ALfA e.V. Magazin – LebensForum | 73 1/2005
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Nr. <strong>73</strong> | 1. Quartal <strong>2005</strong> | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 3,<strong>–</strong> €<br />
B 42890<br />
LEBENSFORUM<br />
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (<strong>ALfA</strong>)<br />
Interview<br />
Rocco Buttiglione<br />
fordert mehr Werte<br />
Europa<br />
Kardinal rügt<br />
Lebensrechtler<br />
Gesellschaft<br />
PAS: Wenn die<br />
Seele stirbt<br />
Euthanasie<br />
Der Sturm<br />
auf das<br />
letzte Tabu
INHALT<br />
LEBENSFORUM <strong>73</strong><br />
EDITORIAL<br />
Lebensschutz für Geborene 3<br />
Dr. med. Claudia Kaminski<br />
TITEL<br />
Sturm auf das letzte Tabu 4<br />
Prof. Dr. phil. Manfred Spieker<br />
Das Groningen-Protokoll 6<br />
Dr. phil. nat. Andreas Reimann<br />
Note: mangelhaft! 8<br />
Rainer Beckmann<br />
EUROPA<br />
»Es gibt zu wenige Werte« 11<br />
Interview mit Rocco Buttiglione<br />
Dialog oder Widerstand 14<br />
Stephan Baier<br />
»Walk the talk« 17<br />
Interview mit Andreas Kirchmaier<br />
20 - 24<br />
GESELLSCHAFT<br />
Wenn die<br />
Seele stirbt<br />
Die für das Kind tödliche Abtreibung wird vielfach als Befreiung der Frau gefeiert, die<br />
sie statt vom Kind vom »Gebärzwang« entbinde. In Wahrheit fordert Abtreibung meist<br />
zwei Opfer. Viele Frauen erkranken nach Abtreibung am so genannten Post-Abortion-<br />
Syndrom; oft mit furchtbaren Folgen.<br />
Von Veronika Blasel, M.A.<br />
mmer wieder frage ich mich, warum<br />
hat mir das keiner gesagt? Wussten<br />
die anderen, Arzt, Beraterin, meine<br />
Eltern, meine Freundinnen und mein<br />
Mann wirklich nicht, was dann kommt?<br />
Als ich vor zwei Jahren zur Abtreibung<br />
gedrängt wurde, sagten alle, es sei das<br />
Beste für mich und für mein Kind! Nun<br />
ist mein Kind tot, und ich bin so verzweifelt!<br />
Ich kann nicht mehr schlafen und<br />
auch nicht mehr lachen. Niemand versteht<br />
mich! Damals hatte ich keine Kraft, mich<br />
gegen alle zu stellen. Auch heute bin ich<br />
mit meiner Not und meinem Elend allein.<br />
Bitte sagen Sie allen Menschen, wie<br />
furchtbar eine Abtreibung ist. Dauernd<br />
möchte ich weglaufen, rennen, jagen <strong>–</strong> Depressionen und Stimmungsschwankungen beherrschen nach einer Abtreibung das Leben vieler Frauen.<br />
aber die Gedanken sind schneller. Sie<br />
holen mich immer wieder ein. Schreckliche<br />
Schmerzen quälen meinen Körper schwiegen.<br />
mehrere internationale Studien beweisen<br />
lichen Diskussion weitgehend totgelogin<br />
Maria Simon (Abbildung 1), auch<br />
und meine Seele! Warum hat mir das Das beste Beispiel dafür, dass nach die verheerenden Auswirkungen, die Abtreibungen<br />
für die Betroffenen nach sich<br />
denn keiner gesagt?«<br />
dem Motto »Es kann nicht sein, was nicht<br />
Verzweiflung, Schlafstörungen, Unfähigkeit<br />
zur Freude, Einsamkeit, das Sich- regierung in ihrer Antwort vom 18. Mai sten der Studien <strong>–</strong> sowohl die, die über<br />
sein darf« agiert wird, bietet die Bundes-<br />
ziehen. Dabei haben allerdings die mei-<br />
Gejagt-Fühlen, schreckliche Schmerzen 2004 auf die Kleine Anfrage »Umsetzung das PAS aufklären wollen, als auch solche,<br />
<strong>–</strong> die Symptome einer Frau, deren Bericht<br />
die sich bemühen, das PAS als nebensächlich<br />
abzutun <strong>–</strong> mit Problemen zu kämpfen,<br />
man im Buch »Myriam … warum weinst<br />
du« nachlesen kann, deuten klar auf das<br />
die es erschweren, dass eine Studie zu<br />
Post-Abortion-Syndrom (PAS) hin. Mit<br />
diesem Thema allen Kriterien der Wissenschaftlichkeit<br />
standhält. David C. Re-<br />
»Schreckliche Schmerzen quälen<br />
diesem Begriff wird in der Psychologie<br />
und der Psychiatrie die Gesamtheit der meinen Körper und meine Seele.« ardon, Vorsitzender des US-amerikanischen<br />
Elliot Institute in Springfield,<br />
psychischen Symptome bezeichnet, die<br />
bei sämtlichen in das Abtreibungsgeschehen<br />
involvierten Personen, also den Frau-<br />
die Abtreibungsfolgen zu informieren,<br />
das es sich zur Aufgabe gemacht hat, über<br />
en, Kindsvätern, Ärzten, Beratern und der vom Bundesverfassungsgericht geforderten<br />
Beobachtungs- und Nachbesser-<br />
nennt dafür vier Gründe:<br />
dem Pflegepersonal, als Folge von Abtreibung<br />
auftreten können. Und ebenso klar ungspflicht« von CDU-Bundestagsabgeordneten.<br />
Dort hält die Bundesregierung erlebt haben, verweigern sämtliche Aus-<br />
1.) Viele Frauen, die eine Abtreibung<br />
wie die Diagnose ist die Antwort auf die<br />
Frage, die die Frau nicht mehr loslässt: auf die Frage nach den Spätfolgen von künfte. Bis zu 60 Prozent der zu Studienzwecken<br />
angefragten Frauen wollen sich<br />
Sie ist von niemandem über das PAS Abtreibungen für die Frau fest: »Der<br />
aufgeklärt worden, weil es anscheinend Bundesregierung sind entsprechende Studien<br />
in Deutschland äußern. Experten gehen davon aus, dass<br />
nicht über ihr Leben nach Abtreibung<br />
nicht bekannt. Es liegen<br />
jedoch Auswer-<br />
PAS betroffen ist, dass das Sprechen über<br />
ein Großteil dieser Frauen so stark vom<br />
Psychische Folgen nach einer Abtreibung<br />
tungen internationaler die Abtreibung als zu schmerzhaft empfunden<br />
würde.<br />
Psychische Spätfolgen: 80 %<br />
Fachliteratur vor, die<br />
im Langzeitvergleich<br />
Reue und Schuldgefühle: 60 %<br />
keine oder nur geringe 2.) Die Bandbreite der Symptome, an<br />
Unterschiede im psychischen<br />
Befinden leiden, ist so groß, dass es unmöglich ist,<br />
denen Frauen nach einer Abtreibung<br />
Stimmungsschwankungen und Depressionen, erhöhte Reizbarkeit: 35 - 40 %<br />
zwischen Frauen mit jedes einzelne in den Studien zu berücksichtigen.<br />
Unmotiviertes Weinen: 35 %<br />
Schwangerschaftsabbruch<br />
und Frauen mit<br />
Angstzustände: 30 %<br />
Abbildung 1 ausgetragenen Schwangerschaften<br />
aufweisen« sehr zeitabhängig.<br />
3.) Die Intensität vieler Reaktionen ist<br />
politisch nicht korrekt ist, über die Auswirkungen<br />
der staatlich finanzierten und<br />
4.) Die geläufige Methode, die Studien<br />
(Bundestagsdrucksache 15/3155).<br />
»rechtswidrigen, aber straffreien« vorgeburtlichen<br />
Kindstötungen im Rahmen Abortion-Syndrom reicht, diese Behaup-<br />
anderen standardisierten Umfrageinstru-<br />
Ein Blick in die Literatur zum Post- mittels eines Fragebogens oder eines<br />
der als frauenfreundlich propagierten tung zu widerlegen. Nicht nur, dass sehr ments durchzuführen, ist wenig geeignet,<br />
Fristenregelung zu sprechen. Deshalb wohl deutsche Studien zum Thema vorliegen,<br />
etwa von der klinischen Psycho-<br />
offen zu legen.<br />
tief sitzende und oft verdrängte Gefühle<br />
werden sie in den Medien und der öffent-<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 21<br />
Viele Frauen erkranken nach Abtreibung am so genannten Post-Abortion-Syndrom.<br />
I<br />
REHDER MEDIENAGENTUR<br />
RECHT<br />
BGH IV ZR 308/03 19<br />
Stefan Brandmaier<br />
GESELLSCHAFT<br />
Wenn die Seele stirbt 20<br />
Veronika Blasel, M.A.<br />
4 - 10<br />
Wie die Euthanasie<br />
schrittweise in unseren Land<br />
legalisiert und das letzte Tabu<br />
gebrochen werden soll.<br />
Erfolgreich verhindert 26<br />
Bernward Büchner<br />
Lernziel Sex 28<br />
Hubert Hecker<br />
MITTEILUNGEN DES BUNDESVORSTANDS<br />
BDV <strong>2005</strong> in Fulda 25<br />
Cornelia Kaminski<br />
BÜCHERFORUM 30<br />
KURZ VOR SCHLUSS 32<br />
LESERFORUM 34<br />
IMPRESSUM 35<br />
Mit Italiens EU-Minister<br />
Rocco Buttiglione sprach<br />
Tobias-B. Ottmar über die<br />
Chancen für einen besseren<br />
Lebensschutz in Europa<br />
11 - 13<br />
LETZTE SEITE 36<br />
2<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong><br />
EUROPAPARLAMENT
EDITORIAL<br />
14 - 16<br />
Ausgerechnet der Wiener Erzbischof<br />
Kardinal Christoph Schönborn fiel<br />
Lebensrechtlern öffentlich in den<br />
Rücken.<br />
28 - 29<br />
»pro familia« hat eine neue Geschäftsidee entwickelt: Zu »Sexperten«<br />
ausgebildete Teenager sollen jüngere Mitschüler zu frühem Sex<br />
ermuntern. Denn für Abtreibungen gibt es schließlich pro familia.<br />
Von Hubert Hecker<br />
ro familia« plant für das laufende<br />
Jahr an vier mittelhessischen<br />
Schulen ein »Peer-<br />
Education-Projekt«. Dabei sollen 14/15-<br />
jährige Schüler/innen in fünf dreistündigen<br />
Schulungen von »pro familia«-<br />
Mitarbeiter darauf »trainiert« werden,<br />
in den Klassen ihrer Schule im Zweierteam<br />
selbständig Sexualkundeunterricht<br />
abzuhalten. Vorgesehen sind in den 7.,<br />
8. und 9. Klassen jeweils drei mal zwei<br />
Stunden Sexualaufklärung durch die »peer<br />
educators«. Aus den Schulungsunterlagen<br />
geht hervor, dass die »Inhalte der Schulung<br />
der peer-educators« den zu vermittelnden<br />
Klasseninhalten entsprechen. In<br />
den beiden ersten Schulungstreffen steht<br />
auf dem Stundenplan: »Weiblicher,<br />
männlicher Körper, Zyklus, Spermien;<br />
Verhütungsmittel, Vor- und Nachteile,<br />
Pille danach, schwanger werden,<br />
Abbruch«.<br />
Von der Schulleiterin der beteiligten<br />
Kestner-Schule in Wetzlar wird das Konzept<br />
so charakterisiert: »Dieser Baustein<br />
ist als bester Ansatz gedacht, um mit<br />
Jugendlichen ins Gespräch zu kommen<br />
und sie zu sensibilisieren, sich der Thematik<br />
enttabuisiert und damit offen zu<br />
nähern, Fragen zu stellen und kompetente<br />
Antworten sowie Hilfestellungen zu erhalten«<br />
(Schreiben vom 11.11.04). »Pro<br />
familia« als Betreiber des Programms<br />
lobt sich folgendermaßen: »Ziel des Projekts<br />
ist eine bewusste Auseinandersetzungen<br />
von Jugendlichen mit sich selbst.<br />
(...) Begegnungen von Gleichaltrigen zum<br />
Thema, sexuelle Identitätsbildung, Aus-<br />
28<br />
GESELLSCHAFT<br />
P<br />
Lernziel Sex<br />
tausch, selbständige Durchführung der<br />
Veranstaltung, Meinungsbildung, Förderung<br />
von Engagement, Werte und Normen<br />
zu hinterfragen und zu besprechen,<br />
Kommunikation und Persönlichkeitsförderung.«<br />
Der Ansatz der so genannten Gleichaltrigen-Erziehung,<br />
also dass Schüler<br />
ihren Mitschüler/innen bei unterrichtlichen<br />
Inhalten helfen und nachhelfen,<br />
erklären und üben, repetieren und ggf.<br />
sogar kleinere Unterrichtsabschnitte unter<br />
Anleitung und Aufsicht des Lehrers übernehmen<br />
können, ist keine neue pädagogische<br />
Erkenntnis und wird an vielen<br />
Schulen praktiziert. Etwas völlig anderes<br />
ist bei diesem Projekt geplant: Eine schulfremde<br />
Beratungsinstitution, deren Mitarbeiter<br />
keine schulpädagogische Ausund<br />
Fortbildung absolviert haben, »trainieren«<br />
mit verbandseigenen Methoden<br />
und Zielen 14jährige Schüler/innen als<br />
»Multiplikatoren«, die dann in ihrer<br />
Schule »eigenständigen« Sexualkundeunterricht<br />
abhalten sollen. Wenn dieser<br />
Weg pädagogisch sinnvoll wäre, würde<br />
er die gesamte Aus- und Fortbildung von<br />
Lehrern in Frage stellen. Schule und<br />
Schulaufsicht verzichten darüber hinaus<br />
auf Kontrolle von Inhalten und Pädagogik;<br />
»pro familia« macht, was es will, z.<br />
B. Sexualkunde in der 7. und 8. Klasse,<br />
wo es laut Lehrplan gar nicht vorgesehen<br />
ist, und propagiert Ziele, die gegen den<br />
Erziehungsauftrag der Schule gerichtet<br />
sind.<br />
Es ist ausgeschlossen, dass 14jährige<br />
Schüler/innen zu den höchst komplexen<br />
Pro Familia will Schüler zu<br />
»Sexperten« ausbilden.<br />
Geschäftstüchtig sorgt »pro familia« dafür, dass die<br />
Nachfrage nach ihren Dienstleistungen nicht abreist.<br />
Fragen von »Verhütungsmitteln, Pille<br />
danach, Schwangerschaft, Abtreibungen«<br />
und Post-Abortion-Syndrom »kompetente<br />
Antworten und Hilfestellungen«<br />
geben können, wie die Schulleiterin der<br />
Wetzlarer Kestner-Schule behauptet. Die<br />
Themen um Sexualität, Abtreibung, Kinder<br />
und Familie sind nicht nur psychologisch<br />
gesehen hoch sensible Bereiche und<br />
in der pädagogischen Vermittlung anspruchsvoll,<br />
sondern auch in der sozialen<br />
und rechtlichen Dimension mit komplexen<br />
Fragestellungen verbunden, zu denen<br />
14jährige in keiner Weise mit Hintergrundwissen<br />
und Erörterungszugängen<br />
beitragen können.<br />
Die ethischen Gesichtspunkte bzw. die<br />
entsprechende Verantwortung bei diesen<br />
Themenkomplexen ist besonders hervorzuheben.<br />
Gesellschaftspolitisch hat die<br />
Sexualerziehung »die grundlegende Bedeutung<br />
von Ehe und Familie zu vermitteln«<br />
(§ 7 des Hessischen Schulgesetzes,<br />
»Sexualerziehung«). Von diesen grundgesetzlich<br />
verankerten Werten als gesellschaftlichen<br />
Lernzielen, von Sexualpädagogik<br />
als Teil der Persönlichkeitserziehung<br />
und dem Ziel einer sittlichen<br />
Reife mündiger Menschen, wie es das<br />
Bundesverfassungsgericht im einschlägigen<br />
Urteil 1977 aussagt, ist das Sexualprogramm<br />
von »pro familia« meilenweit<br />
entfernt. Es ist im Gegenteil zu erwarten,<br />
dass »pro familia« diese Schulschiene<br />
»Alles ausprobieren,<br />
wenn man Lust dazu hat.«<br />
Zitat aus pro familia-Broschüre<br />
dazu benutzen will, seinen Blitz-Beratungs-<br />
und Verharmlosungsansatz bei<br />
Abtreibungen in den Schülerköpfen zu<br />
»multiplizieren«.<br />
Aus der »pro familia«-Broschüre: »Du<br />
veränderst dich. …mehr darüber wissen«<br />
für 13- bis 16Jährige ergibt sich das Programm<br />
einer hedonistischen Lebensführung,<br />
das »pro familia« über die Schüler-<br />
Multiplikatoren an die Siebt- und Achtklässler<br />
vermitteln will. Auf S. 14 heißt<br />
es: »Das Glied (umgangsprachlich auch<br />
Schwanz, Pimmel …) ist nicht nur zum<br />
Wasserlassen (Pinkeln) da. Sondern vor<br />
allem auch ›zum Sex haben‹ und Lust<br />
erleben <strong>–</strong> das kann Selbstbefriedigung<br />
sein, oder Geschlechtsverkehr (miteinan-<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong><br />
ARCHIV<br />
Lebensschutz<br />
für Geborene<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
nach mehr als zehn Jahren erscheint<br />
das <strong>LebensForum</strong> nun erstmals im neuen<br />
Design. Mehr Farbe und ein höherer<br />
Bildanteil sorgen für mehr Abwechslung<br />
bei der Lektüre. Modernere Schriften,<br />
Überblicke und kurze Zusammenfassungen<br />
sowie »Informations«-Inseln gewährleisten<br />
eine hohe Lesbarkeit der Texte,<br />
in die Initialien den Einstieg erleichtern.<br />
Trotz dieser und weiterer optischer Neuerungen<br />
bleibt das bewährte redaktionelle<br />
Konzept erhalten. <strong>LebensForum</strong> ist und<br />
bleibt die populärwissenschaftliche<br />
Fachzeitschrift<br />
für Lebensrechtler.<br />
Wer sich tiefer<br />
mit Themen wie<br />
Abtreibung, Stammzellforschung<br />
und Euthanasie<br />
auseinander<br />
setzen will, findet hier<br />
gut recherchierte Berichte zu aktuellen<br />
Entwicklungen, tief schürfende Analysen<br />
sowie kompetente Stellungnahmen und<br />
Kommentare.<br />
So auch in der aktuellen Ausgabe, die<br />
den Fokus diesmal auf den Lebensschutz<br />
geborener Menschen richtet. Denn wie<br />
Manfred Spieker in seinem Beitrag belegt,<br />
bejaht auch in Deutschland, das unter<br />
