heilpädagogik aktuell - HfH
heilpädagogik aktuell - HfH
heilpädagogik aktuell - HfH
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>heilpädagogik</strong><br />
<strong>aktuell</strong><br />
Magazin der Hochschule für Heilpädagogik<br />
April 2011 / N° 02<br />
2 Forschung Wie entstehen neue<br />
Fachbegriffe in Gebärdensprache?<br />
3 Lehre Heilpädagogische<br />
Früherziehung im System Familie<br />
4 Reportage Theater ist<br />
Kommunikation!<br />
5 Konzepte Interview mit<br />
Christian Aeberli,<br />
Bildungsdepartement Aargau<br />
6 Recherche Wie Kommunikation mit<br />
dementen Menschen gelingen kann<br />
7 Masterarbeit Unterstützte<br />
Kommunikation in der Schule<br />
8 Weiterbildung und Agenda<br />
Für jeden Buchstaben einmal zwinkern, so entstand der Bestseller «Schmetterling und Taucherglocke». Der preisgekrönte Film (DVD) und das Buch sind im Handel erhältlich. ©Prokino<br />
Kommunikation: Es geht<br />
nicht nur um Worte<br />
Mit Kommunikationsbeeinträchtigungen leben Text Prof. Dr. Karin Bernath<br />
Die Interkantonale Hochschule für<br />
Heilpädagogik (<strong>HfH</strong>) bildet seit 2001<br />
Fachleute aus, die sich im Beruf<br />
zentral mit Kommunikation und<br />
mit den Beeinträchtigungen der<br />
Kommunikation befassen.<br />
Eine Beeinträchtigung der Kommunikation trifft den<br />
Lebensnerv. Denn: sich informieren, sich mitteilen und<br />
verstehen sind alltägliche Vorgänge. Und wenn diese<br />
Vorgänge nicht einwandfrei funktionieren, ist nicht nur der<br />
intellektuelle Austausch, sondern auch der soziale Kontakt<br />
erschwert. So beschreibt beispielsweise der ehemalige<br />
Chefredaktor der Zeitschrift Elle, Jean-Dominique Bauby,<br />
was es heisst, die gewohnten Ausdrucksfähigkeiten zu<br />
verlieren. Bauby, für den die Kommunikation sein Beruf<br />
war, ist aufgrund eines Hirnschlags plötzlich von der Welt<br />
abgeschnitten. Er nimmt wohl alles auf, ist geistig völlig<br />
fit, kann sich aber weder bewegen, noch kann er sprechen.<br />
Der Vater zweier Kinder, 43-jährig, vollständig gelähmt,<br />
diktiert – einzig mit seinem noch beweglichen linken<br />
Augenlid – das Buch «Schmetterling und Taucherglocke».<br />
Bauby bezeichnet darin seine Logopädin als Schutzengel.<br />
Sie ermöglicht ihm, unter der Taucherglocke hervor zu<br />
kommen, führt einen Kommunikationscode ein, der ihn<br />
die Welt wieder erschliessen lässt und dank ihr liegt uns<br />
mit Baubys Buch ein einmaliges Dokument vor. Es zeigt,<br />
was es heisst, mit Locked-In-Syndrom (L.I.S.) zu leben<br />
und einer scheinbaren Ein-Weg-Kommunikation ausgeliefert<br />
zu sein. Ein anderer «Schutzengel» zeigt zurzeit<br />
auf Kinoleinwänden rund um die Welt, wie komplex<br />
die Arbeit mit Kommunikationsbeeinträchtigungen sein<br />
kann: In «The King’s Speech» therapiert ein Logopäde den<br />
stotternden englischen König Georg IV, den Vater der<br />
heute regierenden Queen Elizabeth II.<br />
Wahre Geschichten prominenter Personen sind publikumswirksam.<br />
Die Wirkung der alltäglichen – aber nicht<br />
minder erfolgreichen – heilpädagogischen Arbeit dringt<br />
allerdings selten an die Öffentlichkeit. Nicht nur für die<br />
Logopädin, sondern auch für alle anderen Heilpädago-<br />
Thema: Gelingende Kommunikation<br />
ginnen und -pädagogen gehören Kommunikationsbeeinträchtigungen<br />
zum professionellen Alltag. Um Kommunikation<br />
geht es für sie jeden Tag.<br />
In dieser zweiten Nummer von «<strong>heilpädagogik</strong> <strong>aktuell</strong>»<br />
widmen wir uns dem Schwerpunktthema «Gelingende<br />
Kommunikation». In sechs Artikeln berichten wir über<br />
spannende Themen: Wie ein Weblexikon für gehörlose<br />
Berufsschüler entwickelt wurde, um ihnen neue technische<br />
Begriffe näher zu bringen. Ein Artikel über Heilpädagogische<br />
Früherziehung zeigt, wie wichtig die sorgfältige<br />
Kommunikation mit Eltern, Berufskollegen und<br />
Behörden ist. Um die Theaterarbeit von Schauspielern<br />
mit einer geistigen Behinderung geht es in der Reportage.<br />
Ein Mitglied des Aargauer Bildungsdepartementes<br />
stellt im Interview seine Arbeit vor. Und: Immer mehr<br />
alte Menschen leben in der Schweiz – wir geben einen<br />
Überblick, was gegen den Sprachabbau bei Demenz getan<br />
werden kann. Wie «Unterstützte Kommunikation» in der<br />
Schule eingesetzt werden kann, hat eine unserer Studierenden<br />
untersucht. Die wichtigsten Erkenntnisse ihrer<br />
Masterarbeit haben wir für Sie zusammengefasst.<br />
Alles in allem tritt unsere Hochschule für eine gelingende<br />
Kommunikation ein. Und gerade als führendes Ausbildungsinstitut<br />
von Gebärdensprachdolmetschern wissen<br />
wir: Es geht nicht nur um Worte.<br />
Prof. Dr. Karin Bernath ist Prorektorin der Interkantonalen Hochschule<br />
für Heilpädagogik Zürich und Leiterin des Departementes<br />
Weiterbildung, Forschung und Dienstleistungen.
2 - Forschung <strong>heilpädagogik</strong> <strong>aktuell</strong><br />
April 2011 / N° 02<br />
Viele neue Fachbegriffe<br />
für die Gebärdensprache<br />
Erkenntnisse aus der <strong>HfH</strong>-Forschung Text Dr. Penny Boyes Braem<br />
Technische Fachausdrücke sind ein wesentlicher Teil jeder Fachausbildung.<br />
Wie kann man jungen Gehörlosen in der Berufsbildung neue Begriffe am<br />
besten erklären?<br />
Nachrichten in Gebärdensprache. © SRF/Merly Knörle<br />
Die Bedeutung von Fachausdrücken ist oft schwierig<br />
zu verstehen, selbst in der eigenen Muttersprache. Zum<br />
Beispiel können nicht alle Deutschsprachigen sofort die<br />
Bedeutung von Rechtsvorschlag oder Insulin erklären.<br />
Noch schwieriger ist es, diese in einer Zweitsprache zu<br />
verstehen.<br />
Daher war es das Hauptziel eines Forschungsprojektes ein<br />
Weblexikon zu erstellen, um das Verständnis von Fachbegriffen<br />
bei jungen, gehörlosen Erwachsenen im Sekundarschulalter<br />
und in der Berufsausbildung zu unterstützen.<br />
Das auf zweieinhalb Jahre angelegte Projekt der Interkantonalen<br />
Hochschule für Heilpädagogik Zürich und des<br />
Schweizerischen Nationalfonds umfasste 750 Fachbegriffe<br />
aus zwei Gebieten: Wirtschaft und Ernährung.<br />
→ Finanziert wurde das Fachgebärden-Lexikon-Pilotprojekt<br />
(2007-2010) mit Beiträgen eines Schweizerischen Nationalfonds<br />
(DORE)-Projektes an der <strong>HfH</strong> in Partnerschaft mit<br />
dem Schweizerischen Gehörlosenbund (SGB-FSS) und der<br />
Berufsschule für Hörgeschädigte Zürich. Die gehörlosen und<br />
hörenden linguistischen Teams kamen von der <strong>HfH</strong> (Barbara<br />
Bucher, Simone Groeber, Heidi Stocker und Katja Tissi)<br />
sowie vom SGB-FSS (Carmela Zumbach). Die Fachgebärden-<br />
Webseite wurde Ende 2010 an den SGB-FSS übergeben. Der<br />
Verband wird entscheiden, ob die Webseite in dieser Form<br />
erhalten wird und ob sie um weitere technische Fächer erweitert<br />
oder auf einer Webplattform integriert wird.<br />
→ Aktuelle Forschungsprojekte unter www.hfh.ch/forschung.<br />
Im 2010 fertig gestellten Weblexikon hat nun jeder Fachbegriff<br />
