />
mit unseren beschränkten Sinnen wahrnehmen.<br />
Meine Frau war schon immer offener, und sie<br />
litt früher darunter, daß ich so verschlossen war.<br />
Meine Lebensqualität hat sich seither auf allen<br />
Ebenen verbessert.«<br />
»Na also«, sagte ich, »dann hast du deine Lektion<br />
gelernt. Der Krebs wird nicht mehr zurückkommen.«<br />
Es gibt in Amerika mehrere Kliniken, unter anderem<br />
diejenige eines Dr. Carl Simonton, die sich<br />
auf das Heilen von Krebskranken spezialisiert<br />
haben. Soweit ich informiert bin, werden dort<br />
ausschließlich natürliche Heilmethoden angewendet.<br />
Die Patienten lernen meditieren, sie stellen<br />
ihre Ernährung um, sie bekommen zweimal<br />
am Tag ausgiebige Massagen, und sie lernen,<br />
ihre Krankheit zu akzeptieren und sogar »mit<br />
ihr zu sprechen«. Resultat: Die Quote an spontanen<br />
Remissionen ist um ein Vielfaches höher<br />
als bei herkömmlichen Heilverfahren. Das müßte<br />
108
uns doch zumindest zu denken geben. Finden Sie<br />
nicht auch?<br />
Und zum Schluß möchte ich noch wissen, was<br />
Sie zu diesem Satz sagen: »Und irgendwann muß<br />
man mal beginnen, den Sauerstoff, den man hier<br />
verbraucht, zurückzuzahlen.«<br />
Wie ist es mit Ihnen? In welcher Form zahlen<br />
Sie den Sauerstoff, den Sie auf der Erde verbrauchen,<br />
zurück?<br />
109
110
9<br />
Das Flugzeug aus Atlanta war zehn Minuten früher<br />
als erwartet gelandet. Ein braungebrannter,<br />
älterer, aber noch ziemlich rüstiger Mann mit<br />
einer großen, braunen Reisetasche bahnte sich<br />
seinen Weg durch die sich begrüßenden Menschen,<br />
drückte der schwarzen Sicherheits-Beamtin<br />
an der Glastüre seinen Gepäck-Abschnitt in<br />
die Hand und überquerte die Straße, die wie<br />
immer um diese Zeit von hupenden Taxis und<br />
Kleinbussen wimmelte.<br />
»Hupt man jetzt in Los Angeles auch?« rief er<br />
halb scherzend einem Taxifahrer zu, der ihn<br />
anblickte, als käme er von einem anderen Stern.<br />
Er hatte sich unter das dreieckige, grüne Leuchtschild<br />
gestellt, unter dem die Kleinbusse hielten,<br />
die einen kostenlos zu den Schaltern der verschiedenen<br />
Mietwagen-Firmen brachten.<br />
So gedankenversunken, wie es nur ältere Menschen<br />
sein können, betrachtete er eine Weile die<br />
Palmen zwischen den Parkhäusern und Fußgänger-Überführungen,<br />
die der sanfte, kalifornische<br />
111
Abendwind leicht hin- und herwiegte.<br />
Dann winkte er einem der Kleinbusse zu, stieg<br />
ein und setzte sich ganz vorne beim Fahrer hin.<br />
Drei weitere Passagiere, alles ziemlich unauffällige<br />
Geschäftsherren, folgten ihm. Kurz bevor<br />
der Fahrer die Türen schloß, packte der Alte flink<br />
seine braune Reisetasche und verließ den Bus<br />
über die Vordertüre. Einer der Geschäftsherren,<br />
ein Blonder von mittelgroßer Statur, blickte ihm<br />
aus dem davonfahrenden Bus scheinbar ziemlich<br />
verärgert nach.<br />
112
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Das geht ja zu wie in einem James-Bond-Film.<br />
Hong Kong hatten wir schon. Dann kam Singapur,<br />
Bern, St. <strong>Peter</strong>sburg und Los Angeles. Jetzt<br />
ist Anchorage an der Reihe. Wo das liegt? Na,<br />
wozu hat man denn ein Lexikon?!<br />
Wie bitte?<br />
Nein, ich besitze keine Reisebüro-Aktien!<br />
113
10<br />
Gregor saß wie in Trance auf dem Rücksitz, während<br />
der Fahrer, ein ausnahmsweise zufriedener<br />
Mensch, das gelbe Taxi vom Flughafen zum<br />
Hotel Quilton in Downtown Anchorage steuerte.<br />
Das Quilton, wie fast alle Quiltons schon etwas<br />
heruntergekommen und seinen gastfreundlichen<br />
Grundsätzen untreu geworden, war immer<br />
noch die einzige Unterkunft, die man hier<br />
als einigermaßen standesgerecht bezeichnen<br />
konnte.<br />
»Mein Anton lebt im Paradies, auf St. Thomas«,<br />
hatte Franz beim Abschied gesagt. St. Thomas,<br />
die Karibikinsel, auf der sein Vater vor vierzig<br />
Jahren gestorben war. Gregor schüttelte den<br />
Kopf.Er hatte ja heute schon einiges erlebt, aber<br />
das konnte nun wirklich nicht sein, daß es sich<br />
bei diesem Anton um den Mann handelte, der<br />
vorgab, sein Vater zu sein.<br />
Gregor drückte dem Gepäckträger fünf Dollar<br />
in die Hand und schloß die Zimmertüre hinter<br />
114
ihm zu. Dann tat er, was er immer tat, wenn er<br />
nach einem langen Flug in ein Hotelzimmer kam.<br />
Er drehte den Wasserhahn bei der Badewanne<br />
voll auf, holte sich aus der Minibar ein kühles<br />
Bier, schaltete den Fernseher ein und legte sich<br />
erst einmal für ein paar Minuten aufs Bett.<br />
Auf Kanal sieben brachten sie wieder eine dieser<br />
typischen amerikanischen Talkshows. Gregor<br />
traute seinen Augen nicht. Eingeladen war<br />
ein 65-jähriger Mann vom Typ »deutscher Bierbrauer«,<br />
der die ganze Zeit Händchen hielt mit<br />
einer etwa 40-jährigen Frau, mit der er schon<br />
seit einem Jahr zusammen war. Der Clou war:<br />
Mister Bierbrauer hatte erst kürzlich entdeckt,<br />
daß sein Schätzchen in Wirklichkeit ein Mann<br />
war. Dieser bezeichnete sich vorsichtshalber als<br />
»präoperativer Transsexueller« und war überglücklich,<br />
daß Mister Bierbrauer immer noch zu<br />
ihm stand. Dann eine Satellitenschaltung in ein<br />
Gerichtsgebäude nach Minneapolis, wo drei lesbische<br />
Frauen, die häßlichsten und kettenrauchendsten,<br />
die Gregor je gesehen hatte, auf<br />
115
ihren Prozeß warteten. Grund: Sie hatten Mister<br />
Transsexuell zusammengeschlagen, um angeblich<br />
Mister Bierbrauer vor ihm zu schützen.<br />
Die tiefsinnige Frage des Talkmasters war dann:<br />
»Hatten diese Frauen das Recht, den Mann, der<br />
eine Frau sein will, zusammenzuschlagen?« Die<br />
drei Frauen verteidigten sich mit dem Argument,<br />
sie hätten mit Mister Transsexuell lesbische Liebe<br />
gemacht, und im Verlaufe dieser Aktivitäten<br />
hätte dieser eben masochistische Züge entwikkelt.<br />
Das hingegen konnte der ebenfalls eingeladene<br />
Enkel von Mister Bierbrauer nun nicht<br />
gelten lassen: »Lesbische Liebe mit einem Mann,<br />
wie soll denn das gehen?« Außerdem gab er zum<br />
besten, er möge seinen Großvater sehr, dieser<br />
werde ihm demnächst seine Hochzeit finanzieren,<br />
er möge auch Mister Transsexuell, aber die<br />
Beziehung der beiden werde er nie akzeptieren<br />
können.<br />
Kopfschüttelnd schaltete Gregor den Fernseher<br />
aus und begab sich in Richtung des Badezimmers.<br />
»Wenn es tatsächlich so ist«, dachte er, »daß<br />
116
jede Nation das Fernsehen hat, das sie verdient,<br />
dann mache ich mir langsam wirklich Sorgen um<br />
die Zukunft Amerikas.«<br />
Er hatte sich gerade wohlig im warmen Wasser<br />
ausgestreckt, da klingelte das Telefon. Ob das<br />
wohl dieser Typ war, der ihn in Hong Kong schon<br />
belästigt hatte? Gregors Puls begann schneller<br />
zu schlagen. Seine Schläfen pochten. Er schnappte<br />
sich eines der zahlreichen Handtücher von der<br />
Stange, trocknete sich flüchtig ab und humpelte<br />
zum Apparat.<br />
Der Anrufer hatte bereits eingehängt, und Gregor<br />
wollte gerade die Reception anrufen, um zu<br />
erfahren, ob jemand eine Nachricht hinterlassen<br />
hatte. Da begann die rote Message-Lampe<br />
am Telefon auch schon zu blinken. Gregor schaltete<br />
den Fernseher auf Kanal 88, den Kanal, auf<br />
dem man in modernen Hotels die persönlichen<br />
Nachrichten abrufen kann. Prompt hieß es da:<br />
»You have one new message, Mister Kaspach.«<br />
Sichtlich nervös fingerte Gregor an der Fernbedienung<br />
herum, bis er endlich den Knopf ge-<br />
117
funden hatte, mit dem er seine Nachricht zum<br />
Vorschein bringen konnte. »Please call (714) 555<br />
as soon as possible«. Was sollte denn das nun<br />
wieder? Eine Vorwahl und nur drei Ziffern? Er<br />
schaute in der Agenda die Nummer von Sonja<br />
nach. Laguna Beach hatte tatsächlich die Vorwahl<br />
714. Aber Sonjas Nummer begann nicht mit<br />
555. Dennoch wählte er ihren Anschluß, um sich<br />
zu vergewissern, ob es sich um ein Mißverständnis<br />
handelte. »Hi, this is Sonjas answering machine,<br />
bitte hinterlassen Sie eine Nachricht…«<br />
Gregor legte auf.<br />
Dann prüfte er, ob die sechs Ziffern zu einem<br />
örtlichen Anschluß gehörten. Auch das war nicht<br />
der Fall. Er wollte gerade zum Hörer greifen, um<br />
sich bei der Reception zu erkundigen, wer den<br />
Anruf entgegengenommen hatte, da beschloß er,<br />
daß er das wohl besser gleich persönlich erledigen<br />
würde. Er zog sich rasch etwas an und begab<br />
sich in die Hotelhalle.<br />
»Wer hat diese Nachricht entgegengenommen?«<br />
wollte er von dem jungen Mann an der Reception<br />
118
wissen. Dieser bemerkte offenbar Gregors aggressiven<br />
Ton und schaltete innerlich bereits auf<br />
Verteidigung.<br />
»Ist etwas nicht in Ordnung, Sir?« fragte er halb<br />
höflich, halb beleidigt.<br />
»Und ob etwas nicht in Ordnung ist!«<br />
Gregor wurde noch etwas lauter. Diese jungen<br />
Receptionisten in den großen Hotels gingen ihm<br />
jedesmal auf die Nerven. Fühlten sich schon fast<br />
wie Hoteldirektoren in ihren piekfeinen Anzügen,<br />
aber hatten keinen blassen Schimmer, wie<br />
man ein Problem löst, geschweige denn, wie man<br />
eine Reklamation behandelt.<br />
»Schauen Sie sich einmal diese Telefonnummer<br />
an!« Gregor hielt dem Mann den Zettel hin.<br />
»Ja, was ist damit?«<br />
Gab es denn wirklich so viel Dummheit? Der Typ<br />
hätte wunderbar in die Talkshow gepaßt, die er<br />
sich vor ein paar Minuten angeschaut hatte.<br />
»Na, was ist wohl damit? Haben Sie schon einmal<br />
eine dreistellige Telefonnummer gesehen<br />
hierzulande?«<br />
119
»Ja Sir, die Notfall-Nummer 911, oder die Auskunft<br />
411.«<br />
Jetzt wurde der Kerl auch noch unverschämt.<br />
Gregor mußte sich zusammennehmen, um nicht<br />
die ganze Hotelhalle zusammenzutrommeln.<br />
»Finden Sie jetzt endlich heraus, wer diese Nachricht<br />
entgegengenommen hat!«<br />
»Das darf ich nicht, Sir!«<br />
»Was soll das heißen, das darf ich nicht?«<br />
»Die Telefonistinnen sind bei uns anonym. Sie<br />
dürfen keinen Gastkontakt haben.«<br />
Gregor gab es auf, nachdem er dem Mann einen<br />
ohrfeigenden Blick zugeworfen hatte. So etwas<br />
war ihm nicht zum ersten Mal passiert, und es<br />
wurde jedesmal schlimmer.<br />
Das ist auch wieder eine Auswirkung dieser blöden<br />
Sparerei, dachte er bei sich, in zehn Jahren<br />
werden wir wahrscheinlich von Schimpansen<br />
bedient, weil die am billigsten zu haben sind.<br />
Dabei lancierten all diese Busineß-Hotels immer<br />
so schöne Kampagnen. Sie sind wichtig für uns,<br />
hatte er kürzlich in einem anderen Hotel gele-<br />
120
sen. Und hier hingen überall kleine Flaggen<br />
umher mit den Buchstaben WLP. Ein Flugblatt<br />
im Zimmer erklärte dann den Gästen, was das<br />
bedeutete: »We love people – wir mögen Menschen!«<br />
»Ich auch«, murmelte Gregor ärgerlich<br />
vor sich hin, »fragt sich nur, welche!«<br />
Im Zimmer angelangt, schluckte er erst einmal<br />
eine Schlaftablette. Er mußte sich dringend ein<br />
paar Stunden ausruhen, denn heute abend wollte<br />
er ja noch sein Büro in Hamburg anrufen, um<br />
die kommenden Tage zu planen.<br />
Gregor starrte zur Decke und wartete darauf,<br />
daß die Wirkung der Schlaftablette einsetzte.<br />
Seltsamerweise kam ihm dieses »WLP – we love<br />
people« immer wieder in den Sinn. Er dachte<br />
daran, wie gerne die Amerikaner Abkürzungen<br />
verwenden…<br />
Auf einmal kam ihm ein Gedanke. Was hatte es<br />
in der Nachricht geheißen? »Please call (714) 555<br />
as soon as possible.« As soon as possible, das hieß<br />
sobald als möglich, abgekürzt ASAP. Natürlich!<br />
Selbst im Büro in Hamburg benutzten sie jeweils<br />
121
diese Kurzform, wenn sie sich gegenseitig Nachrichten<br />
auf den Schreibtisch legten. Vielleicht<br />
sollte die Nummer heißen (714) 555-ASAP. Die<br />
Amerikaner hatten ja auf ihren Telefonen neben<br />
den Ziffern auch Buchstaben, die sie oftmals verwendeten,<br />
um sich eine Nummer besser merken<br />
zu können. ASAP, das wäre also 2727. Die Wahrscheinlichkeit<br />
war zwar klein, aber man konnte<br />
es ja zumindest einmal versuchen.<br />
»We’re sorry, your call cannot be completed as<br />
dialed,« meldete eine Computerstimme.<br />
Ob man die Ziffern vielleicht in umgekehrter<br />
Reihenfolge wählen müßte? Gregor versuchte es.<br />
Es klingelte zweimal, dann meldete sich eine<br />
Männerstimme: »Gregor?«<br />
»Woher wissen Sie, daß ich das bin?« Gregor begann<br />
schon wieder zu schwitzen.<br />
»Das ist eine Geheimnummer, und du bist der<br />
einzige, der so clever ist, daß er mein Rätsel lösen<br />
konnte. Hör’ mir jetzt ganz gut zu, Gregor.<br />
Das ist deine letzte Chance, mir Glauben zu<br />
schenken, sonst überlasse ich dich deinem<br />
122
Schicksal. Ich kann dich nicht um die halbe Welt<br />
verfolgen, nur um dich zu deinem Glück zu zwingen.<br />
Hast du mich verstanden?«<br />
Gregor schluckte leer.<br />
»Ob du mich verstanden hast?«<br />
Gregor wußte nicht, warum, aber ihm war das<br />
Weinen zuvorderst.<br />
»Herrgottnochmal, ich weiß doch nicht, was ich<br />
davon halten soll. Mein Vater ist tot. Ich habe<br />
seinen Totenschein mit eigenen Augen gesehen.«<br />
»Ich weiß doch, Gregor, ich selbst habe ihn seinerzeit<br />
auf die Post gebracht. Ich werde dir das<br />
alles erklären, wenn du mir endlich Gelegenheit<br />
dazu gibst.«<br />
Gregor hatte immer noch diesen Kloß im Hals,<br />
und er fühlte sich so miserabel wie noch nie.<br />
Wenn das wirklich sein Vater sein sollte, dann<br />
hätte er einiges mit ihm abzurechnen. Wie oft<br />
hatte er diesen Mann verflucht! Ein Nazi, und<br />
erst noch einer der feigen Sorte! Ließ Frau und<br />
Kinder einfach im Stich, um sich in der Karibik<br />
ein schönes Leben zu machen. Wenn er nur schon<br />
123
daran dachte, zog sich ihm der Magen zusammen.<br />
»Gregor, das mit dem Triebwerk war eine Warnung<br />
von denen. Das nächste Mal wirst du nicht<br />
mehr so glimpflich davonkommen.«<br />
Nein, das durfte nicht sein! Dann war dieser<br />
Zwischenfall im Flugzeug also geplant?<br />
»Haben Sie einen Beweis für diese ungeheuerliche<br />
Behauptung?«<br />
Gregor war froh, daß er sich wieder einigermaßen<br />
unter Kontrolle hatte.<br />
»Hör’ doch bitte auf mit der Siezerei, Gregor, ich<br />
bin dein Vater.«<br />
»Auch dafür haben Sie keinen Beweis!«<br />
Gregor war fest entschlossen, die Oberhand zu<br />
behalten.<br />
»Okay Gregor, ich sehe, du hast meine Skepsis<br />
geerbt. Paß’ auf, wenn du mir auch nur ein Fünkchen<br />
Glauben schenken kannst, dann melde dich<br />
morgen früh um elf bei der Firma ›Skyline<br />
Aviation‹ am Lake Hood. Der Lake Hood ist ein<br />
großer Wasser-Flughafen, direkt neben dem in-<br />
124
ternationalen Flughafen. ›Skyline Aviation‹ liegt<br />
am südlichen Ende des Sees. Tust du mir den<br />
Gefallen, Gregor? Gehst du bitte dorthin?«<br />
»Ich werde es mir überlegen«, vertröstete Gregor<br />
den mysteriösen Anrufer, immer noch nicht<br />
wissend, was er von all dem halten sollte.<br />
»Gut, mehr kann ich nicht verlangen. Ich danke<br />
dir…«<br />
Wie schon beim letzten Mal in Hong Kong legte<br />
der Mann sehr rasch auf.<br />
125
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Hoffentlich haben Sie sich durch die eingestreuten<br />
Management-Themen nicht allzu sehr stören<br />
lassen. Ich bin nun mal Unternehmensberater<br />
und kein Roman-Autor.<br />
Die Quilton-Hotels gibt es natürlich nicht. Und<br />
jede Ähnlichkeit mit einer tatsächlich heruntergekommenen<br />
Hotelkette wäre rein zufällig. (Was<br />
sage ich da? Es gibt doch gar keine Zufälle!)<br />
Die Fernseh-Talkshow, so erfunden sie klingen<br />
mag, hat tatsächlich stattgefunden. Und im<br />
amerikanischen Fernsehen kann man sich jeden<br />
Tag solche Stories zu Gemüte führen. Oftmals<br />
habe ich das Gefühl, es handle sich bei den Teilnehmern<br />
um eine andere Spezies als den »Homo<br />
sapiens sapiens«. Vielleicht ist das ja auch tatsächlich<br />
der Fall! Nur weil wir uns alle ähnlich<br />
sehen, heißt das noch lange nicht, daß wir geistig<br />
alle gleich strukturiert sind. Oder?<br />
126
Es ist offensichtlich, daß unser Gregor nicht besonders<br />
viel von der Erde und ihren Bewohnern<br />
hält. Entsprechend mühsam sind denn auch die<br />
Erfahrungen, die er macht. Dazu fällt mir nur<br />
ein Spruch ein: Die Welt ist das, was wir von ihr<br />
denken! Stimmt doch, oder nicht? Wie erklären<br />
Sie sich sonst die Tatsache, daß die einen finden,<br />
unsere Erde sei der Himmel, und die anderen<br />
finden, sie sei die Hölle? Es ist die gleiche<br />
Erde für alle!<br />
Schreiben Sie doch einmal auf, was Sie von der<br />
Erde und ihren Bewohnern halten. Ergänzen Sie<br />
bitte die folgenden Sätze!<br />
Die Welt ist…<br />
127
Ich bin ein Mensch, der…<br />
Die Menschen sind im allgemeinen…<br />
Ich führe diese Übung in einem meiner Seminare<br />
durch. Da gab es einmal eine Frau, die ergänzte<br />
die Sätze folgendermaßen: »Die Welt ist<br />
langsam aber sicher am Vergiften.« »Ich bin ein<br />
Mensch, der etwas tun will.« »Die Menschen sind<br />
im allgemeinen dumm und uneinsichtig.«<br />
128
Die Gute hat wahrscheinlich geglaubt, sie gebe<br />
ein Urteil über die Welt und die Menschen ab.<br />
Dabei gab sie nichts anderes ab als ein Urteil<br />
über sich selbst. Wundert es Sie, daß diese Frau<br />
ziemlich vergiftet aussah, daß keiner gern mit<br />
ihr zusammen war und daß sie nur dumme und<br />
uneinsichtige Menschen anziehen konnte?<br />
Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal<br />
versucht sind, etwas zu beurteilen oder zu verurteilen:<br />
Die Welt ist das, was wir von ihr denken.<br />
Ihr Lebenspartner ist das, was Sie von ihm<br />
denken. Ihre Kinder sind das, was Sie von ihnen<br />
denken. Ihr Chef ist das, was Sie von ihm denken.<br />
Ihre Mitarbeiter sind das, was Sie von ihnen<br />
denken.<br />
Wenn Sie jetzt denken, das sei völlig falsch und<br />
dieser <strong>Zimmermann</strong> sei ein ausgewachsener<br />
Trottel, dann lege ich es Ihnen nochmals ins Ohr:<br />
Ich bin das, was Sie von mir denken!<br />
129
130
11<br />
»Määääääähhhhh…!«<br />
Um Gottes willen, was war das? Gregor schaute<br />
sich um. Wo war er? Was war geschehen? Was<br />
war das für ein graubrauner Wollknäuel vor ihm?<br />
Langsam dämmerte es ihm. Er war auf einer<br />
Wiese eingeschlafen. Und dieses durchdringende<br />
»Määäääääähhhhh« kam von einem Schaf,<br />
das vor seinen Augen weidete. Aber wo war er?<br />
Er konnte sich nicht erinnern, wie er auf diese<br />
Wiese gekommen war. Der Himmel war wolkenverhängt.<br />
Es herrschte diese düstere Stimmung,<br />
wie kurz vor einem Gewitter, aber so, daß man<br />
weiß, es wird nie ein Gewitter geben. Gregor<br />
wollte sich gerade aufmachen, um die Gegend<br />
zu erkunden, da fiel sein Blick auf ein Haus. Es<br />
lag auf einem Hügel, nur wenige Schritte von<br />
ihm entfernt.<br />
»Seltsam«, dachte Gregor, »das Haus kommt mir<br />
so bekannt vor.«<br />
Er wollte aufstehen und herausfinden, was es<br />
mit diesem Haus auf sich hatte. Aber er konnte<br />
131
kaum gehen. Es war, als hätte er Beine aus Blei.<br />
Mühsam schleppte er sich vorwärts. Dieses Gefühl<br />
hatte er doch schon einmal gehabt: Diese<br />
unsichtbare Kraft, die ihn antrieb; und dabei<br />
konnte er sich kaum bewegen. Gregor befaßte<br />
sich schon mit dem Gedanken, sich wieder hinzulegen<br />
und noch ein wenig zu schlafen, da kam<br />
ihm vom Haus her sein Onkel entgegen.<br />
»Onkel Alfred!« rief Gregor überrascht. »Was tust<br />
du denn hier?«<br />
Sein Onkel blickte ihn verständnislos an. Tiefe<br />
Furchen zeichneten sein altes Gesicht.<br />
»Frag’ nicht so blöd«, herrschte er Gregor an, »das<br />
ist dein Elternhaus, was sonst?«<br />
»Ja, aber«, gab Gregor völlig verwirrt zur Antwort,<br />
»warum ist das Haus jetzt plötzlich auf einem<br />
Hügel? Es war doch früher immer im Tal<br />
unten!«<br />
»Nach dem, was du deiner Mutter angetan hast,<br />
mußten wir etwas unternehmen».<br />
Die Antwort klang traurig, aber bestimmt. Da<br />
war es wieder, dieses Gefühl. Gregor wußte, er<br />
132
hatte etwas Furchtbares getan, aber er hatte<br />
keine Ahnung, was. Und das Schlimmste daran<br />
war: Alle anderen schienen es zu wissen. Wie oft<br />
war es schon geschehen, daß selbst die entferntesten<br />
Bekannten sich mit seinem Onkel verbündet<br />
hatten, um Gregor ins Gewissen zu reden.<br />
»Onkel Alfred«, flehte Gregor seinen Onkel an,<br />
»was habe ich denn getan? Bitte sag’ es mir. Und<br />
bitte hilf mir; ich kann kaum gehen.«<br />
Gregors Onkel lächelte spöttisch: »Ich habe ja<br />