dem nationalsozialistischen Terror ausreichend<br />
Erfahrungen mit der Euthanasie<br />
machen konnte, derzeit eine Mehrheit<br />
die »Tötung auf Verlangen.« Dass die<br />
Politik der Bundesregierung geeignet ist,<br />
diese Stimmung zu verstärken, anstatt ihr<br />
entgegen zu wirken, zeigt der Beitrag von<br />
Rainer Beckmann. Für <strong>LebensForum</strong> hat<br />
er den Gesetzentwurf der Bundesregierung<br />
zur Patientenverfügung einer profunden<br />
Analyse unterzogen. Wer dennoch<br />
zweifelt, dass die »Tötung auf Verlangen«<br />
unter dem Kostendruck im Gesundheitswesen<br />
zur »Tötung ohne Verlangen«<br />
mutiert, dem sei der Beitrag von Andreas<br />
Reimann ans Herz gelegt. Das Groningen<br />
Protokoll, mit dem in den Niederlanden<br />
die Früheuthanasie von Kindern legalisiert<br />
werden soll, macht besonders augenfällig,<br />
»Die Tötungsmaschinerie<br />
läuft wie geschmiert.«<br />
wie geschmiert die Tötungsmaschinerie<br />
längst<br />
läuft. Täuschen wir uns<br />
nicht: Der Sturm auf das<br />
letzte Tabu ist weit<br />
fortgeschritten!<br />
Wo der Lebensschutz<br />
geborener Menschen<br />
in den Blick genommen<br />
wird, darf auch<br />
das »Post-Abortion-<br />
Syndrom« (PAS) nicht<br />
unerwähnt bleiben:<br />
Denn auch die Folgen, unter denen Frauen<br />
nach einer Abtreibung leiden, und die<br />
vom Suizid bis zu schweren psychischen<br />
Schäden reichen, werden tabuisiert. Für<br />
<strong>LebensForum</strong> bricht Veronika Blasel dieses<br />
Schweigen.<br />
Wie einfallsreich die Abtreibungslobby<br />
zu Werke geht, wenn es gilt, Kundschaft<br />
für ihre todbringenden<br />
Offerten zu erhalten,<br />
zeigt der Beitrag<br />
»Lernziel Sex«<br />
von Hubert Hecker.<br />
Dass aber Pro Familia,<br />
und vielleicht auch<br />
andere der »Big Player«<br />
im »Geschäft mit<br />
dem Tod« durchaus zu stoppen sind,<br />
macht Bernward Büchner deutlich. Neben<br />
dem Bundesverband Lebensrecht hat sich<br />
auch die Aktion Lebensrecht für Alle<br />
schriftlich an alle Ministerpräsidenten<br />
gewandt und so dazu beigetragen, dass<br />
der Plan, die frühabtreibende »Pille<br />
danach« aus der Rezeptpflicht zu entlassen,<br />
im Bundesrat keine Mehrheit fand.<br />
Mit einem engen Schulterschluss zwischen<br />
Lebensrechtlern und den Kirchen,<br />
wie er in den USA funktioniert, ließen<br />
sich solche Erfolge leicht steigern. Der<br />
Beitrag von Stephan Baier »Dialog oder<br />
Widerstand« weist darauf hin, wie schwer<br />
dies mitunter in Europa noch fällt.<br />
Wir freuen uns zu erfahren, wie Ihnen<br />
das neue <strong>LebensForum</strong> gefällt: Lob und<br />
Kritik für das neue Design oder die Inhalte<br />
sind uns willkommen (E-Mail: Claudia.Kaminski<br />
@alfa-ev.de).<br />
Ihre<br />
Claudia Kaminski<br />
Bundesvorsitzende der <strong>ALfA</strong> und<br />
des Bundesverbandes Lebensrecht<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 3
TITEL<br />
REHDER MEDIENAGENTUR<br />
Sturm auf das letzte Tabu<br />
Mit der Verabschiedung der Euthanasiegesetzgebung in den Niederlanden und Belgien hat in Europa<br />
der Sturm auf das letzte Tabu begonnen. Auch in Deutschland bejaht gegenwärtig eine Mehrheit die<br />
»Tötung auf Verlangen«. Statt des Leids sollen die Leidenden beseitigt werden.<br />
Von Prof. Dr. Manfred Spieker<br />
4<br />
Wie die Abtreibung gehört die<br />
Euthanasie zu den klassischen<br />
Themen des Lebensschutzes.<br />
Jahrzehntelang war sie in<br />
Deutschland tabu, weil sie während der<br />
Herrschaft der Nationalsozialisten in<br />
großem Stil betrieben wurde. Sie war Teil<br />
der nationalsozialistischen Rassenideologie<br />
und zielte auf die Beseitigung von<br />
Behinderten, unheilbar Kranken und<br />
Schwachen, deren Leben als lebensunwert<br />
und die Volksgemeinschaft belastend galt.<br />
Ihre Tötung wurde als Tat der Liebe und<br />
des Mitleids oder <strong>–</strong> wie von Hitler selbst<br />
in seinem T4-Erlaß im Oktober 1939 <strong>–</strong><br />
als Gnadentod deklariert. Dass sie in der<br />
Gesellschaft auf größere Akzeptanz stoßen<br />
würde, nahmen aber selbst die Nationalsozialisten<br />
trotz jahrelanger Indoktrination<br />
nicht an. Sie unterlag höchster Geheimhaltung,<br />
die Kardinal Galen mit<br />
seinen Predigten im Juli und August 1941<br />
in St. Lamberti in Münster mutig und<br />
klug durchbrach. Der nationalsozialistischen<br />
Euthanasie fielen in Europa insgesamt<br />
200.000 bis 300.000 Menschen zum<br />
Opfer. Allein die T4-Aktion im Krieg<br />
kostete 70.000 Menschen, darunter<br />
20.000 KZ-Häftlingen und 5.000 Kindern<br />
das Leben. Die Euthanasie im nationalsozialistischen<br />
Deutschland war freilich<br />
nicht wie ein Gewitter aus heiterem Himmel<br />
über das Land gefallen. Sie war auch<br />
nicht nur eine nationalsozialistische Untat.<br />
Sie war vielmehr seit der Jahrhundertwende<br />
vorbereitet durch eine Ideologie,<br />
in der sich Rassenhygiene, Sozialdarwinismus<br />
und Medizin mischten, durch<br />
vieldiskutierte Bücher wie jenes von Karl<br />
Binding und Alfred Hoche, Die Freigabe<br />
der Vernichtung lebensunwerten Lebens<br />
(1920) und durch den Göbbelschen Propagandafilm<br />
»Ich klage an«, der die Tötung<br />
einer unheilbar erkrankten, schwer<br />
leidenden Pianistin als Tat der Nächstenliebe<br />
ihres Gatten präsentierte.<br />
DIE AUFHEBUNG DES TÖTUNGSVERBOTES<br />
Die ein halbes Jahrhundert währende<br />
Tabuisierung der Euthanasie ging zu Beginn<br />
des 21. Jahrhunderts mit der Verabschiedung<br />
der Euthanasiegesetze in den<br />
Niederlanden (2001) und in Belgien<br />
(2002) zu Ende. Zwar wurden beide Gesetze<br />
von Vertretern aller Parteien im<br />
Bundestag scharf kritisiert, zwar gibt es<br />
Stellungnahmen des Deutschen Ärztetages,<br />
die die Euthanasie unmissverständlich<br />
ablehnen, und auch die Kirchen haben<br />
sich wiederholt in großer Eintracht gegen<br />
die Euthanasie ausgesprochen, aber demoskopische<br />
Untersuchungen zeigen<br />
ernüchternde Ergebnisse: Überwältigende<br />
Mehrheiten sprechen sich für die Euthanasie<br />
aus. In einer Umfrage der Konrad<br />
Adenauer-Stiftung im Dezember 2002<br />
lehnten 76 Prozent der Befragten die<br />
Aussage ab »Aktive Sterbehilfe darf auch<br />
bei Todkranken nicht angewendet werden«.<br />
Nur 18 Prozent stimmten der Aussage<br />
zu und vier Prozent wussten nicht,<br />
was sie antworten sollten. Selbst wenn<br />
man die Frage unglücklich formuliert<br />
findet, weil sie beim Befragten den Eindruck<br />
hinterlassen kann, er müsse Todkranke<br />
bei Ablehnung der aktiven Sterbehilfe<br />
allein lassen und weil sie die<br />
Alternativen der Palliativmedizin und der<br />
Hospizbetreuung nicht in den Blick rückt,<br />
so bleibt auch auf Grund anderer Untersuchungen<br />
das harte Faktum, dass rund<br />
zwei Drittel der Deutschen die Euthanasie<br />
bejahen. In einer Umfrage des Allensbacher<br />
Instituts für Demoskopie im März<br />
2001 sprachen sich 70 Prozent für und<br />
nur 12 Prozent gegen die Euthanasie aus<br />
bei 18 Prozent Unentschiedenen. Die<br />
Befürworter einer ärztlichen Todesspritze<br />
für Schwerkranke auf Verlangen stiegen<br />
von 53 Prozent 19<strong>73</strong> auf 67 Prozent 2001,<br />
die Gegner halbierten sich im gleichen<br />
Zeitraum von 33 Prozent auf 16 Prozent.<br />
In Ostdeutschland bejahen sogar 80 Prozent<br />
die Euthanasie. Selbst von den Katholiken<br />
sprechen sich nach der Befragung<br />
der Konrad Adenauer-Stiftung <strong>73</strong> Prozent,<br />
von den Protestanten gar 78 Prozent<br />
für die Euthanasie aus.<br />
DER TOD <strong>–</strong> »MADE IN SWITZERLAND«<br />
Das Parlament in Deutschland scheint<br />
einstweilen nicht gewillt zu sein, das<br />
Thema Euthanasie aufzugreifen. Aber es<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>
REHDER MEDIENAGENTUR<br />
steht auf der Agenda des Ethikrates des<br />
Bundeskanzlers, der Enquete-Kommission<br />
Ethik und Recht in der modernen<br />
Medizin des 15. Deutschen Bundestages<br />
und der Bioethik-Kommission von Rheinland-Pfalz.<br />
Im Europarat hat sich der<br />
Ausschuss für Soziales, Gesundheit und<br />
Familienangelegenheiten mit der Begründung,<br />
niemand habe ein Recht, Todkranken<br />
und Sterbenden die Verpflichtung<br />
zum Weiterleben aufzuerlegen, für die<br />
Freigabe der Sterbehilfe ausgesprochen.<br />
Die Parlamentarische Versammlung hat<br />
es aber bisher abgelehnt, die Empfehlung<br />
des Ausschusses auf ihre Tagesordnung<br />
zu setzen. Euthanasie-Gesellschaften mit<br />
würdevollen Etiketten wie »Gesellschaft<br />
für humanes Sterben« oder »Dignitas«,<br />
propagieren die Euthanasie und bieten<br />
ihre Beihilfe zum assistierten Selbstmord<br />
an. So stieg die Zahl der Sterbehilfen des<br />
Schweizerischen Vereins Dignitas von<br />
288 1998 auf 2.263 im Jahr 2002.<br />
Die »Schweizerische Akademie für<br />
medizinische Wissenschaften« scheute<br />
sich im Juni 2003 nicht, ihre standesrechtliche<br />
Empfehlung »Suizid unter Beihilfe<br />
eines Dritten« mit der demographischen<br />
Entwicklung und den steigenden Gesundheitskosten<br />
zu begründen. Beides führe<br />
dazu, dass ältere Menschen in Krankenhäusern<br />
und Pflegeinstitutionen nicht<br />
mehr optimal versorgt werden können.<br />
Dies lasse den Wunsch entstehen, getötet<br />
zu werden, und in solchen Fällen bedürfe<br />
es klarer Regeln für Ärzte, Pflegepersonal<br />
und Verwaltungen der entsprechenden<br />
»Aus dem Recht zum Selbstmord<br />
wird unvermeidlich eine Pflicht.«<br />
Robert Spaemann<br />
Einrichtungen. In der Logik dieser Empfehlung<br />
liegen diplomierte Sterbehelfer,<br />
die einen »death made in Switzerland«<br />
anbieten. Auch unter Philosophen, Theologen<br />
und Juristen gibt es zunehmend<br />
Plädoyers für das Recht auf assistierten<br />
Selbstmord und für aktive Sterbehilfe,<br />
die allerdings nicht mit der demographischen<br />
Entwicklung und den Pflegekosten,<br />
sondern mit dem Recht auf Selbstbestimmung<br />
begründet werden. Ein Anspruch<br />
auf aktive Sterbehilfe »überspanne« zwar<br />
den Würdeanspruch, aber ein Recht, »in<br />
selbstverantwortlicher Entschließung dem<br />
eigenen Leben ein Ende zu setzen«, wird<br />
von Matthias Herdegen in seiner Neukommentierung<br />
des Artikels 1, Absatz 1<br />
Grundgesetz aus der Menschenwürdegarantie<br />
abgeleitet. Wer ein solches Recht<br />
auf Selbstmord bejaht, wird aber die Forderung<br />
nach einem ärztlich assistierten<br />
Selbstmord nicht ablehnen können, und<br />
in der Logik des ärztlich assistierten<br />
Selbstmordes liegt <strong>–</strong> vor allem bei dessen<br />
Misslingen, wie die Erfahrungen in den<br />
Niederlanden belegen <strong>–</strong> die Euthanasie.<br />
»Die Plausibilität des<br />
Tötungsverbotes schwindet.«<br />
Bischof Franz Kamphaus<br />
Das Verlangen nach einer Legalisierung<br />
der aktiven Sterbehilfe wird nicht<br />
umhin kommen, die Untersuchungen<br />
über die Euthanasiepraxis in den Niederlanden<br />
zur Kenntnis zu nehmen. Sie zeigen<br />
zum einen in der Sterbestatistik der<br />
90er Jahre einen steigenden Anteil ärztlich<br />
herbeigeführter Todesfälle durch Euthanasie,<br />
assistierten Selbstmord, Entscheidungen<br />
gegen eine Weiterbehandlung<br />
Schwerkranker oder für eine Intensivierung<br />
der Schmerzbehandlung mit beabsichtigter<br />
Todesfolge. Sie zeigen zum<br />
anderen, dass die gesetzlichen Vorschriften<br />
für die Euthanasie nicht zu kontrollieren<br />
sind und in vielen Fällen gravierend<br />
missachtet werden. In rund 25 Prozent<br />
der Euthanasiefälle (900 von rund 3.700)<br />
erfolgte 2001 die Tötung des Patienten<br />
ohne dessen Verlangen. In weit mehr als<br />
der Hälfte der Fälle unterblieb die vorgeschriebene<br />
Konsultierung eines zweiten<br />
unabhängigen Arztes. In vielen Fällen<br />
unterblieb die vorgeschriebene Meldung<br />
des Euthanasiefalles an die zuständige<br />
regionale Kontrollkommission, das heißt<br />
die Todesbescheinigung wurde gefälscht.<br />
Auch eine Frist zwischen dem Verlangen<br />
nach Euthanasie und der Durchführung<br />
der Euthanasie, die Rückschlüsse auf die<br />
Ernsthaftigkeit und die Dauerhaftigkeit<br />
des Verlangens zulässt und die im belgischen<br />
Euthanasiegesetz zum Beispiel einen<br />
Monat beträgt, wird nicht beachtet.<br />
In 13 Prozent der Euthanasiefälle lag<br />
zwischen Verlangen und Durchführung<br />
nur ein Tag, in rund 50 Prozent der Fälle<br />
nur eine Woche.<br />
EUTHANASIE <strong>–</strong> UNBLUTIGE ENTSORGUNG<br />
DER LEIDENEN<br />
Die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe<br />
muss unvermeidlich dazu führen,<br />
dass aus dem Recht zum assistierten<br />
Selbstmord eine Pflicht wird. Der Pflegebedürftige,<br />
Alte oder Kranke hat nämlich<br />
alle Mühen, Kosten und Entbehrungen<br />
zu verantworten, die seine Angehörigen,<br />
Pfleger, Ärzte und Steuern zahlenden<br />
Mitbürger für ihn aufbringen<br />
müssen und von denen er sie schnell<br />
befreien könnte, wenn er das Verlangen<br />
nach aktiver Sterbehilfe äußert. »Er lässt<br />
andere dafür zahlen, dass er zu egoistisch<br />
und zu feige ist, den Platz zu räumen. <strong>–</strong><br />
Wer möchte unter solchen Umständen<br />
weiterleben? Aus dem Recht zum Selbstmord<br />
wird so unvermeidlich eine Pflicht«<br />
(Robert Spaemann).<br />
Die Erfahrungen in den Niederlanden<br />
bestätigen die Vermutung, dass die Euthanasie<br />
nicht Hilfe für Schwerkranke,<br />
sondern Mittel einer unblutigen Entsorgung<br />
der Leidenden ist, dass sie nicht<br />
Zuwendung zum Sterbenden, sondern<br />
Verweigerung des medizinischen und<br />
pflegerischen Beistandes ist. Sie verweisen<br />
»auf die schwindende Plausibilität des<br />
Tötungsverbotes«. (Bischof Franz Kamphaus).<br />
Eine Trendwende ist einstweilen nicht<br />
in Sicht. Im Gegenteil, in der beginnenden<br />
Euthanasiedebatte in Deutschland<br />
zeichnet sich eher eine Verschlechterung<br />
des Lebensschutzes ab. Um auch für Sterbende,<br />
für Schwerkranke und Pflegebedürftige<br />
einen besseren Lebensschutz zu<br />
ermöglichen, sind eine Verstärkung der<br />
Palliativmedizin in Forschung und Lehre<br />
sowie eine Ausweitung der Hospizbewegung<br />
zur stationären oder ambulanten<br />
Begleitung Sterbender unverzichtbar.<br />
IM PORTRAIT<br />
Prof. Dr. Manfred Spieker<br />
Der Autor wurde 1943 in München geboren.<br />
Studium der Politikwissenschaft,<br />
der Philosophie und der Geschichte an<br />
den Universitäten Freiburg, Berlin und<br />
München. 1968<br />
Diplom in Politologie<br />
an der Freien<br />
Universität Berlin.19<strong>73</strong><br />
Promotion<br />
zum Dr. phil. an der<br />
Universität München.<br />
1982 Habilitation im Fach Politische<br />
Wissenschaft an der Universität<br />
zu Köln. Seit 1983 Professor für Christliche<br />
Sozialwissenschaften am Institut<br />
für Katholische Theologie der Universität<br />
Osnabrück. Verschiedene Gastprofessuren<br />
im Ausland. Von 1995 - 2001 Beobachter<br />
des Heiligen Stuhls im Europarat.<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 5
TITEL<br />
Das Groningen-Protokoll<br />
Niederländische Ärzte wollen die Euthanasie auf Nichteinwilligungsfähige, darunter auch Kinder,<br />