drei Videoeinträge in Deutschschweizerischer<br />
Gebärdensprache (DSGS): die Gebärde für den deutschen<br />
Fachbegriff, die Definition des Begriffes sowie mindestens<br />
ein Beispiel im gebärdensprachlichen Zusammenhang.<br />
Alle Informationen werden zusätzlich als Texte angeboten.<br />
Entwicklung neuer Fachgebärden<br />
Das Projektteam hatte grundsätzliche Probleme zu lösen.<br />
Lexikonbenützer der gesprochenen Sprache sind gewohnt,<br />
eine abstrakte Definition für einen Begriff im Lexikon<br />
zu finden. Gehörlose kommunizieren jedoch in vielen<br />
Gebärdensprachen ihre Information anders. Gebärdende<br />
verlassen sich in der Regel auf den Kontext und nicht<br />
auf abstrakte Definitionen. Deshalb entschied sich das<br />
Team, neben den abstrakten Definitionen auch gebärdete<br />
und geschriebene Beispiele des jeweiligen Fachbegriffs in<br />
entsprechendem Zusammenhang aufzulisten.<br />
Für ca. 30% der 750 Fachbegriffe gab es gar keine konventionalisierten<br />
Gebärden in DSGS. Gehörlose Expertengruppen<br />
waren für diese neuen Wortbildungen im Projekt<br />
verantwortlich.<br />
Das Fehlen von äquivalenten Begriffen bei Fachgebärden<br />
ist nicht nur den Gebärdensprachen eigen. Deutsche<br />
Lexika borgen oft Begriffe aus Sprachen wie Latein,<br />
Altgriechisch oder Englisch. Die Gebärdenden besitzen<br />
andere Techniken, um zu neuen Gebärden zu kommen:<br />
Da deutsche Fachbegriffe oft aus mehreren Komponenten<br />
zusammengesetzt sind (z.B. Rechtsvorschlag), werden<br />
in der Übersetzung häufig die vorhandenen Gebärden<br />
kombiniert: RECHT + VORSCHLAG. Weiterhin kann<br />
eine Komponente mit den Händen übersetzt und gleichzeitig<br />
das deutsche Wort mit den Lippen als «Mundbild»<br />
dargestellt werden.<br />
Eine solche 1:1-Übersetzung von deutschen Wortteilen<br />
gibt dem Gehörlosen manchmal keine adäquate Erklärung<br />
für den Begriff. Deshalb werden andere, gebärdensprachgerechtere<br />
Techniken verwendet: Eine Möglichkeit<br />
sind «Bilderzeugungstechniken», die auf den bildhaften<br />
Aspekten der Bedeutung des Fachausdrucks basieren.<br />
Besser: Für den Begriff Insulin z. B. schlug die Expertengruppe,<br />
da Insulin durch die Bauchspeicheldrüse produziert<br />
wird, folgende neue Gebärde vor: Die eine Hand<br />
zeigt die oft benützte Form für «kleines rundes Objekt»<br />
(hier die Bauchspeicheldrüse) und die andere Hand zeigt<br />
mit dem Buchstaben «i» aus dem Fingeralphabet eine<br />
kleine Bewegung aus dem kleinen Objekt (der Bauchspeicheldrüse)<br />
heraus an.<br />
Die neuen Gebärden sind als Vorschläge zu verstehen. Zu<br />
den vorhandenen Einträgen können registrierte Anwenderinnen<br />
Rückmeldungen in Schrift- oder Video-Format<br />
einsenden. Die Zukunft wird zeigen, welche der vorgeschlagenen<br />
Gebärden sich durchsetzen.<br />
Andere Benutzer des Weblexikons<br />
Das Lexikon auf www.fachgebaerden.ch ist nicht nur für<br />
hörbehinderte Gebärdensprachbenutzer, sondern auch<br />
für Lehrpersonen, Vorgesetzte in der Arbeitsumgebung<br />
oder berufliche Fachberater gedacht. Besonders nützlich<br />
ist die Webseite für Gebärdensprach-Dolmetscherinnen<br />
und Studierende in der Dolmetscher-Ausbildung. Prof.<br />
Dr. des. Tobias Haug, Leiter des Studienganges Gebärdensprachdolmetschen<br />
an der <strong>HfH</strong> meint dazu: «Dolmetscher<br />
und Studierende nutzen dieses einzigartige Lexikon<br />
für ein besseres Verständnis der Fachbegriffe und für<br />
Gebärdenvorschläge in ihrer täglichen Arbeit, z. B. für die<br />
DSGS-Übersetzung der Nachrichten im deutschschweizerischen<br />
Fernsehen.»<br />
Dr. Penny Boyes Braem, Leiterin des Forschungszentrums für<br />
Gebärdensprache in Basel, war als Forscherin an der <strong>HfH</strong> für dieses<br />
DORE-Projekt verantwortlich. Boyes Braem hat eine grosse lexikalische<br />
Datenbank für DSGS (jetzt an der <strong>HfH</strong>) aufgebaut und viele Gebärdensprach-CDs<br />
produziert. Ihre <strong>aktuell</strong>en Forschungsschwerpunkte sind<br />
«Korpus-Lexika» für Gebärdensprache auf der Basis neuer Technologien.<br />
«Wir führen die Tradition weiter», sagt Urs Strasser.<br />
Liebe Leserinnen und Leser<br />
Herzlichen Dank für Ihre zahlreichen<br />
Zuschriften und Anregungen zur ersten<br />
Ausgabe von «<strong>heilpädagogik</strong> <strong>aktuell</strong>».<br />
Es freut mich und die Redaktion sehr,<br />
dass unser Magazin keine Ein-Weg-<br />
Kommunikation ist. Und wir hoffen,<br />
mit «Gelingende Kommunikation»<br />
wieder ein Thema gefunden zu haben,<br />
das Bildungsverantwortliche, Schulleitungen,<br />
Behörden, heilpädagogische<br />
Fachpersonen, Forschende, Studierende,<br />
und auch Dozierende anspricht. Der<br />
inhaltliche Bogen spannt sich in dieser<br />
Ausgabe von Kindergarten und Schule<br />
bis Beruf und Rentenalter.<br />
Die <strong>HfH</strong> feiert in diesem Jahr in ihrer<br />
jetzigen Organisationsform das zehnjährige<br />
Jubiläum. Als Nachfolgerin des Heilpädagogischen<br />
Seminars Zürich (HPS)<br />
kann sie auf eine lange und bewegte<br />
Vergangenheit zurückblicken. Seit der<br />
Gründung im Jahr 1924 stand das HPS<br />
für eine professionelle, autonome und<br />
breit ausgerichtete heilpädagogische<br />
Ausbildung. Die <strong>HfH</strong> führt am modernen<br />
Standort in Zürich-Oerlikon und auf der<br />
breiten Basis einer Trägerschaft von 13<br />
Kantonen diese Tradition erfolgreich<br />
weiter. Mit zahlreichen Sonderveranstaltungen<br />
wollen wir unser Jubiläum<br />
begehen. Darunter im April mit den<br />
Aufführungen von «spring! - tanz bewegt<br />
visionen» unter der Leitung des Choreographen<br />
Royston Maldoom in der Maag-<br />
MusicHall und im Juni mit der Tagung<br />
«Zehn Jahre <strong>HfH</strong>» mit einer Standortbestimmung<br />
der modernen Heilpädagogik.<br />
Ich freue mich darauf, Sie als Be-<br />
sucherin einer Veranstaltung oder als<br />
Leser wieder begrüssen zu dürfen.<br />
Mit freundlichen Grüssen<br />
Ihr Urs Strasser<br />
Rektor der Interkantonalen Hochschule<br />
für Heilpädagogik Zürich
N° 02 / April 2011 <strong>heilpädagogik</strong> <strong>aktuell</strong><br />
Lehre - 3<br />
Das Kind und die Eltern im Mittelpunkt<br />
Heilpädagogische Früherziehung Text Christina Koch Gerber und Susanne Kofmel Ruchat Foto Christoph Aebischer<br />
Sich mitteilen, gemeinsam etwas<br />
tun – dafür steht das lateinische Wort<br />
«communicare». In diesem Sinne<br />
handelt die Heilpädagogische Früherziehung,<br />
besonders bei der Arbeit<br />
innerhalb der Familie.<br />
Die Heilpädagogische Früherziehung fördert das Kind<br />
mit Entwicklungsauffälligkeiten oder mit einer Behinderung<br />
auf spielerische Art und Weise in seiner unmittelbaren<br />
Lebensumwelt. Durch sorgfältige Begleitung<br />
berät und unterstützt sie die Eltern. Besonders wichtig<br />
sind Kooperationsbereitschaft und Absprachen mit Fachleuten<br />
verschiedener Disziplinen, wie z. B. Ärztinnen und<br />
Psychologen. Gegenseitiges Vertrauen und gute Kommunikation<br />