gesagt, wir mußten etwas unternehmen. Schau’<br />
dir doch mal deine Hosen an!«<br />
Gregor schaute an sich hinunter und konnte es<br />
kaum glauben: Seine Hosen waren aus Blei!<br />
»Warum habt ihr das getan«, fragte Gregor<br />
weinerlich, »ich kann doch kaum gehen!«<br />
»Mach’ nicht so ein Geschrei«, gab sein Onkel<br />
unwirsch zur Antwort, »du kannst sie ja ausziehen».<br />
Aber Gregor glaubte einen drohenden Unterton<br />
in der Stimme seines Onkels zu hören. Er wollte<br />
nicht schon wieder etwas falsch machen, also<br />
133
ehielt er seine Bleihosen erst einmal an.<br />
»Määääääähhhhh…!«<br />
Das erste, was Gregor sah, war die weiße Badezimmer-Kachel<br />
mit dem Sprung, den er einmal<br />
mit einem Whiskyglas verursacht hatte, als er<br />
wütend war. Er lag im Badezimmer seines Vierzimmer-Hauses<br />
und war offenbar beim Rasieren<br />
eingeschlafen.<br />
»Das kommt davon«, dachte er, »wenn man nur<br />
noch für die Arbeit da ist.«<br />
Gottseidank war dieser blöde Traum vorbei. Was<br />
sollte das denn? Sein Elternhaus auf einem Hügel,<br />
undefinierbare Schuldgefühle und Bleihosen,<br />
die ihn am Gehen hinderten. So ein Quatsch! Er<br />
wollte die ganze Geschichte so rasch wie möglich<br />
vergessen, sich rasieren und duschen und<br />
dann zur Arbeit fahren.<br />
»<strong>Moment</strong> mal«, dachte Gregor, »Arbeit? Was für<br />
eine Arbeit mache ich eigentlich?«<br />
Das durfte doch nicht wahr sein. Er wußte nicht<br />
mehr, welche Arbeit er ausübte! Gregor nahm<br />
sich vor, sich in den nächsten Tagen beim Arzt<br />
134
anzumelden. Er wollte gerade seine Frau unter<br />
irgendeinem Vorwand dazu bringen, ihm etwas<br />
über seine Arbeit zu verraten, da merkte er, daß<br />
er ihren Namen vergessen hatte.<br />
»Aber Herrgottnocheinmal«, rief er halb wütend,<br />
halb verzweifelt, »ich kann doch nicht alles vergessen<br />
haben!«<br />
»Schrei nicht so, du weckst ja alle auf!« Gregor<br />
fuhr herum.<br />
Es war seine Mutter, und sie saß splitternackt<br />
in seiner Badewanne.<br />
»Mutti, gut daß du da bist!«<br />
Gregor übersah, daß seine Mutter nackt war, und<br />
er mochte sich auch gar nicht fragen, was sie in<br />
seiner Badewanne zu suchen hatte.<br />
»Mutti, mir ist etwas Schreckliches passiert. Ich<br />
weiß nicht mehr, wie meine Frau heißt.«<br />
»Aber aber, Gregor«, meinte seine Mutter mit<br />
leicht spöttischem Unterton, »ich bin doch deine<br />
Frau!«<br />
»Määääääähhhhh…!«<br />
wo war dieser verdammte Rasierapparat?<br />
135
»Määääääähhhhh…!«<br />
Gregor tappte im Dunkeln umher.<br />
»Määääääähhhhh…!«<br />
Endlich konnte er diesen blöden Wecker zum<br />
Schweigen bringen.<br />
Schweißgebadet setzte sich Gregor auf die Bettkante<br />
und begann die Ereignisse geistig zu sortieren.<br />
Das mit den Bleihosen, dem Elternhaus<br />
und seiner Mutter in der Badewanne, das hatte<br />
er nur geträumt, gottseidank. Und das mit den<br />
undefinierbaren Schuldgefühlen ebenfalls, obwohl<br />
sie ihm immer noch ganz schön im Nacken<br />
saßen.<br />
Hingegen der Anruf eines Unbekannten, der behauptete,<br />
sein Vater zu sein, der hatte tatsächlich<br />
stattgefunden, das bewies die Notiz, die auf<br />
seinem Nachttisch lag: »Donnerstag 11 Uhr, Skyline<br />
Aviation, Lake Hood.«<br />
Gregor sah auf den Wecker, den er vorhin beinahe<br />
zerstört hätte. Es war kurz nach 22 Uhr. In<br />
Hamburg war es jetzt morgens um acht. Er hol-<br />
136
te seinen Terminkalender aus der Reisetasche<br />
und wählte die Nummer seines Büros.<br />
Nach achtmaligem Klingeln meldete sich eine<br />
ziemlich verschlafene und unwillige Frauenstimme:<br />
»Marvosound GmbH…«<br />
Gregor war gleich auf hundertachtzig. Er hatte<br />
diesen Telefonistinnen schon hundert Mal gesagt,<br />
daß sie einen Anruf nach zweimaligem Klingeln<br />
beantworten und sich mit ihrem Namen<br />
melden sollten.<br />
»Und wer von der lieben Firma Marvosound ist<br />
bitte am Apparat, wer?« herrschte er zynisch in<br />
den Hörer.<br />
»Oh, Herr Kaspach, hallo! Sie möchten sicher den<br />
Herrn Schüßler.«<br />
Gregor hatte die Stimme natürlich längst erkannt.<br />
Sie gehörte Petra Grießbach, der jungen<br />
Telefonistin, die seit ungefähr einem Jahr bei<br />
Marvosound arbeitete.<br />
»Nein, ich möchte nicht den Herrn Schüßler.«<br />
Gregor hatte wieder seine Schulmeister-Stimme<br />
drauf. »Ich möchte zuerst einmal wissen, wer am<br />
137
Apparat ist.«<br />
»Ja, Sie kennen doch meine Stimme, Herr<br />
Kaspach.«<br />
»Ich vielleicht schon«, gab Gregor ungeduldig<br />
zurück, »aber wie ist das mit unseren Kunden?«<br />
Es war einfach zum Verrücktwerden! Was dachten<br />
sich diese jungen Dinger eigentlich, wenn sie<br />
sich um so einen Job bewarben? Daß man auf<br />
sie gewartet hatte? Daß man nichts anderes zu<br />
tun hatte, als ihre Disco-Abende und ihre Antibaby-Pillen<br />
zu finanzieren und geduldig zuzusehen,<br />
wie sie sich während der Arbeitszeit ihre<br />
Fingernägel lackierten und stundenlang mit ihren<br />
Freundinnen telefonierten? Was war bloß mit<br />
der heutigen Generation los? Kein Ehrgeiz, kein<br />
Stolz, rein gar nichts!<br />
»Geben Sie mir bitte die Frau Müller.«<br />
Gregor mochte jetzt nicht weiter diskutieren. Er<br />
würde dem Schüßler bei der nächsten Geschäftsleitungssitzung<br />
nahelegen, daß man die Grießbach<br />
ersetzen sollte. »Schickt eure Enten nicht<br />
zur Adlerschule; sie lernen’s nie!« hatte er ein-<br />
138
mal irgendwo gehört. Und die Grießbach war nun<br />
mal eine geborene Ente, da konnte man offenbar<br />
nichts machen.<br />
Es knackte in der Leitung. Die Grießbach fand<br />
es nicht für nötig zu sagen: »<strong>Moment</strong> bitte, ich<br />
verbinde Sie gleich.« Ein Mensch, der sie so zur<br />
Schnecke machte, hatte in ihren Augen keine<br />
Höflichkeit verdient.<br />
»Elisabeth Müller, hallo Herr Kaspach!« Die<br />
Stimme klang freundlich, aber Gregor war sich<br />
bewußt, daß das nur Maskerade war.<br />
Die Müller war seine Sekretärin und das pure<br />
Gegenteil von der Grießbach. Sie ging gegen die<br />
Sechzig zu, legte großen Wert auf Körperpflege,<br />
die sie jedoch im Gegensatz zur Grießbach zu<br />
Hause erledigte, und hatte nur ein großes Problem:<br />
Sie war nie verheiratet gewesen. Ja, es war<br />
sogar noch schlimmer: Man vermutete im Geschäft,<br />
daß sie immer noch Jungfrau sei. Das<br />
wäre alles kein Problem gewesen, wenn die gute<br />
Frau nicht diese stereotypen Symptome älterer<br />
Jungfern an den Tag gelegt hätte. Auf der einen<br />
139
Seite wollte sie möglichst allen Männern gefallen.<br />
In ihrem Alter war sie offenbar nicht mehr<br />
wählerisch; selbst vor Bierbäuchen schreckte sie<br />
nicht zurück. Auf der anderen Seite hatte sie von<br />
ihrem strengen Vater das geistige Programm<br />
geerbt, daß man sich wehren müsse, wenn man<br />
nicht zertrampelt werden wolle. Diese Mischung<br />
sorgte in ihr drin für einen ständigen Kampf, so<br />
daß sie ziemlich nervös war und sehr wenig Kritik<br />
ertragen konnte. In den Männern sah sie<br />
potentielle Liebhaber und Erzfeinde zugleich,<br />
und die Frauen versuchte sie als Verbündete auf<br />
ihre Seite zu bringen. Verbündete allerdings, die<br />
es aushalten mußten, wie Töchter behandelt zu<br />
werden, denn die Müller mußte ja irgendwo ihre<br />
Mutterinstinkte ausleben können.<br />
Zu den Kunden war Elisabeth Müller eine Seele<br />
von Mensch. Und auch der Schüßler gab bei jeder<br />
Gelegenheit bekannt, wie froh er um diese<br />
Frau sei. Aber was er nicht sah, waren all die<br />
versteckten Intrigen und Gerüchte, die ihren<br />
Ursprung allesamt bei der Müller hatten. So<br />
140
manche gute Mitarbeiterin hatten sie aufgrund<br />
eines Müllerschen Machtkampfes schon verloren.<br />
»Hallo, Frau Müller. Wie geht’s Ihnen denn?«<br />
»Sicher nicht so gut wie Ihnen!« Da war er, dieser<br />
typisch Müllersche Unterton, den er bereits<br />
erwartet hatte. »Von welchem Badestrand aus<br />
rufen Sie mich an?«<br />
Von jedem anderen Menschen hätte Gregor das<br />
als Witz aufgefaßt, nur von der Müller nicht.<br />
Wenn sie so etwas sagte, dann war es absichtlich<br />
böse gemeint. Und es zeigte wieder einmal,<br />
wie wenig eigentlich die Leute im Büro von der<br />
Arbeit da draußen wußten. Nur weil es in Flugzeugen<br />
und Hotels keine Stempeluhren gab,<br />
glaubten die doch tatsächlich, daß die Außendienstler<br />
das schönste Flohnerleben genossen.<br />
Glaub’ der Teufel, daß es der Wirtschaft nicht<br />
besonders gut ging, wenn jeder gegen jeden arbeitete.<br />
»Nix Badestrand. Schön wär’s!« entgegnete Gregor<br />
und gab sich Mühe, seine leichte Gereiztheit<br />
141
zu unterdrücken. Die Müller mußte man mit<br />
Samthandschuhen anfassen, denn schließlich<br />
hatte sie im Geschäft das Zepter in der Hand.<br />
Eigentlich verrückt, dachte Gregor, die Frau war<br />
eine kleine Angestellte und hatte null Ahnung<br />
von Verkauf und Management, aber de facto genoß<br />
sie die Befugnisse einer Vizedirektorin.<br />
»Ich bin in Alaska, in Anchorage, und es ist saukalt.«<br />
»Oh, à propos Anchorage, der Chef ist ganz schön<br />
sauer auf Sie!«<br />
Das war wieder typisch Müller. Zuerst einmal<br />
mit dem Holzhammer eins aufs Dach geben,<br />
dann schauen, ob noch was übrigblieb, und diesen<br />
Rest dann noch langsam und genüßlich zugrunde<br />
richten.<br />
»Warum soll der Chef sauer sein? Was hab’ ich<br />
denn getan?«<br />
Gregor fühlte sich beinahe wie in seinem Traum,<br />
als sein Onkel diese versteckten Vorwürfe gegen<br />
ihn vorgebracht hatte.<br />
»Die Red-Moose Studios in Anchorage haben bei<br />
142
der Konkurrenz gekauft, weil die billiger waren.«<br />
»Na und, das ist doch ihr gutes Recht. Wenn denen<br />
der Preis wichtiger ist als unser Service.«<br />
Zum Glück war die Müller nicht im Verkauf<br />
beschäftigt. Sie hätte wahrscheinlich die Preise<br />
bis zum Gehtnichtmehr gesenkt, nur um es allen<br />
Leuten recht zu machen, und die Firma wäre<br />
längst bankrott.<br />
»Ja, ja, nur wissen Sie, Sie haben natürlich etliche<br />
Arbeitsstunden mit diesem Projekt verplempert.«<br />
Wie geschickt doch diese Frau ihre Worte wählte!<br />
Jetzt hieß es also plötzlich Sie, dabei hatte er<br />
von Anfang an gesagt, die Red-Moose-Leute seien<br />
nur auf den billigsten Deal aus und es wäre<br />
besser, wenn man nicht zu viel Zeit in sie investieren<br />
würde. Aus dem Investieren machte die<br />
Müller natürlich jetzt ein Verplempern, das war<br />
ja klar!<br />
»Frau Müller, wie wäre es, wenn Sie ausnahmsweise<br />
mal mit etwas Positivem begännen.« Gregor<br />
versuchte es auf die sanfte Tour. »Können<br />
143
Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn man müde,<br />
abgespannt und gebeutelt von der Zeitverschiebung<br />
sich abends um zehn wecken läßt, um Sie<br />
anzurufen, und das erste, was man zu hören bekommt,<br />
ist ein geistiger Holzhammer.«<br />
»Ja, was kann ich denn dafür, wenn Sie einen<br />
Mißerfolg produzieren?«<br />
Mißerfolg, das war’s, was er noch gebraucht hatte.<br />
Gregors Puls stieg wieder ins Unermeßliche,<br />
die Adern an seinen Schläfen schwollen an.<br />
»Jetzt reicht’s, Frau Müller«, schrie er in den<br />
Hörer. »Sie wissen haargenau, daß ich immer<br />
noch siebzig Prozent des Umsatzes in diese Bude<br />
bringe! Wenn ich kündige, können Sie den Laden<br />
dicht machen! Ich habe es nicht nötig, mir<br />
von Ihnen ein schlechtes Gewissen einimpfen zu<br />
lassen. Und ich sage Ihnen eines. Wenn der<br />
Schüßler mich nicht anständig behandelt, dann<br />
habt ihr mich alle zum letzten Mal gesehen.«<br />
Um Gottes willen, was war bloß in ihn gefahren?<br />
So hatte er sich der Müller gegenüber noch<br />
nie verhalten! Jetzt war’s wahrscheinlich aus<br />
144
und vorbei. Er konnte sich schon ausmalen, wie<br />
ihm zu Hause die Kündigung auf den Tisch flattern<br />
würde.<br />
»Regen Sie sich mal nicht so auf, Herr Kaspach«,<br />
versuchte die Müller ihn zu besänftigen, und<br />
Gregor glaubte einen leicht ängstlichen Unterton<br />
in ihrer Stimme zu vernehmen. »Wir wissen<br />
doch, daß Sie unser Zugpferd sind. Und was den<br />
Chef angeht, so habe ich vielleicht ein wenig<br />
übertrieben. Er meinte nur, das nächste Mal<br />
müßte man etwas früher herauszufinden versuchen,<br />
wie groß unsere Verkaufschancen seien.«<br />
Hoppla, das hatte Gregor nicht erwartet. Das waren<br />
ja ganz neue Töne. Offenbar mußte man mit<br />
der Müller anders umspringen, als er das bisher<br />
getan hatte. Vielleicht genügte es, sich einfach<br />
mal anders zu verhalten, als die Leute es erwarteten.<br />
Er war fest entschlossen, demnächst auch<br />
beim Schüßler einen solchen Versuch zu wagen.<br />
»Frau Müller, das hab’ ich ja getan. Wer hat denn<br />
die ganze Zeit gesagt, die Red-Moose-Leute seien<br />
nur auf den billigsten Deal aus, wer?«<br />
145
»Na ja, jetzt brauchen wir ja darüber nicht mehr<br />
zu diskutieren.« Das war das typisch Müllersche<br />
Ausweich-Manöver. Wie gut er diese Frau doch<br />
kannte!<br />
»Ich werde denen morgen nachmittag einen Besuch<br />
abstatten. Wir werden ja sehen, ob ich die<br />
nicht doch noch von unserem Produkt überzeugen<br />
kann.«<br />
»Was, den Red-Moose-Leuten? Aber Herr Kaspach,<br />
die haben bereits gekauft. Ich hab’ doch<br />
das Fax hier! Was wollen Sie denn da noch? Die<br />
werden doch nur sauer, wenn Sie sie nochmals<br />
belästigen!«<br />
»Frau Müller, irgendwann einmal schicke ich Sie<br />
noch zu einem Verkaufskurs.« Gregor war im<br />
<strong>Moment</strong> mehrere Punkte im Vorsprung, das<br />
wußte er, und das sollte auch so bleiben. »Wenn<br />
der Kunde sagt, er habe bei der Konkurrenz gekauft,<br />
dann kann das so vieles bedeuten. Was es<br />
genau bedeutet, muß man an Ort und Stelle herausfinden.<br />
Vielleicht liegt die Bestellung an die<br />
Konkurrenz erst auf dem Schreibtisch und wir<br />
146
haben noch eine Chance, das Geschäft zu machen.<br />
Das wäre ja nicht das erste Mal, oder?<br />
Denken Sie nur an die Brentwood Studios in<br />
London!«<br />
»Ja, gut, Sie müssen’s ja wissen«, gab die Müller<br />
klein bei.<br />
»Ja, tu’ ich auch. Und jetzt geben Sie mir bitte<br />
den Chef. Okay?«<br />
Gregor nahm ein paar tiefe Atemzüge. Er mußte<br />
sich unbedingt beruhigen. Am liebsten hätte<br />
er seine Stelle gleich telefonisch aufgekündigt.<br />
Aber er war lange genug in der Welt herumgereist,<br />
um zu wissen, wie negativ sich die Zeitverschiebung<br />
auf den Hormonhaushalt auswirken<br />
konnte. Und wer garantierte ihm denn, daß<br />
die Gefühle, die er im <strong>Moment</strong> gegenüber seiner<br />
Firma hatte, tatsächlich echt waren und nicht<br />
einfach ein Spiel seiner durcheinandergeratenen<br />
Körperchemie?<br />
»Schüßler, Morgen’e Kaspach!« Der Schüßler<br />
hatte so eine Art, das Herr zu verschlucken, daß<br />
man nie recht wußte, ob er es nur verschluckte<br />
147
oder ob er es tatsächlich nicht aussprach. Vermutlich<br />
war es eher Letzteres. Erwin Schüßler<br />
war ein Mann der alten Garde, ein Preuße in<br />
Reinkultur. Wenn er Anweisungen erteilte, klangen<br />
sie stets wie Befehle, und am liebsten wäre<br />
ihm wahrscheinlich gewesen, der Befehlsempfänger<br />
hätte die Hacken zusammengeschlagen<br />
und mit einem zackigen »Jawoll, Herr General«<br />
quittiert. Schüßler war auch ein Mitglied der<br />
seltenen Spezies der »freiwilligen Kahlköpfe».<br />
Seine Haartracht bestand lediglich aus einer feinen,<br />
knapp millimeterdicken Schicht von grauen<br />
Stoppeln, die er täglich mindestens dreimal<br />
kämmte und regelmäßig vom Friseur zurechtstutzen<br />
ließ. In der Buchhaltungs-Abteilung hatten<br />
sie einmal darüber gewitzelt, der Schüßler<br />
sei sicher so ein Perversling, der sich heimlich<br />
mit Damenunterwäsche und einer preußischen<br />
Pickelhaube bekleidet an Nacktfotos von jungen<br />
Männern aufgeile.<br />
»’n Abend, Herr Schüßler, wie geht’s Ihnen?« Gregor<br />
wußte, daß er seinen Chef immer ein wenig<br />
148
einstimmen mußte, obwohl dieser äußerlich den<br />
Eindruck machte, als wollte er immer gleich zur<br />
Sache kommen.<br />
»Gut, und Ihnen? Wie lief ’s in Hong Kong?«<br />
»Das erzähle ich Ihnen gleich. Sofern Sie mir<br />
vorher verraten, wie’s Ihrem Sohn beim Abitur<br />
ergangen ist.«<br />
»Ach so, ja, der hat ziemlich gut abgeschnitten.<br />
Als Zweitbester seiner Klasse, glaub’ ich.«<br />
Das war wieder typisch. Der Mann war sicher<br />
sowas von stolz, daß er den ganzen Tag nichts<br />
anderes denken konnte. Aber wenn man ihn danach<br />
fragte, tat er so, als sei das nicht besonders<br />
wichtig.<br />
»He, ist ja Spitze! Da können Sie aber stolz sein<br />
auf ihn, was?«<br />
»Ja, bin ich schon. Jetzt soll er erst einmal Urlaub<br />
machen, dann wollen wir weitersehen«,<br />
Gregor spürte, daß sein Chef allmählich auftaute,<br />
so daß er mit seiner Hong-Kong-Überraschung<br />
aufwarten konnte.<br />
»Sind Sie bereit für eine weitere gute Nachricht,<br />
149
Herr Schüßler?«<br />
»Ja, immer. Schießen Sie los!«<br />
»Das nationale Fernsehen von Macau baut einen<br />
neuen Studiokomplex. Wir kriegen den Auftrag<br />
für drei schlüsselfertige Post-Production-<br />
Studios. Die wollen alle Schikanen drin haben:<br />
Computerisierte 50-Kanal-Mischpulte, einige<br />
Mehrspur-Maschinen, alles tutti quanti. Das gibt<br />
etwa drei Millionen Mark.«<br />
»Schön, Kaspach, dann sorgen Sie mal dafür, daß<br />
wir die Daten heute noch auf den Tisch bekommen,<br />
damit wir mit dem Planen anfangen können.«<br />
Na, das war ja wieder der Hammer! Gregor hatte<br />
das Geschäft des Jahrzehnts an Land gezogen,<br />
und der Schüßler hatte nicht einmal ein<br />
»Herr Kaspach« für ihn übrig, geschweige denn<br />
ein anständiges Lob.<br />
»Ach, ehhhm Kaspach, haben Sie das mit den<br />
Red-Moose-Studios gehört?«<br />
Gregor deckte den Hörer zu und stieß einen tiefen<br />
Seufzer aus. Durfte das denn wirklich wahr<br />
150
sein, daß dieser Mensch tatsächlich auf einem<br />
Mißerfolg umherritt, wenn er ihm doch soeben<br />
einen Super-Erfolg hatte präsentieren können?<br />
Gregor bemühte sich, ruhig zu bleiben: »Ja, habe<br />
ich gehört. Ich gehe morgen nachmittag bei denen<br />
vorbei und bringe ihnen ein Muster von unserem<br />
neuen Koax-Kabel mit.«<br />
»Wozu denn?« wollte Schüßler wissen. »Diese<br />
Knilche bekommen keine Minute mehr von unserer<br />
kostbaren Zeit. Sie kennen doch meine<br />
Devise, Kaspach: Wer nicht bei mir kauft, ist<br />
mein Feind!«<br />
Gregor wollte nur noch eines: Die Decke über<br />
seinen Kopf ziehen und endlich schlafen. Zum<br />
ersten Mal seit sieben Jahren wurde ihm bewußt,<br />
in welches Affentheater er da eigentlich geraten<br />
war. Das hatte seinerzeit schon damit begonnen,<br />
daß man ihn als Gebietsverkaufsleiter für Amerika<br />
und Kanada eingestellt hatte. Seine Reisetätigkeit,<br />
so hatte es geheißen, würde etwa vierzig<br />
Prozent betragen. Doch sehr bald hatte sich<br />
herausgestellt, daß man den Mann, der für Asien<br />
151
zuständig gewesen war, beim besten Willen nicht<br />
brauchen konnte. Logischerweise gab man dieses<br />
Gebiet demjenigen, der die besten Zahlen<br />
einfuhr, und das war zufälligerweise Gregor gewesen.<br />
Als er dann auch noch den Verkaufsleiter<br />
in Sachen Umsatz um gute hundert Prozent<br />
übertroffen hatte, da hatte der Schüßler gemeint,<br />
man bräuchte eigentlich nur noch den Kaspach.<br />
So kam es, daß er heute alle fünf Kontinente<br />
bereiste, etwa 95 Prozent seiner Lebenszeit in<br />
Flugzeugen und Hotels verbrachte und sieben<br />
Tage in der Woche am Schuften war. Sein Gehalt<br />
und seine Visitenkarte jedoch wiesen ihn<br />
immer noch als »Gebietsverkaufsleiter« aus. Als<br />
Markus ihn einmal darauf aufmerksam machte,<br />
wich Gregor aus: »Das kommt dann schon.<br />
Wir werden bald neues Verkaufspersonal einstellen,<br />
und dann werde ich wieder ein normales<br />
Leben führen können.«<br />
»Es tut mir leid, Herr Schüßler, ich bin etwas<br />
müde, können wir das morgen besprechen? Dann<br />
würde ich jetzt mit der Frau Müller noch die<br />
152
Termine für Los Angeles durchgehen?«<br />
»Was sind Sie? Müde?« Schüßlers preußischspöttisches<br />
Lachen tat Gregor förmlich in den<br />
Ohren weh. »Wozu lassen wir Sie denn Erster<br />
Klasse reisen, wenn Sie trotzdem müde werden?«<br />
Gregor hätte ihm gerne zuwider gehalten, daß<br />
es ja nicht die Firma sei, die ihn Erster Klasse<br />
reisen lasse, sondern daß er einzig und allein<br />
aufgrund seiner vielen Flugmeilen und der Vielflieger-Programme<br />
der Airlines diesen Vorzug<br />
genoß. Aber er mochte sich um diese Zeit nicht<br />