ausdehnen. Bereits jetzt töten Ärzte in den Niederlanden laut Schätzungen jedes Jahr rund 20 Kinder.<br />
Aus Angst vor Strafe heimlich. Das soll jetzt anders werden.<br />
Von Dr. Andreas Reimann<br />
Wer bislang nur wenig oder<br />
jedenfalls nichts Dramatisches<br />
mit der Stadt im<br />
Norden der Niederlande verbinden<br />
konnte, für den tut sich eine »(un-)schöne<br />
neue Welt« auf. Auch wenn man nicht<br />
so weit gehen will wie eine amerikanische<br />
Zeitung, die das Groningen Protokoll in<br />
eine Reihe mit Himmlers Wannsee-<br />
Konferenz stellt, so lässt das, was die<br />
Reichsuniversität Groningen im Dezember<br />
2004 verlauten ließ, doch den Atem<br />
stocken. Unter Führung von Dr. A. Verhagen<br />
von der Kinderklinik der Universität<br />
haben Kinderärzte aus den ganzen<br />
Niederlanden gefordert, ein Protokoll,<br />
also eine kochbuchartige Anleitung, zur<br />
»Beendigung des Lebens von unerträglich<br />
und unheilbar leidenden Neugeborenen«<br />
aufzustellen.<br />
Es sei Zeit, so Verhagen, »mit offenen<br />
Karten zu spielen, wenn es um das unerträgliche<br />
Leiden von Neugeborenen ohne<br />
Hoffnung auf Zukunft« gehe. Auf der<br />
ganzen Welt beendeten Ärzte Leben »diskret<br />
aus Barmherzigkeit ohne jede Regelung«.<br />
Wenn der Arzt zu der Entscheidung<br />
gelangt sei, dass ein Mensch keine<br />
»Lebensqualität« mehr zu erwarten habe,<br />
handelten Ärzte immer öfter so.<br />
Verhagen und seine Groninger Kollegen<br />
haben hier schon ganze Vorarbeit<br />
geleistet. In Zusammenarbeit mit der<br />
»Es ist an der Zeit, mit offenen<br />
Karten zu spielen.«<br />
Eduard Verhagen, Uniklinik Groningen<br />
niederländischen Staatsanwaltsvereinigung<br />
entwickelten sie selbst ein solches<br />
Protokoll. Nachdem dies ruchbar geworden<br />
war, gingen sie in die Offensive und<br />
forderten ein nationales Komitee, das ein<br />
solches »Protokoll« auch auf nationaler<br />
Ebene entwerfen solle.<br />
6<br />
Das Groningen Protokoll, nachdem<br />
jedes Kind bis zum Alter von zwölf Jahren<br />
<strong>–</strong> danach schließt die niederländische<br />
Euthanasiegesetzgebung lückenlos an <strong>–</strong><br />
getötet werden darf, umfasst fünf Kriterien.<br />
Erstens: Das Leiden des Kindes<br />
muss so schwer sein, dass das neugeborene<br />
(oder ältere) Kind »keine Aussicht auf<br />
Zukunft« besitzt und zweitens keine Möglichkeit<br />
einer Heilung oder Linderung<br />
»Die Eltern flehen den Arzt an, einem<br />
solchen Leiden ein Ende zu machen.«<br />
Eduard Verhagen<br />
durch Gabe von Arzneimitteln oder chirurgische<br />
Eingriffe besteht. Drittens müssen<br />
die Eltern ihr Einverständnis gegeben<br />
haben; viertens muss eine »zweite Meinung«<br />
durch einen »unabhängigen Arzt«,<br />
der nicht an der »Behandlung des Kindes«<br />
beteiligt war, eingeholt werden und<br />
schließlich muss fünftens die »bewusste<br />
Lebensbeendigung peinlich genau ausgeführt<br />
werden mit einer besonderen Betonung<br />
der Nachsorge«.<br />
Bei so viel Sorgfalt ist Unruhe natürlich<br />
störend. Diese habe <strong>–</strong> so Doktor Verhagen<br />
<strong>–</strong> ganz besonders der Vatikan mit seiner<br />
Stellungnahme ausgelöst.<br />
Dabei erwarteten die Kinder<br />
doch ein Leben mit<br />
schrecklichem Schmerz.<br />
So zum Beispiel Kinder<br />
»mit Wasserkopf und<br />
ohne Hirn«. Abgesehen<br />
von der Tatsache, dass<br />
diese den »unerträglichen«<br />
Schmerz dann gar nicht spüren<br />
würden, vermisst man die gleiche Besorgnis<br />
bei ungeborenen Kindern, die ihre<br />
Abtreibung ganz ohne Betäubung erleben<br />
müssen. Verhagen ist mit einem weiteren<br />
Beispiel zur Hand. So seien zahlreiche<br />
Operationen nötig, um einem Kind mit<br />
Spina Bifida wenigstens ein wenig zu<br />
helfen: »Die Eltern sehen das in Tränen<br />
und flehen den Arzt an, einem solchen<br />
Leiden ein Ende zu machen.« Da widerspricht<br />
der Doktor seinem eigenen Protokoll.<br />
War dort nicht die Rede davon,<br />
dass Operationen unmöglich sein müssen?<br />
Altbekannten Mustern aus der Abtreibungsdebatte<br />
folgend ist natürlich nur<br />
von »Ausnahmefällen« die Rede. Wie<br />
schnell man sich an Ausnahmen<br />
gewöhnt und<br />
dann aus ihnen die Regel<br />
wird, beweisen die Niederlande<br />
nicht nur auf<br />
dem Gebiet der Abtreibung,<br />
sondern auch auf<br />
dem der Euthanasie<br />
»unheilbar Kranker«. Bereits<br />
im Jahr 2001 starben 3.500 durch<br />
die Hand des Arztes, 900 von ihnen, ohne<br />
dazu ausdrücklich ihre <strong>–</strong> wie auch immer<br />
eingeholte <strong>–</strong> Einwilligung gegeben zu<br />
haben (vgl. <strong>LebensForum</strong> Nr. 69). Ebenfalls<br />
seit den 70er Jahren bewährt ist der<br />
Verweis auf die angeblich schon weit<br />
verbreitete Haltung. Schließlich bevorzugten<br />
ca. 74 Prozent der französischen<br />
und 72 Prozent der niederländischen<br />
Ärzte eine »bewusste Lebensbeendigung«<br />
in diesen »Ausnahmefällen«.<br />
Hochinteressant ist die Reaktion auf<br />
diese freigiebigen Äußerungen und wiederum<br />
die Rezeption dieser Reaktion.<br />
Nicht überraschend hat die katholische<br />
Kirche klar Stellung gegen die Haltung<br />
der Groninger Protokollanten genommen.<br />
Luzide legt die Stellungnahme von<br />
Bischof Sgreccia von der Päpstlichen<br />
Akademie für das Leben dar, wo sich<br />
genau die holländischen Mediziner auf<br />
der »schiefen Ebene« befinden. Zunächst<br />
ist bei Euthanasie nur von dem unheilbar<br />
kranken, angeblich aber doch voll entscheidungsfähigen<br />
Erwachsenen die Rede.<br />
Dann macht man das Zugeständnis, auch<br />
die »mutmaßliche« Einwilligung sei ausreichend.<br />
Als nächsten Schritt wird die<br />
»Barmherzigkeit« auf 12jährige ausge-<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>
Stößt auch in den USA auf Anhänger: Das Groningen Protokoll.<br />
dehnt <strong>–</strong> natürlich nur mit dem Einverständnis<br />
der Eltern <strong>–</strong> und schließlich auf<br />
Säuglinge und Kleinkinder <strong>–</strong> selbstverständlich<br />
ohne deren Einwilligung. Unangenehmerweise<br />
fragt der vatikanische<br />
Autor auch nach der ethischen Basis einer<br />
solchen Politik. Die Autonomie des Menschen<br />
kann es schlecht sein <strong>–</strong> schließlich<br />
wird von Dritten über Menschen ohne<br />
Autonomie entschieden. Die angebliche<br />
Untragbarkeit der Schmerzen definierten<br />
der Arzt und die Eltern. Oder ist ihre<br />
Entscheidung <strong>–</strong> unter welchem Einfluss<br />
auch immer <strong>–</strong> vielleicht eher ein Produkt<br />
ihrer eigenen und menschlich allzu nachvollziehbaren<br />
Hilflosigkeit?<br />
Das »Überleben des Stärkeren«,<br />
Grundprinzip Darwinschen Denkens,<br />
lässt grüssen. Die Analyse der päpstlichen<br />
Akademie verweist darauf, dass Darwin<br />
persönlich davon abgeraten hatte, Krankenhäuser<br />
für Behinderte und chronisch<br />
Kranke zu bauen und Sozialgesetze für<br />
Arme zu erlassen. Solche Maßnahmen<br />
verhinderten schließlich nur die »soziale<br />
Auslese des Schwachen«. Der (Neo-)<br />
Utilitarismus als ideologische Grundlage<br />
eines solchen Denkens in unserer Zeit<br />
lässt es zu, die Minimierung von »Leid«<br />
und die Maximierung von »Befriedigung«<br />
als Entscheidungsgrundlagen zu definieren.<br />
Betrachtet man den Gesundheitssektor<br />
als von vorneherein limitiert, bedeutet<br />
dies: Allokation von Ressourcen dorthin,<br />
wo »Glück« maximiert wird. Sprich: Unbrauchbare<br />
werden aussortiert. Das Ergebnis<br />
wird eine Gesellschaft der »Gesunden«<br />
und »Starken« sein. Solidarität<br />
hat ausgedient. Dem gegenüber stellt die<br />
katholische Kirche das Konzept der echten<br />
Barmherzigkeit, die mit dem Hilfsbedürftigen<br />
ausharrt, ihm das gibt, was ihm<br />
wirklich fehlt. Im Falle der schwergeschädigten<br />
Neugeborenen gehört hierzu die<br />
menschliche Begleitung der Eltern ebenso<br />
wie die erforderlichen pflegerischen und<br />
palliativ-medizinischen Maßnahmen inklusive<br />
einer geeigneten Schmerztherapie,<br />
soweit kurative Optionen nicht offen<br />
stehen.<br />
»Tod durch das Komitee« überschrieb<br />
das konservative US-amerikanische <strong>Magazin</strong><br />
»The Weekly Standard« seinen<br />
Artikel über das Groningen Protokoll.<br />
Wenn »unabhängige Komitees« über das<br />
Leben von unschuldigen <strong>–</strong> wie auch immer<br />
behinderten <strong>–</strong> Menschen entschieden,<br />
dann habe das »Land des Doktor<br />
Mengele« Gestalt angenommen. Wer<br />
soll sich, so fragt das <strong>Magazin</strong>, dann noch<br />
aufregen, wenn eine Supermarktkette in<br />
den USA <strong>–</strong> wie unlängst geschehen <strong>–</strong> der<br />
Heilsarmee die Sammlung vor ihren Läden<br />
in der Weihnachtszeit untersage?<br />
»Machen Sie aus dem Leben ihres Jungen ein Fest.<br />
Die Länge bestimmt nicht dessen Schönheit.«<br />
Nicht zufällig konzentriert sich die Kritik<br />
aus den USA eher auf die Gefahr einer<br />
unfairen und willkürlichen Behandlung<br />
durch abstrakte »Komitees« und weniger<br />
<strong>–</strong> im Unterschied zum Vatikan <strong>–</strong> auf die<br />
Verletzung der Würde der menschlichen<br />
Person.<br />
Vor 20 Jahren, als nur eines von 100<br />
Kindern mit Mukoviszidose das 18. Lebensjahr<br />
erreichte und die übrigen an den<br />
Folgen des zähflüssigen Schleims in den<br />
lebenswichtigen Organen, insbesondere<br />
der Lunge und der Bauchspeicheldrüse,<br />
in der Tat häufig qualvoll verstarben,<br />
hätten sich zweifelsohne unter dem Groningen<br />
Protokoll Mediziner gefunden, die<br />
einer solchen »unerträglichen« Situation<br />
frühzeitig ein Ende bereitet hätten. Ein<br />
Vater eines damals geborenen Mukoviszidose-Kindes<br />
erzählte mir kürzlich, dass<br />
ein Kinderarzt, der diese Bezeichnung<br />
mit Stolz trug, damals zu ihm sagte:<br />
»Machen Sie aus dem Leben ihres Jungen<br />
ein Fest, es wird ein kurzes Fest sein, aber<br />
die Länge bestimmt nicht dessen Schönheit.«<br />
Beide, Arzt und Vater, handelten<br />
selbstverständlich für das Leben des Kindes,<br />
selbst ohne große Hoffnung. Beide<br />
konnten nicht wissen, dass <strong>–</strong> auch ohne<br />
großen Durchbruch in der Forschung <strong>–</strong><br />
die medizinische Behandlung so erfolgreich<br />
geworden ist, dass heute die Hälfte<br />
aller Menschen mit Mukoviszidose das<br />
Erwachsenenalter erreicht haben. Der<br />
Junge ist heute der Stolz der Familie, hat<br />
sein Vordiplom in Physik mit Auszeichnung<br />
absolviert und spielt in der Fussballmannschaft<br />
des Dorfes. Auch heute aber<br />
sterben noch Kinder an Mukoviszidose,<br />
viele Erwachsene erleben das 30. Lebensjahr<br />
nicht. Sollte man sie also jetzt dem<br />
»Komitee« vorstellen?<br />
Die Kritik an dem Groningen Protokoll<br />
ist selbstverständlich ihrerseits wieder<br />
auf harsche Kritik gestoßen. Es sei Zeit,<br />
so ist auf der US-amerikanischen Website<br />
rc6 (http://rc6.org/node/533) in einer<br />
Stellungnahme zu lesen, »amerikanischen<br />
Journalismus und religiösen Fanatismus<br />
weit hinter uns zu lassen«. Man rede<br />
schließlich »nicht von Kindern, die uns<br />
irgendetwas lehren könnten außer die<br />
neuen Tiefen menschlichen Schmerzes<br />
und Leides. Wer, der bei klarem Verstand<br />
ist, würde sein Kind unerträglich leiden<br />
lassen nur um eine solche<br />
irrationale Würde zu befriedigen?«<br />
Klarer kann<br />
man es nicht mehr sagen.<br />
Das letzte Wort soll<br />
aber die Universität Groningen<br />
haben, die verspricht,<br />
dass ihr Hospital<br />
»eindeutig den Standard seiner Dienstleistungen<br />
bestimmt, kritische Probleme<br />
identifiziert und die entsprechenden Maßnahmen<br />
ergreift.« Dabei sei die »Meinung<br />
der Patienten von allergrößter Bedeutung«.<br />
Diejenigen, die eine Behandlung<br />
im Universitätsklinikum erlebt hatten,<br />
hätten sicher viele Ideen für Verbesserungen.<br />
Sie seien deshalb eine »lebendige<br />
Quelle der Information«. Genau deshalb<br />
sei auch ein »Patienten-Interview« entwickelt<br />
worden, mit dessen Hilfe die Erfahrungen<br />
der Patienten mit der Groninger<br />
Behandlung erfasst würden. Es wäre<br />
interessant zu erfahren, was schwerkranke<br />
Kinder in diesem Interview zu sagen hätten.<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 7
GESELLSCHAFT<br />
Note: mangelhaft!<br />
Patientenverfügungen stehen hoch im Kurs. Sie sollen die Autonomie von Patienten am Lebensende<br />
sichern. Doch eine genaue Analyse zeigt: Der Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums zur Regelung<br />
von Patientenverfügungen weist schwere Mängel auf.<br />
Von Rainer Beckmann<br />
Autonomie und Selbstbestimmung<br />
sind »in«. Das gilt nicht nur für<br />
den alltäglichen Lebensvollzug<br />
des »mündigen Bürgers«. Auch am Lebensende<br />
soll die Autonomie von Patienten<br />
gesichert und ihr Recht auf Selbstbestimmung<br />
gestärkt werden. Das verspricht<br />
jedenfalls der Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums<br />
zur Regelung von Patientenverfügungen.<br />
Als der Entwurf im<br />
November 2004 vorgestellt wurde, gab<br />
es <strong>–</strong> neben kritischen Reaktionen von<br />
Behinderten- und Lebensrechtsverbänden<br />
<strong>–</strong> auch viel Zustimmung. Eine nähere<br />
Analyse zeigt jedoch, dass dem Gesetzentwurf<br />
nicht nur eine grundsätzliche<br />
Überbewertung der Selbstbestimmung<br />
zugrunde liegt, sondern dass auch schwerwiegende<br />
Mängel festzustellen sind, die<br />
zum Missbrauch geradezu einladen.<br />
Von seinem Grundansatz her transportiert<br />
das Gesetzgebungsvorhaben gegenüber<br />
dem Bürger die Botschaft, Patientenverfügungen<br />
seien das »richtige« Modell<br />
der »Vorsorge« zur Erhaltung der<br />
Autonomie auch in schwierigen Lebensphasen.<br />
Richtig daran ist, dass Patientenverfügungen<br />
im Voraus getroffene Entscheidungen<br />
formal verbindlich festhalten<br />
können. Sie sind aber keineswegs geeignet<br />
»Planungssicherheit am Lebensende« zu<br />
garantieren und können gesellschaftliche<br />
Fehlentwicklungen verstärken.<br />
UNKLARE KÜNFTIGE<br />
ENTSCHEIDUNGSSITUATIONEN<br />
8<br />
DANIEL RENNEN<br />
Zunächst fehlt es jeder Vorausverfügung<br />
an der Unmittelbarkeit der Entscheidungssituation.<br />
Zum Zeitpunkt der<br />
Erstellung der Verfügung stehen nicht<br />
alle Informationen zur Disposition, die<br />
für eine optimale Entscheidung erforderlich<br />
wären. Dies gilt vor allem für frühzeitig<br />
abgefasste Patientenverfügungen.<br />
Aufgrund des zeitlichen Abstands zur<br />
späteren Anwendungssituation besteht<br />
von vornherein eine erhebliche Unsicherheit,<br />
in welchen Situationen welche Maßnahmen<br />
akzeptiert oder abgelehnt werden<br />
sollen.<br />
Wird eine Patientenverfügung erst im<br />
Alter oder nach dem Beginn einer Erkrankung<br />
erstellt, können die dann bestehenden<br />
Begleitumstände die Freiheit der<br />
Willensentscheidung beeinträchtigen.<br />
Eine unzureichende Behandlung von<br />
Krankheitssymptomen (insb. in der<br />
Schmerztherapie), mangelhafte Pflege<br />
und soziale Isolierung können den<br />