sind wichtige Voraussetzungen für die Heilpädagogische<br />
Früherziehung.<br />
Der dreijährige Jan steht am Fenster, als ich vor dem Haus<br />
parke. Die Mutter taucht neben ihm am Fenster auf. Sie<br />
winkt. Jans Blick gilt ganz dem vorbeifahrenden Müllauto.<br />
Die Mutter grüsst herzlich. Sie freut sich auf den Austausch<br />
mit der Früherzieherin. Sie möchte von einer schwierigen<br />
Situation auf dem Spielplatz erzählen. Jan zeigt kurz Interesse<br />
für den Inhalt meiner Tasche, dann rennt er wieder<br />
hinter den Vorhang und schaut auf die Strasse.<br />
Besuche bei der Familie<br />
Bei Jan wurde vor kurzem ein «Autistisches Spektrum»<br />
diagnostiziert. Zeitliche und örtliche Wechsel, unklare<br />
Abfolgen fallen ihm schwer. Zwar stellt er Blickkon-<br />
«Kommunizieren ist<br />
der Ursprung<br />
sozialer Handlungen.»<br />
takt von sich aus her, allerdings so rasch, dass es für uns<br />
kaum wahrnehmbar ist. Am Gesicht seines Gegenübers<br />
beanspruchen eine Brille oder eine Kette seine gesamte<br />
Aufmerksamkeit. Indessen fehlt die Wahrnehmung des<br />
Gesichtsausdruckes seines Gegenübers.<br />
Jan und seine alleinerziehende Mutter werden seit einem<br />
Jahr durch die Heilpädagogische Früherziehung begleitet.<br />
Einmal in der Woche findet ein ein bis eineinhalbstündiger<br />
Besuch zu Hause bei der Familie statt. Zusätzlich<br />
nimmt Jan einmal in der Woche an der Heilpädagogischen<br />
Spielgruppe teil.<br />
Am Anfang fanden Gespräche und Abklärungen zum<br />
Entwicklungsstand statt, nun stehen bei den wöchentlichen<br />
Besuchen die <strong>aktuell</strong>en Entwicklungsschritte<br />
des Kindes und die Sorgen der Mutter im Mittelpunkt<br />
des gemeinsamen Austausches. Basis der Beratung und<br />
Begleitung ist es, positive Momente und Verhaltensweisen<br />
zu verstärken und somit die Selbständigkeit von<br />
Mutter und Kind zu unterstützen. Die Förderung des<br />
Kindes geschieht über das Spiel, welches die Möglichkeit<br />
beinhaltet, Probleme zu lösen, Neues kennen zu lernen,<br />
Bekanntes nachzuspielen, Freude zu teilen und eine<br />
Beziehung aufzubauen.<br />
Ein offenes Ohr<br />
Wie kann solch eine Begleitung Wirkung erzielen? Was<br />
sind die Voraussetzungen einer gelingenden Förderung<br />
des Kindes und einer prozessunterstützenden Begleitung<br />
der Eltern?<br />
Immer stehen das Kind und die Eltern im Mittelpunkt.<br />
Die Verunsicherung darüber, wer kommt, was passieren<br />
Die Heilpädagogische Früherzieherin beim Familienbesuch: Sie verstärkt positive Momente und Verhaltensweisen beim Kind.<br />
wird, ob Fortschritte möglich sind, ob Unverständnis<br />
aufkommt, steht anfangs im Raum. Erst wenn das<br />
Gegenüber Wertschätzung und Respekt erfährt, wird ein<br />
Zuhören der Eltern möglich. Sie sind und bleiben die<br />
wichtigsten Bezugspersonen und Kenner ihres Kindes.<br />
Hingegen bringt der Heilpädagogische Früherzieher<br />
Fachwissen, Erfahrung und den Blick von aussen mit ein.<br />
Auch auf nonverbale Kommunikation achten<br />
Ob das notwendige Sich-Mitteilen über ein Lächeln, ein<br />
Hände-Schütteln oder ein verbales «Wie geht es Ihnen?»<br />
geschieht, ist einerlei. Einander zugewandte Mimik,<br />
Gestik oder Ansprache signalisieren Aufmerksamkeit und<br />
Interesse am Gegenüber.<br />
Kommunikation schliesst in der Arbeit der Heilpädagogischen<br />
Früherziehung mehrere Aspekte ein: Information<br />
und Austausch, die Klärung von Bedürfnissen und spezifischen<br />
Aufträgen und die Vertiefung und Vertrauensbildung<br />
zwischen den betreffenden Personen. Kommunikation<br />
beinhaltet die Beteiligung mehrerer Personen, es<br />
ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen, Senden und<br />
Empfangen. Im kommunikativen Miteinander entstehen<br />
neue Gedanken und Ideen sowie Ansätze zu Problemlö-<br />
«Heilpädagogische<br />
Früherziehung<br />
ermöglicht die Stärkung<br />
der Autonomie.»<br />
sungen, die sich nur im Austausch ergeben. Entsprechend<br />
ist Kommunizieren der Ursprung sozialer Handlungen.<br />
Die vielfältige und individuelle Begleitung einer Familie<br />
durch die Heilpädagogische Früherziehung ermöglicht<br />
die Stärkung der Autonomie und dient damit dem Auf-<br />
und Ausbau von Selbstvertrauen, der Kooperations- und<br />
Kontaktfähigkeit, dem Kohärenzgefühl und der Erweiterung<br />
des Verständnisses von Erziehung.<br />
Und Jan? «Tatütata!» Durch einen Knopfdruck bringe ich<br />
ein Feuerwehrauto in meiner Tasche zum Tönen. Sofort ist<br />
er da. Wir können beginnen. Gemeinsames wird entstehen.<br />
Christina Koch Gerber ist Leiterin des Masterstudienganges Sonderpädagogik<br />
mit Vertiefungsrichtung Heilpädagogische Früherziehung an<br />
der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Susanne<br />
Kofmel Ruchat ist Dozentin im gleichen Studiengang.<br />
Infoveranstaltungen<br />
an der <strong>HfH</strong><br />
Bachelorstudiengänge<br />
→ Logopädie<br />
→ Psychomotoriktherapie<br />
→ Gebärdensprachdolmetschen<br />
Mittwoch, 13. April, 15 Uhr<br />
044 317 11 61 / 62 - therapeutischeberufe@hfh.ch<br />
Masterstudiengänge Sonderpädagogik<br />
mit Vertiefungsrichtungen<br />
→ Schulische Heilpädagogik<br />
→ Heilpädagogische Früherziehung<br />
Mittwoch, 18. Mai 2011, 15 Uhr<br />
044 317 11 41 / 42 - lehrberufe@hfh.ch<br />
Schaffhauserstrasse 239<br />
8050 Zürich<br />
www.hfh.ch
4 - Reportage <strong>heilpädagogik</strong> <strong>aktuell</strong><br />
April 2011 / N° 02<br />
HORAmatör, der Freizeitkurs für theaterinteressierte Menschen, findet einmal wöchentlich im Casino-Saal Aussersihl in Zürich statt.<br />
«Theater ist<br />
Kommunikation!»<br />
Das Theater HORA Züriwerk ist eines der bekanntesten professionellen Theater von und mit Menschen mit einer<br />
geistigen Behinderung in der Schweiz Text Christine Loriol Fotos Thomas Burla<br />
Was bedeutet Kommunikation<br />
im Theater, wenn Menschen mit<br />
geistiger Behinderung am Werk<br />
sind? Das Theater HORA zeigt es.<br />
An einem kalten Dienstagabend in Zürich, es ist immer<br />
noch früh dunkel. Zwischen Helvetiaplatz und Stauffacher<br />
liegt der Casino-Saal Aussersihl, die feste Spielstätte<br />
des Theater HORA. Ein Taxi bringt «die zwei mit den<br />
Rollatoren», am grossen Tisch wird Kaffee getrunken.<br />
Jemand schreibt. Sieht aus wie Hausaufgaben. Theaterleiter<br />
Michael Elber erledigt eilig noch ein paar Dinge<br />
am Computer; er muss gleich weiter und verspricht, am<br />
Freitag anzurufen. Katherina Winkler, die Praktikantin,<br />
bereitet das Training vor. Sie ist seit letztem Sommer beim<br />
Theater HORA Züriwerk, hat Theaterwissenschaften<br />
studiert und wird noch ein Masterstudium in Theaterpädagogik<br />
absolvieren. Die junge Frau hat in Bologna Strassentheater<br />
gemacht und in Dresden in einem heilpädagogischen<br />
Heim gearbeitet. An diesem Abend ist sie für die<br />
«HORAmatöre» da. «HORAmatör» ist ein Freizeitkurs<br />
für theaterinteressierte Menschen mit und ohne Behinderung.<br />
Er findet jeden Dienstag statt und ist Anfang 2011<br />