mehr auf Diskussionen einlassen. Und außerdem<br />
hatte dieser Schüßler etwas an sich, was einen<br />
schlicht und einfach verstummen ließ.<br />
»Ich verspreche Ihnen, Herr Schüßler, morgen<br />
früh bin ich wieder der alte Kaspach. Und dann<br />
dürfen Sie von mir auch wieder Unmenschliches<br />
verlangen.«<br />
Ob Schüßler wohl diesen feinen Wink verstanden<br />
hatte?<br />
»Gut, Kaspach, halten Sie die Ohren steif! Und<br />
frohes Schaffen!«<br />
153
Er hatte ihn nicht verstanden, aber das hatte<br />
Gregor eigentlich auch nicht erwartet.<br />
Nachdem die Müller mit ihm die Termine für Los<br />
Angeles durchgegangen war und ihm versprochen<br />
hatte, ein Memo durchzufaxen, das er dringend<br />
benötigte, gönnte sich Gregor endlich die<br />
wohlverdiente Nachtruhe.<br />
154
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Sind Sie etwa auch angestellt, wie Gregor? Und<br />
kamen Ihnen die Szenen vertraut vor? Wenn ja,<br />
dann überlegen Sie sich doch einmal, warum Sie<br />
noch in dieser Firma bleiben! Ist es das Gehalt?<br />
Glauben Sie, daß Sie anderswo nicht so viel verdienen<br />
würden? Oder denken Sie, daß man Sie<br />
woanders gar nicht mehr brauchen kann?<br />
Fallen Ihnen Parallelen auf zu Gregors Traum?<br />
Schauen Sie einmal an sich hinunter! Tragen Sie<br />
Ihre Bleihosen auch noch? Und genau so freiwillig<br />
wie Gregor in seinem Traum?<br />
Dann überlegen Sie sich doch einfach, ob Sie<br />
Ihren sinnlosen Ballast nicht heute loswerden<br />
wollen. Denn ob Sie es glauben oder nicht: Sie<br />
sind der einzige Mensch, der Ihr Leben lebt! Sie<br />
sind es, der sich die Bleihosen übergestreift hat!<br />
Und Sie sind auch der einzige Mensch, der sie<br />
wieder abstreifen kann!<br />
155
Gibt es eine Last, von der Sie sich so rasch als<br />
möglich befreien möchten?<br />
Was könnten Sie heute tun, um sich davon zu<br />
befreien?<br />
156
12<br />
»Meine Männer haben ihn aus den Augen verloren,<br />
Führer!«<br />
Schulze hielt zitternd den Hörer in der Hand und<br />
machte sich auf ein Donnerwetter gefaßt, das<br />
auch prompt eintraf.<br />
»Was soll das heißen?« wetterte der Mann, den<br />
Schulze mit einem fanatischen Unterton »Führer«<br />
nannte und der offenbar Gerd Hafenkamp<br />
hieß.<br />
»Er hat sie ausgetrickst, sie konnten überhaupt<br />
nichts machen, ehrlich!«<br />
Schulze wußte, er mußte jetzt maßlos übertreiben,<br />
wenn er nicht innerhalb einer Woche als<br />
Leiche enden wollte.<br />
Am anderen Ende hörte man, wie Hafenkamp<br />
offenbar den Telefonhörer wütend gegen eine<br />
Wand schlug.<br />
»Nein, nein, nein, nein«, wiederholte er immer<br />
wieder, »was sind Sie doch für ein Trottel, Schulze.<br />
Wenn ich mich nicht selbst davon überzeugt<br />
hätte, daß Sie ein Arier sind, dann würde ich<br />
157
sagen, Sie sind ein verfluchter, stinkblöder, hirnrissiger<br />
Polacke.«<br />
Das war das zweitschlimmste Wort, was Hafenkamp<br />
verwendete, wenn er sauer war. Solange<br />
er ihn keinen »Saujuden« nannte, bestand noch<br />
Grund zur Hoffnung. Aber er würde sich keinen<br />
Fehler mehr erlauben dürfen, so viel war sicher.<br />
»Schulze, Sie fliegen heute noch persönlich ’rüber«,<br />
Hafenkamp hatte sich wieder einigermaßen<br />
gefaßt, »und dann ziehen Sie diese Sache<br />
sauber durch, sonst gnade Ihnen Gott!«<br />
»Jawohl, Führer. Ich werde Sie nicht enttäuschen.<br />
Heil…«<br />
»Halten Sie die Klappe, Schulze«, fuhr Hafenkamp<br />
ihm ins Wort, »wie oft muß ich Ihnen noch<br />
sagen, Sie sollen mich in der Öffentlichkeit nicht<br />
Führer nennen, solange wir noch nicht an der<br />
Macht sind. Und das Heil Hitler tragen Sie gefälligst<br />
im Herzen und nicht auf der Zunge!«<br />
»Jawoll, Fü…, jawoll, Herr Hafenkamp«, salutierte<br />
Schulze kleinlaut in den Hörer und war<br />
froh, das Gespräch beenden zu können.<br />
158
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Gottseidank geben wir dieses Buch im Eigenverlag<br />
heraus. Sonst müßte ich mir jetzt den<br />
Kommentar sämtlicher humanistisch gebildeten<br />
Lektorinnen der ehrwürdigen deutschen Verlagsanstalten<br />
anhören: »Der Autor arbeitet mit stereotypen<br />
Figuren, die nicht im entferntesten der<br />
Wirklichkeit entsprechen…«<br />
Denkste! Typen wie Hafenkamp und Schulze gibt<br />
es zuhauf. Ich weiß es, denn ich habe mehr amerikanische<br />
Talkshows gesehen als sämtliche<br />
deutschen Lektorinnen zusammen!<br />
Außerdem… wenn der unsägliche Herbert Reinklecker<br />
seine eintausensiebenhundertdreiunddreißigste<br />
Folge von »Derrick« ins Land wirft,<br />
wird sie kommentarlos verfilmt. Da werde ich<br />
mir wohl auch einmal ein paar abgewetzte Figuren<br />
zusammenschreiben dürfen. Oder?<br />
Ich freue mich schon auf den Kommentar von<br />
Marcel Reich-Ranicki: »Diethäm Mann thollte<br />
man dath Shräibän verbietän!« (Das »th« ist als<br />
Lispel-Laut auszusprechen. Denn der Mann hat<br />
159
selbst nach sechzig Jahren seine Zunge noch<br />
nicht im Griff…)<br />
160
13<br />
»Lake Hood, Skyline Aviation.« Gregor hielt seine<br />
Anweisung an den Taxifahrer knapp und präzise,<br />
um diesen ja nicht zu einer Unterhaltung<br />
anzuregen. Er war an diesem Donnerstagmorgen<br />
mit stechenden Kopfschmerzen aufgewacht,<br />
und obwohl er wie immer versucht hatte, sie mit<br />
Hilfe von Tabletten zu beseitigen, blieb sein Kopf<br />
dumpf und müde. Typisch Jet Lag, dachte Gregor,<br />
wann würde er sich wohl endlich daran gewöhnen.<br />
Was ihn noch mehr irritierte, war die Tatsache,<br />
daß er fast keine Luft bekam und die ganze Zeit<br />
seinen Inhalator bemühen mußte. Bei so kaltem<br />
und trockenem Wetter hatte er sonst nie Probleme<br />
gehabt.<br />
»Lake Hood, aha. Gehen Sie mit dem Wasserflugzeug<br />
eine Runde drehen?«<br />
Da war Gregor offenbar an den Richtigen geraten.<br />
Ausgerechnet heute, wo er sich einen stillen<br />
Griesgram gewünscht hatte, mußten die ihm<br />
eine Quasseltante schicken.<br />
161
»Nein, nur eine Geschäftssitzung«, winkte Gregor<br />
einsilbig ab.<br />
»Ah, ich dachte nur, weil Sie Lake Hood sagten.<br />
Sie wissen, daß das einer der verkehrsreichsten<br />
Wasserflughäfen der Welt ist?«<br />
Das interessierte Gregor nun überhaupt nicht.<br />
Er überlegte sich, was er zu diesem Mann sagen<br />
würde, der behauptete, sein Vater zu sein. Vor<br />
allem wollte er herausfinden, warum der mysteriöse<br />
Anrufer so viel über ihn wußte, und dann<br />
würde er dieser Angelegenheit wenn nötig mit<br />
Hilfe eines Anwalts ein Ende setzen.<br />
Gregor war froh, als der Fahrer seinen Wagen<br />
rechts auf einen schmalen Kiesweg lenkte, der<br />
zu einer Art Baracke führte.<br />
»Da sind wir, Sir. Soll ich Sie zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt wieder abholen?«<br />
»Nein, ich weiß noch nicht, wie lange es dauern<br />
wird«, entgegnete Gregor, während er ein paar<br />
Dollarscheine aus seiner Brieftasche klaubte.<br />
»Okay, hier ist meine Karte.« Der Taxifahrer ließ<br />
sich nicht so leicht abschütteln. »Wenn Sie fer-<br />
162
tig sind, rufen Sie diese Nummer an. In zehn<br />
Minuten bin ich zur Stelle.«<br />
Als Gregor durch die Tür trat, mußte er sich erst<br />
einmal an die Dunkelheit gewöhnen. Die Firma<br />
»Skyline Aviation« legte ganz offensichtlich keinen<br />
Wert auf Äußerlichkeiten. Hinter einer alten<br />
Holztheke, unter deren trüben Glasplatte<br />
eine vergilbte Fliegerkarte der Region dahinvegetierte,<br />
stand eine von der Kälte und vom<br />
vielen Rauchen ziemlich mitgenommene Dame<br />
mittleren Alters.<br />
»Hi, Sie sind sicher Gregor, richtig?«<br />
»Woher wissen Sie das?« fragte Gregor erstaunt.<br />
Die Frau überhörte die Frage und zündete sich<br />
statt dessen mit ihrem brennenden Zigarettenstummel<br />
eine neue Marlboro an.<br />
»Kommen Sie, Bob wartet bereits auf Sie,« sagte<br />
sie mit rauchiger Stimme und schlurfte mit langsamen<br />
Schritten in Richtung Hinterausgang, der<br />
zum See hinaus führte.<br />
Gregor zögerte, als er die drei Wasserflugzeuge<br />
163
erblickte, die entlang des Bootssteges festgemacht<br />
waren.<br />
»Kommen Sie«, drängte Missis Marlboro, »Bob<br />
ist gerade mit dem Preflight Check beschäftigt.«<br />
»Preflight Check?« fragte Gregor, »wir gehen doch<br />
nicht etwa fliegen?!«<br />
Er hatte wirklich weder Zeit noch Lust, den ganzen<br />
Tag in einer dieser fliegenden Kisten zu vertrödeln.<br />
»Hallo, Sie müssen Gregor sein. Mein Name ist<br />
Bob.« Der Mann, der aussah wie einer der Gebrüder<br />
Wright persönlich, verriegelte die Motorhaube<br />
des Flugzeugs, wischte seine Hände an<br />
einem Taschentuch ab und streckte sie Gregor<br />
entgegen.<br />
»Ich lasse euch allein«, sagte Missis Marlboro und<br />
schlurfte zurück in die geheizte Baracke.<br />
»Wissen Sie etwas über diese seltsame Geschichte?«<br />
fragte Gregor vorsichtig, noch unschlüssig,<br />
ob er diesem Menschen trauen konnte oder nicht.<br />
»Ich weiß gar nichts«, antwortete Bob. »Ich habe<br />
lediglich Order von Ihrem Vater, Sie zum Vic-<br />
164
toria-Gletscher zu bringen.«<br />
»Zum Victoria-Gletscher? Was soll ich dort?«<br />
»Keine Ahnung. Es hieß, dort würden wir dann<br />
weitere Anweisungen bekommen. Ich gehe nur<br />
noch rasch den Flugplan einreichen, dann können<br />
wir losfliegen.«<br />
Gregor wußte nicht, was er davon halten sollte.<br />
Aber irgendwie mußte er diesem Spuk ja ein<br />
Ende setzen.<br />
»Sind Sie schon einmal in einem Wasserflugzeug<br />
geflogen?« Bob war aus der Baracke zurückgekehrt.<br />
»In einem Wasserflugzeug nicht, aber ein Freund<br />
von mir besitzt eine Cessna 182. Mit ihm bin ich<br />
schon oft geflogen.«<br />
»Das hier ist eine kanadische Maschine, eine De<br />
Havilland DHC-2. Wir nennen sie hier »Beaver«.<br />
Sie hat den Vorteil, daß man mit ihr sowohl auf<br />
dem Land wie auch im Wasser landen kann,«<br />
erklärte Bob, glücklich darüber, daß er es offensichtlich<br />
nicht mit einem blutigen Laien zu tun<br />
hatte.<br />
165
»Übrigens, das Rauchen in den Gängen und in<br />
den Toiletten ist nicht gestattet,« witzelte Bob,<br />
während er routinemäßig kontrollierte, ob sich<br />
Gregor richtig angeschnallt hatte. Dann gab er<br />
dem Flugzeug einen Schubs und sprang im letzten<br />
<strong>Moment</strong> auf.<br />
»Sind Sie schon einmal selbst am Steuerknüppel<br />
gesessen?« fragte Bob, während er den Motor<br />
startete und die Beaver langsam in Richtung<br />
Startposition gleiten ließ.<br />
»Ja, mein Freund hat mich auch schon fliegen<br />
lassen, aber meistens nur in der Luft. Vom Starten<br />
und Landen habe ich keine große Ahnung,«<br />
antwortete Gregor wahrheitsgetreu.<br />
»Na, dann wollen wir die Kiste mal gemeinsam<br />
in die Luft bringen, okay?« rief Bob fröhlich aus,<br />
während er Gregor half, seinen Kopfhörer überzuziehen.<br />
Gregors Kopfschmerzen waren auf einmal verschwunden,<br />
und die Sache begann ihm allmählich<br />
Spaß zu machen. Er hatte schon fast vergessen,<br />
warum er eigentlich hergekommen war.<br />
166
Der Himmel über Anchorage war strahlend blau,<br />
und die verschneite Landschaft um den Lake<br />
Hood glitzerte märchenhaft in der winterlichen<br />
Mittagssonne.<br />
Nachdem sie vom Tower die Startfreigabe erhalten<br />
hatten, machte Bob ein Zeichen, daß Gregor<br />
seine Füße auf die Pedale und seine Hände an<br />
den Steuerknüppel legen sollte.<br />
»Throttle auf Vollgas, mit den Pedalen die Richtung<br />
halten, Geschwindigkeit beobachten, bei 50<br />
Knoten ganz leicht am Steuerknüppel ziehen…«<br />
Als sich die Maschine in die Luft erhob, überfiel<br />
Gregor ein ganz eigenartiges Gefühl. Ein Teil von<br />
ihm war voll auf diesen Augenblick konzentriert,<br />
ein anderer Teil war meilenweit weg.<br />
»Warum eigentlich nicht fliegen?« dachte er euphorisch.<br />
»Warum nicht ein Leben lang fliegen?«<br />
»Heading 095.« Bobs Anweisung riß Gregor aus<br />
seinen Gedanken. Er kippte den Steuerknüppel<br />
leicht nach links Richtung Osten. Sie waren bereits<br />
auf 3000 Fuß gestiegen und flogen südlich<br />
der Chugach Mountains in Richtung Prince<br />
167
William Sound.<br />
Es war ein prächtiger Tag. Zum ersten Mal in<br />
seinem Leben wünschte sich Gregor, die Zeit<br />
möge stillstehen. Er nahm auf einmal Dinge<br />
wahr, die er früher nie beachtet hatte. Links drüben<br />
auf einer der verschneiten Bergkuppen konnte<br />
er eine Herde Dallschafe ausfindig machen,<br />
die dort friedlich beieinander standen.<br />
»Beneidenswert«, dachte Gregor, »ein sorgloses<br />
Leben abseits von der Zivilisation…«<br />
Auf einmal kam ihm all der Luxus, den er in den<br />
vergangenen Jahren in sein Leben gezogen hatte,<br />
völlig überflüssig vor. Was half ihm denn die<br />
Tatsache, daß er in den besten Hotels der Welt<br />
absteigen und die teuersten Luxusautos fahren<br />
durfte, wenn er doch nur überall der gleiche,<br />
unglückliche Gregor blieb! War es wirklich möglich,<br />
daß man mit 45 Jahren nochmals von vorn<br />
beginnen konnte, wie Sonja ihm das seit ihrer<br />
Trennung einzureden versuchte? Oder wollte er<br />
weitere 40 Jahre in dieser Grauzone zwischen<br />
Frustration und Depression verbringen? Jeden-<br />
168
falls würde er sein Leben nach dieser Reise einmal<br />
gründlich überdenken, das war sicher.<br />
»Schauen Sie, Gregor,« Bob zeigte nach unten,<br />
»der Prince William Sound. Das ist da, wo im<br />
Jahr 1991 etwa elf Millionen Gallonen Öl ins<br />
Meer geflossen sind. Erinnern Sie sich an die<br />
Tankerkatastrophe mit der Exxon Valdez?«<br />
Und ob sich Gregor daran erinnerte. Die Bilder<br />
von den ölverklebten Vögeln und Seeottern hatten<br />
ihn damals wochenlang verfolgt, und am liebsten<br />
hätte er den Kapitän der Exxon Valdez eigenhändig<br />
ermordet. Die Hilflosigkeit gegenüber<br />
solchen Katastrophen war etwas, was Gregor oft<br />
fast um den Verstand brachte. »Wenn es einen<br />
Gott gibt«, hatte er damals zu seinem Bruder<br />
Bert gesagt, »wie kann er dann so etwas zulassen?<br />
Das macht doch keinen Sinn!«<br />
»Wenn es keinen Gott gibt,« hatte Bert entgegengehalten,<br />
»dann brauchst du dir auch die Frage<br />
nach dem Sinn nicht zu stellen. Dann sind wir<br />
alle Zufallsprodukte in einem Zufalls-Universum,<br />
und es wäre diesem Universum völlig egal,<br />
169
wie du dich fühlst.«<br />
Damals hatte Gregor das für eine typische Bert-<br />
Antwort gehalten. Aber jetzt ergab das alles<br />
irgendwie einen Sinn.<br />
Bob, der offenbar gemerkt hatte, daß Gregor in<br />
Gedanken versunken war, nahm das Gas zurück<br />
und leitete den Sinkflug ein.<br />
»Wir landen auf einem See unterhalb des Victoria-Gletschers,<br />
so lautet die Anordnung,« informierte<br />
er Gregor, während er die Maschine nach<br />
links in einen Seitenarm des Prince William<br />
Sound lenkte.<br />
Gregors Herz begann wieder schneller zu schlagen,<br />
da ihn Bob daran erinnert hatte, daß er sich<br />
hier nicht auf einem Vergnügungsflug befand.<br />
Einen kurzen Augenblick lang überlegte er sich,<br />
ob er Bob zur Umkehr überreden sollte. Weshalb<br />
sollte er, Gregor Kaspach, der 45-jährige, gestandene<br />
Verkaufsleiter, hier in dieser Wildnis Alaskas<br />
sich mit einem Psychopathen herumschlagen,<br />
der nichts Besseres zu tun hatte, als wildfremde<br />
Menschen mit seinen Hirngespinsten zu<br />
170
elästigen! Aber dann kam ihm wieder dieser<br />
Arzt, dieser Franz aus dem Flugzeug, in den<br />
Sinn, der beim Abschied gesagt hatte: »Mein<br />
Anton lebt im Paradies!«<br />
»Paradies« war auch das Wort, das Gregor als<br />
erstes in den Sinn kam, als Bob die Maschine<br />
auf dem kleinen, verlassenen Bergsee unterhalb<br />
des Victoria-Gletschers abgesetzt hatte. Eine<br />
solche Landschaft hatte Gregor noch nie gesehen.<br />
Er kam sich vor wie in einem Traum. Das<br />
Ufer des Sees war von alten, knorrigen Bäumen<br />
bewachsen, an denen lange, graugrüne Moosfetzen<br />
baumelten. Es sah aus, als hätte ein Engel<br />
persönlich die Landschaft mit Lametta geschmückt.<br />
Unter den Bäumen sonnten sich exotische<br />
Hochmoor-Pflanzen in sattem Frühlingsgrün<br />
und leuchtendem Karminrot.<br />
»Der See nennt sich ›Lake Magic‹«, sagte Bob,<br />
der Gregors staunenden Blick bemerkt hatte.<br />
»Am Südufer herrscht ein völlig untypisches Klima,<br />
etwa zehn Grad wärmer als sonst in dieser<br />
Gegend.«<br />
171
Das war es also. Gregor hatte sich schon gewundert,<br />
warum hier kein Schnee lag, wo doch die<br />
Umgebung tief verschneit war.<br />
Bob hatte den Motor abgestellt und das Flugzeug<br />
in eine kleine Bucht gleiten lassen.<br />
»Er wird sicher bald kommen«, sagte er zu Gregor,<br />
während er ausstieg und die Maschine mit<br />
einem Tau an einem Baumstrunk festmachte.<br />
»Steigen Sie aus und vertreten Sie sich ein wenig<br />
die Füße. Eine Thermosflasche mit Kaffee<br />
ist unter Ihrem Sitz. Ich muß mal eben austreten.<br />
Passen Sie auf, daß Sie nicht einsinken; der<br />
Boden hier ist ziemlich sumpfig!«<br />
Den letzten Satz hatte Gregor nicht mehr bewußt<br />
wahrgenommen. Er verspürte auf einmal<br />
einen unbändigen Drang, seine Schuhe auszuziehen<br />
und sich barfuß unter einen dieser alten<br />
Bäume zu setzen. Was war nur in ihn gefahren?<br />
Er, Gregor, der Realist, der Mann, der seine Frau<br />
immer als weltfremde Träumerin bezeichnet<br />
hatte, saß barfuß unter einem Baum in der<br />
alaskischen Wildnis!<br />
172
Gregor horchte in die Stille hinein. Es war diese<br />
eigenartige Stille, die er schon einmal an einem<br />
Bergsee in der Schweiz erlebt hatte. Es ist, als<br />
ob die Stille ein Echo hätte, dachte er. Kann man<br />
Stille vervielfachen?<br />
Ein hohles Klopfen, das vom See herkam, unterbrach<br />
ihn in seinen Gedanken. Es war ein Seeotter,<br />
der, kaum fünfzig Meter von Gregor entfernt,<br />
lässig auf dem Rücken in der Gegend herumschwamm<br />
und sich einen großen Stein auf<br />
den Bauch gelegt hatte, um sich, in typischer<br />
Otter-Manier, einen Krebs oder sonst einen Lekkerbissen<br />
aufzuklopfen. Gregor überlegte sich<br />
gerade, wie gerne er mit diesem Seeotter getauscht<br />
hätte, da fiel ihm wieder die Öl-Katastrophe<br />
mit der Exxon Valdez ein. Nicht einmal<br />
im Paradies ist man vor dem Verderben sicher,<br />
dachte er und tat, um seinem Gedanken etwas<br />
theatralischen Nachdruck zu verleihen, einen<br />
tiefen Seufzer.<br />
»Hey, Sie scheinen es ja richtig zu genießen«, rief<br />
Bob, der sein Geschäft beendet hatte und gera-<br />
173
de dabei war, seine Hände im See zu waschen.<br />
»Es ist traumhaft«, stammelte Gregor, der Mühe<br />
hatte, die richtigen Worte zu finden.<br />
»Augenblick, verweile doch, du bist so schön«,<br />
das war der einzige Satz aus Goethes Faust gewesen,<br />
an den er sich nach seinem Abitur noch<br />
hatte erinnern können. Und was hatte Faust<br />
dem Teufel versprochen? Wenn er das einmal<br />
sagen könnte, dann würde er ihm, dem Teufel,<br />
auf ewig dienen. In diesem <strong>Moment</strong> hätte selbst<br />
Gregor einen Pakt mit dem Teufel unterschrieben,<br />
wenn er nur die Zeit hätte anhalten können.<br />
Der Teufel. Glaubte er überhaupt daran, daß es<br />
so etwas gab? War das nicht etwas, was er nach<br />
seinem letzten Sonntagsschul-Besuch abgelegt<br />
hatte wie ein Kleidungsstück, das zu eng geworden<br />
war? Und doch, hier an diesem einsamen<br />
Bergsee schien es von Geistern nur so zu wimmeln.<br />
Diese märchenhafte Landschaft konnte<br />
doch nicht per Zufall entstanden sein, durch einen<br />
Urknall vom Nichts ins Dasein gerufen.<br />
174
»Er kommt!« unterbrach ihn Bob in seinen Gedanken.<br />
»Wo? Wer?« fragte Gregor ganz erstaunt. Er<br />
konnte weit und breit keine Menschenseele ausmachen.<br />
Einzig das weit entfernte Klopfen eines<br />
Hubschraubers lag in der Luft.<br />
»Der Helikopter, das muß er sein!« Bob deutete<br />
mit dem Zeigefinger nach oben.<br />
Dieser Anton würde sich also mit einem Hubschrauber<br />
zu seinem Treffen fliegen lassen. Dann<br />
stand wenigstens eines fest: Wenn es sich um<br />
einen Spinner handelte, mußte er ein sehr wohlhabender<br />
Spinner sein, daß er sich solche Extravaganzen<br />
leisten konnte.<br />
Der Hubschrauber-Pilot zog eine Schleife über<br />
dem See, offenbar um herauszufinden, welcher<br />
Landeplatz sich am besten eignen würde. Er<br />
schien sich für eine kleine Lichtung, nicht weit<br />
von Gregor entfernt, zu entscheiden.<br />
»Passen Sie auf den Heckrotor auf!« rief Bob.<br />
»Gehen Sie von vorne auf die Kiste zu. Halten<br />
Sie immer Augenkontakt mit dem Piloten!«<br />
175
Gregor erkannte jetzt einen etwa 35-jährigen<br />