Wunsch nach einem »schnellen Ende«<br />
verstärken oder erst hervorrufen. Es sollte<br />
die primäre Aufgabe des Gesetzgebers<br />
sein, diese Bedingungen durch gesundheitspolitische<br />
Maßnahmen so zu beeinflussen,<br />
dass möglichst wenig äußerer<br />
Druck auf den Patienten entsteht. Mit<br />
einer gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen<br />
wird jedoch mehr oder<br />
minder deutlich darauf hingewiesen, dass<br />
man den individuellen Krankheitsverlauf<br />
durch Behandlungsverzicht »abkürzen«<br />
könne. Die Propagierung von Patientenverfügungen<br />
wird deshalb indirekt den<br />
Ausbau der Palliativmedizin und der<br />
hospizlichen Versorgung hemmen.<br />
NEGATIVE SELBSTBEWERTUNGEN<br />
Das Instrument der Patientenverfügung<br />
verstärkt auch die Gefahr, dass sich<br />
alte und kranke Menschen selbst als unnütz<br />
und überflüssig einschätzen. Behandlungsverzichtserklärungen<br />
definieren häufig<br />
implizit bestimmte Krankheitszustände<br />
als nicht mehr lebenswert (z. B. Demenz,<br />
Alzheimer, Bettlägerigkeit, Angewiesen-
sein auf künstliche Ernährung). Hierin<br />
spiegeln sich auch soziale Einstellungen<br />
und Einflüsse wider. In unserer Gesellschaft<br />
wird nicht nur jungen Menschen<br />
eine »Fit for Fun«-Gesinnung vermittelt.<br />
Auch gegenüber der älteren Generation<br />
werden »Werte« wie Konsum, Fitness<br />
und Agilität als wesentliche Lebensinhalte<br />
bzw. Lebensziele angepriesen. Dies trägt<br />
massiv dazu bei, dass sich kranke und<br />
pflegebedürftige Menschen an den Rand<br />
der Gesellschaft gedrängt fühlen.<br />
Dieser ohnehin bestehende Trend wird<br />
durch die zahlreichen Patientenverfügungs-Formulare,<br />
die für schwerwiegende<br />
Krankheitszustände einen Behandlungsverzicht<br />
als Wahlmöglichkeit vorsehen,<br />
verstärkt. Krankheiten, die einen hohen<br />
Aufwand an Pflege, Betreuung und medizinischer<br />
Versorgung erfordern, erscheinen<br />
als »vermeidbar«. Je akzeptierter,<br />
»normaler« und geregelter Behandlungsverzichtserklärungen<br />
sind, umso deutlicher<br />
wird eine gesellschaftliche Erwartungshaltung<br />
entstehen, sich dem Trend<br />
STICHWORT<br />
Die Patientenverfügung<br />
Als Patientenverfügung wird eine meist<br />
schriftliche Willensbekundung einer<br />
Person zu medizinischen Maßnahmen<br />
für den Fall der künftigen Entscheidungsunfähigkeit<br />
bezeichnet. In der Praxis<br />
werden Patientenverfügungen insbesondere<br />
dazu genutzt, die Verweigerung<br />
der Einwilligung in bestimmte ärztliche<br />
Maßnahmen zum Ausdruck zu bringen<br />
(z. B. künstliche Ernährung, künstliche<br />
Beatmung oder Wiederbelebung nach<br />
Herzstillstand).<br />
des »sozialverträglichen Frühablebens«<br />
anzuschließen. Selbstbestimmung mündet<br />
dann merkwürdigerweise in »Selbstentsorgung«.<br />
KEIN ABSOLUTER WUNSCH NACH<br />
SELBSTBESTIMMUNG<br />
Schließlich sollte die so oft geäußerte<br />
Forderung nach mehr Selbstbestimmung<br />
hinterfragt und in der richtigen Dimension<br />
gesehen werden. Patienten trauen<br />
sich selbst nicht von vornherein eine<br />
größere Kompetenz zu, über ihre medizinische<br />
Behandlung zu entscheiden, als<br />
sie dem Arzt schon von Berufs wegen<br />
zukommt. Unterschiedliche Vorbildung<br />
und Beschäftigung mit dem Thema führt<br />
auch zu unterschiedlicher Entscheidungskompetenz.<br />
Der bloße Verweis auf die<br />
»Autonomie« des Patienten hilft wenig.<br />
Selbstbestimmung im eigentlichen Sinne<br />
bedarf der Information: je informierter<br />
der Patient, desto besser kann er im echten<br />
Sinn selbstbestimmt handeln.<br />
Viele Patienten sind sich daher bewusst,<br />
dass ihre »Selbstbestimmung«<br />
nicht im luftleeren Raum stattfindet,<br />
sondern nur im Rahmen einer sachgerechten<br />
Information von ärztlicher Seite<br />
sinnvoll ausgeübt werden kann. Nach<br />
einschlägigen Untersuchungen befürwortet<br />
die Mehrheit der Patienten nicht ein<br />
alleiniges Bestimmungsrecht über die<br />
medizinische Behandlung, sondern eine<br />
gemeinsame Entscheidungsfindung mit<br />
dem Arzt.<br />
GEFÄHRLICHE MUTMAßUNGEN<br />
Obwohl also eine Aufwertung von<br />
Patientenverfügungen grundsätzlich fragwürdig<br />
erscheint, meint Justizministerin<br />
Zypries, aktiv werden zu müssen. Der<br />
von ihr vorgelegte Gesetzentwurf beschränkt<br />
sich nicht darauf, den Umgang<br />
mit Patientenverfügungen zu regeln, sondern<br />
bestimmt auch den Maßstab, der<br />
gelten soll, wenn keine Patientenverfügung<br />
vorliegt. Entscheidend soll der<br />
»mutmaßliche Wille« des Patienten sein.<br />
Nach der bisherigen Rechtsprechung soll<br />
anhand von früheren Äußerungen des<br />
Patienten, seiner religiösen Überzeugung,<br />
seinen sonstigen persönlichen Wertvorstellungen<br />
und seiner altersbedingten Lebenserwartung<br />
»ermittelt« werden, wie<br />
sich der Patient entscheiden würde, wenn<br />
er es noch könnte.<br />
Der wachsende Kostendruck im Gesundheitswesen<br />
schürt die Angst vor menschenunwürdigen Zuständen<br />
im Pflegebereich.<br />
Aus diesen unspezifischen Kriterien<br />
lässt sich aber praktisch nie mit Sicherheit<br />
ableiten, wie sich der Patient in einer<br />
konkreten Situation tatsächlich entscheiden<br />
würde. Eine »Willensermittlung«<br />
bei Personen, die nicht mehr entscheidungsfähig<br />
sind, ist unmöglich. Jede Willensentscheidung<br />
setzt eine Willensbildung<br />
voraus. Wenn eine solche Willensbildung<br />
krankheitsbedingt nicht mehr<br />
erfolgen kann, kommt auch kein Wille<br />
zustande, der ermittelt werden könnte.<br />
Das Konzept des »mutmaßlichen Willens«<br />
führt im Ergebnis dazu, dass bereits<br />
dann lebenserhaltende Maßnahmen nicht<br />
ergriffen oder abgebrochen werden können,<br />
wenn eine nicht näher spezifizierte<br />
Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass<br />
der betroffene Patient diese abgelehnt<br />
hätte. Mit unsicheren Wahrscheinlichkeits-Mutmaßungen<br />
kann aber ein Behandlungsabbruch<br />
nicht gerechtfertigt<br />
werden. Die Mutmaßung kann zutreffen,<br />
kann aber auch falsch sein. Ein Wahrscheinlichkeitsurteil,<br />
das deutlich unterhalb<br />
der Schwelle praktischer Gewissheit<br />
bleibt, kann bei Entscheidungen über<br />
Leben und Tod nicht akzeptiert werden.<br />
Über die Rechtsfigur des »mutmaßlichen<br />
Willens« drohen beiläufige, situationsbedingte,<br />
eher pauschale und ohne<br />
Bindungswillen abgegebene Meinungsäußerungen<br />
im Nachhinein zu Mosaiksteinen<br />
einer »Gesamtschau« zu werden,<br />
aus der sich dann eine Legitimation zum<br />
Behandlungsabbruch ergeben soll. Dies<br />
darf vom Gesetzgeber nicht akzeptiert<br />
werden. Die Behandlung nicht entscheidungsfähiger<br />
Patienten ist stattdessen<br />
ausschließlich an ihrem individuellen<br />
Wohl auszurichten. In der ganz ähnlichen<br />
Situation der Betreuung ist ebenfalls das<br />
»Wohl« des Betreuten der entscheidende<br />
Maßstab (§ 1901 Abs. 2 BGB).<br />
UMSETZUNG VON<br />
PATIENTENVERFÜGUNGEN<br />
Angesichts der mit Patientenverfügungen<br />
verbundenen Unwägbarkeiten und<br />
der prinzipiellen Bedenken gegen das<br />
Konzept des »mutmaßlichen Willens«<br />
kommt der Umsetzung von Patientenverfügungen<br />
und dem Verfahren zur Ermittlung<br />
des »mutmaßlichen Willens« besondere<br />
Bedeutung zu. Gerade in diesem<br />
Bereich vermag der Gesetzentwurf des<br />
Justizministeriums in keiner Weise zu<br />
überzeugen.<br />
Liegt eine Patientenverfügung vor,<br />
soll der Betreuer oder Bevollmächtigte<br />
den in ihr zum Ausdruck kommenden<br />
Willen des Patienten unmittelbar durchsetzen.<br />
Liegt dagegen keine Patienten-<br />
9
GESELLSCHAFT<br />
verfügung vor, soll ein ausdrücklich und<br />
schriftlich zum Verzicht auf lebensverlängernde<br />
Behandlungen bevollmächtigter<br />
Vertreter alleine bzw. ein gerichtlich bestellter<br />
Betreuer im Einvernehmen mit<br />
dem Arzt nach dem »mutmaßlichen Willen«<br />
des Patienten entscheiden können.<br />
Nur wenn zwischen Betreuer und Arzt<br />
ein Dissens über den »mutmaßlichen<br />
Willen« des Patienten besteht, ist die<br />
Genehmigung des Vormundschaftsgerichts<br />
erforderlich.<br />
SCHWACHE KONTROLLMECHANISMEN<br />
Betrachtet man die Konzeption des<br />
Gesetzentwurfs im Detail, ergeben sich<br />
nicht nur Schwachstellen, sondern massive<br />
Defizite, die mit der Verpflichtung des<br />
Staates zum Schutz des Lebens aus Art.<br />
2 Abs. 2 S. 1 GG nicht mehr vereinbar<br />
sind. Missbrauchsgefahren scheint das<br />
Justizministerium nicht zu sehen oder<br />
nicht sehen zu wollen. Kontrollmechanismen<br />
sind entweder unterentwickelt<br />
oder fehlen ganz.<br />
So wird z. B. nicht näher begründet,<br />
warum der Bevollmächtigte im Gegensatz<br />
zum Betreuer keiner gerichtlichen Kontrolle<br />
unterliegen soll. Der Gesetzentwurf<br />
geht unausgesprochen davon aus, dass<br />
ein rechtsgeschäftlich mit Vollmacht ausgestatteter<br />
Vertreter auch in einem besonderen<br />
Vertrauens- bzw. Näheverhältnis<br />
zu dem Patienten steht und deshalb in<br />
besonders guter Weise dessen Willen<br />
interpretieren und umsetzen kann. Das<br />
mag in gewissem Umfang zutreffen, ist<br />
aber keine allgemein empirisch belegte<br />
Tatsache.<br />
Soweit ein Betreuer nur im Einvernehmen<br />
mit dem Arzt dem Abbruch lebensverlängernder<br />
Maßnahmen zustimmen<br />
darf, ist durch die Einbeziehung einer<br />
weiteren Person wenigstens eine gewisse<br />
soziale Kontrolle der Entscheidung sichergestellt.<br />
Dies kann aber kaum als<br />
ausreichend angesehen werden. Es ist zu<br />
beachten, dass es sich hier um Fälle handelt,<br />
in denen aus verschiedenen Indizien<br />
der »mutmaßliche Wille« des Patienten<br />
ermittelt werden soll. In Hinblick auf die<br />
für maßgeblich gehaltenen frühere Äußerungen<br />
und Überzeugungen des Patienten<br />
kann der behandelnde Arzt nur sehr selten<br />
etwas beitragen. Er wird im Wesentlichen<br />
auf das vertrauen müssen, was ihm der<br />
Betreuer vorträgt. Es ist deshalb zu erwarten,<br />
dass sich Betreuer und Arzt eher<br />
auf schwacher Tatsachenbasis über einen<br />
»mutmaßlichen Willen« des Patienten<br />
einigen werden. Eine gerichtliche Kontrolle<br />
findet dann nicht statt.<br />
10<br />
Brigitte Zypries, Bundesministerin für Justiz<br />
MISSBRAUCHSGEFAHR<br />
Soweit es sich bei den rechtlichen<br />
Vertretern um Angehörige des Patienten<br />
handelt, darf auch nicht übersehen werden,<br />
dass Interessenkonflikte auftreten<br />
können. Nahe Angehörige gehören meistens<br />
zum Kreis der potentiellen Erben<br />
und sind persönlich von dem Krankheitsfall<br />
betroffen - sei es, dass sie sich in der<br />
Betreuung und Pflege des Patienten selbst<br />
engagieren, sei es, dass sie »nur« in allgemeiner<br />
Form »mitleiden«. In beiden<br />
Fällen besteht die Gefahr, dass bei der<br />
Frage, was der »mutmaßliche Wille« des<br />
Patienten sein könnte, frühere Äußerungen<br />
und Einstellungen nicht immer nur<br />
objektiv betrachtet werden. Nicht die<br />
Sorge um den Betroffenen, sondern die<br />
Sorge um den Nachlass oder der Wunsch<br />
nach eigener Entlastung könnte hier die<br />
»Abkürzung« der Behandlung nahe legen.<br />
Hinzu kommt, dass die hier geforderten<br />
Entscheidungen irreversibel sind.<br />
Wird eine lebenserhaltende Maßnahme<br />
beendet, stirbt der Patient innerhalb von<br />
Minuten, Stunden oder Tagen. Gerade<br />
bei derartigen Entscheidungen sind hohe<br />
Anforderungen an die Sorgfalt bei der<br />
Entscheidungsfindung zu stellen. Es wäre<br />
grob fahrlässig, wenn der Gesetzgeber<br />
die genannten Aspekte vernachlässigen<br />
und die ohnehin zweifelhafte Rechtsfigur<br />
des »mutmaßlichen Willens« in der Praxis<br />
weitgehend der Alleinentscheidung entweder<br />
von Bevollmächtigten oder von<br />
Betreuern überlässt, denen der Arzt nicht<br />
widerspricht.<br />
Völlig unverständlich ist schließlich,<br />
dass der Bevollmächtigte nicht nur ohne<br />
gerichtliche Kontrolle agieren können<br />
soll, sondern nach dem Gesetzeswortlaut<br />
bei seinen Entscheidungen nicht einmal<br />
den »mutmaßlichen Willen« des Patienten<br />
berücksichtigen muss. Das heißt, dass<br />
der Bevollmächtigte sich willkürlich für<br />
oder gegen eine Weiterbehandlung entscheiden<br />
könnte. Selbst wenn alle Indizien<br />
für einen Willen zur Fortsetzung lebensverlängernder<br />
Maßnahmen sprechen, ja<br />
auch dann, wenn sogar eine Heilung<br />
möglich wäre, könnte der Bevollmächtigte<br />
die Behandlungsmaßnahmen abbrechen<br />
lassen!<br />
DPA<br />
FAZIT: SCHWERWIEGENDE MÄNGEL<br />
Zusammenfassend muss festgestellt<br />
werden, dass der Gesetzentwurf zur Regelung<br />
von Patientenverfügungen mit<br />
schwerwiegenden Mängeln behaftet ist:<br />
• Der Entwurf ist geprägt von einer weitgehenden<br />
Verabsolutierung der Selbstbestimmung.<br />
In der Theorie ist dem<br />
kaum zu widersprechen. Die Unwägbarkeiten<br />
der Praxis bei der Erstellung,<br />
Interpretation und Umsetzung von Patientenverfügungen<br />
mahnen aber eher<br />
zur Vorsicht. Patientenverfügungen<br />
stellen keine Garantie für ein menschenwürdiges<br />
Sterben dar. Es ist Aufgabe<br />
des Gesetzgebers, das Gesundheitswesen<br />
so zu organisieren, dass alle Patienten<br />
darauf vertrauen können, bei schweren<br />
Krankheitszuständen und in der<br />
Sterbephase würdig behandelt zu werden<br />
- egal, ob sie eine Patientenverfügung<br />
verfasst haben oder nicht.<br />
• Die Erhebung des »mutmaßlichen Willens«<br />
zum gesetzlich anerkannten Maßstab,<br />
der über Fortsetzung oder Abbruch<br />
lebenserhaltender Maßnahmen entscheidet,<br />
begegnet grundlegenden<br />
rechtlichen Bedenken.<br />
• Schließlich unterschreitet der Entwurf<br />
das gebotene Niveau des Lebensschutzes<br />
beim praktischen Umgang mit Patientenverfügungen<br />
und der Ermittlung<br />
des »mutmaßlichen Willens«. Gerade<br />
die Kombination von Mutmaßungen<br />
als Entscheidungsgrundlage und die<br />
Anerkennung einer Entscheidungskompetenz<br />
Einzelner (Bevollmächtigter oder<br />
Betreuer im Einvernehmen mit dem<br />
Arzt) ist ungeeignet, den Schutz des<br />
Lebens in Krankheit und Alter ausreichend<br />
zu gewährleisten.<br />
IM PORTRAIT<br />
Rainer Beckmann<br />
Der Medizinrechtsexperte Rainer Beckmann<br />
ist Sachverständiger der Enquete-<br />
Kommission »Ethik und Recht der modernen<br />
Medizin«<br />
des Deutschen<br />
Bundestages.<br />
Beckmann ist<br />
Richter am Amtsgericht<br />
und Stellvertretender<br />
Vorsitzender<br />
der Juristen-Vereinigung<br />
Lebensrecht (JVL) sowie Schriftleiter<br />
der »Zeitschrift für Lebensrecht« (ZfL).<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>
EUROPA<br />
EUROPAPARLAMENT<br />
Rocco Buttiglione<br />
Der Katholik gilt als enger Freund<br />
Papst Johannes Paul II. und als<br />
letzter Enkel der Gründungsväter<br />
der EU. 1948 in Gallipoli geboren,<br />
studierte er Jura, Geschichte und<br />
Philosophie. Außer Italienisch<br />
spricht er sechs weitere Sprachen:<br />
Deutsch, Englisch, Französisch,<br />
Polnisch, Portugiesisch und<br />
Spanisch. Als Professor lehrt er<br />
Philosophie, Politik und Ethik in<br />
Rom, Lublin und Liechtenstein.<br />