neu gestartet. Wie die Bezeichnung sagt, sind hier Laien<br />
am Werk. Die Profis von HORA stehen kurz vor der<br />
Premiere von «Faust 1 + 2». Doch dazu später.<br />
Wichtige Theaterarbeit für ein Umdenken in der Gesellschaft.<br />
Das Theater HORA Züriwerk ist eines der bekanntesten<br />
professionellen Theater von und mit Menschen<br />
mit einer geistigen Behinderung in der Schweiz. Es hat<br />
vor mehr als 20 Jahren seinen Anfang genommen und<br />
hat eine bewegte Geschichte, geprägt von Engagement<br />
und Risikofreude, von finanziellen Schwierigkeiten und<br />
künstlerischem Erfolg. Der Name HORA geht auf die<br />
erste Produktion im Jahr 1993 zurück: «Aber die Zeit ist<br />
«Es geht um die Förderung<br />
der ausserordentlichen Fähigkeiten<br />
von Schauspielern und<br />
um die Anerkennung der<br />
Theaterarbeit als ihre Arbeit.»<br />
Leben und das Leben wohnt im Herzen», frei nach dem<br />
Roman «Momo» von Michael Ende. Die Aufführung war<br />
ein grosser Erfolg. Die Romanfigur des Meisters Hora,<br />
der die Menschen anhält, sich Zeit zu nehmen, gab dem<br />
Theater seinen Namen.<br />
Seit 2002 ist das Theater HORA in der Stiftung Züriwerk<br />
integriert und vom Bundesamt für Sozialversicherung<br />
(BSV) anerkannt. Bis heute hat das Theater HORA<br />
über 40 Produktionen hervorgebracht. Seit 2003 hat<br />
das Theater eine feste Spielstätte, seit 2009 bietet es die<br />
Ausbildung zur Schauspielerin beziehungsweise zum<br />
Schauspieler an. Das ist in ganz Europa ein einmaliges<br />
Angebot. Drei Lehrlinge haben im ersten Jahrgang<br />
die Ausbildung «Schauspielpraktiker PrA» in Angriff<br />
genommen. Sie schliessen nach zwei Jahren mit einem<br />
Attest ab und sollten dann im Profi-Ensemble bestehen<br />
können.<br />
Doch zurück nach Zürich-Aussersihl. Die Kälte ist<br />
vergessen. Das Training beginnt. «Die Gruppe bildet sich<br />
erst, wir lernen jeden einzelnen erst kennen», sagt Katherina<br />
Winkler. Einige haben schon etwas Erfahrung mit dem<br />
Theaterspielen, andere stehen ganz am Anfang. Jemand<br />
will erst fertig essen, einer kommt zu spät. Schliesslich<br />
stehen 12 Teilnehmende im Kreis. Einmal geht es darum,<br />
nicht nur den Namen zu sagen, sondern auch was man ist<br />
oder sein könnte! Katherina Winkler macht es vor: «Ich<br />
bin ein Spaghetti», sagt sie und geht so auf ihr Gegenüber<br />
zu. Dann soll im Kreis eine Umarmung weitergegeben<br />
werden, von einem zum nächsten. Das Spiel heisst in der<br />
ersten Runde «Ich liebe Dich» und in der zweiten «Ich<br />
liebe Dich nicht». Einer geniert sich: «Im Theater darfst<br />
Du es machen. Es ist nur gespielt», erklärt ihm Katherina.<br />
Später wird einer ein «König, der Zeitung liest», und die<br />
andern sollen sich von hinten anschleichen, um ihm die<br />
Krone zu stehlen. Der König ist König mit Würde und<br />
Ernst. Wenn er sich umdreht, darf sich niemand mehr<br />
bewegen. Wer ertappt wird, muss zurück zum Start. Die<br />
besonders Schlauen spielen das Spiel: nicht gesehen zu<br />
haben, dass sie ertappt worden sind.<br />
Spielen will aber gelernt und geübt sein! Und Theater<br />
ist Arbeit, Berufsarbeit für das professionelle Team von<br />
HORA. «Es geht dem Theater HORA nicht darum,<br />
moralisch zu sein, es geht auch nicht um die Therapie<br />
von ‚Behinderten‘, sondern um die Förderung der ausserordentlichen<br />
Fähigkeiten von Schauspielerinnen und um<br />
die Anerkennung der Theaterarbeit als ihre Arbeit. Somit<br />
wird auch ein Umdenken im Bereich der Behindertenorganisationen<br />
und in unserer Gesellschaft gefordert.» Das<br />
ist das Credo von HORA.<br />
«Theater ist Kommunikation», sagt Katherina Winkler<br />
nach dem Training mit den Amateuren: «Ich will Theater<br />
vermitteln und habe davon eine bestimmte Vorstellung.<br />
Also suche ich Mittel zu finden, diese Vorstellung umzusetzen.»<br />
Es gebe dabei drei Etappen der Kommunikation:<br />
«Ich sage den Teilnehmenden, was ich von Ihnen möchte.<br />
Dann kommunizieren sie, was sie verstanden haben. Und<br />
danach ist es die Aufgabe der Regie aus dem, was sie mir<br />
anbieten, etwas zu machen.»<br />
Michael Elber, Gründer und Künstlerischer Leiter des<br />
Theaters HORA: «In der Arbeit mit den professionellen<br />
Schauspielern kümmern wir uns nicht um die<br />
Behinderung. Wir wollen wissen, was einer als Schauspielerin<br />
kann!» Stärken bestätigen und «sehen, was da<br />
ist» – darum gehe es. Oder, wie das Theater sein Ziel<br />
beschreibt: «HORA hat die Absicht, die künstlerische<br />
und kreative Entwicklung von Menschen mit einer geistigen<br />
Behinderung zu unterstützen und zu fördern sowie<br />
ihnen auf einem professionellen Niveau zu ermöglichen,<br />
ihr aussergewöhnliches Können einem breiten Publikum<br />
zu zeigen.» Ende März wird das angesprochene breite<br />
Publikum wieder Gelegenheit zum Staunen haben: Das<br />
Theater HORA spielt «Faust 1 + 2» und erobert damit<br />
nicht nur Goethe.<br />
Christine Loriol ist Journalistin und Texterin. Sie lebt und arbeitet in<br />
Zürich.<br />
Stotterchamp 2011<br />
«Gestärkt quer in der Landschaft stehen»<br />
Intensivtherapiewoche mit erlebnispädagogischen<br />
Elementen für stotternde Jugendliche zwischen 11<br />
und 18 Jahren.<br />
Ziele → Gemeinsam Neues ausprobieren → Mit Stottern<br />
anders umgehen → Herausforderungen meistern<br />
und sich behaupten → Auf Menschen zugehen können<br />
Termin → Juli 2011<br />
Infos/Anmeldung → www.hfh.ch/stottercamp
N° 02 / April 2011 <strong>heilpädagogik</strong> <strong>aktuell</strong><br />
Konzepte - 5<br />
«Die Richtigen und Berechtigten<br />
sollen profitieren»<br />
Abteilungsleiter Volksschule Christian Aeberli (AG) im Gespräch Interview Sabine Hüttche<br />
Was bedeuten die Forderungen<br />
an eine Optimierung des sonderpädagogischen<br />
Angebotes für die<br />
Kantone? Wie wird umgesetzt,<br />
was verlangt ist? Christian Aeberli<br />
antwortet für das Bildungsdepartement<br />
des Kantons Aargau.<br />
Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit<br />
Sonderpädagogik, Behinderung und Kommunikation?<br />
Als ich acht Jahre alt war, ist mein schwer behinderter<br />
Bruder auf die Welt gekommen. Die Behinderung wurde<br />
erst nach ungefähr einem Jahr erkannt. Noch sehr gut in<br />
meiner Erinnerung sind die weinenden Eltern und Grosseltern,<br />
als uns der ärztliche Befund mitgeteilt wurde.<br />
Später lebte mein Bruder während der Woche im Sonderschulheim.<br />
Und heute lebt er die ganze Zeit im Heim,<br />
besucht einmal im Monat meine Eltern und mich, wenn<br />
es meine Agenda erlaubt. Ich bin auch sein Vormund. In<br />
dieser Funktion pflege ich zusammen mit meinem Vater<br />
den Kontakt beziehungsweise die Kommunikation zum<br />
Heim. Während mein Vater regelmässig mit den Betreuungspersonen<br />
telefoniert, wird mit mir dann Kontakt<br />
aufgenommen, wenn Entscheide zum Beispiel bezüglich<br />
Impfung, Kleidung, etc. zu treffen sind. Mindestens<br />
einmal pro Jahr pflege ich den Austausch mit den<br />