Mann am Steuerknüppel. Er trug einen dunkelgrünen<br />
Armee-Overall.<br />
»Das kann nicht mein Vater sein!« rief Gregor<br />
leicht irritiert, und er überlegte sich, ob er hier<br />
das Opfer eines Komplotts oder einfach eines<br />
dummen Scherzes geworden war.<br />
»Nein, das ist Jeff!« gab Bob wie selbstverständlich<br />
zur Antwort. »Er wird Sie zu Ihrem Vater<br />
bringen!«<br />
Was für ein Affentheater, dachte Gregor. Konnte<br />
dieser Mensch nicht einfach sagen, was er<br />
wollte, und dann wieder aus seinem Leben verschwinden!<br />
Kurz vor der Landung schien Jeff es sich anders<br />
zu überlegen. Er machte Bob ein Zeichen, das<br />
Gregor nicht verstand.<br />
»Was will er?« rief er Bob zu.<br />
»Er kann die Kiste nicht absetzen, weil der Boden<br />
zu sumpfig ist! Wir machen’s fliegend. Steigen<br />
Sie auf die linke Kufe, ich helfe Ihnen beim<br />
Einsteigen.«<br />
176
»Worauf habe ich mich da bloß eingelassen«,<br />
dachte Gregor, während er sich überlegte, wie<br />
er wohl am besten den etwa einen Meter über<br />
dem Boden schwebenden Hubschrauber besteigen<br />
würde.<br />
Bob hielt ihm seine rechte Schulter hin, damit<br />
sich Gregor auf ihn stützen konnte, und mit der<br />
linken Hand griff er nach oben zur Türklinke.<br />
»Links von Ihnen ist der Sicherheitsgurt«, rief<br />
Bob durch den ohrenbetäubenden Lärm hindurch,<br />
während Jeff sich offenbar darauf konzentrierte,<br />
seine Maschine exakt im Schwebeflug<br />
zu halten. »Und hinter Ihnen finden Sie einen<br />
Kopfhörer. Ziehen Sie ihn über und klappen<br />
Sie das Mikrofon herunter. Links unten ist ein<br />
großer Knopf. Wenn Sie mit Ihrem Fuß drauf<br />
drücken, können Sie sich mit Jeff unterhalten.<br />
Guten Flug!«<br />
»Und Sie?« fragte Gregor verwundert. »Kommen<br />
Sie nicht mit?«<br />
»Meine Mission ist hiermit beendet, Sir!« rief Bob<br />
und hielt scherzend seine Hand zum Gruß an<br />
177
die Schläfe.<br />
Der Hubschrauber hob fast senkrecht ab, bis er<br />
etwa drei Meter über den Bäumen schwebte.<br />
Dann beschleunigte er langsam in Richtung<br />
Victoria-Gletscher.<br />
»Hallo, mein Name ist Jeff, hören Sie mich?« fragte<br />
der Pilot über die Bord-Gegensprechanlage.<br />
»Loud and clear«, sagte Gregor, nicht ohne Stolz<br />
auf diesen professionellen Flieger-Ausdruck, den<br />
er von seinem Freund Markus gelernt hatte.<br />
»Wo fliegen wir hin?« wollte Gregor wissen.<br />
Jeff deutete auf ein Gerät, das aussah wie eine<br />
Kombination zwischen einer Landkarte und einem<br />
Radarschirm.<br />
»Ich habe nur die Koordinaten bekommen. Das<br />
liegt hier irgendwo nördlich. Auf dem GPS sehen<br />
Sie, daß wir noch genau 102,5 Meilen davon<br />
entfernt sind.«<br />
»GPS, was ist das?«<br />
»Global Positioning System, Satelliten-Navigation«,<br />
erklärte Jeff. »Sind Sie schon einmal Helikopter<br />
geflogen?«<br />
178
»Vor Jahren einmal in San Francisco«, gab Gregor<br />
zur Antwort, »eigentlich wollte ich immer<br />
lernen, selbst Helikopter zu fliegen. Aber Sie<br />
wissen ja, wie das ist: Entweder hat man das<br />
Geld oder die Zeit; beides zusammen ist eher<br />
selten.«<br />
»Welches von beiden haben Sie im <strong>Moment</strong><br />
eher?« fragte Jeff, der offensichtlich etwas Humor<br />
vertragen konnte.<br />
»Das Geld«, meinte Gregor lächelnd, »Sie kennen<br />
ja den Spruch, daß man die ersten vierzig<br />
Jahre seines Lebens auf Kosten der Gesundheit<br />
dem Geld hinterherrennt, um dann in der zweiten<br />
Lebenshälfte auf Kosten des Geldes der Gesundheit<br />
hinterherzurennen.«<br />
Jeff lächelte höflich zurück, wie die Amerikaner<br />
das immer tun, wenn sie einen Witz aus Übersee<br />
nicht so ganz verstehen.<br />
Mittlerweile hatten sie den Victoria-Gletscher<br />
hinter sich gelassen und flogen über eine tiefverschneite<br />
Bergkette in Richtung Nordwesten.<br />
»Was geschieht eigentlich, wenn bei so einem<br />
179
Helikopter der Motor ausfällt«, erkundigte sich<br />
Gregor, der gemerkt hatte, daß man sich mit Jeff,<br />
wie fast mit allen Piloten, am besten über seinen<br />
Beruf unterhielt.<br />
»Das ist kein Problem«, meinte Jeff, »mit Autorotation<br />
bringen Sie den Vogel immer zu Boden.«<br />
»Autorotation? Wie geht das?« Gregor war fest<br />
entschlossen, diese Reise, wenn sie schon etwas<br />
fragwürdiger Natur war, doch wenigstens dazu<br />
zu benutzen, etwas zu lernen.<br />
»Soll ich Ihnen eine zeigen? Haben Sie keine<br />
Angst, wenn wir etwas schnell sinken?«<br />
»Vor dem Sinken hab’ ich nie Angst«, scherzte<br />
Gregor, »der Aufprall ist es, der mir Mühe<br />
macht!«<br />
»Okay, schauen Sie, der Steuerknüppel, den Sie<br />
vor sich haben, nennt man im Helikopter den<br />
Cyclic Stick,« erklärte Jeff. »Damit verstellen wir<br />
die Rotor-Ebene. Wenn wir sie nach vorne kippen,<br />
beschleunigen wir die Maschine, nach hinten<br />
bedeutet verlangsamen, links und rechts<br />
bewirkt eine Links- oder eine Rechtskurve. Und<br />
180
das Ding da links neben Ihrem Sitz, das aussieht<br />
wie eine Handbremse, das ist der Collective<br />
Pitch. Wenn ich ihn nach oben ziehe, steigen wir,<br />
wenn ich ihn nach unten schiebe, sinken wir.<br />
Soweit klar?«<br />
Jeff hatte seine Erklärungen jeweils mit dem<br />
entsprechenden Manöver untermauert, so daß<br />
sie eine Weile kreuz und quer durch die Gegend<br />
flogen.<br />
»Die dritte Achse«, schloß Jeff seine Ausführungen<br />
ab, »wird von den Fußpedalen kontrolliert.<br />
Mit ihnen bestimmen wir, in welche Richtung<br />
die Nase des Helikopters zeigen soll.«<br />
Jeff forderte Gregor auf, sich ein wenig mit den<br />
einzelnen Komponenten vertraut zu machen.<br />
»Sie können nicht viel falsch machen«, beruhigte<br />
er ihn, nachdem er Gregors zweifelnden Blick<br />
bemerkt hatte, »die Tourenzahl wird automatisch<br />
gehalten.«<br />
Gregor kam Jeffs Aufforderung gerne nach.<br />
Wenn er es sich richtig überlegte, hatte er heute<br />
wohl mehr Spaß gehabt als in den letzten zehn<br />
181
Jahren zusammen. Was war es eigentlich, was<br />
ihn daran gehindert hatte, Hubschrauber-Pilot<br />
in Alaska zu werden? Welcher unsichtbaren<br />
Macht war er gefolgt, als er seine Träume begrub<br />
und sich nur noch auf das Normale, das<br />
»Machbare« und das Alltägliche zu beschränken?<br />
Seine sicherheitsbedürftige Mutter, die ihn früher<br />
ab und zu ermahnt hatte, sich an seiner jetzigen<br />
Arbeitsstelle um Gottes willen »stillzuhalten«,<br />
war seit über drei Jahren tot. Er brauchte<br />
niemandem mehr Rechenschaft abzulegen. Aber<br />
würde er mit seinen 45 Jahren noch den Mut<br />
und die Energie aufbringen, um nochmals von<br />
vorn zu beginnen?<br />
»Okay«, jetzt drehe ich das Gas zu«, unterbrach<br />
ihn Jeff in seinen Gedanken.<br />
Die Nase des Hubschraubers schlug wild nach<br />
links aus, was Jeff mit dem rechten Pedal sofort<br />
ausglich, während er den Collective mit einem<br />
entschlossenen Ruck ganz nach unten schob und<br />
den Steuerknüppel leicht an sich zog.<br />
»Jetzt dreht sich der Rotor nur noch aufgrund<br />
182
der Luft, die von unten nach oben strömt«, erklärte<br />
Jeff. »Wichtig ist, daß man die Maschine<br />
waagerecht hält, und daß die Vorwärtsgeschwindigkeit<br />
nicht unter 60 Knoten sinkt. Sonst hat<br />
man vor dem Aufsetzen nicht genügend Energie<br />
im Rotorsystem gespeichert, um den Helikopter<br />
abzubremsen.«<br />
»Und wie lange hat man Zeit, um nach einem<br />
Motorausfall zu reagieren?« interessierte sich<br />
Gregor weiter.<br />
Jeff gab keine Antwort, da er sich offenbar auf<br />
sein Manöver konzentrieren mußte. Statt dessen<br />
deutete er mit einem leichten Kopfnicken auf<br />
eine Art Hochplateau. »Da unten können wir landen«,<br />
sagte er, während er ungefähr vierzig Fuß<br />
über Grund die Maschine stark nach hinten kippte,<br />
was eine schlagartige Verlangsamung zur<br />
Folge hatte.<br />
Nachdem der Hubschrauber sich etwa fünf Meter<br />
über der verschneiten Hochebene in die Waagerechte<br />
eingependelt hatte, drehte Jeff das Gas<br />
auf, beschleunigte die Maschine in geringer Höhe<br />
183
und ließ sie dann elegant über den nächsten<br />
Bergkamm steigen.<br />
»Wie lange die Reaktionszeit ist?« nahm er Gregors<br />
Frage von vorhin auf. »Das kommt drauf<br />
an. Bei kleineren Helikoptern sind das zwei Sekunden.<br />
Der hier hat ein trägeres Rotorsystem,<br />
so daß man etwas länger Zeit hat.«<br />
»Und wenn man nicht rasch genug reagiert?«<br />
Gregor wußte, daß das eine ziemlich blöde Frage<br />
war. Dennoch wollte er hören, was Jeff dazu<br />
sagen würde.<br />
»Wenn man nicht rasch genug reagiert?« wiederholte<br />
Jeff die Frage. »Ja, dann wird’s wohl besonders<br />
spannend.«<br />
Das war eine schöne Umschreibung für die Tatsache,<br />
daß ein Hubschrauber wie ein Stein vom<br />
Himmel fällt.<br />
Was wohl in einem Menschen vorgeht, der plötzlich<br />
merkt, daß es abwärts geht, versuchte sich<br />
Gregor auszumalen. Diese bangen Sekunden<br />
kurz vor dem Aufprall mußten doch schier unerträglich<br />
sein. Was er wohl tun würde? Fluchen?<br />
184
Beten? Weinen? Schreien? Er konnte es sich beim<br />
besten Willen nicht vorstellen.<br />
Sein Bruder Bert hatte ihm des öfteren von sogenannten<br />
Nahtodes-Erlebnissen erzählt. Menschen,<br />
die während Sekunden oder gar Minuten<br />
klinisch tot gewesen waren und dann wiederbelebt<br />
wurden, wollten angeblich wunderschöne<br />
Dinge gesehen haben. Von viel weißem Licht und<br />
wunderschöner Sphärenmusik war da die Rede,<br />
sowie von einem Lebensfilm, der vor einem ablaufe<br />
und einem zeige, wo man ethisch richtig<br />
gehandelt habe und wo nicht. Gregor hatte diese<br />
Berichte immer angezweifelt. Er würde sicher<br />
keine Lust haben, sich seinen Lebensfilm anzuschauen,<br />
während er in höchster Todesgefahr<br />
schwebte.<br />
»Da hinten am Horizont«, Jeff zeigte auf einen<br />
Berg in der Ferne, dessen Gipfel von dunklen<br />
Wolken verhüllt war, »das ist der Mount McKinley,<br />
der höchste Berg Nordamerikas. Er hat einen<br />
Süd- und einen Nordgipfel. Der Südgipfel<br />
ist der höhere, etwas über 20’000 Fuß.«<br />
185
Das sind mehr als 6000 Meter, dachte Gregor,<br />
ganz schön hoch.<br />
»Das Wetter dort oben ist fast immer schlecht«,<br />
fuhr Jeff weiter. »Windgeschwindigkeiten bis<br />
hundert Meilen pro Stunde sind keine Seltenheit.<br />
Mit dem Helikopter gehe ich nicht so<br />
gern…«<br />
Jeff hatte plötzlich aufgehört zu sprechen, die<br />
Nase des Hubschraubers schnellte nach oben<br />
und die Maschine begann rapide zu steigen. Gregor<br />
dachte zunächst an ein Ausweichmanöver,<br />
aber er sah weit und breit nichts, dem man hätte<br />
ausweichen müssen.<br />
Ein Blick zu Jeff hinüber schaffte augenblicklich<br />
Klarheit. Der Mann lag bewußtlos in seinem<br />
Sitz. Mit der rechten Hand hielt er den Steuerknüppel<br />
umklammert, mit der linken hatte er<br />
sich, offenbar von einem Krampf überrascht, ans<br />
Herz gegriffen.<br />
»Um Gottes willen!« durchfuhr es Gregor. »Jetzt<br />
ist alles vorbei.« Während eines Sekundenbruchteils<br />
dachte er an einen Satz, den Markus<br />
186
einmal geäußert hatte: »Einen Helikopter fliegst<br />
du höchstens ein paar Sekunden lang, wenn du<br />
kein Pilot bist. Dann stürzt du unweigerlich ab!«<br />
Im nächsten Augenblick geschah etwas Seltsames.<br />
Die anfängliche Angst wich einer seltsamen<br />
Entschlossenheit. »Du hast noch einiges zu erledigen<br />
auf dieser Welt«, sagte eine innere Stimme<br />
zu ihm, »du wirst noch gebraucht. Egal wie,<br />
aber du wirst das hier überleben.«<br />
Mittlerweile hatte Gregor sich so weit gefaßt, daß<br />
er Jeffs verkrampfte Finger vom Steuerknüppel<br />
lösen und die Maschine einigermaßen ins Gleichgewicht<br />
bringen konnte.<br />
»Nicht unter 60 Knoten«, hatte Jeff gesagt. Der<br />
Geschwindigkeitsmesser zeigte etwas über vierzig<br />
Knoten an. Gregor kippte den Steuerknüppel<br />
leicht nach vorn, bis das Instrument etwa 75<br />
Knoten anzeigte. Ganz sanft versuchte er, den<br />
Collective-Hebel zuerst ein wenig nach oben,<br />
dann wieder nach unten zu schieben. Der Höhenmesser<br />
reagierte entsprechend. Markus hatte<br />
also nicht recht gehabt; er konnte einen Hub-<br />
187
schrauber länger als ein paar Sekunden fliegen.<br />
Über die Gegensprech-Anlage versuchte er jetzt,<br />
Jeff wieder zum Bewußtsein zu bringen. Doch<br />
dieser zeigte keine Reaktion, sondern rutschte<br />
stattdessen noch tiefer in den Sitz hinein. Sein<br />
Kopfhörer hatte sich offensichtlich bei dem Anfall<br />
verschoben, denn jetzt fiel er zu Boden, und<br />
zwar ausgerechnet unter den Collective Pitch.<br />
Während Gregor mit der rechten Hand versuchte,<br />
die Maschine auf Kurs zu halten, griff er mit<br />
der linken über seinen rechten Oberschenkel und<br />
holte den Kopfhörer unter dem Hebel hervor.<br />
Ob er dieses Ding wohl würde landen können?<br />
Wenn er doch nur einmal ein paar Lektionen<br />
Hubschrauber-Unterricht genommen hätte, das<br />
hätte vielleicht schon genügt, um die Kiste zu<br />
Boden zu bringen…<br />
Auf einmal ging alles sehr schnell. Die Nase des<br />
Hubschraubers schnellte scharf nach links und<br />
neigte sich vornüber. Gregor reagierte wie in<br />
Trance. »Zwei Sekunden«, hörte er Jeff in Gedanken<br />
sagen, »zwei Sekunden hat man Zeit, um<br />
188
eine Autorotation einzuleiten.«<br />
Gregor knallte mit einem panikartigen Ruck den<br />
Collective nach unten, zog den Cyclic nach hinten<br />
und drückte das rechte Pedal voll durch. Sein<br />
Herz pochte wie wild. Nach einer Sekunde, die<br />
ihm wie eine Ewigkeit vorkam, hatte sich die<br />
Maschine aufgefangen und näherte sich rasch,<br />
aber mit konstanter Geschwindigkeit der Erdoberfläche.<br />
Gregor traute sich kaum nach unten<br />
zu blicken. Gottseidank, die Bergkette hatten sie<br />
bereits überflogen, und unter ihm öffnete sich<br />
eine weites, verschneites Tal, das sich bis zum<br />
Mount McKinley hinzustrecken schien.<br />
Ein flüchtiger Blick auf den Höhenmesser zeigte<br />
Gregor, daß er sich auf ungefähr 6000 Fuß<br />
über Meer befand. Wieviel über Grund das wohl<br />
sein mochte? Die Geschwindigkeit zeigte knapp<br />
unter 60 Knoten an, aber die Maschine blieb stabil,<br />
so daß er vorerst nichts verändern wollte.<br />
»Gott, hilf mir, daß ich das überstehe«, murmelte<br />
er leise vor sich hin. »Ich verspreche dir, daß<br />
ich dann an dich glaube.«<br />
189
Offenbar hatte er unbewußt den Steuerknüppel<br />
nach hinten gezogen, denn der Geschwindigkeitsmesser<br />
zeigte nur noch knappe 40 Knoten<br />
an.<br />
»Geschwindigkeit, ich brauche Geschwindigkeit«,<br />
stieß Gregor mit zusammengebissenen<br />
Zähnen hervor und drückte den Steuerknüppel<br />
nach vorn. Im selben Augenblick ertönte im Kopfhörer<br />
ein markerschütterndes Tuten, während<br />
am Instrumentenbrett eine orangefarbene Lampe<br />
mit der Bezeichnung »Low RPM« aufleuchtete.<br />
Zu Tode erschrocken, zog Gregor den Steuerknüppel<br />
wieder zurück und schloß die Augen.<br />
Das letzte, was er spürte, war ein kurzer, dumpfer<br />
Schlag, der ihm in Sekundenbruchteilen die<br />
Beine, den Oberkörper und schließlich das Gehirn<br />
lahmlegte.<br />
190
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Zuerst muß ich wohl die übliche Warnung aussprechen:<br />
Versuchen Sie dieses Hubschrauber-<br />
Experiment bitte nicht zu Hause! Ich bin zwar<br />
selber Hubschrauber-Pilot und weiß, daß ich die<br />
Manöver grundsätzlich richtig beschrieben habe.<br />
Dennoch: Autor und Verlag übernehmen keinerlei<br />
Haftung! Dasselbe gilt übrigens auch, wenn<br />
Sie eine »Beaver« bei 50 Knoten hochziehen und<br />
abstürzen. Studieren Sie vorher nochmals das<br />
Handbuch!<br />
A propos Miss Marlboro: Nein, Marlboro hat keinen<br />
finanziellen Beitrag zu diesem Buch geleistet.<br />
Meinen Sie, man sollte dort mal anklopfen?<br />
Wie finden Sie meine Landschafts-Beschreibungen?<br />
Die habe ich dem »Traumschiff« im Deutschen<br />
Fernsehen abgeschaut. Da leiert doch dieser<br />
Schönling (wie heißt er doch gleich?) immer<br />
solche Monologe herunter, die vom Nationalen<br />
Fremdenverkehrsbüro gesponsert wurden. Na ja,<br />
191
ich denke, wenn Sie schon Schund lesen, sollen<br />
Sie wenigstens etwas dabei lernen.<br />
Nun aber zum Ernst des Lebens: Wie oft pro<br />
Woche haben Sie eigentlich so einen <strong>Moment</strong>,<br />
wo Sie sagen möchten: »Augenblick, verweile<br />
doch, du bist so schön«? Wie oft pro Monat? Wie<br />
oft pro Jahr? Und genügt Ihnen das?<br />
Glauben Sie an ein Zufalls-Universum?<br />
192
Falls Sie an ein Zufalls-Universum glauben, wer<br />
ist dann für Ihr Leben verantwortlich?<br />
Es ist immer wieder interessant festzustellen,<br />
daß Menschen, die an ein Zufalls-Universum<br />
glauben, voller Groll sind. Ich frage mich immer,<br />
gegen wen sich dieser Groll wohl richten mag.<br />
Gegen den Zufall? Dem ist es sicher egal. Der<br />
schlägt einfach zu, eben zufällig. Gegen Gott, an<br />
den die Zufallsgläubigen gar nicht glauben?<br />
Für mich hat sich sehr vieles vereinfacht, seit<br />
ich weiß, daß wir nicht in einem Zufalls-Universum<br />
leben. Denn wäre das so, dann wäre unser<br />
Planet längst von seiner Bahn abgekommen und<br />
in einen anderen Stern gerast. Von daher weiß<br />
193
ich heute, daß jeder für sein Leben selbst verantwortlich<br />
ist.<br />
Haben Sie eigentlich einen Lebenstraum? Oder<br />
hatten Sie früher mal einen? Wollten Sie einmal<br />
Hubschrauber-Pilot in Alaska werden? Oder<br />
Schafhirt in Neuseeland? Oder Malerin in der<br />
Toskana? Wenn Sie sich ein Traumleben zusammenschustern<br />
dürften, wie würde es aussehen?<br />
194
Welches sind die Gründe, warum Sie dieses<br />
Traumleben heute nicht leben?<br />
195
Was könnten Sie heute tun, um in sieben Jahren<br />
dieses Traumleben zu leben?<br />
196
14<br />
Sonja schloß die Tür zu ihrem kleinen Schmuckgeschäft<br />
auf. Es war morgens um acht, und sie<br />
war wie immer die erste im Village. Sonja war<br />
um die vierzig, eine sehr attraktive, gepflegte<br />
Frau mit reifen Gesichtszügen und hellbraunem,<br />
gewelltem Haar, das sie etwas mehr als schulterlang<br />
trug. Sie gehörte zu jener Sorte Frauen,<br />
die ewig jung bleiben, aber dennoch nicht gerne<br />
in den Spiegel schauen aus lauter Furcht, auf<br />
ihrer makellosen Haut könnte sich eines Tages<br />
eine Falte bilden.<br />
Das Laguna Village war ein kleines, malerisches<br />
Ladendörfchen mitten in Laguna Beach, einem<br />
Städtchen südlich von Los Angeles, dem man<br />
nachsagte, daß es das Künstler- und Schwulen-<br />
Zentrum der Westküste sei. Vielleicht war es<br />
Letzteres, was Sonja vor drei Jahren dazu bewogen<br />
hatte, sich in Laguna Beach niederzulassen.<br />
Von Männern hatte sie damals die Nase<br />
ziemlich voll, und von Homosexuellen hatte sie<br />
schließlich nichts zu befürchten.<br />
197
Sonja war verliebt ins Village. Zu dieser frühen<br />
Tageszeit hatte es etwas geradezu Magisches an<br />
sich. Von der Terrasse des kleinen Restaurants<br />
aus, 30 Meter über dem blauen Pazifik, konnte<br />
sie die unentwegten Surfer beobachten, die sich<br />
geduldig in den kalten Fluten tummelten und<br />
die nächste große Welle abwarteten.<br />
Da das Restaurant wie immer um diese Zeit noch<br />
geschlossen war, klopfte Sonja beim Lieferanten-<br />
Eingang an. Die Türe öffnete sich und heraus<br />
trat ein kräftig gebauter, braungebrannter Mann<br />
in den Dreißigern.<br />
»Sonjaaaaa…«, rief er mit etwas tuntiger Stimme<br />
aus und unterstrich sein ohnehin schon offensichtliches<br />
Schauspiel noch mit aufgesetzt<br />
schwänzelnder Gestik.<br />
»Komm, hör auf, Andy«, sagte Sonja lachend. »Du<br />
kommst wohl nie darüber hinweg, daß ich dir<br />
einmal gesagt habe, ich fände schwule Männer<br />
gebildeter und interessanter, was?«<br />
»Nein, Sonja«, sagte Andy jetzt mit etwas übertrieben<br />
männlicher Stimme, »du hast mir das<br />
198
größte Dilemma meines Lebens bereitet.«<br />
Er ließ rasch zwei Tassen starken Kaffee aus der<br />
Espresso-Maschine und trug sie auf die Terrasse,<br />
wohin ihm Sonja leichten Schrittes folgte.<br />
»Schau, wenn ich dir gefallen will,« fuhr er fort,<br />
»muß ich schwul werden. Wenn ich aber schwul<br />
wäre, dann hätte ich kein Interesse mehr an dir.<br />
Was soll ich bloß tun?« Andy legte, wiederum mit<br />
übertriebener Theatralik, seinen braunen Lokkenkopf<br />
an Sonjas Brust.<br />
Sonja mochte diesen Mann sehr. Man hätte ihn<br />
als typisches Opfer des amerikanischen Traumes<br />
bezeichnen können. Andy, der mit vollem Namen<br />
Andreas hieß, war vor zehn Jahren aus dem<br />