»Es gibt zu wenige Werte«<br />
Italiens EU-Minister Rocco Buttiglione ist konsequent. Im letzten Herbst verzichtete der 56jährige<br />
auf eine erneute Kandidatur als EU-Kommissar. Zuvor hatte ihm das EU-Parlament die Zustimmung<br />
für das Amt des Justizkommissars verweigert, da er keine Sonderrechte für Homosexuelle durchsetzen<br />
wollte. Für <strong>LebensForum</strong> sprach Tobias-B. Ottmar mit ihm über die Chancen für einen besseren<br />
Lebensschutz in Europa und darüber, wie sich der Kampf dafür erfolgreicher führen lässt.<br />
<strong>LebensForum</strong>: Aktive Sterbehilfe, Stammzellforschung<br />
und das Klonen werden vielerorts lautstark<br />
gefordert. Auch in Europa stehen ethische<br />
Grenzen zur Disposition. Lohnt es überhaupt noch,<br />
sich für den Lebensschutz einzusetzen und wenn<br />
ja, welche Chance räumen Sie dem ein?<br />
Buttiglione: Natürlich lohnt sich ein<br />
solcher Einsatz. Der Mensch kann heute<br />
in nie gekanntem Umfang über sich selbst<br />
bestimmen. Das ist gut, birgt jedoch insofern<br />
Risiken, als nicht alles, was machbar<br />
ist, auch ethisch zulässig ist. Viele Tugenden<br />
und Werte, die uns früher selbstverständlich<br />
schienen, sind heute bedroht<br />
und können nur überleben, wenn wir sie<br />
ganz bewusst praktizieren und leben. Wir<br />
leben in einer Zeit, in der wir für die<br />
Wahrheit Zeugnis ablegen müssen. Ich<br />
bin überzeugt, dass es sich daher mehr<br />
als in jedem anderen Zeitalter lohnt, für<br />
den Lebensschutz einzutreten.<br />
»Nicht alles, was machbar ist,<br />
ist auch ethisch zulässig.«<br />
Die FDP-Vorsitzende im Europaparlament, Silvana<br />
Koch-Mehrin, begründete Ihre Ablehnung<br />
unter anderem damit, ihre Äußerungen bei der<br />
Anhörung vor dem Parlament entsprächen nicht<br />
europäischen Wertegrundlagen. Was sind die europäischen<br />
Werte?<br />
Europa ist in dieser Frage tief gespalten.<br />
Früher herrschte immer Einigkeit<br />
darüber, was wir unter europäischen Werten<br />
verstehen. Nun müssen wir uns auseinander<br />
setzen. Das<br />
sollten wir akzeptieren!<br />
Dieses Europa ist nicht<br />
»unser« Europa. Aber<br />
es ist auch nicht das<br />
Europa unserer Gegner.<br />
Die Zukunft Europas<br />
hängt davon ab,<br />
wie wir unsere Position<br />
künftig in der Gesellschaft vertreten.<br />
Alle Werte werden derzeit in Frage<br />
gestellt. Es wäre aber falsch zu behaupten,<br />
sie seien schon gestorben. Die Wahl besteht<br />
nicht zwischen einem Europa nach<br />
unseren Wertevorstellungen oder einem,<br />
in dem keine Werte existieren. Die Wahl<br />
besteht vielmehr zwischen einem Europa,<br />
das Zukunft hat und überlebt, und einem,<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 11
EUROPA<br />
Buttigliones politische Heimat ist die UDC,<br />
Koalitionspartner von Berlusconis Forza Italia. Privat<br />
lebt er mit seiner Frau und vier Töchtern im römischen<br />
Stadtteil Parioli.<br />
das sich dem Ende zuneigt. Wir brauchen<br />
Kinder! Doch die Kultur unserer Gegner<br />
kann die Menschen nicht ermutigen, sich<br />
gegenseitig Vertrauen zu schenken, sich<br />
zu verlieben, zu heiraten, Kinder zu bekommen<br />
und zu erziehen. Daher finde<br />
ich es an sich auch nicht problematisch,<br />
dass Menschen moslemischen Glaubens<br />
in unsere durch die Kinderlosigkeit leeren<br />
Länder einwandern. Unser Problem ist<br />
nicht der Islam, sondern der Nihilismus!<br />
Wir sollten uns einmal fragen wie<br />
Europa wettbewerbsfähig bleiben kann,<br />
wenn unsere Jugend in der Schule für<br />
eine sozialistische Gesellschaft erzogen<br />
wird, die nie kommen wird? Oder wie<br />
wir wettbewerbsfähig bleiben können,<br />
wenn ihnen nicht mehr Tugenden wie<br />
Fleiß, Pflichtbewusstsein oder die Fähigkeit,<br />
sich aufzuopfern, beigebracht werden?<br />
Besteht die Lösung allein darin, im Bildungssystem<br />
anzusetzen?<br />
Wir müssen die Tugenden in den Mittelpunkt<br />
unserer Beziehungen stellen.<br />
Für ein wettbewerbsfähiges Europa ist es<br />
nötig, dass die menschliche Person eine<br />
vollendete Gestalt annimmt. Das ist aber<br />
nur möglich, wenn in der Erziehung echte<br />
Werte im Mittelpunkt stehen.<br />
Was verstehen Sie unter »echten Werten«?<br />
Als erstes die Würde der Person. Das<br />
ist der größte Wert, den wir auf der Welt<br />
12<br />
»Wir müssen die Tugenden in<br />
den Mittelpunkt stellen.«<br />
haben. Wir müssen lernen, Menschen als<br />
Personen zu respektieren und ihre Würde<br />
anzuerkennen.<br />
Gerade die Liberalen, die immer von Toleranz<br />
sprechen, haben Sie wegen ihrer Äußerungen zu<br />
Ehe, Familie, Abtreibung und Homosexualität heftig<br />
kritisiert. Sind Liberale in Wirklichkeit pseudotolerant?<br />
Der Begriff »liberal« ist zweideutig<br />
geworden. Ein Liberaler ist eigentlich<br />
ein Mensch, der zwischen Ethik und Politik<br />
unterscheidet und<br />
sich für die Meinungsfreiheit<br />
anderer aufopfert,<br />
auch wenn er<br />
selber nicht immer der<br />
Meinung der anderen<br />
ist. Einige Liberale,<br />
von denen mir wiederum<br />
manche ihre<br />
Solidarität bekundet haben, besitzen diese<br />
Einstellung noch. Es gibt aber auch eine<br />
Gruppe anderer, so genannter Liberaler.<br />
Sie sind im Grunde Vertreter einer neuen<br />
atheistischen Religion.<br />
Für sie gilt der Grundsatz:<br />
Es gibt nur eine<br />
Wahrheit, nämlich die,<br />
dass es keine Wahrheit<br />
gibt! All jene, die noch<br />
an feste Werte glauben,<br />
stellen aus ihrer Sicht<br />
eine Gefahr für die<br />
Demokratie dar. Ich bin dagegen der<br />
Meinung, dass für die Demokratie eine<br />
Gesellschaft viel gefährlicher ist, die sich<br />
keinen Werten verbunden fühlt. Das<br />
größte Problem der westlichen Demokratien<br />
besteht gerade darin, dass es zu wenige<br />
Werte gibt!<br />
Können sich Lebensrechtler noch politisch artikulieren,<br />
ohne von solchen »Liberalen« mundtot<br />
gemacht zu werden?<br />
ARCHIV<br />
Wir müssen verstehen, dass Werte<br />
auch im politischen Bereich geschützt<br />
werden müssen. Wir sollten uns nicht<br />
schämen, ganz klar und offen für unsere<br />
Positionen einzutreten. Am Tag der Anhörung<br />
vor dem europäischen Parlament<br />
war ich für einen Moment der Ansicht,<br />
ich sei womöglich der letzte Christ in<br />
Europa. Aber ich habe sofort gemerkt,<br />
dass dies natürlich falsch war. Nach der<br />
Kritik an mir und meinen Äußerungen<br />
habe ich so viele Solidaritätsbekundungen<br />
bekommen, dass ich nun denke, dass wir<br />
eigentlich die große Mehrheit darstellen.<br />
Allerdings sind wir eine schlafende Mehrheit!<br />
Unsere Gegner sind zwar viel weniger,<br />
aber besser organisiert und vernetzt.<br />
Wir müssen in Europa dasselbe tun und<br />
eine gemeinsame Bewegung für den<br />
Schutz der Grundwerte aufbauen!<br />
Hat die Pro-Life-Bewegung in den letzten Jahren<br />
nicht auch selbst Wichtiges versäumt? Oder:<br />
Was müsste sich ändern, um erfolgreicher zu sein?<br />
»Das größte Problem besteht<br />
gerade darin, dass es zu wenige<br />
Werte gibt«<br />
Die Pro-Life-Bewegung hat zwar in<br />
den letzten Jahren viel geleistet, allerdings<br />
ist dies noch nicht tief genug in das Bewusstsein<br />
unserer Völker eingedrungen.<br />
Wir müssten hier noch viel mehr unternehmen.<br />
Ein Beispiel: Die EU-Kommission<br />
handelt immer im Dialog mit<br />
den Bürgern, die von NGOs (Nichtregierungsorganisationen)<br />
vertreten werden.<br />
Es gibt zwar eine große Anzahl christlicher<br />
Organisationen, die mitunter Millionen<br />
von Mitgliedern besitzen, aber auf europäischer<br />
Ebene gar nicht repräsentiert<br />
werden. Sie sind auch gar nicht bemüht,<br />
sich einzumischen. Gleichzeitig stelle ich<br />
fest, dass Organisationen mit viel weniger<br />
Mitgliedern auf europäischer Ebene stark<br />
vertreten sind. Diese prägen das Bild der<br />
EU-Gesetzgebung, weil sie der EU-Kommission<br />
als Gesprächspartner zur Verfügung<br />
stehen. Wir können uns über diesen<br />
Zustand nicht beklagen, da die Hauptverantwortung<br />
bei uns liegt.<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>
Die neuen EU-Länder Polen und Malta sind in<br />
der Abtreibungsfrage sehr konsequent. Fürchten<br />
Sie, dass diese Länder früher oder später ihre Gesetzgebung<br />
liberalisieren werden? Oder werden<br />
diese Länder einen positiven Einfluss auf Länder<br />
ausüben, die bislang über sehr liberale Abtreibungsgesetze<br />
verfügen?<br />
Fragen zur Familie, Ehe und dem<br />
Schutz des Lebens sollten nicht auf europäischer<br />
Ebene entschieden werden. Diese<br />
Themen müssen, wie es auch in der<br />
EU-Verfassung steht, im Kompetenzbereich<br />
der Mitgliedsstaaten verbleiben. Ich<br />
denke, dass der Kampf für das Lebensrecht<br />
auf der nationalen Ebene geführt<br />
werden sollte, obwohl derart konsequente<br />
Haltungen natürlich auch Auswirkungen<br />
auf andere Länder haben können. Andererseits<br />
müssen wir uns auch auf internationaler<br />
Ebene gemeinsam dafür einsetzen,<br />
dass diesen Ländern von Brüssel,<br />
entgegen der Verfassung, kein bestimmtes<br />
Familienbild aufgezwungen wird.<br />
»Menschliches Leben zu<br />
zerstören, ist grundsätzlich<br />
abzulehnen.«<br />
Besteht Gefahr, dass sich die EU künftig vermehrt<br />
in ethische Fragen einmischt?<br />
Ja, die Gefahr besteht, weil es eine<br />
mächtige Lobby gibt, die das zum Ziel<br />
hat. Ich glaube zwar nicht, dass sie eine<br />
Mehrheit im Parlament bekommen wird.<br />
Trotzdem ist es möglich, dass sie ihr Ziel<br />
erreicht, wenn wir keine Kampfbereitschaft<br />
zeigen.<br />
Unlängst wurde bekannt,<br />
dass die EU die Vergabe<br />
von Entwicklungsgeldern<br />
an eine Liberalisierung<br />
des Abtreibungsrechts in<br />
den betreffenden Ländern<br />
geknüpft hat. Wie ist so etwas<br />
möglich?<br />
Ich habe den Eindruck, dass sich in<br />
diesem Fall einige Stellen der Brüsseler<br />
Bürokratie dafür eingesetzt haben, die<br />
nicht in der öffentlichen Diskussion stehen.<br />
Wir sollten diese Diskussion in allen<br />
Ländern führen. Die Bürger sollten gerade<br />
in Fragen der Familienpolitik mehr<br />
Mitbestimmungsrechte bekommen. Ich<br />
habe nie genau verstanden, wer über<br />
dieses Verfahren entschieden hat.<br />
Ende letzten Jahres scheiterte auf UN-Ebene<br />
ein Antrag, der ein vollständiges Verbot des Klonens<br />
vorsah. Können wir zumindest auf eine EUweite<br />
Regelung hoffen?<br />
Wir können darauf hoffen, da wir bereits<br />
vor einigen Jahren im Europaparlament<br />
das reproduktive Klonen verboten<br />
haben. Was das Klonen zu Forschungszwecken<br />
betrifft, so denke ich, dass die<br />
Entwicklung, welche die Forschung<br />
nimmt, unseren Bemühungen helfen wird.<br />
Die besten Erfolge werden schließlich<br />
bei der Forschung mit adulten Stammzellen<br />
verzeichnet.<br />
Sie lehnen es ab, verwaiste Embryonen zur<br />
Forschung freizugeben?<br />
EUROPAPARLAMENT<br />
Menschliches Leben zu zerstören, ist<br />
grundsätzlich abzulehnen. Ich hätte nichts<br />
dagegen, wenn an Embryonen geforscht<br />
würde, die bereits tot sind, falls dies dem<br />
Fortschritt dient. Aber das menschliche<br />
Leben <strong>–</strong> also auch lebende Embryonen<br />
<strong>–</strong> soll unangetastet bleiben! Ich persönlich<br />
kann zwar nicht mit absoluter Sicherheit<br />
sagen, dass der Embryo bereits ein<br />
Mensch ist, andererseits kann aber auch<br />
niemand mit absoluter Sicherheit sagen,<br />
dass der Embryo kein Mensch ist. Um<br />
einen Embryo zu schützen oder zu retten,<br />
genügt der Zweifel. Um einen Embryo<br />
töten zu dürfen, müssten wir schon absolut<br />
sicher sein, dass es sich um keinen Mensch<br />
handelt.<br />
Vielen Dank für das Gespräch.<br />
13
EUROPA<br />
Dialog oder Widerstand<br />
In Österreich drängt die SPÖ vehement auf die »Absicherung und Ausweitung« eines vermeintlichen<br />
»Rechts auf Abtreibung«. Energischen Widerstand leisten nur noch Lebensrechtler. Ausgerechnet<br />
ihnen fiel jetzt der Erzbischof von Wien öffentlich in den Rücken.<br />
Von Stephan Baier<br />
Als im österreichischen Bundesland<br />
Salzburg die Sozialdemokraten<br />
im Februar 2004 nach<br />
mehr als einem halben Jahrhundert<br />
christdemokratischer Dominanz stärkste<br />
Partei wurden, da verschoben sich die<br />
politischen Prioritäten. Die neue Landeshauptfrau<br />
(Ministerpräsidentin) Gabi<br />
Burgstaller (SPÖ) beeilte sich zu erklären,<br />
dass sie Abtreibungen an den öffentlichen<br />
Krankenhäusern Salzburgs ermöglichen<br />
wolle. Es sei »menschenunwürdig«, dass<br />
Frauen bis nach Wien fahren müssten<br />
oder in den Untergrund getrieben würden,<br />
meinte die neue Landeschefin. Und<br />
es sei »unmoralisch«, eine Abtreibung<br />
privat in Ordnung zu finden, öffentlich<br />
aber nicht, sagte Burgstaller, nachdem<br />
eine private Abtreibungspraxis wegen<br />
hygienischer Beanstandungen geschlossen<br />
wurde.<br />
Der kleinere Koalitionspartner auf<br />
Landesebene, die eben entmachtete<br />
christdemokratische ÖVP, stemmte sich<br />
vehement gegen das Ansinnen: »Wenn<br />
nicht einmal die Mutter-Kind-Station in<br />
den Landeskliniken aufrechterhalten werden<br />
kann, dann kann es nicht Aufgabe<br />
der öffentlichen Hand sein, Schwangerschaftsabbrüche<br />
kostenlos oder günstig<br />
zu finanzieren«, so Salzburgs ÖVP-<br />
Vorsitzender Wilfried Haslauer noch im<br />
August. Haslauer bekam zwar Rückendeckung<br />
vom Salzburger Erzbischof Alois<br />
Kothgasser, der meinte, »solchem Unrecht<br />
zu wehren, muss das gemeinsame<br />
Anliegen sein«, doch die eigene Bundespartei<br />
fiel Haslauer in den Rücken. Frauen-<br />
und Gesundheitsministerin Maria<br />
Rauch-Kallat, vormals Generalsekretärin<br />
der ÖVP, teilte ihrem Parteifreund via<br />
Medien mit: »Ich bekenne mich eindeutig<br />
zur Fristenlösung. Sie soll nicht unterhöhlt<br />
und nicht neu diskutiert werden.«<br />
Eine Eskalation im Salzburger Abtreibungsstreit<br />
schien im Sommer unvermeidbar:<br />
Haslauer drohte, die ÖVP könne<br />
14<br />
Jutta Lang, Vorsitzende der »Jugend für das Leben«<br />
das Thema der Abtreibungen in Landeskrankenhäusern<br />
»zur Koalitionsfrage<br />
machen«. Burgstaller konterte: »Wir sind<br />
nicht zu dieser Koalition verpflichtet und<br />
wir sind nicht darauf angewiesen.« Erzbischof<br />
Kothgasser lud zu einem »Runden<br />
Tisch«, sparte aber auch nicht an klaren<br />
Worten: »Die Tötung menschlichen Lebens,<br />
vor allem<br />
des ungeborenen,<br />
am meisten<br />
schutzbedürftigen<br />
Lebens, ist<br />
schwerstes Unrecht.<br />
Wer im<br />
Staat für Recht<br />
zu sorgen hat,<br />
kann doch nicht<br />
zum Verfechter<br />
oder gar Förderer<br />
des Unrechts<br />
werden.<br />
Die Verantwortung<br />
ist groß <strong>–</strong> vor Gott und vor dem<br />
Leben.«<br />
Ende September meinte der Erzbischof,<br />
an seinem »Forum Neues Leben«<br />
genannten Runden Tisch einen Durch-<br />
JUGEND FÜR DAS LEBEN<br />
JUGEND FÜR DAS LEBEN<br />
bruch erreicht zu haben: »Wir müssen<br />
alle Möglichkeiten nutzen, um den in<br />
Not geratenen schwangeren Müttern die<br />
notwendige Hilfe anzubieten.« Keine<br />