Personen vor Ort im Rahmen der so genannten Versorgergespräche.<br />
Obwohl mein Bruder nichts sagen kann,<br />
wirkt er sehr zufrieden und lacht auch viel. Dies vor allem<br />
auch wegen den tollen Menschen im Heim.<br />
Welche Massnahmen liegen Ihnen besonders<br />
am Herzen?<br />
Nicht zuletzt wegen meines persönlichen Hintergrunds<br />
liegen mir die Menschen mit einer Behinderung sehr am<br />
Herzen. Es gilt vor allem bei Kindern und Jugendlichen<br />
sehr sorgfältig zu schauen, wie und wo sie am besten<br />
geschult und gefördert werden können. Dabei spielt die<br />
Kommunikation mit allen Betroffenen eine ganz wichtige<br />
Rolle. Eltern, Lehrpersonen, Schulleitungen, Schulbehörden<br />
und weitere sind in die Entscheidprozesse zur<br />
Schulung und Förderung der behinderten Kinder und<br />
Jugendlichen einzubeziehen. Hierbei leistet das standardisierte<br />
Abklärungsverfahren (SAV) der schweizerischen<br />
Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK)<br />
in Zukunft hilfreiche Dienste. Das SAV wird im Aargau<br />
ab Schuljahr 2011/12 eingesetzt, wenn es um den Förderbedarf<br />
von behinderten Kindern und Jugendlichen geht.<br />
Was machen Sie im Kanton Aargau anders als<br />
andere Kantone und warum?<br />
Mit der Einführung des SAVs gehen weitere Entwicklungen<br />
zur Optimierung des sonderpädagogischen<br />
Angebots an der Volksschule einher. Zusammen mit den<br />
bereits früher beschlossenen Gesetzesänderungen bilden<br />
sie das «Sonderschulkonzept» des Kantons Aargau. Damit<br />
sind die Integrationsvorgaben der Bundesgesetzgebung<br />
erfüllt. Gleichwohl soll der interkantonalen Vereinbarung<br />
über die Zusammenarbeit im Bildungsbereich<br />
(Sonderpädagogik-Konkordat) vorerst nicht beigetreten<br />
werden. Nichtsdestotrotz werden die behinderten Kinder<br />
und Jugendlichen im Kanton Aargau integrativ geschult,<br />
soweit dies in der konkreten Situation möglich ist und<br />
ihrem Wohl dient. Dafür können pro Kind maximal<br />
sechs zusätzliche Lektionen zur individuellen Förde-<br />
Es lebe das «Wir und unsere Schule», sagt Christian Aeberli. ©privat<br />
rung eingesetzt werden. Die Lektionen können mit dem<br />
Faktor drei in so genannte Behindertenassistenzstunden<br />
umgewandelt werden. Den Entscheid, ob ein Kind integrativ<br />
oder separativ geschult wird, fällt die Schulpflege<br />
des Wohnorts des Kinds im Anschluss an das SAV, unter<br />
Berücksichtigung der Empfehlungen aus dem SAV und<br />
der konkreten Gegebenheiten in der Regelschule.<br />
Wie entwickeln Sie Ihre Ideen und Lösungen?<br />
Welche Ziele verfolgen Sie?<br />
Seit 1997 können im Aargau Kinder mit Lernschwierigkeiten<br />
entweder in einer Kleinklasse oder, mit zusätzlicher<br />
Unterstützung durch einen schulischen Heilpädagogen,<br />
in der Regelklasse unterrichtet werden. Die Gemeinden<br />
bzw. Schulpflegen können über die Schulungsform<br />
entscheiden. Heute wird in 195 der 220 Gemeinden<br />
integrativ unterrichtet. Diese lange Erfahrung hat<br />
mitgeholfen, dass ab 2007 auch behinderte Kinder und<br />
Jugendliche mit verstärkten Massnahmen in den Regelklassen<br />
geschult und gefördert werden können. Mit den<br />
oben angesprochenen Optimierungsmassnahmen werden<br />
dieser Weg sowie die Zielsetzungen des nationalen<br />
Behindertengleichstellungsgesetzes weiter verfolgt. Ganz<br />
wichtig in diesem Zusammenhang ist aber auch, dass die<br />
Richtigen und Berechtigten von den verstärkten Massnahmen<br />
profitieren. Das heisst, dass der Behinderungsbegriff<br />
geschärft werden muss. Dazu leistet wiederum die<br />
Anwendung des SAVs mit der internationalen Klassifikation<br />
der Funktionsfähigkeit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation<br />
(WHO) einen wichtigen Beitrag. Zudem wird<br />
im Aargau eine kantonale Abklärungsstelle für Kinder<br />
und Jugendliche mit schweren Störungen des Sprechens<br />
und der Sprache geschaffen. Sie ersetzt die bisherige<br />
Zuweisungspraxis durch die Sprachheilfachpersonen der<br />
Gemeinden. Auch sie trägt zur besseren Feststellung von<br />
allfälligen Behinderungen bei.<br />
Welche Massnahmen realisieren Sie, um die<br />
Kommunikationsfähigkeit aller Beteiligten in<br />
der Schule zu fördern?<br />
Hohe kommunikative Fähigkeiten sind eine Grundvoraussetzung<br />
für erfolgreiches Unterrichten und Zusammenarbeiten<br />
an der Schule. Hier sind alle Beteiligten<br />
gefordert. Eine Schlüsselfunktion kommt den Schulleiterinnen<br />
zu. Sie sind zur Hauptsache für die Prozesse im<br />
Zusammenhang mit der integrativen oder separativen<br />
Schulung von behinderten Kindern und Jugendlichen<br />
verantwortlich. Sie organisieren und führen die Gespräche<br />
mit den Eltern, den Kindern und den beteiligten Lehrpersonen.<br />
Weil die Kommunikation so wichtig ist, wird auf<br />
den Aufbau von Kommunikationsfähigkeiten der Schulleiterinnen<br />
und Schulleiter sowohl in der Aus- als auch<br />
in der Weiterbildung ein besonderes Augenmerk gelegt.<br />
Welche Rolle spielt die heilpädagogische<br />
Ausbildung?<br />
Zusammen mit der einzelnen Lehrperson ist die heilpädagogische<br />
Ausbildung das A&O für die erfolgreiche<br />
Bildung von behinderten Kindern und Jugendlichen.<br />
Nur motivierte und gut ausgebildete schulische Heilpädagogen<br />
können die anspruchsvolle Arbeit mit den Behinderten<br />
sowie auch mit den Kolleginnen in der Klasse, im<br />
Schulhaus oder im Heim erfolgreich bewältigen. Neben<br />
den fachlichen Fähigkeiten sind auch die kommunikativen<br />
und sozialen Kompetenzen in den heilpädagogischen<br />
Ausbildungsgängen prominent zu berücksichtigen.<br />
Denn die Zeiten von «ich und mein/-e Schüler/-in oder<br />
meine Klasse» sind endgültig vorbei. Es lebe das «wir und<br />
unsere Schülerinnen und Schüler beziehungsweise unsere<br />
Schule.»<br />
Christian Aeberli leitet seit 2006 die Abteilung Volksschule und ist<br />
Mitglied der Geschäftsleitung im Departement Bildung, Kultur und<br />
Sport (BKS) des Kantons Aargau. Bis 2005 war er Senior Researcher und<br />
Bildungsexperte bei Avenir Suisse.<br />
Sabine Hüttche ist Mitarbeiterin im Rektorat der <strong>HfH</strong>, Stabsstelle<br />
Marketing und Kommunikation.<br />
100 Jugendliche tanzen ihre Visionen<br />
überraschend – unvergesslich – berührend<br />
Choreographische Leitung<br />
Royston Maldoom<br />
Kinohit «Rhythm is it!»<br />
Orchester<br />
Camerata Schweiz<br />
Dirigent: Kevin Griffiths<br />
Piazzolla / Vivaldi / Copland<br />
Lichtdesign<br />
Pete Ayres<br />
Aufführung für Schulklassen<br />
(Generalprobe CHF 10.– pro Schüler/in)<br />
Donnerstag 14. April 2011, 14.30 Uhr<br />
Anmeldung Schulklassen: marketing@hfh.ch<br />
Weitere Aufführungen<br />
Freitag 15. April 2011, 20 Uhr<br />
Samstag 16. April 2011, 20 Uhr<br />
Maag MusicHall, Auditorium<br />
www.tanzbewegtvisionen-hfh.ch<br />
Vorverkauf: Musikhaus Jecklin & Co. AG, 044 253 76 76 / tickets@jecklin.ch
6 - Recherche <strong>heilpädagogik</strong> <strong>aktuell</strong><br />