österreichischen Tirol nach Kalifornien gekommen<br />
mit der festen Absicht, Schauspieler zu<br />
werden und Hollywood zu erobern. Nach den<br />
ersten Absagen mut- und vor allem geldlos geworden,<br />
fing er an, sich als Kellner zu betätigen.<br />
So schlug er sich mehr schlecht als recht durchs<br />
Leben, bekam zwischendurch mit viel Glück eine<br />
kleine Statistenrolle oder einen Nebenpart in ei-<br />
199
nem Werbespot, bis er eines Tages die bittere<br />
Tatsache anerkannte, daß aus ihm eben nicht<br />
ein Schauspieler, sondern ein Kellner geworden<br />
war. Da beschloß er, daß er das, was er tat, wenigstens<br />
perfekt tun wollte, und er setzte sich<br />
zum Ziel, der beste Kellner Hollywoods zu werden.<br />
Von diesem Tag an verdiente er so viel Trinkgeld,<br />
daß er innerhalb weniger Wochen zu einer<br />
Art Hollywood-Legende wurde und nach zwei<br />
Jahren sein erstes, eigenes Restaurant eröffnen<br />
konnte.<br />
»Sonja, warum gibst du mir keine Chance«, flehte<br />
Andy, der seinen Kopf noch immer an Sonjas<br />
Busen gelehnt hatte.<br />
»Ich bin verheiratet, hast du das vergessen?«<br />
Sonja streichelte liebevoll wie eine ältere Schwester<br />
über Andys Ohr.<br />
»Verheiratet!« kreischte Andy hysterisch. »Das<br />
darf doch nicht wahr sein. Dein Mann lebt seit<br />
drei Jahren in Deutschland, und du bist hier. Du<br />
lebst ja wie im Kloster. Sonja, glaube mir, wenn<br />
man diese Dinge nicht benutzt, vertrocknen sie!«<br />
200
Andy spielte wieder einmal auf den Sex an, den<br />
die Frauen seiner Meinung nach einfach brauchten,<br />
um überhaupt vernünftig existieren zu können.<br />
»Mach’ dir keine Sorgen, Andy, ich schaue regelmäßig<br />
nach dem rechten. Hast du übrigens von<br />
dieser Sex-Umfrage gehört, du kleiner Macho,<br />
wonach achtzig Prozent aller Frauen das Herumfummeln<br />
dem eigentlichen Geschlechtsakt<br />
vorziehen? Das wird ein schöner Schock werden<br />
für die amerikanische Männerwelt!«<br />
»Du meinst, die wollen meinen Dingsda gar nicht<br />
zu Gesicht bekommen?« sagte Andy, und die Bestürztheit<br />
klang diesmal ziemlich echt. »Aber<br />
dabei ist das doch so ein Prachtsexemplar!«<br />
»Sehen schon«, beruhigte Sonja ihn, »und auch<br />
berühren. Ach was, du weißt schon, was ich meine.«<br />
»Nein, erzähl mir mehr davon, du törnst mich<br />
mächtig an«, bettelte Andy, und Sonja wurde sich<br />
plötzlich bewußt, daß sie diesem frivolen Spielchen<br />
ein Ende setzen sollte.<br />
201
»Nun mal ehrlich«, sagte sie mit ernsthafter<br />
Stimme, »kann ich etwas mit dir besprechen?«<br />
Andy schlürfte ein wenig am heißen Kaffee.<br />
»Jajaaaa…«, gab er sich geschlagen, »ich weiß,<br />
ich bin der Mann zum Diskutieren und nicht der<br />
fürs Bett. Schieß los!«<br />
»Gestern abend rief mich ein Mann an. Er befinde<br />
sich am Flughafen in Los Angeles, sein Name<br />
sei Anton Kaspach, und er sei Gregors Vater.«<br />
»Aber du hast doch gesagt, der sei seit Ewigkeiten<br />
tot!« erwiderte Andy erstaunt.<br />
»Ist er auch. Als Gregor fünf war, ist er gestorben,<br />
irgendwo in der Karibik, ich weiß nicht<br />
mehr, wo genau.«<br />
»Na also, das ist doch wieder so ein Psychopath,<br />
wie es sie hier zu Tausenden gibt«, meinte Andy<br />
beschwichtigend.<br />
»Da bin ich mir eben nicht so sicher«, fuhr Sonja<br />
weiter. »Er hat mich gebeten, zum Flughafen zu<br />
kommen, er müßte mir dringend etwas sagen.<br />
Es gehe um Gregors Leben.«<br />
Andy fuhr hoch. »Du bist doch hoffentlich nicht<br />
202
hingefahren, ohne mich zu benachrichtigen?« rief<br />
er entsetzt.<br />
»Doch«, sagte Sonja, »er hat mir versprochen, daß<br />
es nicht länger als eine Stunde dauern würde.<br />
Seine Maschine nach Alaska würde um zehn Uhr<br />
starten.«<br />
»Und?« drängte Andy neugierig und etwas besorgt.<br />
»Ich weiß nicht, ich bin völlig verwirrt». Sonja<br />
rieb sich ihre Augen, wie immer, wenn sie intensiv<br />
nachdenken mußte. »Der Mann war sehr nett<br />
und sah sehr rüstig aus. Wenn er Gregors Vater<br />
wäre, dann hätte er sich sehr gut gehalten. Er<br />
bestand darauf, daß er 84 Jahre alt sei.«<br />
»Hat er dir seinen Paß gezeigt?« wollte Andy<br />
wissen.<br />
»Ja«, sagte Sonja, »und da steht auch, daß er 1909<br />
geboren ist, aber sein Name ist ›Anton Miller‹.«<br />
»Na, siehst du« sagte Andy und lehnte sich in<br />
seinem Stuhl zurück.<br />
»Ich weiß nicht. Die Amerikaner hätten ihm diesen<br />
neuen Namen beschafft, behauptete er, und<br />
203
er erzählte mir total wirres Zeug, daß Gregor in<br />
Gefahr sei, daß die Neonazis hinter einem bestimmten<br />
Gerät her seien und daß ich Gregor<br />
doch überreden solle, ihm wenigstens einmal<br />
zuzuhören.«<br />
»Neonazis, oh shit!« rief Andy aus, der nun ahnte,<br />
daß es sich hier eventuell um mehr als nur<br />
einen kleinen Scherz handelte.<br />
»Was mir Angst macht, ist die Tatsache, daß<br />
Gregors Vater scheint’s auch ein Nazi gewesen<br />
sein soll.«<br />
»Hast du ihn damit konfrontiert?«<br />
»Ja.«<br />
»Und? Was hat er geantwortet?« wollte Andy<br />
wissen.<br />
»Er sagte nur, daß ich es ihm ja wahrscheinlich<br />
nicht glauben würde, wenn er behauptete, er sei<br />
das Gegenteil von einem Nazi. Ich sagte, nein,<br />
das würde ich ihm nicht abkaufen, worauf er<br />
meinte, das sei völlig in Ordnung, seine Aufgabe<br />
bestünde jetzt nur noch darin, Gregor zu retten.«<br />
Sonja nahm einen Schluck Kaffee und zog ihre<br />
204
Sonnenbrille an, um ihre empfindlichen Augen<br />
gegen die stärker werdende Morgensonne zu<br />
schützen.<br />
»Und weiter«, sagte Andy fordernd. »Wie seid ihr<br />
verblieben?«<br />
»Er hat gesagt, er ruft mich wieder an. Ehrlich<br />
Andy, ich weiß nicht, was ich von der ganzen<br />
Sache halten soll.«<br />
Andy nahm Sonja liebevoll in die Arme und wurde<br />
sich auf einmal bewußt, wie vertraulich er<br />
doch mit dieser Frau umging. Was war es für<br />
ein Jammer, daß er mit ihr nicht endlich intim<br />
werden durfte, um die hunderttausend weiteren<br />
Facetten ihres faszinierenden Wesens erforschen<br />
und ergründen zu können.<br />
»Weißt du, Andy«, sagte Sonja mit ein wenig Hilflosigkeit<br />
in der Stimme, die man von ihr gar nicht<br />
gewohnt war, »das ist so ein seltsames Gefühl,<br />
wenn du plötzlich so einen Typen vor dir hast,<br />
der angeblich Hunderte von Menschen vergast<br />
haben soll.«<br />
»Ja, ich habe mich auch schon oft gefragt«, sin-<br />
205
nierte Andy vor sich hin, »wie Gott so etwas überhaupt<br />
zulassen konnte.«<br />
»So etwas Ähnliches habe ich zum Miller auch<br />
gesagt«, gab Sonja zur Antwort, »weißt du, was<br />
er geantwortet hat?«<br />
»Wahrscheinlich, daß das ganze Dritte Reich von<br />
Gott geplant gewesen sei!« meinte Andy zynisch.<br />
»Nein, er sagte, Gott hätte noch ganz andere Dinge<br />
zugelassen. Man müsse sich nur einmal überlegen,<br />
was die alten Römer und die Juden sich<br />
für Hinrichtungsmethoden ausgedacht hätten.<br />
Steinigen und Kreuzigen, etwas Schlimmeres<br />
gebe es doch nicht!«<br />
»Das stimmt allerdings,« warf Andy ein, »ich habe<br />
kürzlich einen Roman aus dieser Zeit gelesen.<br />
Die haben es doch tatsächlich fertiggebracht,<br />
einen Menschen so lange mit Steinen zu bewerfen,<br />
bis er zusammenbrach und langsam verreckte.<br />
Stell dir diese qualvollen Minuten vor. Und<br />
das Verrückte war, die hatten erst noch Spaß<br />
dabei, die verlachten und verspotteten den armen<br />
Kerl, während sie ihn zu Tode steinigten.«<br />
206
»Was waren das nur für Menschen!« sagte Sonja<br />
kopfschüttelnd.<br />
»Oder stell dir mal vor, was es bedeutete, wenn<br />
einer gekreuzigt wurde!« fuhr Andy weiter, und<br />
offenbar fand er Gefallen an der Tatsache, daß<br />
Sonja zusehends bleicher wurde. »Zuerst wirst<br />
du mit den Oberarmen an den Querbalken gebunden,<br />
dann jagt dir der Henker je einen Nagel<br />
durch beide Handgelenke, und dann schneidet<br />
man die Seile an deinen Oberarmen entzwei,<br />
so daß der ganze Körper absackt und dir dein<br />
Schlüsselbein bricht.«<br />
»Aahhh, hör’ auf, das ist ja furchtbar«, stöhnte<br />
Sonja und wandte sich angewidert ab.<br />
»Und dann«, fuhr Andy unbeirrt fort, »dann lassen<br />
sie dich so eine Woche lang hängen. So lange<br />
dauert es, bis dein Körper entweder ausgetrocknet<br />
oder aufgrund einer Brustfellentzündung<br />
vergiftet ist. Stell dir vor, Sonja, eine Woche,<br />
Tag und Nacht, mit solchen Schmerzen und<br />
bei vollem Bewußtsein. Und wenn sie es gut mit<br />
dir meinen, dann brechen sie dir nach einer Weile<br />
207
die Schienbeine mit einem großen Holzstecken,<br />
damit du nur noch an deinen genagelten Handgelenken<br />
hängst und die gebrochenen Schlüsselbeine<br />
dir die Luft abstellen, so daß der Tod gnädigerweise<br />
früher eintritt.«<br />
»Hör’ endlich auf«, schrie Sonja, »ich kann es<br />
nicht mehr hören!«<br />
»Tja«, erwiderte Andy schnippisch, »warum hast<br />
du nicht meine Einladung angenommen und bist<br />
mit mir ins Bett gegangen. Das wäre ein würdigerer<br />
Tagesanfang gewesen. Jetzt mußt du eben<br />
ein wenig leiden. Aber um das Thema zu beenden:<br />
Da hat dieser Miller vielleicht nicht unrecht,<br />
obwohl es bei ihm natürlich plumpe Rechtfertigungsversuche<br />
sind. Aber gegen diese früheren<br />
Hinrichtungsformen oder auch gegen jene<br />
im Mittelalter war das Vergasen im Dritten Reich<br />
ja geradezu human.«<br />
»Wie kannst du nur so etwas sagen!« rief Sonja<br />
und spielte die Entsetzte.<br />
»Beruhige dich«, sagte Andy, »ich will ja nichts<br />
beschönigen. Und ich würde eine Massenvernich-<br />
208
tung niemals gutheißen, so gut kennst du mich<br />
doch. Ich versuche nur, die Geschichte irgendwie<br />
in mein Weltbild zu passen. Das ist doch das<br />
größte Problem! Wir schauen uns Filme aus Hitlers<br />
Horrorreich an, fühlen uns anschließend eine<br />
Woche lang deprimiert und schwören uns, daß<br />
das nie wieder vorkommen soll. Und was geschieht?<br />
Überall in Deutschland, in Österreich<br />
und in der Schweiz und selbst hier in Amerika<br />
kommen mehr und mehr Neonazi-Gruppierungen<br />
auf. Wir scheinen das Gegenteil von dem zu<br />
erreichen, was wir eigentlich wollten.«<br />
»Ja, aber das sind doch Minderheiten, diese Neonazis«,<br />
versuchte Sonja zu beschwichtigen.<br />
»Mag sein. Aber Hitlers Anhänger waren am<br />
Anfang auch in der Minderheit!« gab Andy zurück.<br />
»Nein, ich fürchte, daß wir diese Lektion<br />
nochmals durchmachen müssen, bis wir ihren<br />
Inhalt begreifen.«<br />
»Du meinst, nochmals ein Nazi-Regime?« fragte<br />
Sonja und schaute Andy in die Augen, um herauszufinden,<br />
ob er einen Witz machte. Aber es<br />
209
schien ihm ernst zu sein.<br />
»In dem Buch, das ich gerade lese, vertritt der<br />
Autor diese Meinung, ja.«<br />
»Und was sollte das für eine Lektion sein, die<br />
wir nicht begriffen haben?« wollte Sonja wissen.<br />
»Nun, er meint, die Juden seien diejenigen gewesen,<br />
die den Teufel erfunden hätten, also hätten<br />
sie sich am allerwenigsten darüber wundern<br />
müssen, daß er leibhaftig in Form eines Adolf<br />
Hitler auf die Erde gekommen sei.«<br />
»Wie soll man das verstehen«, fragte Sonja verwundert,<br />
»daß die Juden den Teufel erfunden<br />
hätten? Das stimmt doch gar nicht!«<br />
»Na ja, die Griechen und die Römer hatten doch<br />
mehrere Götter; die meisten trugen mehr oder<br />
weniger menschliche Züge, waren mehr oder weniger<br />
vertrottelt. Die Juden hingegen hätten laut<br />
diesem Buch zwei totale Obertrottel erfunden.<br />
Der erste sei ein alter Knacker von einem Gott,<br />
der ihnen über 600 Regeln auferlegte, was sie<br />
tun durften und was nicht. Hast du gewußt, daß<br />
der Talmud über 600 Gebote enthält?«<br />
210
»Nein«, gab Sonja zu, »aber ich denke immer,<br />
wenn es einen Gott gibt, dann ist er mindestens<br />
so clever wie wir, und dann hat er sicher anderes<br />
zu tun als darüber zu wachen, ob die Menschen<br />
am Sabbat arbeiten oder nicht.«<br />
»Das steht in diesem Buch eben auch. Und der<br />
zweite Obertrottel, das sei der Teufel oder der<br />
Satan, wie ihn die sogenannten Christen gerne<br />
nennen, der früher einmal ein Engel gewesen sei.<br />
Ich frage dich, wie kann das denn gehen? Wenn<br />
Gott allmächtig ist, dann kann doch kein Engel<br />
gegen seinen Willen ausflippen? Und wenn er<br />
ein so lieber Gott ist, wie Juden und Christen<br />
gemeinsam beteuern, dann würde er selbst einem<br />
gefallenen Engel verzeihen!«<br />
»Deshalb mochte ich nie gern in die Sonntagsschule<br />
gehen«, versuchte Sonja zu scherzen. »Ich<br />
wußte doch, daß da irgend etwas nicht stimmen<br />
kann! Aber es sind ja nicht nur die Juden, die an<br />
einen herrsch- und rachsüchtigen Gott glauben;<br />
das ganze Christentum beruht doch auf dieser<br />
verwirrenden Mischung zwischen einem strafen-<br />
211
den und einem liebenden Gott.«<br />
»In dem Buch steht, daß alles, was in diesem<br />
Universum geschehe, von Nutzen sei, selbst ein<br />
Hitler, ein Mussolini und ein Hussein erfüllten<br />
hier ihre Aufgabe.«<br />
»Nimmt mich nur wunder, was das für eine Aufgabe<br />
sein soll«, warf Sonja ein.<br />
»Nun, der Autor sagt, für einen gläubigen Juden<br />
bedeute es etwas Großartiges, für seinen Glauben<br />
sterben zu dürfen. Und da er ja ans Paradies<br />
glaube, habe er auch nichts zu befürchten.«<br />
»Das Buch heißt nicht zufälligerweise ›Mein<br />
Kampf‹?« warf Sonja kopfschüttelnd ein. »So etwas<br />
kann doch nur ein Nazi gesagt haben!«<br />
»Nein, überleg’ doch mal, irgendwie hat er schon<br />
recht. Dieser ganze Glaube, auch der christliche,<br />
ist doch eine einzige verdammte Heuchelei!<br />
Schau, ich hatte einmal den größten Krach mit<br />
meiner Mutter, als ich unbedacht den Satz äußerte,<br />
ich würde bei ihrem Begräbnis sicher nicht<br />
zugegen sein.«<br />
»Hoppla, so feinfühlig kannst Du sein?« Sonja<br />
212
lickte ihn halb verwundert und halb belustigt<br />
an. Sie konnte sich etwa vorstellen, wie Andys<br />
Mutter darauf reagiert hatte.<br />
»Meine Mutter sagt die ganze Zeit, sie glaube<br />
daran, daß sie einmal in den Himmel komme.<br />
Also sagte ich zu ihr ›Mutti, dann kann es dir<br />
doch auch egal sein, wer an deiner Beerdigung<br />
anwesend ist und wer nicht‹! Dann wollte sie<br />
plötzlich nicht mehr darüber reden. Ich bitte<br />
dich, das ist doch zum Verrücktwerden! Oder<br />
schau einmal, wie viele Pfarrer bei einem Begräbnis<br />
eine Leidensmiene aufsetzen. Dabei<br />
müßte man sich doch für den Verstorbenen freuen.<br />
›Achtzig Jahre lang auf der Startbahn, und<br />
endlich hat er abgehoben‹ müßte man ausrufen.<br />
Aber nichts dergleichen. ›Mein herzliches Beileid‹<br />
heißt es«, Andy äffte einen heuchelnden<br />
Trauernden nach. »›Der arme Verstorbene‹ und<br />
solcher Käse, als ob der wirklich arm wäre.«<br />
»Menschenskind, an dir ist ein Prediger verloren<br />
gegangen«, sagte Sonja und mimte die Bewundernde.<br />
»Paß’ aber trotzdem auf, wem du<br />
213
diese Dinge erzählst. Nicht jeder begreift das so<br />
gut wie ich.«<br />
»Es sind ja auch nicht meine Gedanken«, gab<br />
Andy schnippisch zurück. »Übrigens sollten wir<br />
uns gar nicht so anstellen. Das Kreuzigen und<br />
Steinigen beherrschen wir heute noch genauso<br />
gut! Denke nur, was zur Zeit mit Michael Jackson<br />
passiert«, gab Andy zu bedenken, »hat man ihn<br />
nicht fast zum Messias erkoren. Der König des<br />
Pop, hieß es. Ich bitte dich, so ein schmächtiges<br />
Bübchen, das sich hinter seinen Schmachtlocken<br />
verstecken muß, um nicht vor Angst umzufallen!<br />
Aber wenn der Stein mal ins Rollen kommt,<br />
dann kann man ihn nicht mehr aufhalten. Die<br />
Menschen haben seit jeher die Lösungen für ihre<br />
Probleme außen gesucht, anstatt innen. Immer<br />
muß da ein Erlöser, ein Guru, ein Messias kommen,<br />
der ihnen alles abnimmt. Und wenn der<br />
dann nicht so ist, wie sie ihn sich vorgestellt<br />
haben, dann muß sein Kopf rollen und dann geht<br />
man zum nächsten, der in Frage kommt. Es<br />
braucht, wie bei Michael Jackson, nur ein geld-<br />
214
gieriger Kerl daherzukommen und irgend ein<br />
Gerücht in die Welt zu setzen, und dann beginnt<br />
die psychologische Steinigung, die wahrscheinlich<br />
hundertmal schlimmer ist als die körperliche.<br />
Dabei kann man den Journalisten nicht einmal<br />
einen Vorwurf machen. Denn wenn sie diese<br />
Gerüchte-Fürze nicht ebenfalls aufgreifen,<br />
wird ihr Käseblatt am nächsten Tag von keiner<br />
Menschenseele mehr gekauft.«<br />
»Was schlägt denn dieses Buch vor, was man tun<br />
soll?« fragte Sonja ratlos.<br />
»Nichts. Der Autor wollte damit nur ausdrücken,<br />
daß Hitler eben der fleischgewordene Satan gewesen<br />
sei, den wir selbst uns geschaffen hätten<br />
und der uns Menschen habe zeigen sollen, daß<br />
die Hölle nicht irgendwo außen oder ganz weit<br />
unten sei, sondern auf diesem Planeten oder besser<br />
in uns drin.«<br />
»Dann müßten wir Hitler sogar dankbar sein?«<br />
sagte Sonja.<br />
»Wenn wir die Bibel ernstnehmen und wirklich<br />
unsere Feinde lieben wollen, dann ja. Was denn<br />
215
sonst?« Andy schien das Provozierende an dieser<br />
Aussage in vollen Zügen zu genießen. »Aber<br />
das Schöne daran«, fuhr er fort, »ist doch die<br />
Tatsache, daß nicht nur die Hölle, sondern auch<br />
der Himmel hier auf der Erde ist. Schau’ dich<br />
einmal um, in was für einem Paradies wir beide<br />
leben!« Andy zeigte auf die tiefroten Bougainvilleen,<br />
die die halbe Terrasse mit ihrer Blütenpracht<br />
überwucherten. »A propos Paradies, wäre<br />
es nicht paradiesisch, liebe Sonja, wenn wir endlich<br />
heiraten würden?«<br />
»Du bist doch ein unmöglicher Kerl«, lachte Sonja<br />
und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf<br />
seine frischrasierte Wange. »Aber ich weiß jetzt<br />
noch immer nicht, was ich tun soll. Heute abend<br />
kommt Gregor nach Los Angeles, um unsere<br />
Scheidung zu besprechen.«<br />
Andy, der das Wort »Scheidung« mit Genugtuung<br />
zur Kenntnis genommen hatte, räumte die<br />
Kaffeetassen zusammen und stand auf, da sich<br />
die ersten Frühstücksgäste auf der Terrasse eingefunden<br />
hatten. »Warum erzählst du ihm nicht<br />
216
einfach alles?« sagte er. »Schließlich hat er dir<br />
das eingebrockt.«<br />
217
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Der Anfang dieses Kapitels hätte in einem Silvia-Roman<br />
stehen können, finden Sie nicht auch?<br />
Vielleicht sollte ich mich einmal beim Bastei-<br />
Verlag als Ghostwriter melden…<br />
Übrigens… wenn Sie dieses Kapitel sehr provozierend<br />
fanden, dann muß ich Ihnen gestehen:<br />
Ich auch! Ich entschuldige mich offiziell für das,<br />
was die beiden da von sich gegeben haben. Es<br />
entspricht nicht unbedingt der Meinung von<br />
Verlag und Autor. Allerdings, Nachdenken ist<br />
erlaubt!<br />
»Da beschloß er, daß er das, was er tat, wenigstens<br />
perfekt tun wollte, und er setzte sich zum<br />
Ziel, der beste Kellner Hollywoods zu werden.«<br />
Wie ist es mit Ihnen? Haben Sie sich auch einmal<br />
zum Ziel gesetzt, der Beste Ihrer Branche<br />
zu werden? Und wenn nein, warum eigentlich<br />
nicht? Warum geben Sie sich freiwillig mit dem<br />
Mittelmaß zufrieden? Und warum sind Sie dann<br />
218
enttäuscht, daß Ihr Leben mittelmäßig verläuft?<br />
Ich garantiere es Ihnen: Jeder Mensch wird wohlhabend,<br />
sofern er beschließt, auf seinem Gebiet<br />
absolute Spitzenleistungen zu vollbringen. Das<br />
funktioniert auch bei »geringeren« Arbeiten. Man<br />
kann auch die beste Putzfrau, der beste Straßenwischer<br />
und der beste Tellerwäscher werden.<br />
Solche Menschen bleiben nicht lange unten.<br />
Es gibt einen schönen Spruch, den wir auf unsere<br />
Firmen-T-Shirts gedruckt haben: »Erfolg ist<br />
reine Glückssache… das wird dir jeder Versager<br />
bestätigen!«<br />
Ja, schon gut! Meine Predigt ist zu Ende. Sie<br />
dürfen weiterlesen…<br />
219
220
15<br />
Was war das bloß für ein gleißendes Licht? Gregor<br />
hielt schützend seine rechte Hand vor die<br />
Augen. Wo er hinsah, nichts als Licht. Und eine<br />
eigenartige Musik war zu hören. Gregor konnte<br />
nicht ausmachen, woher sie kam. Sie lag irgendwie<br />
in der Luft, oder vielmehr, sie war einfach<br />
da, durchdrang sein ganzes Wesen. Es war eine<br />
Musik, die er noch nie gehört hatte, und dennoch<br />
war sie ihm völlig vertraut.<br />
Gregor blickte nach unten und stellte fest, daß<br />
er schwebte. Aber es erstaunte ihn gar nicht. Er<br />
nahm diese Tatsache zur Kenntnis, als ob das<br />
schon immer so gewesen wäre. Unter sich sah<br />
er einen völlig zerstörten Hubschrauber in einer<br />