Einigkeit gab es jedoch in der eigentlich<br />
heißen Frage. Binnen weniger Wochen<br />
unterschrieben 15.000 Salzburger Bürger<br />
gegen Burgstallers Pläne, doch diese weigerte<br />
sich, die Unterschriften auch nur<br />
entgegen zu nehmen. Anfang Dezember<br />
erteilte Landeshauptfrau Burgstaller die<br />
Weisung, ab 1. April <strong>2005</strong> an den Landesspitälern<br />
Abtreibungen durchzuführen.<br />
Stein des Anstoßes: Der Weihnachts-Cartoon der »Jugend für das Leben«<br />
Die »Jugend für das Leben«, eine<br />
Lebensschutzbewegung christlicher junger<br />
Idealisten, setzte nun auf die Mobilisierung<br />
der öffentlichen Meinung. Jutta<br />
Lang wandte sich mit einem offenen Brief<br />
an 70.000 Salzburger Haushalte: »Die<br />
SPÖ ist der Meinung, eine Abtreibung<br />
müsse billig und schnell vor sich gehen.<br />
Als Vorsitzende der ›Jugend für das Leben‹,<br />
einer Organisation, welche für das<br />
Recht auf Leben aller Menschen eintritt,<br />
betroffenen Frauen hilft und Jugendliche<br />
über Alternativen informiert, kann ich<br />
nicht tatenlos zusehen.« Dem Brief lagen<br />
eine sachliche Information über die Entwicklung<br />
des ungeborenen Kindes, Adressen<br />
von Hilfsstellen sowie ein Cartoon<br />
bei.<br />
Wenige Tage vor Weihnachten folgten<br />
300 Salzburgerinnen und Salzburger dem<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>
Kardinal Christoph Schönborn, Erzbischof von Wien<br />
Aufruf der »Jugend für das Leben« zu<br />
einer Lichterkette vor dem Salzburger<br />
St. Johann-Spital. Weihbischof Andreas<br />
Laun erklärte in einer kurzen Rede, die<br />
Landeshauptfrau würde im ganzen Land<br />
an Ansehen gewinnen, wenn sie von ihrem<br />
Anliegen Abstand nehmen würde. Die<br />
Menschenrechte müssten auch für die<br />
Ungeborenen gelten: »Wir möchten allen<br />
Frauen, die die Versuchung abzutreiben<br />
spüren, Mut zu ihrem Kind machen. Wir<br />
möchten allen sagen: Gott ist ein Gott<br />
des Lebens. Wir möchten alle erinnern:<br />
Dieses Spital wurde von einem Bischof<br />
gegründet, um dem Leben zu dienen.<br />
Wir müssen alles tun, damit es nicht eine<br />
Stätte wird, an der getötet wird.« Jutta<br />
Lang sagte bei der wenig provokativen<br />
Lichterkette, an der auch einige Kinder<br />
teilnahmen: »Abtreibung ist keine Dienstleistung.<br />
Abtreibung ist der sichere Tod<br />
eines unschuldigen Kindes. Sie ist das<br />
Ende der Zukunft unserer Gesellschaft.«<br />
Außer rund 50 Gegendemonstranten,<br />
die unter Gejohle und Trillerpfeifenlärm<br />
skandierten, Abtreibung sei ein Frauenrecht<br />
<strong>–</strong> auch der Spruch »Hätte Maria<br />
abgetrieben, wärt ihr uns erspart<br />
geblieben« war wieder zu hören <strong>–</strong>, fühlte<br />
sich auch Landeshauptfrau Burgstaller<br />
provoziert. Sie hatte den Verein gebeten,<br />
die Demonstration abzusagen, weil zeitgleich<br />
im Krankenhaus eine Weihnachtsfeier<br />
stattfinde. Die »Jugend für das<br />
Leben« lehnte dies ab: »Echter Weihnachtsfriede<br />
kann erst dann einkehren,<br />
wenn auch für unsere wehrlosesten und<br />
kleinsten Mitbürger die weiße Fahne<br />
gehisst wird.«<br />
Überraschend äußerte aber auch der<br />
Vorsitzende der Österreichischen Bischofskonferenz<br />
und Erzbischof von<br />
ARCHIV<br />
Wien, Kardinal Christoph Schönborn,<br />
öffentliche Kritik am Vorgehen der<br />
»Jugend für das Leben«. Im ORF-<br />
Mittagsjournal meinte der Kardinal am<br />
23. Dezember, er halte den »Aktionismus«,<br />
den manche Gruppen im Konflikt<br />
um Abtreibungen an Salzburger Landeskrankenhäusern<br />
an den Tag legten, »für<br />
ganz und gar nicht zielführend«. Polemik<br />
sei »nicht hilfreich«, sagte Kardinal<br />
Schönborn, der zu einer »Koalition der<br />
Besonnenen« in der Abtreibungsfrage<br />
aufrief. Schönborn, der die »Jugend für<br />
das Leben« bisher stets unterstützt hatte,<br />
begründete seine Kritik so: Erzbischof<br />
Kothgasser habe mit der Einladung zu<br />
einem Runden Tisch »den genau richtigen<br />
Weg« gezeigt«. Dies solle Vorbild<br />
für konstruktive Gespräche in anderen<br />
Bundesländern und auf Bundesebene sein,<br />
»denn hier geht es um die Zukunft unseres<br />
Landes«.<br />
Am Fest des Erzmärtyrers Stephanus,<br />
das im Vorjahr mit dem Fest der Heiligen<br />
Familie zusammenfiel, ging Kardinal<br />
Schönborn in seiner Predigt im Stephansdom<br />
zu Wien noch einmal auf die Aktion<br />
der »Jugend für das Leben« ein: »Ich bin<br />
allen dankbar, den vielen, die sich dafür<br />
einsetzen, dass Lebensschutz vom Anfang<br />
des Lebens bis zum letzten Atemzug kein<br />
leeres Wort ist. Wenn ich auch vor kurzem<br />
etwas kritisch über junge Leute gesprochen<br />
habe, die manchmal übers Ziel schießen<br />
in ihrem Eifer für den Lebensschutz,<br />
so anerkenne ich doch das viele Gute, das<br />
gerade auch junge Menschen in unserem<br />
Land tun, damit das Leben geschützt sei.<br />
Aber, all das erfordert die Liebe, die<br />
Wahrheit in Liebe tun.«<br />
ÖVP KNICKT IM STREIT UM ABTREIBUNG<br />
IN LANDESKRANKENHÄUSERN EIN<br />
Ein Kolumnist der linksliberalen Tageszeitung<br />
»Der Standard«, Hans Rauscher,<br />
spendete Kardinal Schönborn Applaus:<br />
Es sei »wichtig, dass Kardinal<br />
»Seine Aussagen spüren wir wie Steine,<br />
die uns vor die Füße geworfen wurden.«<br />
Jutta Lang, JfdL-Vorsitzende<br />
Schönborn jetzt die agitatorischen Umtriebe<br />
der Fundamentalisten im Zusammenhang<br />
mit der Debatte um Abtreibungen<br />
in den Salzburger Landeskrankenhäusern<br />
abgelehnt hat«. Die Vorsitzende<br />
der »Jugend für das Leben«, Jutta<br />
Lang, zeigte sich dagegen betroffen:<br />
Ȇber die Medien forderte uns der Kardinal<br />
auf, wir sollten die ›Wahrheit in<br />
Liebe‹ verkünden. In den Augen vieler<br />
kommt das dem Urteil gleich: ›Ihr habt<br />
die Liebe nicht.‹ (...) Ich zweifle nicht an<br />
der guten Absicht des Kardinals, aber<br />
seine Aussagen spüren wir wie Steine, die<br />
uns vor die Füße geworfen wurden.«<br />
»All das erfordert die Liebe,<br />
die Wahrheit in Liebe tun.«<br />
Kardinal Christoph Schönborn<br />
Die »konstruktiven Gespräche« mit<br />
den »Besonnenen«, die Parallele zum<br />
Salzburger »Runden Tisch« von Erzbischof<br />
Kothgasser auf Bundesebene sieht<br />
der Vorsitzende der Österreichischen<br />
Bischofskonferenz offenbar durch<br />
»Aktionismus« und »Polemik« gefährdet.<br />
Das Ziel eines Gesprächskreises auf Österreich-Ebene<br />
ist nicht die Abschaffung<br />
der vor genau 30 Jahren in Kraft getretenen<br />
Fristenregelung. Die kirchenamtliche<br />
Nachrichtenagentur »Kathpress« stellte<br />
am 23.12.2004 klar: »Es gehe nicht darum,<br />
Strafen für verzweifelte Frauen zu<br />
fordern, sagte Schönborn. Die seit der<br />
Ära Kreisky versprochenen flankierenden<br />
Maßnahmen zur Vermeidung von Abtreibungen<br />
seien leider nie verwirklicht worden.«<br />
Im Gegensatz zu Deutschland gibt es<br />
in Österreich weder eine offizielle Abtreibungsstatistik<br />
noch Motivforschung oder<br />
verpflichtende Beratung. Der ÖVP-<br />
Politikerin Sissi Potzinger gelang es immerhin,<br />
solches nun in einem offiziellen<br />
Arbeitskreis des österreichischen Sozialministeriums<br />
(tatsächlich an einem<br />
»Runden Tisch«, mit Vertretern aller<br />
Parteien) zur Forderung zu machen.<br />
Wörtlich heißt es in dem<br />
nicht rechtsverbindlichen<br />
Thesenpapier: »Mehr<br />
behutsame, sorgfältige<br />
und sensible Information<br />
in Beratungs- und Betreuungseinrichtungen<br />
wird ebenso gefordert, wie<br />
eine vertiefende Forschung<br />
(Motiv-Forschung, Statistik, Akzeptanz<br />
in der Praxis) als Begleitmaßnahmen<br />
zur Fristenregelung. Weitere<br />
Forderungen: Der medizinisch beratende<br />
Arzt sollte nicht der abtreibende Arzt<br />
sein, Verpflichtung des Arztes zum Hin-<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 15
EUROPA<br />
weis auf eine kostenlose psychosoziale<br />
Beratung, drei Tage ›Nachdenkpause‹<br />
nach der Beratung. Es soll kein Druck<br />
auf die Frau aufgeübt werden, sondern<br />
Rat und Hilfe und eine Entlastung für<br />
die Frau sowie eine Chance für das ungeborene<br />
Leben geschaffen werden.«<br />
BISCHÖFE FAVORISIEREN FLANKIERENDE<br />
MAßNAHMEN ZUR FRISTENREGELUNG<br />
Der Forderung nach solchen »flankierenden<br />
Maßnahmen« haben sich mittlerweile<br />
viele kirchliche Kreise angeschlossen,<br />
etwa der Pastoralrat der Erzdiözese<br />
Wien und der Diözesanrat von<br />
Graz. Ob <strong>–</strong> nachdem keine politische<br />
300 Bürger demonstrieren in Salzburg gegen Abtreibung<br />
Partei an der Fristenregelung als solcher<br />
rütteln will <strong>–</strong> zumindest diese Maßnahmen<br />
politisch durchsetzbar sind, ist fraglich.<br />
»Hätte Maria abgetrieben,<br />
wärt ihr uns erspart geblieben!«<br />
Salzburger Abtreibungsaktivisten<br />
16<br />
Tatsache ist, dass sich in den nun schon<br />
fünf Jahren einer nicht-sozialistischen<br />
Regierung (aus ÖVP und FPÖ) in der<br />
Abtreibungsfrage nichts bewegt hat.<br />
Obwohl Bundeskanzler Wolfgang<br />
Schüssel Österreich »zum kinderfreundlichsten<br />
Land Europas« zu machen versprochen<br />
und auch tatsächlich familienpolitische<br />
Verbesserungen durchgesetzt<br />
hat, obwohl die Kanzlerpartei ÖVP vor<br />
drei Jahrzehnten gegen die Einführung<br />
der Fristenregelung war, konnten nicht<br />
einmal kleine Fortschritte erzielt werden.<br />
So wurde etwa die zusätzliche Diskriminierung<br />
behinderter Ungeborener, die<br />
bis zur Geburt im Mutterleib straffrei<br />
getötet werden können, von ÖVP-<br />
Politikern zwar mehrfach skandalisiert,<br />
aber nicht aufgehoben.<br />
Ob auch die derzeit oppositionelle<br />
SPÖ zu Kardinal Schönborns »Koalition<br />
der Besonnenen« etwas beitragen kann,<br />
ist noch zweifelhafter. Immerhin sprach<br />
sich der jüngste SPÖ-Parteitag im November<br />
2004 für die »Absicherung und<br />
Ausweitung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch«<br />
aus. Die SPÖ forderte<br />
Bannmeilen um Abtreibungskliniken, um<br />
abtreibungswillige Frauen vor dem<br />
»Psychoterror« der Lebensschützer zu<br />
schützen. Wörtlich meinte die<br />
Frauensprecherin der Sozialistischen<br />
Jugend (SJÖ), Stefanie<br />
Vasold: »All jenen, die<br />
fordern, das Recht auf<br />
Schwangerschaftsabbruch<br />
abzuschaffen oder einzuschränken,<br />
sei gesagt, dass das<br />
mit der SPÖ nicht zu machen<br />
ist.«<br />
Im Dezember brachten<br />
mehrere SPÖ-Abgeordnete<br />
einen Antrag im Parlament<br />
ein, in dem sie »die Errichtung<br />
von Schutzzonen um<br />
Abtreibungskliniken« fordern.<br />
Geschützt werden sollen also<br />
nicht mehr die ungeborenen<br />
Kinder vor dem Abtreibungstod,<br />
sondern die Abtreibungsindustrie<br />
vor den Lebensschützern.<br />
In dem SPÖ-Antrag, der demnächst<br />
im Innenausschuss des Nationalrats behandelt<br />
werden wird, heißt es wörtlich:<br />
»Die mehr als fragwürdigen Methoden<br />
der selbsternannten ›Lebensschützer‹<br />
sind: Einschüchterung, bewusste Falschinformation,<br />
Belagerung, Gerichtsverfahren<br />
gegen VerteidigerInnen des Schwangerschaftsabbruchs<br />
bis hin zu Morddrohungen<br />
gegen ÄrztInnen, die Abtreibungen<br />
vornehmen.«<br />
JUGEND FÜR DAS LEBEN<br />
STATT SCHUTZ FÜR UNGEBORENE KINDER<br />
SCHUTZ FÜR ABTREIBUNGSKLINIKEN<br />
Und so beschreiben die SPÖ-Parlamentarierinnen<br />
den »ständigen Terror«<br />
der Lebensschützer in Wien: »Vor der<br />
Klinik am Wiener Fleischmarkt ist tagtäglich<br />
ein Aktivist von Human Life International<br />
(HLI) postiert, betend mit<br />
einem Rosenkranz. Andere Mitarbeiter<br />
von HLI sind in einigen Metern Entfernung<br />
der Klinik aufgestellt und belästigen<br />
alle Frauen, die an der Klinik vorbeigehen,<br />
egal ob sie auf dem Weg in die Klinik<br />
sind oder nicht. Es werden Plastikföten<br />
verteilt und Folder mit abstoßenden,<br />
blutigen Bildern. Die Abtreibungsgegner<br />
versuchen die Frauen zu überreden, in<br />
ihr ›Lebenszentrum‹ mitzukommen, das<br />
gleich um die Ecke der Klinik liegt.«<br />
Die österreichischen Sozialdemokraten<br />
haben nicht den Schutz der ungeborenen<br />
Kinder im Blick, sondern den Schutz der<br />
Abtreibungsindustrie. Damit sie ungestört<br />
arbeiten (also töten und verdienen) kann,<br />
»Ich bekenne mich eindeutig<br />
zur Fristenregelung.«<br />
Gesundheitsministerin Maria Rauch-Kallat<br />
bedarf es anscheinend eines strafrechtlich<br />
»geschützten Rahmens«, einer Zone mit<br />
eingeschränkter Demonstrations- und<br />
Meinungsfreiheit. Wörtlich heißt es in<br />
dem SPÖ-Antrag: »Wenn eine Frau die<br />
Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch<br />
getroffen hat, gebührt ihr Schutz,<br />
damit sie diese rechtmäßige Entscheidung<br />
auch ohne psychische und physische Gefährdung<br />
durch selbsternannte ›Lebensschützer‹<br />
umsetzen kann.« Vom Schutz<br />
der ungeborenen Kinder vor der garantiert<br />
tödlichen Gefährdung durch die<br />
Abtreibungsindustrie und ihre politische<br />
Lobby ist hier keine Rede.<br />
IM PORTRAIT<br />
Stephan Baier<br />
Der Autor, 1965 in Roding (Bayern) geboren,<br />
ist Österreich- und Europa-<br />
Korrespondent der überregionalen katholischen<br />
Tageszeitung »Die Tagespost«.<br />
Nach dem<br />
Studium der Theologie<br />
in Regensburg,<br />
München und<br />
Rom arbeitete er<br />
zunächst als Pressesprecher<br />
für die<br />
Diözese Augsburg, dann fünf Jahre lang<br />
als Pressesprecher und Parlamentarischer<br />
Assistent für Otto von Habsburg<br />
im Europäischen Parlament. Baier, Autor<br />
mehrerer Sachbücher, ist verheiratet<br />
und Vater von fünf Kindern. Ende letzten<br />
Jahres erschien im Aachener MM-<br />
Verlag sein jüngstes Werk: »Kinderlos<br />
<strong>–</strong> Europa in der demographischen Falle«<br />
(Vgl. Rezension im Bücherforum).<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>
EUROPA<br />
»Walk the talk«<br />
Als Vorsitzender des »Diözesankomitees der Katholischen Organisationen in der Steiermark« (DKO)<br />
setzt sich der österreichische Unternehmensberater Andreas Kirchmair unermüdlich für den Schutz<br />
menschlichen Lebens ein. Stephan Baier sprach mit ihm für <strong>LebensForum</strong> über die Versäumnisse von<br />
Politik und Kirche in der Abtreibungsfrage.<br />
<strong>LebensForum</strong>: Die SPÖ will in Salzburg Abtreibungen<br />
an Landeskrankenhäusern, die ÖVP wollte<br />
dies als kleinerer Koalitionspartner verhindern.<br />
Warum blieb die ÖVP nicht konsequent?<br />
Andreas Kirchmair: Ich bin Unternehmensberater,<br />
kein Politiker und daher<br />
nur ein interessierter Beobachter des<br />
politischen Geschehens in Salzburg. Mir<br />
ist aufgefallen, dass sich die ÖVP-Bundespartei<br />
nach deren ersten mutigen Auftreten<br />
sofort von Haslauer distanzierte.<br />
Sie wollte die Fristenregelung auf keinen<br />
Fall in Frage stellen und sie tut sich auch<br />
schwer, da in mehreren ÖVP-dominierten<br />
Bundesländern seit vielen Jahren Abtreibungen<br />
ungeborener Kinder in Landeskrankenhäusern<br />
klaglos erfolgen. Ganz<br />
wenige ÖVP-Politiker reden noch über<br />
den Lebensschutz. Die ÖVP hat selbst<br />
als großer Koalitionspartner in der Bundesregierung<br />