April 2011 / N° 02<br />
Wie Kommunikation mit dementen<br />
Menschen gelingen kann<br />
An der <strong>HfH</strong> sucht die Logopädie neue Wege der Therapie zum Erhalt von Sprache und Kommunikationsfähigkeit Text Christine Loriol Foto Thomas Burla<br />
Demenz ist letztlich auch eine<br />
Kommunikationsbehinderung.<br />
Wo die Sprache verschwindet, ist<br />
der Dialog in Gefahr und damit die<br />
Beziehung. Eine Übersicht.<br />
In der Schweiz leben mehr als 100 000 Menschen mit<br />
Demenz. Rund die Hälfte bis zwei Drittel der Betroffenen<br />
leidet an der Alzheimer-Krankheit. Der Begriff Demenz<br />
steht für Krankheiten, bei denen das Hirn fortschreitend<br />
geschädigt wird; in der Folge sind Hirnleistungen beeinträchtigt.<br />
Das Thema Sprachabbau bei Demenz ist in der Interkantonalen<br />
Hochschule für Heilpädagogik Zürich (<strong>HfH</strong>)<br />
gleich mehrfach verankert. Mit Sprache und Demenz<br />
befasst sich Prof. Dr. Jürgen Steiner, Leiter des Studiengangs<br />
Logopädie. Er hat 2010 das Buch «Sprachtherapie<br />
bei Demenz» veröffentlicht und im Film «Gelingende<br />
Kommunikation» die Methode KODOP - Kommunizieren,<br />
Dokumentieren, Präsentieren - vorgestellt (vgl.<br />
Box). Logopädisch orientierte Diagnostiktools und<br />
Therapievorschläge stehen als Download auf der <strong>HfH</strong>-<br />
Website zur Verfügung, Workshops für den Expertenaustausch<br />
sind geplant und eine Arbeitsgruppe Gerontagogik<br />
ist aktiv mit dem Thema beschäftigt.<br />
«Die Gesundheit zu erhalten, heisst auch, die Sprache<br />
und die Kommunikationsfähigkeit als wichtigste Säule für<br />
Kontakt, Orientierung und Sinn zu erhalten», sagt Jürgen<br />
Steiner. «Alter ist ein komplexes Thema. Im Themenkreis<br />
Demenz kann es nicht sein, dass wir eine Korrektur auf<br />
den Ebenen Laute, Wort und Satz zum Inhalt unserer<br />
Arbeit machen. Es geht auch um Kompetenzerleben zur<br />
Stabilisierung des Selbst und zur Aufrechterhaltung der<br />
Teilhabe. Dies erreichen wir durch eine Arbeit an Sprache<br />
und Kommunikation, die am tatsächlichen Leben und<br />
am Alltag anknüpft.»<br />
«Logopädie ist<br />
heilpädagogisch orientiert und<br />
verortet sich als angewandte<br />
Gerontagogik.»<br />
Kommunikationsbehinderungen sind Teil einer Demenz<br />
und oft sogar Zeichen des beginnenden Prozesses. Als<br />
Expertin für Sprache unter erschwerten Bedingungen<br />
sei die Logopädin prädestiniert, hier Beiträge zu leisten.<br />
«Der demenzielle Sprachabbau behindert ja nicht nur die<br />
Sprache eines Menschen, sondern den Dialog zwischen<br />
Menschen. Und in der Logopädie geht es nicht nur um<br />
Worte. Worte sind Kontextelemente. Sie verbinden Ich,<br />
Du und die Welt. Sie machen dann Sinn, wenn sie als<br />
Interaktionen gebraucht werden. Als Teile von mündlichen<br />
Äusserungen, als Dialoge, als schriftliche Texte.»<br />
Logopädie greift als Prävention, Therapie oder Beratung<br />
ein, wenn die Normalität der Sprachlichkeit gefährdet<br />
oder beeinträchtigt ist. Die Methode KODOP macht<br />
einen konkreten Vorschlag: «Der Therapeut führt ein<br />
dichtes Gespräch mit ungeteilter Aufmerksamkeit. Ein<br />
Stück des Lebens im Hier und Jetzt oder in der Vergangenheit<br />
soll aber nicht nur besprochen werden. Das Ziel<br />
ist das Erstellen eines kleinen biografischen Textes. Dieser<br />
Text hat mit der Person zu tun, sie erkennt sich in ihrem<br />
Leben wieder. Die Logopädin fungiert als «freundliche<br />
«Gelingende Kommunikation hat mit Wertschätzung und echtem Interesse zu tun», sagt Prof. Dr. Jürgen Steiner, <strong>HfH</strong>.<br />
Sekretärin» und bezieht den Partner ein, indem sie nachfragt,<br />
ihn eventuell zum anschliessenden Mitlesen auffordert<br />
oder zum konzentrierten Zuhören, wenn der Text<br />
fertig ist. Letztlich entsteht nach einem Zwiegespräch ein<br />
Werk, ein Text-Werk. Und dieses bleibt.»<br />
Vorschläge zur Einzeltherapie, zur kommunikativ<br />
geführten Gruppentherapie, zum Dialogcoaching und<br />
zur Beratung fasst das Buch «Sprachtherapie bei Demenz»<br />
zusammen. In der (Pflege-) Praxis hat sich – wenn die<br />
Sprache verschwindet – auch die Methode der Validation<br />
durchgesetzt, eine Form des wertschätzenden<br />
Umgangs. Unpassende Äusserungen und auch unpassendes<br />
Verhalten des dementen Gegenübers werden nicht<br />
abgelehnt, man steigt in seine Welt ein und versucht an<br />
manchen Stellen Vergangenes durch Fragen wiederzuholen.<br />
Der Film «Gelingende Kommunikation» der <strong>HfH</strong><br />
greift auch das Thema Validation eindrücklich auf.<br />
Jürgen Steiner plädiert dafür, Angehörige oder Betreuende<br />
nicht nur zu informieren, sondern auch zu schulen.<br />
Der <strong>HfH</strong>-Studiengang Logopädie bietet hierzu Unterstützung;<br />
ebenso wie auch das Zentrum für Gerontologie<br />
ZfG der Universität Zürich mit dem «DEA-Training»,<br />
einer «Schulung zur Erkennung des emotionalen<br />
Ausdrucks von Menschen mit Demenz».<br />
«Angehörige sind nicht Sprachgesunde, sondern vielmehr<br />
ebenso Kommunikationsbeeinträchtigte, da die<br />
Regeln des Gesprächs mit dem vertrauten Partner in den<br />
vertrauten Themen ausser Kraft sind», sagt Jürgen Steiner.<br />
Wie gross das Bedürfnis nach Hilfestellung ist, zeigt der<br />
Publikumsandrang bei entsprechenden Angeboten. So<br />
ist beispielsweise das «Angehörigenforum» des Zürcher<br />
Stadtspitals Waid im November mit einer Abendveranstaltung<br />
zur «Gelingenden Kommunikation mit dementen<br />
Menschen» auf grosses Echo gestossen.<br />
«Logopädie ist heilpädagogisch orientiert und verortet<br />
sich als angewandte Gerontagogik», erklärt Jürgen Steiner<br />
abschliessend. Eine systemische Sichtweise sei die Basis<br />
einer Theorie der Therapie im Kontext Demenz: «Denn<br />
der Mensch ist eine Beziehungspersönlichkeit und somit<br />
nur in systemischen Bezügen zu verstehen.»<br />
→ Literatur und Film<br />
→ Wertvolle Adressen<br />
Das Buch «Sprachtherapie bei<br />
Demenz – Aufgabengebiet und<br />
ressourcenorientierte Praxis» von<br />
Jürgen Steiner ist im Oktober 2010<br />
im Verlag Reinhard, München<br />
erschienen (www.reinhardt-verlag.de).<br />
Der Film «Gelingende Kommunikation<br />
mit dementen Menschen»<br />
von Ursula Brunner und Jürgen<br />
Steiner ist im Auftrag der <strong>HfH</strong> und<br />
mit Unterstützung des Tertianum<br />
Bildungsinstitutes ZfP entstanden<br />
und als DVD über www.hfh.ch/shop<br />
erhältlich.<br />
www.demenzsprache-hfh.ch<br />
ist das virtuelle Kompetenzzentrum der <strong>HfH</strong>.<br />
Literatur zum Thema, Checklisten und Bausteine.<br />
www.zfg.uzh.ch<br />
ist die Website des Zentrums für Gerontologie der Universität<br />
Zürich. Hier finden Sie Informationen über das DEA-Training,<br />
den erwähnten Film und mehr.<br />
www.waidspital.ch/memory-klinik<br />
weist auf Angebote wie das «Angehörigenforum»<br />
und andere Veranstaltungen hin.<br />
Christine Loriol ist Journalistin und Texterin. Sie lebt und arbeitet in<br />
Zürich.