verschneiten Landschaft.<br />
Richtig, dämmerte es ihm, ich bin ja abgestürzt.<br />
Gregor war ganz erstaunt, wie gelassen er blieb.<br />
Er beobachtete die Szene wie ein Arzt, der bei<br />
einem seiner Patienten eine unheilbare Krankheit<br />
diagnostiziert, halb anteilnehmend, da es<br />
ja sein Patient ist, und halb froh, nicht selbst<br />
221
davon betroffen zu sein.<br />
Er sah sich das Wrack nochmals genauer an.<br />
Nahe der Unfallstelle konnte er einen halbgeknickten<br />
Hochspannungsmast erkennen, dessen<br />
Kabel nur etwa zwei Meter über dem zerstörten<br />
Hubschrauber baumelten. Da waren zwei Menschen<br />
im Cockpit, die er nicht sehen konnte.<br />
Dennoch hatte er die glasklare Gewißheit, daß<br />
sie sich dort befanden. Einer der beiden war er<br />
selbst. Sein Körper lag völlig in sich eingesunken<br />
im Hohlsockel, auf dem vorher der Sitz befestigt<br />
gewesen war. Gregor mußte sogar ein wenig<br />
schmunzeln. Es sah aus, als ob er auf einem<br />
Klo säße und von einer unsichtbaren Hand in<br />
den Abfluß gezogen würde. Beide Körper lagen<br />
regungslos da. Jeff blutete aus beiden Ohren.<br />
Wahrscheinlich Genickbruch, dachte Gregor, erstaunt<br />
über seine Sachlichkeit. Es war ihm, als<br />
hörte er Jeffs letzte Gedanken: »Wenn ich das<br />
gewußt hätte, was ich jetzt weiß…« und »danke,<br />
Gregor, für deine Zeit.«<br />
Das war’s dann also gewesen, dachte er kopf-<br />
222
schüttelnd. Alle Sorgen, alle Schuldgefühle, alle<br />
Enttäuschungen, alle Phasen der Hoffnungslosigkeit,<br />
der Verzweiflung, der Depression, lagen<br />
da unten in diesem Häufchen aus Haut und<br />
Knochen. Er dachte das, ohne daß sich irgend<br />
eine Gefühlsregung eingestellt hätte. Eigentlich<br />
hatte er gar kein Gefühl, auch kein schlechtes.<br />
Das einzige, was ihm immer wieder einfiel, war<br />
der Satz: »Und siehe, es war alles gut.«<br />
Es kam ihm vor wie damals, als er aus diesem<br />
Alptraum aufgewacht war. Was ihm wie ein<br />
wochenlanger, vergeblicher Kampf gegen sämtliche<br />
Ungeheuer der Welt vorgekommen war,<br />
entpuppte sich nach dem Aufwachen als ein<br />
Nichts, ein »Furz der Natur«, wie er sich einmal<br />
ausgedrückt hatte, »der nach Auskunft der<br />
Traumforscher höchstens drei Sekunden dauert.«<br />
Vor ein paar Minuten war all dies noch seine<br />
Realität gewesen: Seine Frau Sonja, seine Freundin<br />
Becky, sein Chef Erwin Schüßler, der komische<br />
Kauz namens Franz im Flugzeug nach<br />
Anchorage, und der Fremde, der steif und fest<br />
223
ehauptete, sein leiblicher Vater zu sein.<br />
Jetzt war er einfach aus dieser Wirklichkeit<br />
davonspaziert, wie damals, als er, sehr zum Leidwesen<br />
seiner Frau, aus dem Kino geflüchtet war,<br />
weil ihm die Geschichte auf der Leinwand nicht<br />
gepaßt hatte.<br />
Schlagartig wurde ihm bewußt, daß ja die ganze<br />
Zeit über er selbst der Operateur seines Lebensfilms<br />
gewesen war. Er hatte darüber bestimmt,<br />
wer in sein Leben treten sollte und wer draußen<br />
bleiben mußte. Auf einmal erschien ihm alles so<br />
logisch und klar.<br />
Wie ein Schleier löste sich etwas vor seinen Augen,<br />
und er konnte sein gesamtes Leben überblicken.<br />
Es war keineswegs ein Film mit hintereinandergereihten<br />
Bildern, sondern vielmehr ein<br />
Ineinander, ein gleichzeitig stattfindendes Panoptikum,<br />
wobei Gregor jede einzelne Handlung<br />
selbst bewertete. Was ihn dabei erstaunte, war<br />
die Tatsache, daß er gewisse Dinge, für die er<br />
sich sein ganzes Leben lang Vorwürfe gemacht<br />
hatte, nun auf einmal positiv beurteilte, woge-<br />
224
gen anderes, womit er sich seinerzeit als selbstlos<br />
und großzügig gebrüstet hatte, seinem harten,<br />
aber verständnisvollen Urteil nicht standhielt.<br />
Da war zum Beispiel diese eine Episode mit einem<br />
Berufskollegen, dessen außereheliche Affäre<br />
er aus purem Neid hatte auffliegen lassen,<br />
weil dieser eine Gehaltserhöhung bekommen<br />
hatte und er nicht. Für diesen Vorfall hatte sich<br />
Gregor zwanzig Jahre lang in Grund und Boden<br />
geschämt. Jetzt erkannte er, wieviel Gutes diesem<br />
Kollegen seither widerfahren war. Er hatte<br />
eine neue Stelle gefunden, die ihm viel mehr<br />
Erfüllung brachte. Er hatte sich aus einer unbefriedigenden<br />
Ehe befreit und war mit seiner jetzigen<br />
Frau glücklicher denn je. Seine Ex-Frau<br />
hatte nach der Scheidung endlich lernen müssen,<br />
selbst Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen<br />
und führte heute ein aufregendes und<br />
selbstbestimmtes Leben. Und dies alles hatte er,<br />
Gregor, bewirkt oder zumindest beschleunigt,<br />
weil er für jemanden den Trottel gespielt hatte.<br />
225
Auf der anderen Seite war da die Episode, auf<br />
die er immer so stolz gewesen war. Als sein Patenkind<br />
Rainer zwanzig geworden war, hatte<br />
Gregor ihm einen nagelneuen Kleinwagen geschenkt.<br />
Die Überraschung war natürlich perfekt<br />
gewesen, und Gregor wurde damals als der<br />
Superstar der ganzen Geburtstagsparty gefeiert.<br />
Jetzt sah er, daß er das Ganze nur veranstaltet<br />
hatte, um sein eigenes Ego zu befriedigen. Und<br />
er verstand plötzlich, was er seinem Patenkind<br />
dadurch alles weggenommen hatte: Das süße<br />
Begehren nach dem ersten eigenen Gebrauchtwagen,<br />
den man sich nach monatelanger Schufterei<br />
endlich leisten kann… Der Stolz, selbst etwas<br />
erreicht zu haben und der Antrieb für weitere<br />
Taten, der daraus entstand… Rainer war<br />
jetzt, mit 26 Jahren, ein verwöhnter Rotzlöffel,<br />
dem man mit nichts mehr eine Freude machen<br />
konnte. Und dazu hatte Gregor zu einem großen<br />
Teil beigetragen.<br />
Rechts von ihm, leicht erhöht, konnte Gregor<br />
jetzt eine Theaterbühne wahrnehmen, auf der<br />
226
gerade die Szene aus dem Faust gespielt wurde,<br />
wo sich Mephisto zu erkennen gibt als »einen Teil<br />
von jener Kraft, die stets das Böse will und stets<br />
das Gute schafft.« Gregor fiel es wie Schuppen<br />
von den Augen. Dann wäre dieser Teufel, vor dem<br />
ihm sein Religionslehrer stets eine solche Angst<br />
eingejagt hatte, nichts weiter als ein Spielpartner<br />
Gottes, der es auf sich genommen hat, den häßlichen<br />
Gegenpart zu spielen?<br />
Das Leben auf der Erde, soweit hatte Gregor das<br />
begriffen, bestand aus lauter Polaritäten. Wer<br />
nicht weiß, was Traurigsein bedeutet, kennt auch<br />
die Fröhlichkeit nicht. Wer die Kälte nicht kennt,<br />
kann auch nicht erkennen, wenn ihm warm ist.<br />
Wer nicht weiß, was ein Tal ist, weiß auch nicht,<br />
was ein Berg ist. Offensichtlich hatte da eine<br />
höhere Macht solche Spannungsfelder geschaffen,<br />
damit die Menschen lernen und wachsen<br />
können. Aber wachsen wozu und wofür?<br />
Gregor blickte wieder nach oben. Ja, das mußte<br />
es sein. Dieses Licht mußte gleichzeitig der Ursprung<br />
und das Ziel sein für alle Freuden und<br />
227
Leiden, alles Lachen und alle Tränen, alle Hoffnung<br />
und alle Verzweiflung auf diesem verrückten<br />
Planeten.<br />
Dort wollte er hin, nur dorthin und nichts anderes.<br />
Endlich nach Hause, dachte Gregor sehnsüchtig,<br />
endlich wieder nach Hause!<br />
Er versuchte sich in Richtung des Lichts zu bewegen,<br />
was ihm irgendwie auch gelang. Das<br />
Licht wurde stärker und stärker, so daß er sich<br />
seine beiden Hände vor das Gesicht hielt und<br />
nur noch durch einen ganz feinen Spalt seiner<br />
gekreuzten Finger blickte.<br />
Auf einmal fühlte er, wie ihn vier starke Hände<br />
an seinen Schultern packten und ihn am Weitergehen<br />
hinderten. Es waren ein Mann und eine<br />
Frau, beide in mittleren Jahren, beide splitternackt<br />
und von außergewöhnlicher Schönheit.<br />
»Wer seid ihr denn?« fragte Gregor erstaunt, und<br />
er konnte es sich nicht verkneifen, einen verstohlenen<br />
Blick auf die schöne nackte Frau mit ihren<br />
geradezu unaussprechlich erotischen Formen<br />
zu werfen.<br />
228
»Wir sind deine Schutzengel«, gab der Mann zur<br />
Antwort. Gregor sah ihn ungläubig an, und dabei<br />
fiel ihm auf, wieviel Schönheit auch von diesem<br />
Mann ausging.<br />
Mann und Frau, dachte er, zwei weitere Polaritäten,<br />
die dazu gedacht gewesen wären, daß wir<br />
an ihnen wachsen.<br />
»Du mußt zurück, mein Freund«, sagte die Frau<br />
mit samtweicher Stimme, während sie Gregor<br />
mit zarten, kreisenden Bewegungen seinen kräftigen,<br />
männlichen Brustkorb massierte.<br />
Gregor erschauderte. Woher wußte diese Frau,<br />
wo er am liebsten gestreichelt werden wollte?<br />
»Ich kenne dich Gregor, das ist der Grund, ich<br />
war schon immer bei dir.«<br />
Die Frau schien seine Gedanken lesen zu können.<br />
»Wer bist du? Wie heißt du?« stammelte Gregor<br />
zwischen zwei Wollust-Schauern.<br />
»Name ist Schall und Rauch«, lachte die Frau,<br />
»diesen Satz habe ich schon einmal einem eurer<br />
Dichter in den Mund gelegt. Ihr scheint ihn noch<br />
229
immer nicht begriffen zu haben. Ich bin… je<br />
suis… Jesus… verstehst du?«<br />
»Du bist Jesus?« fragte Gregor verwirrt, »Jesus<br />
soll eine Frau sein?«<br />
Der Mann zu Gregors Linken konnte sich kaum<br />
halten vor Lachen. »Ach, du Unwissender«, stieß<br />
er glucksend hervor, »du bist wirklich noch nicht<br />
so weit. Entschuldige, wir mußten dich einfach<br />
mal holen, um dir ein paar Dinge klarzumachen.<br />
Aber jetzt sollten wir langsam zurück, sonst<br />
klappt das plötzlich nicht mehr.«<br />
Gregor wollte aufbegehren. Er wollte nicht zurück.<br />
Er wollte nach Hause, zum Licht. Doch die<br />
beiden Nackten deuteten wortlos nach unten auf<br />
das verschneite Feld, auf dem noch immer der<br />
zerstörte Hubschrauber lag. Gregor beobachtete,<br />
wie der halbgeknickte Hochspannungsmast<br />
jetzt mit lautem Geächze zu Boden fiel, und wie<br />
eines der herunterhängenden Kabel den linken<br />
Arm seines leblosen Körpers kurz berührte, der<br />
aus der aufgesprungenen Cockpit-Tür hervorschaute.<br />
Dann hörte er ein kurzes, heftig zischen-<br />
230
des Geräusch, und im nächsten Augenblick zog<br />
ihn eine unsichtbare Kraft ruckartig nach unten.<br />
Gregor brauchte etliche Minuten, bis er sich bewegen<br />
konnte. Sein Herz pochte wie ein Dampfhammer,<br />
und kalter Schweiß lief ihm, kleine<br />
Bächlein formend, an seinem zitternden Körper<br />
hinunter. Er saß hilflos eingepfercht im zusammengestürzten<br />
Sitz und konnte sich nicht von<br />
der Stelle rühren.<br />
Immer noch heftig keuchend sah er sich um.<br />
Neben ihm lag Jeff, reglos und aus beiden Ohren<br />
blutend. Es war also kein Traum gewesen.<br />
Er war tatsächlich abgestürzt. Aber was sollte<br />
das mit diesen beiden Nackten und diesem unglaublichen<br />
Licht? Du warst im Delirium, das<br />
ist normal, schien eine Stimme in Gregor drin<br />
zu sagen. Und Gregor war froh darüber, denn<br />
jetzt konnte er ein wenig kühlen Verstand dringend<br />
brauchen. Doch das Hochspannungskabel,<br />
das immer noch knisternd einen Meter vom<br />
231
Hubschrauber entfernt lag, machte ihn wieder<br />
zweifeln.<br />
Wenn das wahr wäre, dachte Gregor, daß wir<br />
nach dem Tod einfach in eine andere Dimension<br />
übergehen, warum machen wir dann immer ein<br />
solches Geschrei um alles, was mit dem Sterben<br />
zu tun hat?<br />
Ein heftiger Windstoß riß Gregor aus seinen<br />
Gedanken. Jetzt erst fiel ihm auf, daß die Sonne<br />
bereits untergegangen war. Die Nacht brach mit<br />
eisiger Kälte herein, und er mußte sich beeilen,<br />
wenn er nicht jämmerlich erfrieren wollte.<br />
Vorsichtig begann er, seinen Oberkörper im<br />
eingestürzten Sitz hin und her zu wippen. Jede<br />
Bewegung fühlte sich an, als ob ihm jemand einen<br />
Dolch mitten durch die Brust stoßen würde.<br />
Rippenbruch, dachte Gregor, wenn das das einzige<br />
ist, was ich von diesem Sturz abbekommen<br />
habe, dann glaube ich an Wunder. Jetzt hatte<br />
sich sein Oberkörper so weit aus seinem Gefängnis<br />
befreit, daß er sich mit beiden Händen am<br />
Rand des Sockels abstützen konnte. Die Arme<br />
232
schienen in Ordnung zu sein, so daß er sich, zwar<br />
unter lautem Stöhnen und mit viel Anstrengung,<br />
emporhieven konnte. Gregor tastete sich vorsichtig<br />
ab. Außer von einer Platzwunde an der Stirn,<br />
die wahrscheinlich vom Steuerknüppel stammte,<br />
konnte er nirgendwo Blut feststellen. Er schob<br />
die Cockpit-Tür beiseite und stieg langsam und<br />
vorsichtig aus. Seine Beine schmerzten, und er<br />
stand auf ziemlich wackligen Knien da, aber<br />
wenigstens konnte er gehen. Er schleppte sich<br />
um die zertrümmerte Kabine herum auf die andere<br />
Seite, um Jeff zu untersuchen. Er griff an<br />
Jeffs Handgelenk. Kein Puls. Er legte sein Ohr<br />
an Jeffs Herz. Nichts zu hören. Was er in seinem<br />
seltsamen Traum wahrgenommen hatte,<br />
traf offenbar zu. Genick- oder Schädelbruch. Jeff<br />
war auch nicht so tief eingesunken. Wahrscheinlich<br />
hatte er verschiedene harte Gegenstände<br />
unter seinem Sitz aufbewahrt, so daß dieser den<br />
Aufprall nicht wie vorgesehen hatte abfedern<br />
können.<br />
Eine Weile hielt Gregor Jeffs leblose Hand in der<br />
233
seinen. Er wünschte diesem Menschen Liebe und<br />
Harmonie in der neuen Dimension, die er nun<br />
endlich entdecken durfte. Eine unsägliche Wärme<br />
strömte durch seinen Körper, wenn er daran<br />
dachte, was hier vor ein paar Minuten geschehen<br />
war.<br />
Wenn man diesen Jeff kurz vor seinem Tod und<br />
dann kurz danach auf eine Waage gelegt hätte,<br />
dann wäre er beide Male gleich schwer gewesen.<br />
Materiell hatte sich also nichts verändert. Und<br />
doch hatte dieses leblose Etwas hier vor ihm<br />
nichts mehr mit Jeff zu tun. Wo war Jeff? Was<br />
war es denn, was einen Menschen zum Menschen<br />
machte? Mein Gott, wie einfach und einleuchtend<br />
doch dies alles war! Wie hatte er eigentlich<br />
je auf den Gedanken kommen können, daß der<br />
Mensch sterblich sei und daß nach dem Tod das<br />
Nichts kommen würde? Was hatte er sich bloß<br />
dabei gedacht, wenn er sich als »Realist« bezeichnet<br />
hatte, der nur glaubte, was er mit seinen<br />
eigenen Augen sah? Das war ungefähr so<br />
kurzsichtig und stur wie jene Menschen im Mit-<br />
234
telalter, die ihren Kopf darauf verwettet hätten,<br />
daß die Erde eine Scheibe sei, und daß sich die<br />
Sonne um die Erde drehe.<br />
Die Welt ist doch wirklich ein Narrenhaus, dachte<br />
Gregor, und war fast ein wenig neidisch auf<br />
Jeff, der dies alles jetzt hinter sich lassen durfte.<br />
Vorsichtig, als ob er ihn nicht aufwecken wollte,<br />
ließ er Jeffs Hand zurücksinken. Er mußte<br />
sich beeilen, wenn er das Licht der Dämmerung<br />
noch eine Weile ausnützen wollte. Vor ihm lag<br />
ein schier endloses, verschneites Tal, keine Häuser<br />
weit und breit, und er hatte nur seinen blauen<br />
Winter-Pullover an, den ihm Becky zu Weihnachten<br />
gestrickt hatte, keine Windjacke und gar<br />
nichts. Wie hätte er auch ahnen sollen, daß aus<br />
dem harmlosen Rendezvous am Lake Hood eine<br />
solch abenteuerliche Reise werden sollte. Er fragte<br />
sich, ob er sich wohl Jeffs Fliegerjacke ausleihen<br />
dürfte. Im nächsten Augenblick wurde ihm<br />
die Ironie dieser Frage bewußt, und er mußte<br />
ein wenig lachen, was er allerdings angesichts<br />
seiner gebrochenen Rippen sofort wieder aufgab.<br />
235
Doch halt, fiel es ihm plötzlich ein, der Hubschrauber<br />
hatte doch ein Funkgerät! Er könnte<br />
doch einfach Frequenz um Frequenz ausprobieren.<br />
Irgendwer würde auf seine SOS-Rufe sicher<br />
reagieren.<br />
Gregor pferchte sich zwischen den Sockel des<br />
Sitzes und das umgekippte Instrumenten-Panel<br />
und probierte systematisch alle Knöpfe aus, die<br />
als Schalter für das Funkgerät in Frage kamen.<br />
Ohne Erfolg. Das Panel blieb dunkel.<br />
Voller Hoffnung blickte er auf den halbgeknickten<br />
Hochspannungsmast. Vielleicht würde<br />
die Elektrizitätsgesellschaft merken, daß der<br />
Strom unterbrochen war, und eine Patrouille losschicken.<br />
Aber vielleicht würden die den Schaden<br />
auch erst bei Tagesanbruch beheben wollen,<br />
und dann wäre er längst der Kälte zum Opfer<br />
gefallen.<br />
Es gab also nichts anderes, als endlich loszumarschieren.<br />
Behutsam zog er Jeff die Lederjacke<br />
aus, wischte das geronnene Blut an dessen<br />
Hosen ab und suchte in den Gepäckfächern<br />
236
nach Utensilien, die ihm für seine Wanderung<br />
nützlich sein konnten. In einem Seitenfach fand<br />
er eine funktionierende Taschenlampe und ein<br />
Taschenmesser.<br />
Gregor mußte an Becky denken. Was sie jetzt<br />
wohl gerade tat? Er hatte die ganze Woche nichts<br />
von ihr gehört, da sie mit ein paar Kolleginnen<br />
und Kollegen ihres Schlittschuh-Clubs in der<br />
Toskana unterwegs war. Er versuchte, sich Becky<br />
beim Geschlechtsverkehr vorzustellen, vielleicht<br />
würde ihn das ein wenig aufwärmen. Doch seltsamerweise<br />
wurden die Bilder immer wieder<br />
überlagert von seiner Frau Sonja. Mit ihr war<br />
es immer ein Erlebnis gewesen, dachte Gregor,<br />
während es mit Becky oft ans Langweilige grenzte.<br />
Dieses junge Ding konnte den Sex einfach<br />
noch zu wenig genießen. Wahrscheinlich lag es<br />
daran, daß sie sich selbst noch zu wenig kannte<br />
und vielleicht auch nicht sonderlich mochte.<br />
Immer wieder kamen da irgendwelche verkrusteten<br />
Moralregeln zum Vorschein, die ihren<br />
Ursprung wohl bei Beckys puritanischen Eltern<br />
237
hatten. Becky war eine typische Vertreterin der<br />
jungen Generation, die eines Tages in die Welt<br />
hinaustritt und zum Universum sagt »Okay, zeig’<br />
mal, was du mir bieten kannst«, und die dann<br />
zutiefst erstaunt sind, wenn nichts kommt. Und<br />
das Schlimme war: Diese Haltung würde sich<br />
ungefiltert in die nächste Generation fortpflanzen,<br />
wenn er ihre mehrfach geäußerten<br />
Andeutungen ernstnehmen, sie heiraten und ihr<br />
ein Kind machen würde.<br />
Das erneute Ächzen des Hochspannungsmastes,<br />
der offenbar noch immer nicht ganz am Boden<br />
lag, erinnerte Gregor daran, daß jetzt nicht der<br />
richtige Zeitpunkt für sexuelle Phantasien war.<br />
Unter dem, was vom linken Sitz übriggeblieben<br />
war, fand sich eine Schutzdecke für den Hubschrauber,<br />
die notfalls als eine Art Zelt herhalten<br />
konnte. Nachdem er mit Hilfe des Taschenmessers<br />
den Kompaß abgeschraubt und eingesteckt<br />
hatte, lief er schleppenden Schrittes los<br />
in Richtung Westen. Das schien ihm die einzige<br />
Richtung zu sein, die ein Fünkchen Hoffnung<br />
238
zuließ. Etwa hundert Meilen nördlich von Anchorage<br />
befand sich nämlich, so erinnerte sich Gregor,<br />
der Denali-Nationalpark, und infolgedessen<br />
mußte hier im Westen irgendwo eine Straße sein.<br />
Die ersten zwei Stunden waren ziemlich rasch<br />
vergangen. Die Hoffnung hatte Gregor Kraft verliehen,<br />
obwohl er bei jedem Schritt mit dem stechenden<br />
Schmerz in seiner rechten Lunge zu<br />
kämpfen hatte. Mittlerweile war es sieben Uhr<br />
abends und bereits vollständig dunkel. Einmal<br />
hatte Gregor ganz weit oben die Navigationslichter<br />
eines Flugzeugs ausmachen können und<br />
versucht, mit seiner Taschenlampe Zeichen zu<br />
geben. Doch vermutlich hatte das nichts genützt.<br />
Weit und breit war keine Hilfe in Sicht.<br />
Es war eine klare Nacht, und das breite, verschneite<br />
Tal reflektierte das Mondlicht so stark,<br />
daß Gregor die Batterien seiner Taschenlampe<br />
die meiste Zeit schonen konnte. Gregor fror und<br />
schwitzte gleichzeitig. Sein anfängliches Hungerund<br />
Durstgefühl war allmählich einer allgemei-<br />
239
nen Erschöpfung gewichen, so daß er oft nicht<br />
mehr wußte, wie ihm eigentlich zumute war. Den<br />
schlimmsten Durst konnte er stillen, wenn er<br />
etwas Schnee aß. Doch die Erleichterung war<br />
immer nur von kurzer Dauer. Jedesmal, wenn<br />
die kalten Schneekristalle an seinen von der<br />
Anstrengung heißen Lippen schmolzen und das<br />
kalte Wasser sich seinen Weg in den ausgehungerten<br />
Magen bahnte, zuckte etwas krampfartig<br />
in ihm zusammen.<br />
Das Tal sah immer noch genau gleich aus wie<br />
am Anfang, als er losmarschiert war. Es schien<br />
endlos zu sein. Gregor wunderte sich, woher er<br />
eigentlich die Zuversicht nahm, daß er diese<br />
Geschichte heil überstehen würde. Aber etwas<br />
in ihm drin war überzeugt, daß es nicht seine<br />
Bestimmung sein konnte, einen Hubschrauber-<br />
Absturz zu überleben, um dann in diesem elenden,<br />
kalten und endlosen Tal jämmerlich zu erfrieren.<br />
Tapfer setzte er einen Fuß vor den anderen. Der<br />