enttäuschenderweise seit<br />
fünf Jahren politisch nichts verändert und<br />
ist in der Argumentation der 70er Jahre<br />
stecken geblieben. So blieb Haslauer ohne<br />
Rückhalt und kapitulierte.<br />
Salzburgs Erzbischof Alois Kothgasser lud alle<br />
Beteiligten zu einem »Runden Tisch«. Was hat er<br />
damit erreicht?<br />
Am Beginn sicher eine gewisse mediale<br />
Aufmerksamkeit; weitere Ergebnisse sind<br />
mir bisher nicht bekannt. Salzburgs SPÖ-<br />
Landeshauptfrau Gabi Burgstaller hat<br />
das nicht beeindruckt. Sie hat parallel in<br />
aller Stille ihren eigenen »Runden Tisch«<br />
installiert, um am Salzburger Landeskrankenhaus<br />
eine Abtreibungsstation mit Wiener<br />
Ärzten aufzubauen.<br />
Die »Jugend für das Leben« hat mit Aufsehen<br />
erregenden Aktionen gegen die SPÖ-Pläne protestiert.<br />
Waren diese Aktionen sinnvoll, und waren<br />
sie erfolgreich?<br />
Diese Aktionen waren alle großartig,<br />
wie vieles, was »Jugend für das Leben«<br />
für Kirche und Gesellschaft leistet. Man<br />
darf nicht vergessen, dass es der Salzburger<br />
Landeshauptmann<br />
Lechner war, der vor 30<br />
Jahren (zwar erfolglos)<br />
Einspruch beim Verfassungsgerichtshof<br />
gegen das<br />
Gesetz der Fristenregelung<br />
eingelegt hat. Die Mehrheit<br />
der Salzburger Bevölkerung<br />
war immer und ist gegen<br />
Abtreibungen an Landeskrankenhäusern<br />
und die<br />
Aktionen von »Jugend für<br />
das Leben« und anderen<br />
Lebensschutzgruppen haben<br />
daher gute Resonanz<br />
gefunden.<br />
Der Vorsitzende der Österreichischen<br />
Bischofskonferenz,<br />
Kardinal Christoph Schönborn,<br />
kritisierte die »Jugend für das<br />
Leben«. Aktionismus und Polemik<br />
seien nicht hilfreich, meinte er.<br />
Teilen Sie diese Kritik?<br />
Bei aller Wertschätzung<br />
für den Herrn Kardinal:<br />
Diese Kritik teile ich überhaupt<br />
nicht. Es ist schwer<br />
zu verstehen, dass weite<br />
Teile der österreichischen Kirche schweigen,<br />
wenn »christliche« Politikerinnen<br />
die Entscheidungsfreiheit der Mütter bei<br />
Abtreibungen unterstützen; schweigen,<br />
wenn der Bundesparteitag der SPÖ das<br />
»Recht auf Abtreibung« Ungeborener<br />
bis zur Geburt einstimmig beschließt;<br />
schweigen zum internationalen Abtreibungsärztekongress<br />
in Wien. Dafür kritisieren<br />
sie immer wieder öffentlich katholische<br />
Lebensschützer. Auf mich wirkt<br />
das wie ein Ventil für eigenes schlechtes<br />
Gewissen.<br />
Wie sehr hat die öffentliche Kritik des Kardinals<br />
den Anliegen des Lebensschutzes geschadet?<br />
STEPHAN BAIER<br />
Andreas Kirchmaier tritt für den Schutz menschlichen Lebens ein<br />
Sie hat dem Anliegen nur oberflächlich<br />
geschadet, glaube ich, zeigt sie doch nur,<br />
dass die Kirche in der Frage des Lebensschutzes<br />
heute uneins ist, der Streit gehört<br />
daher zunächst innerhalb der Kirche geführt.<br />
In einem Punkt hat der Herr Kardinal<br />
nämlich völlig recht: Die Worte des<br />
Heiligen Vaters in Wien, »die Wahrheit<br />
in Liebe zu verkünden«, sollte Maßstab<br />
für alle Katholiken sein. Ob die österreichische<br />
Kirche das in der Frage der Abtreibung<br />
selbst immer getan hat, das sollte<br />
sie jetzt einmal ehrlich und gewissenhaft<br />
erforschen. Aus dieser Gewissenserforschung<br />
erhoffe ich mir neue und größere<br />
Impulse für den Lebensschutz.<br />
Kardinal Schönborn will in der Abtreibungsfrage<br />
eine »Koalition der Besonnenen«. Wer könnte<br />
damit gemeint sein?<br />
Ich spekuliere ungern. Allein in den<br />
letzten 30 Jahren sind in Österreich ein<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 17
EUROPA<br />
bis zwei Millionen ungeborene Kinder<br />
legal getötet worden. Für Kardinal Schönborn<br />
wird sich die Frage stellen, ob nicht<br />
die, die sich besonnen nennen, eine Mitverantwortung<br />
für die heutige Misere<br />
tragen, und wer wirklich etwas zu einer<br />
nachhaltigen Lösung beitragen kann.<br />
Viele Bischöfe und kirchliche Kreise wollen in<br />
Österreich nun »flankierende Maßnahmen« durchsetzen,<br />
wie sie in Deutschland bestehen. Was erwarten<br />
Sie sich davon?<br />
Österreich hat eines der »liberalsten«<br />
Abtreibungsgesetze in ganz Westeuropa,<br />
daher ist bei uns die Überlebensrate Ungeborener<br />
so niedrig und der Handlungsbedarf<br />
besonders groß. Alle Schritte, die<br />
der Abtreibung von Kindern entgegenwirken,<br />
sind Fortschritte. Die flankierenden<br />
Maßnahmen können ein erster Schritt<br />
sein, aber es muss sich auch das öffentliche<br />
Bewusstsein ändern, denn das schlechte<br />
Gewissen der ganzen Gesellschaft lastet<br />
wie ein bleierner Mantel auf diesem Thema.<br />
Wenn ein Kind nicht nach Hause<br />
kommt, rückt das ganze Dorf aus, um es<br />
zu suchen, wenn über eine Million Kinder<br />
nicht geboren werden, entsteht im ganzen<br />
Land eine Mauer des Schweigens.<br />
Wieviel Spielraum sehen Sie für eine Änderung<br />
der Gesetzeslage in Österreich?<br />
Rund 2.400 Jahre wurde das Leben<br />
der Ungeborenen geschützt, mangelhaft<br />
aber doch. Jetzt hat unsere<br />
Gesellschaft 30 Jahre mit<br />
der Straffreiheit für Kindestötung<br />
experimentiert<br />
und ist jämmerlich gescheitert,<br />
weil der Schutz<br />
der Ungeborenen in den<br />
Hintergrund getreten ist<br />
und unsere Systeme nun<br />
die Kindestötung forcieren.<br />
Wir treiben heute unsere<br />
Zukunft ab, und sind damit<br />
dem Untergang geweiht.<br />
Die Fristenregelung ist<br />
unmenschlich, unlogisch,<br />
und legitimiert menschliche<br />
Willkür. Insofern wird<br />
sie eines Tages sicher aufgehoben,<br />
daran müssen wir<br />
glauben, dafür sollten wir<br />
beten, dafür sollten sich alle<br />
Menschen guten Willens<br />
einsetzen. Die meisten unserer Politiker<br />
sehen es zwar noch nicht, aber es wird<br />
passieren. Hoffentlich bald, sehr bald.<br />
Was könnte die Kirche tun, damit ihr Einsatz<br />
für die ungeborenen Kinder noch glaubwürdiger<br />
und wirkungsvoller wird?<br />
Die Amerikaner sagen: »walk the talk«<br />
<strong>–</strong> tue, was Du sagst. Zunächst sollten wir<br />
Katholiken reumütig eingestehen, dass<br />
wir bisher nicht angemessen auf diese<br />
historische Tragödie reagiert haben, die<br />
lebensgefährlich ist für unser Land, und<br />
lebensgefährlich für das<br />
Seelenheil aller an Abtreibungen<br />
Beteiligten. Im<br />
Mittelpunkt unserer Pfarren<br />
stehen heute Kirchenrenovierungen,<br />
nicht der<br />
Lebensschutz der ungeborenen<br />
Kinder. Wir waren<br />
STEPHAN BAIER<br />
STEPHAN BAIER<br />
materialistisch, zu wenig mutig, haben<br />
zu wenig an das Evangelium geglaubt<br />
und Gott zu wenig zugetraut.<br />
Die Kirche muss endlich zeigen, dass<br />
es ihr ernst ist, sich mit allen verfügbaren<br />
Mitteln und Kräften für eine »Kultur des<br />
Lebens« einzusetzen. Sie sollte daher<br />
zunächst in ihrem eigenen Bereich, in<br />
der Messe, in Pfarren und Organisationen<br />
den Lebensschutz der ungeborenen Kinder<br />
zu einem Hauptanliegen machen. Sie<br />
sollte tun, was sie immer getan hat in<br />
Zeiten großer Bedrängnis: öffentlich und<br />
beständig für diese Kinder und ihre Eltern<br />
beten. Sie sollte mithelfen, ungeborene<br />
Kinder zu schützen, die in Lebensgefahr<br />
sind, Müttern und Vätern helfen, die<br />
wirklich in Not sind, einen Beitrag leisten<br />
zur Trauerarbeit. So viele Menschen warten<br />
auf klare Worte und Taten. Die Kirche<br />
kann unsere Gesellschaft retten.<br />
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<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>
RECHT<br />
BGH VI ZR 308/03<br />
Mit seinem »Bannmeilen-Urteil« hat der BGH die Tür zu<br />
meinungsfreien Räumen in Deutschland aufgestoßen: Den Arealen<br />
rund um Einrichtungen, in denen ungeborene Kinder getötet werden.<br />
Der Bundesgerichtshof (BGH)<br />
hat einem Lebensrechtler jegliche<br />
Meinungsäußerung in der<br />
Nähe einer Abtreibungspraxis untersagt.<br />
Diese Rechtsprechung führt zu einer Art<br />
»Bannmeile« um jede Abtreibungseinrichtung.<br />
Innerhalb dieses meinungsfreien<br />
Raums soll jeder Versuch verboten sein,<br />
Passanten auf das Thema Abtreibung<br />
anzusprechen oder gar einer Schwangeren<br />
Hilfe anzubieten. Das höchste deutsche<br />
Zivilgericht begründet sein Urteil vom<br />
7.12.2004 (Az.: VI ZR 308/03) vor allem<br />
mit zwei Argumentationslinien. Zum<br />
einen führe der namentliche Hinweis auf<br />
den Abtreibungsarzt zu einer unverhältnismäßigen<br />
Prangerwirkung, weil die legale<br />
berufliche Tätigkeit des Abtreibungsarztes<br />
durch die Demonstration des Abtreibungsgegners<br />
behindert und herabgewürdigt<br />
werde. Dies verletze den Abtreibungsarzt<br />
in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.<br />
Zum anderen erfordere das geltende<br />
»Beratungsschutzkonzept« des Gesetzgebers,<br />
jegliches Dazwischentreten eines<br />
außenstehenden Dritten zu verhindern,<br />
um Belastungen des Arzt-/Patientinnen-<br />
Verhältnisses zu vermeiden. Nur dann<br />
sei es dem Arzt möglich, der Schwangeren<br />
ärztlichen Rat zu erteilen und seine<br />
Ȋrztliche Fachkompetenz in den Dienst<br />
einer von Verantwortung getragenen Elternschaft«<br />
zu stellen. Zu diesem Dienst<br />
an der verantwortlichen Elternschaft zählt<br />
der BGH auch die legale Tötung ungeborener<br />
Kinder <strong>–</strong> eigentlich das Gegenteil<br />
von Elternschaft. Aber unter der Logik<br />
des »Beratungsschutzkonzepts«, das Beratung<br />
mit der Möglichkeit zur legalen<br />
Abtreibung verknüpft, ist alles anders.<br />
Nach diesem Konzept kann sich der Arzt<br />
sogar auf sein Grundrecht der Berufsfreiheit<br />
berufen, wenn er andere Grundrechtsträger<br />
»konzeptbedingt« tötet.<br />
Im konkreten Fall hatte der Lebensrechtler<br />
Klaus Günter Annen im April<br />
2002 mit einem Sandwich-Plakat mit der<br />
Aufschrift »Abtreibung tötet ungeborene<br />
Kinder« und »Du sollst nicht töten. Gilt<br />
auch für Ärzte« vor einer Abtreibungspraxis<br />
demonstriert und Frauen auf dem<br />
Von Stefan Brandmaier<br />
Weg in die Praxis angesprochen. Auf<br />
Flugblättern kritisierte Annen den fehlenden<br />
strafrechtlichen Schutz für ungeborene<br />
Kinder in Deutschland.<br />
Bereits am 1.4.2003 hatte derselbe<br />
Senat des BGH (Az.: VI ZR 366/02) die<br />
Revision von Klaus Günter Annen gegen<br />
ein Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart<br />
zurückgewiesen. Das OLG Stuttgart<br />
hatte Annen verboten, Passanten mittels<br />
Flugblättern vor derselben gynäkologischen<br />
Praxis darauf hinzuweisen, dass der<br />
betreffende Arzt »rechtswidrige Abtreibungen«<br />
durchführe. Obwohl der Abtreibungsgegner<br />
damit die Rechtsprechung<br />
des Bundesverfassungsgerichts aufgegriffen<br />
hatte, verbot der BGH diese Formulierung<br />
im Flugblatt, weil der Arzt im<br />
Rahmen der Gesetze handle und sich<br />
deshalb nicht an den Pranger stellen lassen<br />
müsse.<br />
Die vorstehenden Entscheidungen des<br />
BGH sind umso unverständlicher, als die<br />
Meinungsäußerungsfreiheit nach ständiger<br />
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />
und des BGH als schlechthin<br />
konstitutiv für eine freiheitliche<br />
Demokratie bezeichnet und deshalb sehr<br />
weit ausgelegt wird. Aus der Vermutung<br />
für die Zulässigkeit der freien Rede folgt,<br />
dass auch polemische und überspitzte<br />
Kritik in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung<br />
durch das Grundrecht auf<br />
Meinungsfreiheit gerechtfertigt ist, weil<br />
andernfalls die Gefahr einer Lähmung<br />
oder Verengung des Meinungsbildungsprozesses<br />
droht.<br />
Ganz im Sinne dieser Rechtsprechung<br />
zur Meinungsfreiheit hatte das OLG<br />
Karlsruhe am 23.4.2003 (Az.: 6 U 189/02)<br />
die Qualifizierung ärztlicher Abtreibungen<br />
als »rechtswidrig« in einem Flugblatt<br />
als zulässige Meinungsäußerung eingestuft.<br />
Selbst extrem erscheinende Äußerungen<br />
wie die Einstufung von in<br />
Deutschland vorgenommenen Abtreibungen<br />
als »Mord an unseren Kindern« und<br />
als »neuer Holocaust« werde vom Grundrecht<br />
der Meinungsfreiheit getragen, auch<br />
wenn sie in Bezug auf die Person und die<br />
ärztliche Tätigkeit eines namentlichen<br />
genannten Frauenarztes erfolgen. Hierin<br />
konnte sich das OLG Karlsruhe auf ein<br />
früheres Urteil des BGH vom 30.05.2000<br />
(Az.: VI ZR 276/99) stützen. Seinerzeit<br />
urteilte der BGH, die Bezeichnung »Babycaust«<br />
in Bezug auf eine staatliche<br />
Klinik, in der ein bekannter Frauenarzt<br />
viele Abtreibungen durchführt, müsse<br />
grundsätzlich selbst dann toleriert werden,<br />
wenn die geäußerte Meinung extrem erscheine.<br />
Auch bei einer bundesweiten satirischsarkastischen<br />
Plakataktion von Greenpeace<br />
gegen FCKW-produzierende Unternehmen<br />
mit namentlicher Bezeichnung<br />
und Abbildung eines Porträts der Vorstandsvorsitzenden<br />
der Hoechst AG haben<br />
der BGH im Jahr 1993 und das<br />
BVerfG im Jahr 1999 keine unzulässige<br />
Prangerwirkung gesehen. Dabei hatte<br />
Greenpeace im Stil der Reihe »Die Bundesregierung<br />
informiert« plakatiert: »Alle<br />
reden vom Klima« und unmittelbar darunter<br />
in schwarzer Schrift geschrieben:<br />
»Wir ruinieren es«. Es folgten große Porträtaufnahmen<br />
der namentlich benannten<br />
Vorstandsvorsitzenden der Hoechst AG<br />
und der Kali-Chemie AG mit dem weiteren<br />
Text: »Absolute Spitze bei Ozonzerstörung<br />
und Treibhauseffekt: Verantwortlich<br />
für die deutsche Produktion des<br />
Ozon- und Klimakillers FCKW.«<br />
Letztlich wird das Bundesverfassungsgericht<br />
entscheiden müssen. Spannend<br />
wird die Frage, ob die linksliberale Mehrheit<br />
im zuständigen Ersten Senat gemäß<br />
dem »Soldaten sind Mörder«-Urteil die<br />
Entscheidungen des BGH gegen Annen<br />
aufheben wird. Danach müsste auch ein<br />
Satz wie »Abtreibungsärzte sind Mörder«<br />
zulässig sein. Angesichts der abtreibungsfreundlichen<br />
Haltung des Ersten Senats<br />
bleibt jedoch fraglich, ob die Karlsruher<br />
Richter Meinungsäußerungen von Pazifisten<br />
und Lebensrechtlern gleichbehandeln<br />
werden.<br />
IM PORTRAIT<br />
Stefan Brandmaier<br />
Der Autor ist selbständiger Rechtsanwalt<br />
und als Mitglied des <strong>ALfA</strong>-<br />
Bundesvorstands mit den juristischen<br />
Belangen der <strong>ALfA</strong><br />
betraut. Der dreifache<br />
Vater zählt zu<br />
den Gründern der<br />
»Jugend für das<br />
Leben« (JfdL). Davor<br />
galt das besondere<br />
Engagement des heute 34jährigen<br />
viele Jahre lang dem Auf- und Ausbau<br />
des <strong>LebensForum</strong>s, dessen Redaktion<br />
er zeitweise verantwortlich leitete.<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 19
GESELLSCHAFT<br />
REHDER MEDIENAGENTUR<br />
Wenn die<br />
Seele stirbt<br />
Die für das Kind tödliche Abtreibung wird vielfach als Befreiung der Frau gefeiert, die<br />
sie statt vom Kind vom »Gebärzwang« entbinde. In Wahrheit fordert Abtreibung meist<br />
zwei Opfer. Viele Frauen erkranken nach einer Abtreibung am so genannten Post-<br />
Abortion-Syndrom; oft mit furchtbaren Folgen.<br />
Von Veronika Blasel, M.A.