N° 02 / April 2011 <strong>heilpädagogik</strong> <strong>aktuell</strong><br />
Masterarbeit - 7<br />
Gegen die Sprachlosigkeit<br />
Ergebnisse einer Masterthese Text Dr. Lars Mohr<br />
Was Schulen tun können, um die Ausdrucksfähigkeit ihrer beeinträchtigten<br />
Schülerinnen und Schüler nachhaltig zu fördern.<br />
Kinder arbeiten in der Schule mit Piktogrammen und einfachen Kommunikationshilfsmitteln. © Active Communication<br />
Daniel versteht die Welt nicht mehr. Zwei Jahre lang hat<br />
er lesen und schreiben gelernt, mühsam zwar, aber erfolgreich.<br />
Jetzt, in seiner neuen Klasse, erkennt er die Buchstaben<br />
nicht mehr. Sie sehen ganz anders aus. Kyrillisch,<br />
sagt die Lehrerin. Die Wörter, die Daniel schreibt, kann<br />
sie nicht lesen und er nicht ihre. Hat er umsonst gelernt?<br />
Keine einheitliche Festlegung<br />
Was sich anhört wie der böse Traum eines Schuljungen,<br />
hat in der Realität durchaus Entsprechungen. In ähnliche<br />
Situationen geraten Menschen, die wegen einer Behinderung<br />
in ihrer Lautsprache eingeschränkt sind oder überhaupt<br />
nicht sprechen können. Es gibt zwar viele Möglichkeiten<br />
ihnen zu helfen, etwa mit der Unterstützten<br />
Kommunikation (vgl. Kasten). Aber eine einheitliche<br />
Festlegung existiert nicht.<br />
Während die Schriftsprache in lateinischen Buchstaben<br />
gelehrt wird, hängt der Gebrauch Unterstützter Kommunikation<br />
(UK) von der einzelnen Schule und den jeweiligen<br />
Fachleuten ab. Es kommt vor, dass – wie bei Daniel<br />
Ein Puzzle mit UK-Hilfsmittel lösen. © Active Communication<br />
– schon der Übertritt in eine neue Klasse erworbene<br />
Ausdruckskompetenzen in Frage stellt, z. B. wenn unterschiedliche<br />
Gebärden zur Anwendung kommen oder eine<br />
erfahrene UK-Fachperson die Schule verlässt.<br />
Qualitätsmerkmale für eine nachhaltig bessere<br />
Verständigung<br />
Austausch und Kommunikation sind ein Grundbedürfnis<br />
jedes Menschen. Wohlbefinden und Persönlichkeitsentwicklung<br />
hängen entscheidend davon ab, inwiefern es uns<br />
gelingt, andere zu verstehen und von ihnen verstanden zu<br />
werden.<br />
Sara Gschwend ist in ihrer Masterthese «Relevante Qualitätsmerkmale<br />
für die schulinterne Implementierung von<br />
Unterstützter Kommunikation» der Frage nachgegangen,<br />
wie sich UK in einem Schulhaus nachhaltig und wirkungsvoll<br />
etablieren lässt. Sie hat bestehende Konzepte einzelner<br />
Schulen analysiert sowie deren UK-Fachpersonen befragt.<br />
Zudem führte sie ein Interview mit Prof. Dr. Dorothea<br />
Lage (FHNW), einer anerkannten Expertin. Als Ergebnis<br />
nennt die Masterarbeit eine Reihe von Qualitätsmerkmalen,<br />
die den Weg zu einer nachhaltigen UK-Kultur<br />
anzeigen.<br />
Unterstützte Kommunikation gehört zum<br />
pädagogischen Auftrag<br />
Ein erster Schritt sei die Erfassung des Förderbedarfs in<br />
der Kommunikation: Wie viele Kinder und Jugendliche<br />
in unserer Schule benötigen UK und wie sehen deren<br />
Schwierigkeiten und Möglichkeiten aus? Die Antworten<br />
darauf erlaubten es, personelle und mediale Anforderungen<br />
festzulegen.<br />
Etwa ein Drittel der Schülerinnen und Schüler in den<br />
heilpädagogischen Einrichtungen der Befragten weist<br />
zusätzlichen Förderbedarf in der Kommunikation auf. Sie<br />
sind darauf angewiesen, dass der systematische Aufbau<br />
der Kommunikation nicht nur als gewünschter, sondern<br />
als verbindlicher Lerninhalt gilt: «Der Einsatz von UK<br />
[gehört] zum pädagogischen Auftrag, sobald eine Sprachschwierigkeit<br />
vorliegt», fordert Gschwend; mit anderen<br />
Worten: Die Arbeit mit UK sollte in den Richtlinien und<br />
Konzepten der Schulen verpflichtend verankert sein.<br />
Das heißt: «UK muss in der Förderplanung bzw. Standortbestimmung<br />
nach ICF […] zu finden sein», ebenso als<br />
«fester Bestandteil bei interdisziplinären Gesprächen […],<br />
welche unter allen Mitarbeitenden stattfinden, die an<br />
der Förderung des jeweiligen Kindes beteiligt sind.» Die<br />
kommunikative Entwicklung sei in einem UK-Dossier<br />
festzuhalten und der Umgang mit UK müsse bei allen<br />
Übertrittsgesprächen zum Thema werden.<br />
Sinnvolle Verständigung<br />
Die Berücksichtigung von UK setzt jedoch voraus, dass<br />
an den Schulen ein hinreichendes inhaltliches Know-how<br />
zur Förderung der Kommunikation vorhanden ist. Im<br />
Experteninterview hebt Dorothea Lage «das mangelnde<br />
Fachwissen» als eine der Hauptursachen hervor, «warum<br />
UK noch nicht flächendeckend und bereichsübergreifend<br />
in den Institutionen etabliert ist».<br />
Fachlichkeit in der Arbeit mit UK bedeutet laut Gschwend<br />
u. a. ein großes Repertoire an Kommunikationshilfen<br />
zu kennen und im Einzelfall das geeignete Material zu<br />
bestimmen bzw. nach den Bedürfnissen und Ressourcen<br />
anzupassen: «Bei der Auswahl müssen insbesondere auch<br />
die motorischen und kognitiven Fähig- und Fertigkeiten<br />
mit einbezogen werden. […] Sehr zentral, aber auch<br />
äusserst schwierig ist die Vokabularauswahl. Die UK-Fachpersonen<br />
müssen sich genau überlegen, welche die wichtigsten<br />
Wörter für das zu unterstützende Kind sind und<br />
was damit mitgeteilt werden kann», erläutert Gschwend.<br />
Für die Schüler und Schülerinnen komme es darauf an,<br />
in ihren Alltagssituationen eine sinnvolle Verständigung<br />
→ Unterstützte Kommunikation<br />
Unter Unterstützter Kommunikation (UK) versteht man ein<br />
interdisziplinäres – u. a. heilpädagogisches – Fachgebiet, das auf<br />
die Verbesserung der Kommunikation und die Erweiterung der<br />
kommunikativen Fähigkeiten von Menschen mit eingeschränkten<br />
Sprachmöglichkeiten zielt. UK umfasst alle pädagogischen und<br />
therapeutischen Massnahmen, welche die Lautsprache fördern,<br />
ergänzen oder ersetzen: körpereigene Kommunikationsformen<br />
(Mimik, Gestik), nichtelektronische Kommunikationshilfen<br />
(Fotos, Bilder, Piktogramme, Gebärden etc.) sowie elektronische<br />
Kommunikationshilfen (Geräte mit und ohne Sprachausgabe, PC<br />
u. ä.). Der englischsprachige, international gebräuchliche Begriff<br />
für UK lautet «Augmentative and Alternative Communication»,<br />
abgekürzt AAC.<br />
→ Informationen unter www.isaac-online.org, www.buk.ch und<br />
www.activecommunication.ch.<br />
zu finden. Entscheidend sei, die UK-Massnahmen auch<br />
an einen erweiterten Personenkreis zu vermitteln, d.h. an<br />
Eltern, Mitschüler oder die Schulbusfahrerin.<br />
Fachliche Qualifizierung und Konzeptarbeit bedürfen<br />
entsprechender Ressourcen, sagen die Fachpersonen.<br />
Die Schulen sollten Arbeitszeit und Mittel bereitstellen,<br />
insbesondere für inhaltliche Weiterbildungen, für den<br />
Austausch unter den Mitarbeitenden und mit Eltern, für<br />
den Aufbau und die Pflege einer Bibliothek zum Thema<br />
und nicht zuletzt für die Beschaffung von Förder- und<br />
Hilfsmaterialien. Es handelt sich dabei um direkte Investitionen<br />
in die Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen.<br />
Das gilt im Übrigen nicht nur für heilpädagogische<br />
Einrichtungen. Auch die integrative Schulung kann<br />
sich für Schüler mit beeinträchtigter Kommunikation<br />
nur dann bewähren, wenn eine nachhaltige UK-Kultur<br />
geschaffen wird.<br />
Sara Gschwend, geb. Sennhauser, hat 2009 ihr Studium der<br />
Schulischen Heilpädagogik an der <strong>HfH</strong> abgeschlossen. Sie arbeitete bis<br />
Sommer 2010 an der Heilpädagogischen Schule der Stadt Zürich und<br />
ist zurzeit im Ausland tätig. Betreuende Dozentin ihrer Abschlussarbeit<br />
war Ariane Bühler.<br />
Dr. Lars Mohr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der <strong>HfH</strong>,<br />
Arbeitsbereich Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung.