Schnee war nach Gregors Schätzung mindestens<br />
240
einen halben Meter tief, aber die Sonne hatte<br />
tagsüber die Oberfläche geschmolzen, und durch<br />
die Kälte der Nacht hatte sich mittlerweile eine<br />
dicke Eisschicht gebildet, so daß Gregor, wenn<br />
er vorsichtig voranschritt, nur selten einsank.<br />
Wenn er allerdings einsank, dann jeweils so tief<br />
und so heftig, daß ihm seine gebrochenen Rippen<br />
beinahe den Atem abstellten und er sich<br />
zusammennehmen mußte, um nicht im Tiefschnee<br />
liegen zu bleiben und vor Erschöpfung<br />
einzuschlafen.<br />
Nach vier schmerzhaften und ohnmächtigen<br />
Stunden öffnete sich das Tal endlich. Es ging<br />
zwar immer noch leicht abwärts, aber offensichtlich<br />
hatte Gregor eine Art Hochebene erreicht.<br />
Mit etwas Schnee rieb er sich seine müden Augenlider<br />
aus, an denen sich kleine Eisklümpchen<br />
gebildet hatten. Inständig hoffte er, in der Ferne<br />
irgendwo ein Lichtlein auszumachen. Ein<br />
Fünkchen Hoffnung, das war alles, was er verlangte.<br />
Jetzt begriff er, warum so viele Menschen in der<br />
241
Not das Beten lernten. Auch er wäre versucht<br />
gewesen, irgend ein höheres Wesen, eine Art älteren<br />
Bruder oder von ihm aus auch eine Vaterfigur<br />
um Hilfe anzuflehen, da er weder aus noch<br />
ein wußte. Doch der seltsame Traum kurz nach<br />
seinem Absturz hatte ihm klargemacht, daß es<br />
so etwas nicht gab. Es gab das Licht, ja, es gab<br />
das Zuhause, es gab sogar die beiden Schutzengel,<br />
die ihn mit ihrer schamlosen Nacktheit irritiert<br />
hatten, aber all dies war nicht außen, sondern<br />
innen. In sich drin hatte er diese göttliche<br />
Kraft zu suchen; er war ein Teil dieser Kraft.<br />
»Gott in uns«, das hatte es doch schon in der<br />
Sonntagsschule geheißen, aber weder er noch<br />
seine Sonntagsschul-Lehrerein schienen diese<br />
Aussage je begriffen zu haben.<br />
Gregor wußte nicht mehr, wie lange er sich so<br />
dahingeschleppt hatte. Seine vom Eis verklebten<br />
Augen konnten die Zeiger auf seiner Armbanduhr<br />
nicht mehr erkennen, seine gebrochenen<br />
Rippen schienen sich bei jedem Schritt tiefer<br />
in seine Lungen zu bohren, und seine Zehen<br />
242
waren von der Kälte längst gefühllos geworden.<br />
Zwischendurch torkelte er halb bewußtlos durch<br />
die Gegend und wachte erst wieder auf, wenn er<br />
mit seinem Gesicht auf der Eisschicht aufgeschlagen<br />
war. Die Wunde an seiner Stirn war<br />
wieder aufgeplatzt, und sein Blut malte dicke,<br />
rote Punkte in den Schnee.<br />
Nach einer weiteren halben Stunde, die Gregor<br />
wie eine Ewigkeit vorkam, war er am Ende. Er<br />
war wohl zum hundertsten Male hingefallen, und<br />
er konnte noch immer weit und breit kein Licht<br />
und keinen Hinweis auf eine Straße erblicken.<br />
Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer<br />
Schneemulde, die sich mit seinem Blut gefüllt<br />
hatte, und sein letzter Satz klang mehr wie ein<br />
ersticktes Blubbern.<br />
»So nehmt mich halt«, konnte er gerade noch<br />
hervorbringen, dann rollte eine große, schwarze<br />
Wand über ihn hinweg, die alles unter sich begrub.<br />
243
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Na, wie fanden Sie meine Schilderung? Ganz<br />
schön spannend, was?<br />
Wie bitte? Ob ich ein Problem mit dem Sex habe?<br />
Nein wieso? Haben Sie eines?<br />
Weichen Sie mir jetzt nicht aus! Ich möchte mit<br />
Ihnen über Gregors »Nahtodes-Erlebnis« sprechen.<br />
Das, was Sie vielleicht als den Traum eines<br />
Bewußtlosen bezeichnen möchten, war in<br />
Wirklichkeit ein Vorgeschmack auf das Sterben.<br />
Wie Gregor haben Tausende von Menschen ein<br />
sogenanntes »Nahtodes-Erlebnis« hinter sich,<br />
das heißt, sie waren schon einmal für eine kurze<br />
Zeit klinisch tot. Und fast alle haben die gleichen<br />
Erlebnisse geschildert. Sie sahen sich von<br />
oben auf der Unfallstelle liegen, sie konnten beschreiben,<br />
wie die Ärzte aussahen, was sie sprachen,<br />
ja sogar, was sie dachten!<br />
Und das Ganze funktioniert auch bei Blinden.<br />
Es gibt, vor allem in Amerika, ausgedehnte Studien<br />
über Nahtodes-Erlebnisse von Blinden.<br />
244
Auch sie können in solchen <strong>Moment</strong>en plötzlich<br />
alles sehen.<br />
Kennen Sie übrigens die Sterbeforscherin Elisabeth<br />
Kübler-Ross? Nachdem sie Hunderte von<br />
sterbenden Kindern in den Tod begleitet hatte,<br />
stand für sie eindeutig fest: Es gibt ein Leben<br />
nach dem Tod! Das ist übrigens etwas, was jeder<br />
Sterbebegleiter weiß, nicht nur die Kübler-Ross.<br />
Wie wäre es sonst beispielsweise zu erklären, daß<br />
jedes Kind nach einem Nahtodes-Erlebnis darüber<br />
berichtet, wie es von einem geliebten Menschen<br />
abgeholt wurde, aber niemals von einem,<br />
der noch lebt?<br />
Ein paar Fragen an Sie:<br />
1. Haben Sie Angst vor dem Tod?<br />
245
2. Wenn ja, weshalb? Was genau macht Ihnen<br />
Angst?<br />
3. Möchten Sie ewig auf dieser Erde leben?<br />
4. Wenn nein, wie lange denn genau?<br />
5. Und warum ausgerechnet so lange?<br />
246
6. Stört Sie der Gedanke, daß Sie eventuell eine<br />
Seele sind, die immer wieder auf diese Erde<br />
(oder sonst einen Planeten) zurückkehrt, bis<br />
Sie alles gelernt haben, was es hier zu lernen<br />
gibt?<br />
7. Wenn ja, was genau stört Sie daran?<br />
247
8. Sind Sie sicher, daß Ihr Weltbild wirklich von<br />
Ihnen selbst stammt und nicht von Ihren<br />
Eltern, Ihren Lehrern oder den Medien?<br />
9. Wäre nicht manches besser zu erklären, wenn<br />
Sie an die Reinkarnations-Theorie glauben<br />
könnten?<br />
248
Bevor wir weiterlesen, möchte ich Ihnen noch<br />
eine kleine Geschichte erzählen:<br />
An meinen Seminaren mache ich mit den Teilnehmern<br />
zwischendurch immer wieder kleine<br />
geistige Konzentrations-Übungen. Vor einiger<br />
Zeit kam ich einmal auf die Idee, man könnte<br />
sie ja geistig in ihre Kindheit zurückführen. Das<br />
schien ganz gut zu klappen. Die Teilnehmer sahen<br />
Dinge, die sie längst vergessen geglaubt<br />
hatten. Der sechzehnte Geburtstag wurde in allen<br />
Einzelheiten wahrgenommen, der erste Tag<br />
im Kindergarten und vieles mehr.<br />
Durch den Erfolg ermutigt, begann ich die Menschen<br />
weiter zurück zu führen. Und siehe da:<br />
Selbst von ihrem zweiten Geburtstag schienen<br />
die meisten Menschen eine genaue Erinnerung<br />
zu haben. Sie beschrieben ihre damalige Wohnung<br />
im Detail, und einige haben diese Details<br />
später mit Hilfe ihrer Eltern überprüft. Die Resultate<br />
waren verblüffend. In einem Experiment<br />
mit einer Frau wagte ich mich dann schließlich<br />
noch weiter zurück. Sie schilderte mir ihre Ge-<br />
249
urt, und als ich sie neun Monate vor die Geburt<br />
zurückführte, beschrieb sie mir den Zeugungsakt,<br />
zusammen mit einem Kommentar,<br />
warum sie sich ausgerechnet diese Eltern für<br />
dieses Leben ausgesucht hatte. »Was hindert uns<br />
daran, noch weiter zurückzugehen«, dachte ich.<br />
Die Frau nannte mir eine bestimmte Jahreszahl<br />
zu Anfang dieses Jahrhunderts, und gleich darauf<br />
schilderte sie einen Bauernhof irgendwo in<br />
der Schweiz. Mit verschiedenen Techniken, auf<br />
die ich hier nicht näher eingehen will, loteten<br />
wir dieses »andere Leben« aus, und es kam die<br />
folgende Geschichte zum Vorschein: Die Frau sah<br />
sich als einen Jungen, der mit fünf Jahren an<br />
einer Lungenentzündung starb. Das Letzte, was<br />
dieser Junge noch wahrgenommen hatte, war ein<br />
kleines Mädchen, das staunend im Türrahmen<br />
gestanden hatte.<br />
»Dieses Mädchen fasziniert mich. Ich möchte zu<br />
ihm zurück«, sagte sie.<br />
»Kennst du es?« fragte ich.<br />
»Es sieht aus, wie meine jetzige Mutter«, war<br />
250
die Antwort. Wir fragten dann ihre Mutter, ob<br />
sie tatsächlich einen kleinen Bruder gehabt habe,<br />
der mit fünf Jahren gestorben sei. »Ja«, sagte<br />
die Mutter, »an einer Lungenentzündung.«<br />
Auch die Schilderung des Friedhofes haben wir<br />
später überprüft. Es war alles sehr verblüffend!<br />
Und was für mich das Schönste am Ganzen ist:<br />
Die Frau hatte ihrer Mutter früher große Vorwürfe<br />
gemacht, weil sie sich zeitlebens zu wenig<br />
geliebt gefühlt hatte. Nach diesem Erlebnis verzieh<br />
sie ihrer Mutter alles, und die beiden sind<br />
heute ein Herz und eine Seele.<br />
Ich habe mittlerweile Dutzende solcher Geschichten<br />
erlebt, so daß es für mich heute keinen<br />
Zweifel mehr daran gibt: Wir sind unsterbliche<br />
Seelen, die so lange wiederkommen, bis wir<br />
alles gelernt haben, was es auf der physischen<br />
Ebene zu lernen gibt.<br />
Wäre das nicht schön, wenn wir alle daran glauben<br />
könnten? Oder noch besser: Wenn wir alle<br />
davon überzeugt wären? Dann bräuchten wir<br />
keine Angst vor dem Tod zu haben und könnten<br />
251
uns endlich hundertprozentig unserem Leben<br />
widmen! Dieses Leben wäre dann so spannend,<br />
daß wir keine erfundenen Gregor-Geschichten<br />
mehr benötigten, um die Zeit totzuschlagen.<br />
Aber meinetwegen, lesen Sie noch ein wenig<br />
weiter…<br />
252
16<br />
»Was soll das heißen, er ist tot?« Hafenkampf<br />
schrie so laut, daß Schulze den Hörer vom Ohr<br />
nehmen mußte.<br />
»Das wollten Sie doch, Führer!« rechtfertigte sich<br />
Schulze mit leicht weinerlicher Stimme.<br />
»Schulze, Sie sind das größte Arschloch, das mir<br />
je untergekommen ist!« Hafenkamp war wirklich<br />
stocksauer, und er hätte Schulze auf der Stelle<br />
gefeuert, wenn da nicht diese kleinen Geheimnisse<br />
gewesen wären, die Schulze über ihn wußte,<br />
und deren Beweise dieser – offenbar in einem<br />
seltenen Anflug von gesundem Menschenverstand<br />
– bei einem Anwalt deponiert hatte.<br />
»Ich habe gesagt, ich will das Gerät haben und<br />
nicht einen toten Kaspach!« Hafenkamp versuchte,<br />
sich zu beherrschen. »Oder wenn das Gerät<br />
nirgends zu finden ist, dann wenigstens die Pläne,<br />
herrgottnochmal!«<br />
»Was soll ich jetzt tun?« fragte Schulze voller Enttäuschung<br />
darüber, daß er es seinem Meister<br />
schon wieder nicht hatte recht machen können.<br />
253
»Was soll ich jetzt tun, was soll ich jetzt tun«,<br />
äffte ihn Hafenkamp nach. »Lassen Sie sich was<br />
einfallen, Schulze. Weshalb habe ich Sie wohl zu<br />
meinem Ersten Mann gemacht?«<br />
Schulze verkniff sich eine Bemerkung zu den<br />
Geheimnissen, die er über Hafenkampf wußte<br />
und versuchte, seinen Kopf anzustrengen, der<br />
längst ein paar Stunden Schlaf nötig hatte.<br />
»Soll ich mich an seine Frau ’ranmachen?« fragte<br />
er etwas dümmlich.<br />
»Das wäre immerhin ein Anfang!« erwiderte<br />
Hafenkampf ungeduldig.<br />
»Und wieviel ist diesmal erlaubt?« erkundigte<br />
sich Schulze, der sich vorgenommen hatte, in<br />
Zukunft lieber einmal zuviel nach Hafenkamps<br />
Absichten zu fragen.<br />
»Alles!« antwortete dieser kurz und bündig. »Nur<br />
sterben darf sie nicht.«<br />
»Oh, das ist ein breites Spektrum«, freute sich<br />
Schulze mit einem hämischen Lächeln auf den<br />
Lippen, »zwischen Leben und Tod gibt es ein paar<br />
amüsante Zustände, die Ihnen ja nicht ganz<br />
254
unbekannt sind, Führer…«<br />
Hafenkamp tat so, als hätte er Schulzes Anspielung<br />
überhört und hängte nach einem knappen<br />
Gruß ein.<br />
255
17<br />
Der Zug der Alaska Railroad hatte seinen Heimat-Bahnhof<br />
Anchorage vor knapp sechs Stunden<br />
verlassen und befand sich auf dem Weg zum<br />
Denali-Nationalpark. Die hintersten beiden<br />
Wagen, sogenannte »Dome Cars« mit Panorama-<br />
Fenstern im Obergeschoß, einem separaten Restaurant-Abteil<br />
sowie einem Souvenirladen und<br />
einer Aussichtsplattform im Freien, waren etwa<br />
zu drei Vierteln mit vorwiegend amerikanischen<br />
Touristen gefüllt.<br />
Eine Hosteß namens Gretchen, ein Name, den<br />
wahrscheinlich ein Goethe-Fanatiker verbrochen<br />
hatte und der sich im Amerikanischen eher wie<br />
»Grättschen« anhörte, sorgte dafür, daß ihre<br />
Schäfchen auf dieser Reise auch etwas lernten<br />
und vor allem bei Stimmung blieben.<br />
Gerade erklärte sie mit ihrer von einer Erkältung<br />
und vom vielen Reden leicht heiseren Stimme,<br />
die einige ältere Herren besonders sexy fanden,<br />
was der Unterschied sei zwischen einem<br />
»Moose«, dem amerikanischen Wort für Elch, und<br />
256
einem »Elk«, der nur etwa halb so groß sei wie<br />
ein »Moose« und mehr so eine Art Hirsch.<br />
Ohne Gretchen zu kennen, hätte ein Blinder<br />
gemerkt, daß sie eine typische High-School-Absolventin<br />
war, die hier nur einen Urlaubsjob ausübte.<br />
Sie hatte so diese typische Art, die Vokale<br />
ganz offen auszusprechen und dabei ihr hübsches<br />
Köpfchen in den Nacken zu werfen, wie es auf<br />
der ganzen Welt nur amerikanische Studentinnen<br />
zustande bringen.<br />
Die Stimmung war heiter bis ausgelassen, wie<br />
man es fast nur in amerikanischen Zügen antrifft.<br />
Die beiden schmalen Wendeltreppen, die<br />
nach unten zur Aussichtsplattform und zum Restaurant<br />
führten, wurden rege benützt. Und jedesmal,<br />
wenn ein Passagier die falsche Treppe<br />
erwischte, wurde er von Gretchen daran erinnert,<br />
daß die linke Treppe für abwärts-, die rechte<br />
für aufwärtsschreitende Passagiere bestimmt<br />
sei. Als Strafe mußte der Fehlbare dann allen<br />
ein Liedchen vorsingen.<br />
Eines dieser Lieder wurde vom lauten Tuten der<br />
257
Lokomotive unterbrochen, was nicht weiter<br />
aufgefallen wäre, wenn sich das Tuten nicht zu<br />
einem nervösen und endlosen Gequieke entwikkelt<br />
hätte. Die Passagiere drückten ihre Nasen<br />
an die kalten Fensterscheiben, um zu sehen, was<br />
sich da draußen tat. Im nächsten Augenblick ging<br />
ein gewaltiger Ruck durch den ganzen Zug, der<br />
Gretchen und einen Barjungen heftig nach vorne<br />
schleuderte, wo sie zwischen zwei Abteilen<br />
liegenblieben.<br />
Der Zug stand still. Offenbar hatte jemand die<br />
Notbremse gezogen.<br />
Gretchen dachte als erstes an einen Bären oder<br />
einen Elch, der sich vielleicht auf den Schienen<br />
verirrt hatte. Deshalb gab sie dem Drängen der<br />
Passagiere vorerst nicht nach, die unbedingt die<br />
Türe öffnen wollten, um nachzuschauen, was los<br />
war.<br />
»Lassen Sie mich zuerst mit dem Lokführer sprechen«,<br />
sagte sie beschwichtigend über die Lautsprecher-Anlage<br />
und nahm ein Funkgerät aus<br />
einer Wandhalterung.<br />
258
»Engine, this is Princess«, sprach sie ins Mikrofon,<br />
und man sah ihr an, daß sie diesen wichtigen<br />
<strong>Moment</strong> so richtig auskosten wollte, »what’s<br />
up?«<br />
»Wir haben fast einen Menschen überfahren«,<br />
hörten die erstaunten Passagiere eine krächzende<br />
Stimme sagen.<br />
Ein älterer Mann in typisch amerikanischer<br />
Urlaubshose mit großen Karos und ohne Bund,<br />
der schon vorher durch seine unaufhörlichen<br />
Sprüche aufgefallen war, nutzte die Gelegenheit,<br />
sich endgültig als Clown zu profilieren: »Na, das<br />
sind mir vielleicht Selbstmörder heutzutage.<br />
Fahren stundenlang in die Wildnis hinaus, um<br />
sich umzubringen.«<br />
Gretchen versuchte, höflich zu lächeln, was ihr<br />
nicht sehr gut gelang, da sie sich beim Sturz von<br />
vorhin die Oberlippe aufgerissen hatte.<br />
»Ich komme zu euch«, rief sie aufgeregt ins Funkgerät,<br />
»muß nur noch rasch die Passagiere informieren.«<br />
Nachdem sie über die Lautsprecher-Anlage zur<br />
259
Ruhe gemahnt hatte, stieg sie ins Untergeschoß,<br />
wo ihr einer der Zugführer bereits die Türe geöffnet<br />
hatte. Gretchen war die einzige an Bord,<br />
die eine Ausbildung in Erster Hilfe hatte, und<br />
jetzt war sie froh darum, denn sie hatte sich<br />
schon immer gewünscht, einmal in eine wichtige<br />
Sache verwickelt zu sein. Das war mal etwas<br />
anderes, als immer nur ein paar vertrottelten<br />
Alten den Unterschied zwischen einem Elch und<br />
einem Bären klarzumachen.<br />
»Mein Gott, du hast ihn ja doch erwischt«, rief<br />
sie entsetzt aus, als sie den Mann am Boden liegen<br />
sah, um dessen leblosen Kopf sich der Schnee<br />
tiefrot gefärbt hatte.<br />
»Nein«, wehrte sich der Lokführer heftig, »ich<br />
schwöre dir, der lag bereits so da. Ich habe nur<br />
gehupt, weil er so nahe bei den Schienen lag und<br />
ich nicht sicher war, ob ich ihn streifen würde.<br />
Aber ich habe ihn nicht berührt, ehrlich!«<br />
»Jaja, schon gut«, beruhigte ihn Gretchen, »sag’<br />
bitte jemandem von der Küche, ich brauche heißes<br />
Wasser und ein paar Tücher.«<br />
260
Mittlerweile hatte sie, so wie sie es gelernt hatte,<br />
geprüft, ob der Verletzte ihr antwortete, was<br />
natürlich nicht der Fall war. Dann hielt sie ihre<br />
Wange an seine Nase, um festzustellen, ob er<br />
noch atmete. Gretchen konnte einen ganz leichten<br />
Luftzug feststellen. Als nächstes, daran erinnerte<br />
sie sich noch genau, da sie seinerzeit beim<br />
Erste-Hilfe-Kurs ohnmächtig geworden war, galt<br />
es festzustellen, wo der Mann überall blutete.<br />
Außer einer Platzwunde an der Stirn schien keine<br />
äußere Verletzung vorzuliegen.<br />
»Einen Schock hat er jedenfalls nicht«, sagte sie<br />
fachmännisch zu den Leuten aus der Küche, die<br />
mit dem heißen Wasser anrückten, »sonst wäre<br />
sein Puls schnell und schwach; seiner ist normal.<br />
Und den Schneespuren nach ist er zu Fuß<br />
hierher gekommen. Also kann er auch keine Verletzung<br />
an den Beinen haben. Ich schlage vor,<br />
daß wir ihn ein wenig waschen und dann hinein<br />
in die Wärme tragen. Im hintersten Wagen ist<br />
ein freies Abteil; ich kann ihm dort eine Art Bett<br />
herrichten.«<br />
261
»Sollten wir nicht einen Rettungshubschrauber<br />
kommen lassen«, meinte der Lokführer besorgt.<br />
Beim Wort »Hubschrauber« schien ein leichtes<br />
Zucken durch den Körper des Verletzten zu gehen.<br />
»Hat er sich nicht gerade bewegt?« fragte einer<br />
der Küchengehilfen.<br />
»Mag schon sein«, antwortete Gretchen, »ich<br />
glaube nicht, daß wir um diese Zeit noch einen<br />
Hubschrauber bekommen. Außerdem, in zwei<br />
Stunden sind wir im Denali, die haben einen<br />
Arzt, und der soll entscheiden, wie’s weitergeht.«<br />
»Okay, ich sag’ denen schon mal Bescheid, sie<br />
sollen eine Ambulanz zum Bahnhof schicken«,<br />
sagte der Lokführer und begab sich in die Führerkabine.<br />
Gretchen wusch dem Verletzten so gut es ging<br />
das vertrocknete Blut aus dem Gesicht und wies<br />
dann die beiden Küchengehilfen an, ihn vorsichtig<br />
in den hintersten Wagen zu tragen.<br />
Ein Raunen ging durch die Passagiere, als die<br />
beiden Männer das jämmerliche Häufchen Elend<br />
262
ins Innere des Wagens hievten.<br />
»Mein Gott, ist er tot?« fragte eine Frau, wahrscheinlich<br />
weniger besorgt um den fremden<br />
Mann, als vielmehr um sich selbst, weil sie in<br />
ihrem Aberglauben annahm, daß Tote Unglück<br />
brächten oder daß der Tod womöglich sogar ansteckend<br />
sei.<br />
Gretchen beruhigte die Passagiere: »Ladies and<br />
Gentlemen, wir werden unsere Reise sogleich<br />
fortsetzen. Der Mann lebt und dürfte vermutlich<br />
bald zu sich kommen. Ich bitte Sie, die Unannehmlichkeiten<br />
zu entschuldigen, da wir um<br />
diese Zeit vermutlich keinen Helikopter mehr<br />
bekommen. In der Denali-Lodge wird einer unserer<br />
Agenten Ihnen als kleinen Schadenersatz<br />
einen Essens-Gutschein überreichen.«<br />
»Gibt es auch Gratis-Bier?« rief der Witzbold aus<br />
dem hintersten Abteil, was hingegen niemand<br />
komisch fand.<br />
Gretchen hieß die beiden Küchengehilfen den<br />
Tisch im vordersten Abteil mit ein paar Handgriffen<br />
entfernen, dann setzte sich der Zug be-<br />
263
eits wieder in Bewegung.<br />
Mit ein paar Wolldecken und Kissen bereitete<br />
sie auf dem Boden des Abteils, dort, wo vorher<br />
der Tisch gestanden hatte, ein Lager für den<br />
Verletzten, dann rief sie dem Barjungen zu, daß<br />
er ihr einen trinkwarmen Punsch besorgen solle<br />
und begann, den unbekannten Mann leicht auf<br />
die Wangen zu tätscheln.<br />
»Hallo Sie, hören Sie mich?« flüsterte sie ihm ins<br />
Ohr. »Wer sind Sie? Was ist geschehen? Antworten<br />
Sie mir!«<br />
Inzwischen war der Barjunge mit dem Punsch<br />
gekommen, und Gretchen hielt dem Mann die<br />
Tasse vorsichtig an die Lippen.<br />
»Hier, trinken Sie, das wird Ihnen guttun«, ermutigte<br />
sie ihn, und während sie seinen Kopf<br />
mit dem rechten Arm liebevoll stützte, streifte<br />
ihre mädchenhafte und doch volle Brust sein linkes<br />
Ohr, immer wenn sie ein- oder ausatmete.<br />
»Er bewegt sich«, rief einer der Passagiere, »der<br />
Mann bewegt sich!«<br />
Und tatsächlich, der Unbekannte begann, unver-<br />
264