8 - Weiterbildung und Agenda <strong>heilpädagogik</strong> <strong>aktuell</strong><br />
April 2011 / N° 02<br />
Weiterbildung Veranstaltungen<br />
Mai 2011<br />
Aug 2011<br />
Sept 2011<br />
Sept 2012<br />
Mai 2011<br />
Juni 2011<br />
Juli 2011<br />
Aug 2011<br />
Sept 2011<br />
Zusatzausbildungen<br />
CAS II Projekt- und Changemanagement<br />
CAS Logopädie bei Kindern mit einer geistigen Behinderung<br />
CAS I Management und Leadership<br />
CAS Heilpädagogisches Lerncoaching<br />
CAS Kommunikative Prozesse und Beratung in der integrativen<br />
Schule – Die Kunst der Begegnung<br />
CAS Starting strong – Heilpädagogik in der Eingangsstufe 4 - 8<br />
MAS in Klinischer Musiktherapie<br />
Ausgewählte Weiterbildungskurse<br />
Einführung in die Beratung (Kurs 40)<br />
«Medizinerlatein» für Heilpädagoginnen und Heilpädagogen: Medizinische<br />
Gutachten und Abklärungsberichte verstehen (Kurs 43)<br />
Workshop «Pflege» – Alltagspflege eines Menschen mit Mehrfachbehinderung<br />
in einer Institution oder zu Hause (Kurs 53)<br />
Geistige Behinderung und psychische Störung – eine Einführung<br />
(Kurs 58)<br />
Leichtere und mittelgradige Wahrnehmungsstörungen im Schulalter –<br />
Erscheinungsbilder, Interpretationen, Förderung (Kurs 63)<br />
Herausfordernde Verhaltensweisen bei kleinen Kindern (0-8), (Kurs 70)<br />
«Gemeinsam geht’s besser?» – Im Team leiten (Kurs 80)<br />
Umgang mit Medien bei Gewaltvorfällen und Konflikten (Kurs 81)<br />
Organisationskultur, -diagnose und -entwicklung (Seminar 10, Kurs 83)<br />
Referat zum Thema Ganzheitliche Ernährungsunterstützung für<br />
Menschen mit Mehrfachbehinderung (Kurs 90)<br />
Workshop Fallbesprechungen: Ganzheitliche Ernährungsunterstützung<br />
für Menschen mit Mehrfachbehinderung (Kurs 91)<br />
Kinder und Jugendliche mit einer Körperbehinderung – Integration und<br />
Begleitung in der Regelschule (Kurs 25)<br />
Workshop «Routinen, die weiterbringen…?» – Die Bedeutung von<br />
ritualisiertem Handeln in der Begleitung von Menschen mit Mehrfachbehinderung<br />
(Kurs 55)<br />
ADHS im Vorschul- und früheren Schulalter (Kurs 62)<br />
Förderung von Identität und Selbstbestimmung bei Jugendlichen und<br />
jungen Erwachsenen mit Down-Syndrom (Kurs 69)<br />
Frühförderung bei Kindern psychisch verletzlicher Eltern (Kurs 71)<br />
Diversity Management in der heilpädagogischen Institution – Mit<br />
verschiedenen Mitarbeitenden Vielfalt entschieden gestalten (Kurs 78)<br />
Integrative Sprach- und Kommunikationsförderung (Kurs 10)<br />
Projekt- und Changemanagement (Seminar 11, Kurs 83)<br />
Verhaltensstörungen in der Schule die Stirn bieten. Das Konzept der<br />
«neuen Autorität durch Beziehung» nach Haim Omer auf die heilpädagogische<br />
Praxis übertragen (Kurs 56)<br />
«Wenn mir die Worte fehlen» – Handzeichen und Gebärden für<br />
Menschen mit einer lautsprachlichen und kognitiven Beeinträchtigung<br />
(Kurs 12)<br />
Elektrostimulation bei Dysphagie und anderen logopädischen Indikationen<br />
(Kurs 13)<br />
Aufmerksamkeit lernen – Unaufmerksamkeit verlernen (Kurs 27)<br />
Rhythmik – Bewegtes Lernen im Unterricht (Kurs 32)<br />
Coaching oder Mediation? – Beratung im schulischen Kontext (Kurs 42)<br />
Einführung in die Motogeragogik (Kurs 68)<br />
Vom Spielen zu den Kulturtechniken, Teil II (Kurs 77)<br />
Konfliktmanagement und Krisenintervention (Seminar 12, Kurs 83)<br />
→ Kursdaten, Detailprogramme und Anmeldung – sowie alle weiteren<br />
Kurse im Jahr 2011 – unter http://www.hfh.ch/weiterbildung.<br />
→ Bestellungen des Weiterbildungsprogramms 2011 (145 Seiten) bitte<br />
an Hochschule für Heilpädagogik, Bereich Weiterbildung und Zusatzausbildungen<br />
per Email: wfd@hfh.ch oder Telefon 044 317 12 53.<br />
Kostenloses Abo bestellen unter www.hfh.ch oder über redaktion@hfh.ch.<br />
Tanzevent am 15./16. April 2011<br />
«spring! - tanz bewegt visionen»<br />
Erstmalig in der Schweiz kommt ein grosses Community-Dance-Projekt mit rund 100<br />
Jugendlichen und jungen Erwachsenen zur Aufführung. Die Teilnehmenden sollen einen<br />
Entwicklungsschub in Motivation, Engagement, Ausdauer sowie Erfolg erleben und ihre<br />
nächsten Lebensschritte mit stärkerem Selbstvertrauen anpacken können. Gezeigt wird<br />
eine Choreographie von Royston Maldoom («Rhythm is it!»), begleitet vom Orchester<br />
Camerata Schweiz. Das gemeinnützige Projekt wendet sich an Jugendliche und junge<br />
Erwachsene (16-20 Jahre) und entsteht im Rahmen einer Bachelorarbeit der Psychomotoriktherapie-Ausbildung<br />
an der <strong>HfH</strong>. Die Finanzierung erfolgt u.a. durch Beiträge von<br />
Stiftungen, Firmen, der öffentlichen Hand, private Spenden sowie durch Eintrittsgelder.<br />
→ Tickets bei Musikhaus Jecklin, Telefon: 044 253 76 76, E-Mail: tickets@jecklin.ch.<br />
→ Mehr Infos unter www.tanzbewegtvisionen-hfh.ch.<br />
Ausschnitt aus dem Kinofilm „Rhythm is it!“ mit Royston Maldoom. © Boomtown Media<br />
Ausstellung bis Juni 2011<br />
Monatszeitschrift DU zum Thema<br />
Behinderung<br />
Foto-Ausstellung zur DU-Nummer 1944.<br />
Neben Bildern des bekannten Fotografen<br />
Werner Bischof zeigt die <strong>HfH</strong> Texte<br />
von Fachleuten von damals zum Thema<br />
«Behinderung». Eintritt frei.<br />
Tagung am 27./28. Mai 2011<br />
Gebärdensprache in der Schweiz<br />
Ziel ist es, die Gebärdenspracharbeit<br />
der vergangenen 25 Jahre zu evaluieren,<br />
Professionalisierung in Forschung,<br />
Dolmetschen, Lehren und Lernen zu<br />
thematisieren sowie Ausblicke zu geben.<br />
Tagung am 22./23. Juni 2011<br />
10 Jahre <strong>HfH</strong><br />
Die Hochschule nimmt eine Standortbestimmung<br />
vor zu <strong>aktuell</strong>en Themen der<br />
Heil- und Sonderpädagogik, Logopädie,<br />
Psychomotoriktherapie, Berufsbildung,<br />
Andragogik und Gerontagogik.<br />
Stottercamp im Juli 2011<br />
Therapiewoche am Bodensee<br />
Infos unter www.hfh.ch/stottercamp.<br />
Tagung am 23./24. September 2011<br />
Starting strong!<br />
Erfolgreicher Eingang ins Bildungssystem<br />
für alle. Bestandsaufnahme ein<br />
Jahr nach dem Schlussbericht der EDK<br />
Ost. Themen: Frühe Bildung, integrativ<br />
und präventiv wirkende Eingangsstufe,<br />
Grundlagen und Massnahmen vor und<br />
während der Eingangsstufe.<br />
Impressum<br />
<strong>heilpädagogik</strong> <strong>aktuell</strong><br />
Magazin der Hochschule für Heilpädagogik<br />
www.hfh.ch<br />
Auflage<br />
16.000<br />
Erscheinungsweise<br />
2-3mal jährlich<br />
Herausgeber<br />
Interkantonale Hochschule<br />
für Heilpädagogik Zürich<br />
Schaffhauserstrasse 239<br />
Postfach 5850<br />
CH-8050 Zürich<br />
Tel +41 44 317 11 11<br />
Fax +41 44 317 11 10<br />
E-mail info@hfh.ch<br />
Verantwortlich<br />
Prof. Dr. Urs Strasser<br />
Redaktionsteam<br />
Irene Forster, Sabine Hüttche (Ltg.),<br />
Christine Loriol, Lars Mohr, Cé line-Anne Vuille<br />
Autorinnen & Autoren dieser Ausgabe<br />
Prof. Dr. Karin Bernath, Dr. Penny Boyes Braem,<br />
Christina Koch Gerber, Susanne Kofmel Ruchat<br />
Layout<br />
Ina Harsch, intwodesign.com<br />
Fotonachweis<br />
Titelfoto (S. 1) aus dem Film «Schmetterling und<br />
Taucherglocke» mit freundlicher Genehmigung des<br />
Filmverleihs Prokino, München; SRF/Merly Knörle<br />
(S.2); Christoph Aebischer (S. 3); Christian Aeberli<br />
(S. 5); Thomas Burla (S. 2, 4, 6); Fotos (S. 7) mit<br />
freundlicher Genehmigung der Active Communication<br />
GmbH, Beinhorn-Fotografie (S. 8)<br />
Druck<br />
Druckerei Peter Gehring AG, Winterthur<br />
→ Wegen der besseren Lesbarkeit<br />
verwenden wir geschlechtsneutrale<br />
Bezeichnungen oder abwechselnd die<br />
weibliche und männliche Form.