ständliche Worte stammelnd, seinen Kopf von<br />
einer Seite auf die andere zu wälzen, und schlug<br />
schließlich langsam seine Augen auf.<br />
Ein paar Sekunden lang sah er staunend in<br />
Gretchens zauberhafte, tiefbraune Augen, dann<br />
fragte er zaghaft: »Wo bin ich? Wer sind Sie?«<br />
»Sie sind in der Alaska Railroad zwischen Anchorage<br />
und Fairbanks«, sagte Gretchen wie zu einem<br />
kleinen Kind. »Und wer sind Sie? Was ist<br />
geschehen? Kommen Sie, trinken Sie das erst<br />
einmal aus.«<br />
Gretchen reichte ihm den warmen Punsch, den<br />
der Mann gierig packte und in einem Zug hinuntergoß.<br />
Langsam schien er sich wieder einigermaßen<br />
zurechtzufinden.<br />
»Ich heiße Gregor Kaspach… glaube ich wenigstens.<br />
Aber nach alledem, was heute passiert ist,<br />
bin ich da nicht mehr so sicher.«<br />
Gregor lehnte sich erschöpft zurück, und Gretchen<br />
ordnete ein paar Kissen unter seinem Kopf,<br />
damit er sich hinlegen konnte.<br />
»Was ist denn passiert, erzählen Sie!« ermunterte<br />
265
ihn Gretchen. »Ich heiße übrigens Gretchen, und<br />
ich bin hier die Hosteß.«<br />
»Gretchen?« fragte Gregor ungläubig, »wie das<br />
Gretchen im Faust? Sind Sie Deutsche?«<br />
»Meine Großmutter war eine deutsche Einwandererin.<br />
Und meine Mutter fand diesen Namen<br />
halt eben ›special‹.«<br />
»Das ist er in der Tat«, gab Gregor zurück. Das<br />
hübsche Mädchen mit seinen schulterlangen,<br />
fast schwarzen Haaren brachte seine Lebensgeister<br />
langsam aber sicher wieder auf Trab. So wie<br />
dieses reizende Geschöpf hatte er sich immer das<br />
Schneewittchen vorgestellt.<br />
»Darf ich Ihnen die Gretchenfrage stellen?«<br />
scherzte er mit einem müden Schmunzeln. Doch<br />
Gretchen schien den Witz nicht verstanden zu<br />
haben. Vermutlich waren sie in der High School<br />
noch nicht beim Faust angelangt.<br />
»Sie scheinen außer Lebensgefahr zu sein«, sagte<br />
sie stattdessen, »dann erzählen Sie mal, was<br />
passiert ist.«<br />
Unter andächtigem Staunen der Passagiere faß-<br />
266
te Gregor zusammen, was er heute alles erlebt<br />
hatte. Er konnte es selbst fast nicht glauben. War<br />
er tatsächlich knappe zwei Meter vor der Bahnlinie<br />
zusammengebrochen? Er mußte an die beiden<br />
nackten Schutzengel aus seinem eigenartigen<br />
Traum denken.<br />
»Du mußt zurück. Du hast noch eine Aufgabe zu<br />
erfüllen«, hatten sie gesagt.<br />
Und wenn das kein Traum gewesen war? Vorhin<br />
allerdings, als er im Schnee zusammengebrochen<br />
war, hatte er nichts Derartiges erlebt. Da<br />
war einfach plötzlich alles schwarz geworden,<br />
und er war in einen tiefen Schlaf gesunken.<br />
Mittlerweile hatte Gretchen dafür gesorgt, daß<br />
man dem ausgehungerten Mann eine kräftige<br />
»Beef-Barley-Soup« und ein Stück Brot brachte,<br />
was Gregor, während er bruchstückweise weitererzählte,<br />
dankbar verschlang.<br />
Die Zeit verging wie im Fluge, und einige der<br />
Passagiere sagten scherzend zu Gretchen, daß<br />
sie auf den Essens-Gutschein verzichten würden,<br />
da sie bereits in den Genuß eines Gratis-Aben-<br />
267
teuers gekommen seien.<br />
»In der Denali-Lodge wird man Sie ärztlich versorgen«,<br />
informierte Gretchen, »die haben dort<br />
ein Krankenzimmer.«<br />
»Um Gottes willen, nur kein Krankenzimmer«,<br />
protestierte Gregor, »das ist das Letzte, was ich<br />
jetzt brauchen kann. Kann ich nicht ein normales<br />
Hotelzimmer haben?«<br />
»Das wird der Arzt entscheiden müssen«, gab<br />
Gretchen zur Antwort.<br />
Gregor hätte sich nichts sehnlicher gewünscht,<br />
als an der kindlich-mütterlichen Brust dieses<br />
Mädchens einzuschlafen. Ob er ihr das wohl sagen<br />
sollte? Nachdem er heute zweimal knapp<br />
dem Tod entronnen war, hatte er eigentlich keine<br />
Angst mehr vor einer Blamage.<br />
»Wissen Sie, wie Sie mir am besten helfen können?«<br />
sagte er.<br />
»Nein, sagen Sie’s mir!« ermunterte ihn Gretchen<br />
mit ihrer leicht heiseren Stimme.<br />
Gregor nahm allen Mut zusammen und sagte mit<br />
einem unwiderstehlichen Bernhardinerblick:<br />
268
»Indem Sie meinen Kopf so halten wie vorhin.<br />
Ich glaube, ich bin nur deswegen zur Besinnung<br />
gekommen, weil ich Ihre mütterliche Fürsorge<br />
gespürt habe.«<br />
Gretchen ahnte, worauf Gregor, dessen Leben gerade<br />
noch in ihrer Hand gelegen hatte, offenbar<br />
hinauswollte, und unter normalen Umständen<br />
hätte sie sich züchtig gegen seine Anspielungen<br />
zur Wehr gesetzt. Aber etwas schien sie an diesem<br />
reifen Mann ebenfalls anzuziehen, und einen<br />
besseren Vorwand als den, einem armen<br />
Verletzten zu helfen, konnte sie ja wohl nicht finden.<br />
Sie setzte sich neben ihn auf den Boden und legte<br />
ihren Arm um ihn, während Gregor seinen<br />
Kopf an ihre warme, weiche Brust bettete.<br />
»Er will schlafen«, sagte sie entschuldigend zu<br />
den Passagieren, und ihr prüfender Blick bestätigte<br />
ihr, daß diese selbstlose Geste bei allen auf<br />
Verständnis stieß.<br />
269
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Also, das mit dem Namen Gretchen ist echt!<br />
Meine Frau kann das bezeugen. Gretchen war<br />
unsere Hosteß auf einer Reise in den Denali-<br />
Park.<br />
Und auch Gretchens Erste-Hilfe-Maßnahmen<br />
halten jeder Prüfung stand. Das Merkwort heißt<br />
GABI. Und es bedeutet Folgendes:<br />
Gibt er Antwort? (Gemeint ist der Patient)<br />
Atmet er?<br />
Blutet er?<br />
Ist der Puls normal?<br />
Warum ich Ihnen das erzähle? Weil Sie etwas<br />
lernen sollen, darum! Sagen Sie selbst: Haben<br />
Sie bei Konsalik oder Simmel schon mal so viele<br />
nützliche Dinge gelesen?<br />
270
18<br />
Als Sonja ihren kleinen, hellblauen Ford in die<br />
geräumige Doppelgarage fuhr, war es draußen<br />
bereits dunkel geworden. Mit leicht zittrigen<br />
Fingern drehte sie den Schlüssel im Zündschloß<br />
und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Sie schloß<br />
ihre Augen und nahm einen tiefen Atemzug.<br />
»Beruhige dich«, sagte sie zu sich selbst, »du hast<br />
keinen Grund zur Aufregung.«<br />
In einer Stunde würde ihr Ehemann kommen,<br />
den sie seit vier Jahren nicht mehr zu Gesicht<br />
bekommen hatte. Würden sie wohl miteinander<br />
vernünftig reden können? Würde Gregor ihren<br />
Schritt heute verstehen? Hatte er sich verändert?<br />
Und bestand am Ende gar Hoffnung auf eine<br />
gemeinsame Zukunft? Das waren die Fragen, die<br />
ihr unentwegt im Kopf herumschwirrten.<br />
Sonja nahm noch einmal einen tiefen Atemzug<br />
und stieg dann betont gemächlich aus ihrem<br />
Wagen. Durch das noch offene Garagentor<br />
schlenderte sie zum Briefkasten, leerte ihn und<br />
warf, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß<br />
271
der Inhalt nur aus Werbung bestand, das ganze<br />
Bündel in den blauen Recycling-Eimer, der in der<br />
Garage stand.<br />
Ein rumpelndes Geräusch ließ sie herumfahren.<br />
Es war Charles Turner, ihr Nachbar, der seine<br />
beiden Plastik-Mülltonnen zum Straßenrand<br />
rollte.<br />
»Richtig, morgen ist ja Freitag«, dachte Sonja und<br />
packte ihre beiden Eimer ebenfalls, um sie für<br />
die Müllabfuhr bereitzustellen.<br />
»Hi Son, how’s it goin’«, grüßte Charles hinüber.<br />
»Great, thanks, how about yourself?« gab Sonja<br />
zur Antwort. Mittlerweile hatte sie sich daran<br />
gewöhnt, daß die Amerikaner jeden noch so wohlklingenden<br />
Namen zu einer einzigen Silbe reduzierten.<br />
Die ersten zwei Jahre hatte sie versucht,<br />
sich dagegen zu wehren. Aber es war aussichtslos.<br />
Man konnte es den Amis einfach nicht<br />
zumuten, ihren Mund für einen anderen Menschen<br />
zweimal aufzumachen. Aus einem »Robert«<br />
machten sie einen »Bob«, aus »Patricia« eine<br />
»Pat«, aus »Edward« einen »Ted«, aus »Richard«<br />
272
einen »Dick«, aus »Barbara« eine »Barb«. Und<br />
Charles brachte es fertig, selbst den Namen »Sonja«<br />
noch zu verkürzen.<br />
»War ein schöner Tag heute, nicht?« antwortete<br />
Charles routinemäßig.<br />
Die Antwort auf die Frage, wie es ihm gehe, blieb<br />
er Sonja schuldig. Auch damit hatte sich Sonja<br />
mittlerweile abgefunden. Die Kalifornier waren<br />
in ihren Augen Weltmeister im Small Talk, im<br />
nichtssagenden Gequassel. Die Frage »wie<br />
geht’s« war ihnen geradezu angeboren, zusammen<br />
mit dem totalen Desinteresse, was die Antwort<br />
des Gegenübers anging. Einige schienen mit<br />
ihren Blicken sogar zu flehen »um Gottes willen,<br />
sag’ mir ja nicht, wie’s dir geht; ich weiß,<br />
daß das Leben beschissen ist«.<br />
Sonja war stolz darauf, daß sie die Hohe Schule<br />
des Small Talks ebenfalls beherrschte. »Haben<br />
Sie den spektakulären Sonnenuntergang heute<br />
gesehen?« war ihre nächste Frage.<br />
Charles schickte sich bereits an, die beleuchteten<br />
Steinstufen zu seinem Haus emporzusteigen.<br />
273
»Schön wär’s«, gab er zur Antwort, »den letzten<br />
Sonnenuntergang habe ich glaub’ ich vor zwei<br />
Jahren auf Hawaii erlebt.«<br />
Das war natürlich eine seiner koketten Übertreibungen,<br />
aber ein Fünkchen Wahrheit war bestimmt<br />
dabei. Charles hatte seinerzeit einiges<br />
dafür bezahlt, daß er von seinem Haus aus eine<br />
wunderbare Aussicht aufs Meer genoß, aber wie<br />
die meisten Kalifornier war er so sehr damit beschäftigt,<br />
seinen extravaganten Lebensstil zu<br />
finanzieren, daß ihm für Sonnenuntergänge und<br />
andere Späße keine Zeit mehr blieb.<br />
»See you later, Son«, rief Charles hinunter, bevor<br />
er im Haus verschwand.<br />
Das war so ziemlich das Maximum an Kontakt,<br />
was man in Kalifornien erwarten konnte. Man<br />
grüßte sich zwar beim Leeren des Briefkastens<br />
oder beim Hinausstellen der Mülltonnen, ansonsten<br />
aber hielt man sich seine Nachbarn auf Distanz.<br />
Das ist vielleicht auch ganz gut so, dachte<br />
Sonja in Erinnerung an die unerbittlichen<br />
Fehden unter Nachbarn, die sie in Hamburg<br />
274
manchmal hatte miterleben müssen.<br />
Eigentlich konnte sie sich ja nicht beklagen. Sie<br />
hatte Andy, mit dem sie über alles reden konnte.<br />
Und im übrigen kam ihr die oberflächliche<br />
Freundlichkeit der Amerikaner ganz gelegen,<br />
denn dieses einengende Beziehungsnetz in Hamburg<br />
war mit ein Grund dafür gewesen, daß sie<br />
vor vier Jahren nach Amerika geflohen war. Außerdem<br />
war sie den Amerikanern zutiefst dankbar,<br />
daß sie ihr wunderschönes Land benutzen<br />
durfte. Und gerade diese vielbeklagte amerikanische<br />
Anonymität verschaffte ihr ein Stück Freiheit,<br />
das sie nicht mehr missen mochte.<br />
Sonjas kleines, aber gemütliches Dreizimmer-<br />
Haus lag etwas erhöht am Eingang eines kleinen<br />
Canyons. Es war von alten, knorrigen Bäumen<br />
umgeben und schwamm geradezu in einem<br />
Meer von Blumen, die Sonja im Laufe der Jahre<br />
angehäuft hatte. Als alte Tierliebhaberin hatte<br />
sie außerdem mehrere Futterplätze für Vögel<br />
eingerichtet, und an jeder Ecke des Hauses hing<br />
ein Behälter mit leuchtend rotem Nektar für die<br />
275
putzigen, kleinen Kolibris, die das ganze Jahr<br />
über in den kalifornischen Gärten ihre Flugkünste<br />
zur Schau stellten.<br />
Das Haus war nur gemietet, obwohl sich Sonja<br />
aufgrund einer kleinen Erbschaft den Kauf hätte<br />
leisten können. Aber sie wollte nicht wieder<br />
den gleichen Fehler begehen wie früher in Hamburg.<br />
Sie wollte frei bleiben.<br />
»Besitz engt nur ein«, hatte sie einmal zu Andy<br />
gesagt, »ein Haus ist erst dann ein Zuhause,<br />
wenn du es innerhalb von vier Monaten verlassen<br />
kannst. Andernfalls besitzt das Haus dich<br />
und nicht umgekehrt.«<br />
Man mußte sich in ihrer Nachbarschaft nur einmal<br />
richtig umsehen. Je größer die Häuser, desto<br />
unglücklicher ihre Bewohner. Warum sollte<br />
man daraus nicht lernen?<br />
In der Zwischenzeit hatte Sonja ihre Tasche aus<br />
dem Auto geholt und das Garagentor zugemacht.<br />
Als sie ihren Fuß auf die unterste Stufe der steilen<br />
Steintreppe setzte, die zum Vordereingang<br />
ihres Häuschens führte, glaubte sie, in ihrem<br />
276
Wohnzimmerfenster einen Lichtschein wahrzunehmen.<br />
»Das wird wohl wieder Andy sein mit einer seiner<br />
berüchtigten Überraschungen«, dachte sie.<br />
277
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Das wird ja ganz schön spannend, was? Können<br />
Sie sich vorstellen, was Sonja erwartet, wenn sie<br />
ihr Haus betritt? Grusel, grusel…<br />
A propos Haus: Besitzen Sie auch eines? Und<br />
arbeiten Sie auch zwölf Stunden am Tag, um Ihre<br />
Hypotheken zu bezahlen? Grusel, grusel…<br />
Beantworten Sie doch bitte diese Fragen:<br />
1. Besitzen Sie Ihr Haus oder besitzt Ihr Haus<br />
Sie?<br />
2. Besitzen Sie Ihr Auto oder besitzt Ihr Auto<br />
Sie?<br />
278
3. Ist Ihr Beruf für Sie da oder sind Sie für Ihren<br />
Beruf da?<br />
4. Was ist Ihnen das Wichtigste? (Bitte nach<br />
Priorität ordnen!)<br />
Geld verdienen<br />
eine gute Beziehung<br />
mein Wohlbefinden (körperlich und seelisch)<br />
5. Und wofür investieren Sie die meiste Zeit?<br />
Geld verdienen<br />
eine gute Beziehung<br />
mein Wohlbefinden (körperlich und seelisch)<br />
279
280
19<br />
Es ging bereits gegen Mitternacht zu, als der Zug<br />
endlich an der kleinen Blockhütte hielt, die als<br />
Bahnhof des Denali-Nationalparks diente. Gregor<br />
war vor einer halben Stunde aus seinem tiefen<br />
Schlaf aufgewacht, als Gretchen ihn sanft<br />
daran erinnerte, daß sie ihren Pflichten als Hosteß<br />
nachkommen müsse. Die Passagiere standen<br />
im spärlichen Schein der Lampen neben ihren<br />
Koffern und warteten brav aufgereiht, wie<br />
sich das für Amerikaner gehörte, auf den Bus,<br />
der sie zur Denali-Lodge bringen sollte.<br />
»Wie geht es unserem Patienten?« fragte Gretchen,<br />
zu Gregor gewendet, der auf ihr Geheiß<br />
brav auf die Sanitäter wartete .<br />
»Was ist, wenn ich diese Frage falsch beantworte?«<br />
gab Gregor mit einem müden Lächeln zurück.<br />
Alles um ihn herum sah so unwirklich aus.<br />
Und wenn seine gebrochenen Rippen ihm nicht<br />
bei jedem Atemzug einen Dolch in die Brust gejagt<br />
hätten, dann hätte er dies alles vermutlich<br />
für einen Traum gehalten.<br />
281
»Der Krankenwagen wird gleich da sein«, sagte<br />
Gretchen, während sie zu Gregor niederkniete<br />
und ihm die Stirn fühlte. »Fieber scheinen sie<br />
nicht zu haben.«<br />
»Es tut aber trotzdem gut, Ihre Hand zu spüren«,<br />
antwortete Gregor. »Haben Sie heute abend<br />
schon etwas vor?«<br />
Gretchen blieb ihm die Antwort schuldig, denn<br />
in diesem Augenblick keuchten zwei kräftige<br />
Männer die Wendeltreppe hoch, gefolgt von einem<br />
älteren Mann mit einem Arztköfferchen, der<br />
die Nase eines Alkoholikers hatte, und einem<br />
weiteren Mann, der anhand des Sterns auf der<br />
Brust unschwer als Sheriff zu erkennen war.<br />
Letzterer witterte offensichtlich die einmalige<br />
Chance, endlich einmal etwas zu erleben, was<br />
eines amerikanischen Sheriffs würdig war. Jedenfalls<br />
zückte er sofort seinen Notizblock und<br />
begann, noch bevor der Arzt eine Chance hatte,<br />
etwas zu unternehmen, seine wohlvorbereiteten<br />
Fragen zu stellen.<br />
»Sir, Sie sind mit einem Hubschrauber abge-<br />
282
stürzt. Ist das richtig?«<br />
»Ja, so jedenfalls habe ich es in Erinnerung«,<br />
sagte Gregor mit einem fragenden Blick zu<br />
Gretchen.<br />
»Wo sind Sie gestartet und wo sind Sie abgestürzt?«<br />
wollte der Sheriff weiter wissen.<br />
»Gestartet sind wir am Lake Magic. Dort hat<br />
mich ein Pilot mit dem Wasserflugzeug abgesetzt.<br />
Wir sind dann etwa eine Stunde in nordwestlicher<br />
Richtung geflogen.«<br />
»Wer war sonst noch mit Ihnen im Hubschrauber?«<br />
»Nur der Pilot. Er heißt Jeff. Mehr weiß ich<br />
nicht.«<br />
»Wo ist dieser Jeff jetzt?«<br />
»Ich kann Ihnen sagen, wo sein Körper liegt,<br />
wenn sie das meinen. Er liegt an der Unfallstelle.<br />
Er ist tot.«<br />
Der Sheriff blickte vielversprechend zum Arzt,<br />
der offenbar froh war, daß er im Augenblick nicht<br />
gebraucht wurde.<br />
»Sir, Sie sagen, daß Sie nur den Vornamen des<br />
283
Piloten kennen. Bei welcher Firma haben Sie<br />
denn den Hubschrauber gemietet?«<br />
Gregor merkte plötzlich, daß er diesem Sheriff<br />
nicht die Wahrheit sagen durfte. Womöglich<br />
würde er das FBI verständigen und einen Riesenwirbel<br />
veranstalten. Er mußte vorher herausfinden,<br />
was es mit diesem mysteriösen Anrufer auf<br />
sich hatte.<br />
»Das hat alles eine Firma am Lake Hood für mich<br />
erledigt«, schwindelte er, »der Name ist mir im<br />
<strong>Moment</strong> entfallen. Aber ich schlage Ihnen vor,<br />
daß Sie mir erst einmal ein warmes Bett besorgen.<br />
Morgen fällt mir der Name bestimmt wieder<br />
ein, und dann können Sie sich auf die Suche<br />
nach dem Hubschrauber machen.«<br />
»Was wollten Sie denn mit einem Wasserflugzeug<br />
und einem Hubschrauber in dieser Wildnis? Und<br />
warum mußte sie der Hubschrauber am Lake<br />
Magic abholen?«<br />
»Na, was tut man mit einem Hubschrauber in<br />
dieser Gegend?« warf jetzt auf einmal Gretchen<br />
rettend ein. Sie hatte offenbar kapiert, daß hin-<br />
284
ter Gregors Unfall mehr steckte, als er diesen<br />
Männern verraten wollte. »Ich nehme an, er wollte<br />
sich die Gegend von oben betrachten. Übrigens,<br />
wäre es nicht an der Zeit, Herr Doktor, daß<br />
Sie den armen Mann endlich untersuchten?«<br />
Der Sheriff stand wiederwillig auf und überließ<br />
seinen Platz dem Arzt, der schon beinahe eingenickt<br />
war. »Dann komme ich morgen früh um<br />
sieben zu Ihnen«, sagte er, während er Gretchen<br />
eine abgegriffene Karte mit seiner Telefonnummer<br />
überreichte. »Sie, junge Dame, sind dafür<br />
verantwortlich, daß ich den Aufenthaltsort des<br />
Subjekts erfahre.«<br />
Beim Wort »Subjekt« warf Gretchen Gregor einen<br />
vielsagenden Blick zu. Diesen Sheriff hatte<br />
man offensichtlich in die Wildnis verbannt, weil<br />
er in der Stadt nicht mehr zu gebrauchen war.<br />
Und jetzt spielte er sich hier auf wie Inspektor<br />
Columbo persönlich.<br />
»Um acht Uhr ist auch noch früh genug«, rief sie<br />
ihm zu und war über ihre Keckheit selbst erstaunt.<br />
»Der Mann hat etwas Schlaf verdient!«<br />
285
Der Sheriff murmelte etwas Unverständliches<br />
vor sich hin und zog von dannen.<br />
Gretchen schien sich in ihrer Führerrolle richtig<br />
wohlzufühlen, denn jetzt begann sie, den Arzt<br />
und die Sanitäter in derselben Manier anzutreiben.<br />
»So, meine Herren, würden Sie den Patienten<br />
jetzt bitte hinausschaffen. Diese Wagen werden<br />
abgeschlossen, und der Zug fährt in einer<br />
Viertelstunde weiter nach Fairbanks.«<br />
Nachdem der Arzt die beiden gebrochenen Rippen<br />
bestätigt und Gregor für transportfähig befunden<br />
hatte, schafften ihn die beiden Sanitäter<br />
über die enge Wendeltreppe nach unten.<br />
»Und wo finde ich Sie, Gretchen?« rief Gregor.<br />
»Sie fahren doch nicht etwa nach Fairbanks?«<br />
»Nein, nein«, beruhigte ihn Gretchen, »wir übernachten<br />
in der Lodge und fahren morgen mit dem<br />
ersten Zug nach Anchorage zurück. Ich werde<br />
Sie schon finden. Gehen Sie jetzt!«
<strong>Moment</strong> <strong>mal…</strong><br />
Nein, unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende.<br />
Geschichten sind nie zu Ende.<br />
Selbst wenn es sich herausstellen würde, daß<br />
Gregors Vater noch lebt, daß er kein Nazi war,<br />
sondern vor den Nazis flüchten mußte, weil er<br />
den Juden geholfen hatte, nach Amerika zu fliehen,<br />
selbst dann wäre dies nicht das Ende, sondern<br />
der Anfang einer neuen Vater-Sohn-Beziehung.<br />
Selbst wenn Gregor wieder mit Sonja zusammenfände,<br />
wäre das nicht das Ende, sondern der Anfang.<br />
Ich begreife nicht, weshalb alle Schnulzen-<br />
Romane mit einer Hochzeit enden. Die Hochzeit<br />
ist doch der Anfang! Da beginnt doch die spannendste<br />
Zeit!<br />
Wenn Sie sich also wünschen, daß diese Geschichte<br />
zu Ende geschrieben wird, welches Ende<br />
meinen Sie dann? Bis wohin möchten Sie die<br />
Geschichte kennen? Und wozu das?<br />
Ist Ihnen der Ausgang der Geschichte wichtiger<br />
als all das, was Sie dabei gelernt haben?
Vergessen Sie’s! Vergessen Sie Gregor, Sonja,<br />
Schulze und Hafenkamp! Schreiben Sie statt<br />
dessen an Ihrer eigenen Lebensgeschichte! Sorgen<br />
Sie dafür, daß sie spannender und aufregender<br />
wird als mein Roman!<br />
Denn im Gegensatz zu meiner Geschichte ist Ihr<br />
Leben nicht »in den Sand geschrieben…«<br />
Ich wünsche Ihnen eine spannende Zeit!<br />
Dieses Manuskript darf nur von folgender Web Site<br />
legal heruntergeladen werden:<br />
www.hpz.com