REHDER MEDIENAGENTUR<br />
REHDER MEDIENAGENTUR<br />
Immer wieder frage ich mich, warum<br />
hat mir das keiner gesagt? Wussten<br />
die anderen, Arzt, Beraterin, meine<br />
Eltern, meine Freundinnen und mein<br />
Mann wirklich nicht, was dann kommt?<br />
Als ich vor zwei Jahren zur Abtreibung<br />
gedrängt wurde, sagten alle, es sei das<br />
Beste für mich und für mein Kind! Nun<br />
ist mein Kind tot, und ich bin so verzweifelt!<br />
Ich kann nicht mehr schlafen und<br />
auch nicht mehr lachen. Niemand versteht<br />
mich! Damals hatte ich keine Kraft, mich<br />
gegen alle zu stellen. Auch heute bin ich<br />
mit meiner Not und meinem Elend allein.<br />
Bitte sagen Sie allen Menschen, wie<br />
furchtbar eine Abtreibung ist. Dauernd<br />
möchte ich weglaufen, rennen, jagen <strong>–</strong><br />
aber die Gedanken sind schneller. Sie<br />
holen mich immer wieder ein. Schreckliche<br />
Schmerzen quälen meinen Körper<br />
und meine Seele! Warum hat mir das<br />
denn keiner gesagt?«<br />
Verzweiflung, Schlafstörungen, Unfähigkeit<br />
zur Freude, Einsamkeit, das Sich-<br />
Gejagt-Fühlen, schreckliche Schmerzen<br />
<strong>–</strong> die Symptome einer Frau, deren Bericht<br />
man im Buch »Myriam … warum weinst<br />
du« nachlesen kann, deuten klar auf das<br />
Post-Abortion-Syndrom (PAS) hin. Mit<br />
diesem Begriff wird in der Psychologie<br />
und der Psychiatrie die Gesamtheit der<br />
psychischen Symptome bezeichnet, die<br />
bei sämtlichen in das Abtreibungsgeschehen<br />
involvierten Personen, also den Frauen,<br />
Kindsvätern, Ärzten, Beratern und<br />
dem Pflegepersonal, als Folge von Abtreibung<br />
auftreten können. Und ebenso klar<br />
wie die Diagnose ist die Antwort auf die<br />
Frage, die die Frau nicht mehr loslässt:<br />
Sie ist von niemandem über das PAS<br />
aufgeklärt worden, weil es anscheinend<br />
Psychische Folgen nach einer Abtreibung<br />
Psychische Spätfolgen: 80 %<br />
Reue und Schuldgefühle: 60 %<br />
Stimmungsschwankungen und Depressionen, erhöhte Reizbarkeit: 35 - 40 %<br />
Unmotiviertes Weinen: 35 %<br />
Angstzustände: 30 %<br />
DANIEL RENNEN<br />
Depressionen und Stimmungsschwankungen beherrschen nach einer Abtreibung das Leben vieler Frauen.<br />
politisch nicht korrekt ist, über die Auswirkungen<br />
der staatlich finanzierten und<br />
»rechtswidrigen, aber straffreien« vorgeburtlichen<br />
Kindstötungen im Rahmen<br />
der als frauenfreundlich propagierten<br />
Fristenregelung zu sprechen. Deshalb<br />
werden sie in den Medien und der öffentlichen<br />
Diskussion weitgehend totgeschwiegen.<br />
Das beste Beispiel dafür, dass nach<br />
dem Motto »Es kann nicht sein, was nicht<br />
sein darf« agiert wird, bietet die Bundesregierung<br />
in ihrer Antwort vom 18. Mai<br />
2004 auf die Kleine Anfrage »Umsetzung<br />
»Schreckliche Schmerzen quälen<br />
meinen Körper und meine Seele.«<br />
der vom Bundesverfassungsgericht geforderten<br />
Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht«<br />
von CDU-Bundestagsabgeordneten.<br />
Dort hält die Bundesregierung<br />
auf die Frage nach den Spätfolgen von<br />
Abtreibungen für die Frau fest: »Der<br />
Bundesregierung sind entsprechende Studien<br />
in Deutschland<br />
nicht bekannt. Es liegen<br />
jedoch Auswertungen<br />
internationaler<br />
Fachliteratur vor, die<br />
im Langzeitvergleich<br />
keine oder nur geringe<br />
Unterschiede im psychischen<br />
Befinden<br />
zwischen Frauen mit<br />
Schwangerschaftsabbruch<br />
und Frauen mit<br />
Abbildung 1 ausgetragenen Schwangerschaften<br />
aufweisen«<br />
(Bundestagsdrucksache 15/3155).<br />
Ein Blick in die Literatur zum Post-<br />
Abortion-Syndrom reicht, um diese Behauptung<br />
zu widerlegen. Nicht nur, dass<br />
sehr wohl deutsche Studien zum Thema<br />
vorliegen, etwa von der klinischen Psychologin<br />
Maria Simon (Abbildung 1),<br />
auch mehrere internationale Studien beweisen<br />
die verheerenden Auswirkungen,<br />
die Abtreibungen für die Betroffenen<br />
nach sich ziehen. Dabei haben allerdings<br />
die meisten der Studien <strong>–</strong> sowohl die, die<br />
über das PAS aufklären wollen, als auch<br />
solche, die sich bemühen, das PAS als<br />
nebensächlich abzutun <strong>–</strong> mit Problemen<br />
zu kämpfen, die es erschweren, dass eine<br />
Studie zu diesem Thema allen Kriterien<br />
der Wissenschaftlichkeit standhält. David<br />
C. Reardon, Vorsitzender des USamerikanischen<br />
Elliot Institute in Springfield,<br />
das es sich zur Aufgabe gemacht<br />
hat, über die Abtreibungsfolgen zu informieren,<br />
nennt dafür vier Gründe:<br />
1.) Viele Frauen, die eine Abtreibung<br />
erlebt haben, verweigern sämtliche Auskünfte.<br />
Bis zu 60 Prozent der zu Studienzwecken<br />
angefragten Frauen wollen sich<br />
nicht über ihr Leben nach einer Abtreibung<br />
äußern. Experten gehen davon aus,<br />
dass ein Großteil dieser Frauen so stark<br />
vom PAS betroffen ist, dass das Sprechen<br />
über die Abtreibung als zu schmerzhaft<br />
empfunden würde.<br />
2.) Die Bandbreite der Symptome, an<br />
denen Frauen nach einer Abtreibung<br />
leiden, ist so groß, dass es unmöglich ist,<br />
jedes einzelne in den Studien zu berücksichtigen.<br />
3.) Die Intensität vieler Reaktionen ist<br />
sehr zeitabhängig.<br />
4.) Die geläufige Methode, die Studien<br />
mittels eines Fragebogens oder eines<br />
anderen standardisierten Umfrageinstruments<br />
durchzuführen, ist wenig geeignet,<br />
tief sitzende und oft verdrängte Gefühle<br />
offen zu legen.<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 21
GESELLSCHAFT<br />
Bei Frauen ist die Suizidrate nach Abtreibung dreimal<br />
so hoch wie normal.<br />
der Arzt die Abtreibung als Ursache der<br />
Leiden erkennt. Diese Frauen erachten<br />
Fragen nach einer Abtreibung gewöhnlich<br />
für nicht relevant.<br />
FRAUEN ERLEIDEN ZWEIFACHEN VERLUST<br />
ZITATE<br />
Zitate von Frauen nach<br />
einer Abtreibung<br />
»Für mich hat nun alles keinen Sinn<br />
mehr und keinen Zweck.« (S. B.)<br />
»Bei jeder Menstruation wurde ich an<br />
das Kind erinnert, und das ganze Theater<br />
wiederholte sich: Migräne, Angst,<br />
Schmerzen, endloses Weinen! Ich krieg’<br />
es einfach nicht in den Griff!« (H. R.)<br />
»Seitdem hasse ich jeden Mann!« (H. D.)<br />
»Nach meiner Abtreibung hatte ich vier<br />
Selbstmordversuche.« (A. W.)<br />
»Schweißausbrüche, wechselndes Erröten<br />
und Erblassen und das Zittern der Hände<br />
wurden so stark, dass ich meinen Beruf<br />
als Einkäuferin aufgeben musste.« (C. R.)<br />
»Ich komme mir wie ein Roboter vor und<br />
tue mechanisch meine Arbeit. Mich freuen<br />
oder lachen <strong>–</strong> aber auch weinen kann<br />
ich nicht mehr! Alles egal!« (A. G. S.)<br />
»Seit dem Abbruch ist es, als wäre ich<br />
in Ketten gelegt! Ich habe schreckliche<br />
Angstzustände. Alles wird eng, krampft<br />
sich zusammen, als müsste ich ersticken.<br />
<strong>–</strong> Die Ärzte finden nichts!« (O. B.)<br />
»Fast wäre ich verblutet! Meine Seele<br />
blutet noch heute!« (B. W.)<br />
»›Das ist ja noch nicht‹, hatten Arzt und<br />
Beraterin gesagt! Dass es doch ›etwas‹<br />
gewesen war, merkte ich zu spät, als<br />
sich mein totes Kind wie ein Schatten<br />
auf meine Seele legte. Das Trauma ›Abtreibung‹<br />
zerstörte mein Leben.« (B. G.)<br />
(Quelle: »Myriam … warum weinst du?<br />
Die Leiden der Frauen nach der Abtreibung,<br />
Post-Abortion-Syndrome PAS,<br />
Erlebnisberichte von betroffenen<br />
Frauen«. Hg.: Stiftung »JA ZUM LEBEN<br />
<strong>–</strong> Mütter in Not«, Uznach 1996)<br />
REHDER MEDIENAGENTUR<br />
So wundert es nicht, dass die Ergebnisse<br />
vieler Studien stark divergieren. Für<br />
Untersuchungen, nach denen nur ein<br />
sehr geringer Prozentsatz der Frauen am<br />
PAS leidet, wurden beispielsweise Frauen<br />
Die häufigsten Symptome, unter denen<br />
Frauen nach einer Abtreibung leiden<br />
96,2 % Starke Schuldgefühle<br />
88,0 % Depression<br />
82,3 % Verlust des Selbstwertgefühls<br />
75,5 % Verlust des Selbstvertrauens<br />
63,1 % Flashbacks<br />
55,8 % Selbstmordgedanken<br />
50,8 % hysterische Weinkrämpfe<br />
46,6 % Alpträume<br />
40,6 % Konsum von Drogen<br />
38,6 % Essstörungen<br />
36,5 % Alkoholmissbrauch<br />
Abbildung 2<br />
kurz nach der Abtreibung befragt. Bei<br />
ihnen herrscht häufig noch das Gefühl<br />
der Erleichterung vor, denn die Symptome<br />
des PAS treten oft erst nach mehreren<br />
Jahren auf. Typisch für die Verhaltensweise<br />
von Frauen nach der Abtreibung<br />
ist auch die Verdrängung des Geschehenen.<br />
Diese kann so stark sein, dass die<br />
Frauen später zwar unter zahlreichen<br />
körperlichen und psychischen Symptomen<br />
leiden und jahrelang in ärztlicher<br />
Behandlung sind, aber weder sie noch<br />
DANIEL RENNEN<br />
Wie viele Frauen tatsächlich am PAS<br />
erkranken, ist auch nach Angaben von<br />
Pro-Life-Experten noch ungeklärt. Unbestritten<br />
ist jedoch, dass die Frau nach<br />
der Abtreibung mit einem zweifachen<br />
Verlust konfrontiert wird: Mit dem Verlust<br />
der Person, die sie ohne die Abtreibung<br />
hätte werden können, und mit dem Verlust<br />
ihres ungeborenen Kindes. Dies kann<br />
einen tiefen Schmerz verursachen, den<br />
zu überwinden Trauerarbeit erfordert.<br />
Wenn die Frau, aber auch der Vater des<br />
abgetriebenen Kindes, dies<br />
nicht tun und den Schmerz<br />
verleugnen, zeigen sich<br />
früher oder später Symptome<br />
des PAS. So leiden<br />
laut der Würzburger Psychologin<br />
Maria Simon 80<br />
Prozent der Frauen nach<br />
einer Abtreibung unter<br />
psychischen Spätfolgen, wie<br />
etwa an Reue- und Schuldgefühlen,<br />
Selbstvorwürfen,<br />
Stimmungsschwankungen<br />
und Depressionen, unmotiviertem<br />
Weinen, Angstzuständen<br />
und schreckhaften Träumen.<br />
Die Ergebnisse aus Deutschland werden<br />
von einer amerikanischen Studie bestätigt<br />
(Abbildung 2). Demnach haben 92,6 Prozent<br />
der befragten Frauen starke Schuldgefühle,<br />
über 88 Prozent leiden unter<br />
einer Depression, 38,6 Prozent an Essstörungen<br />
und 40,6 Prozent haben mit dem<br />
Konsum von Drogen begonnen. Nur 5,1<br />
Prozent der 260 Befragten fühlten einen<br />
inneren Frieden.<br />
ABTREIBUNGSERLEBNIS ÜBERWÄLTIGT<br />
NORMALEN ABWEHRMECHANISMUS<br />
1981 brachte der Psychologe Vincent<br />
Rue erstmals die Folgeerscheinungen von<br />
Abtreibungen mit dem Posttraumatischen-Stress-Syndrom<br />
(PTSD) in Verbindung.<br />
Dieses PTSD wurde bei Veteranen<br />
des Vietnam-Krieges beobachtet,<br />
die plötzlich Jahre nach der Kriegserfahrung<br />
ein pathologisches Verhalten zeigten.<br />
Verursacht wird das PTDS laut Trauma-<br />
Forscher Arthur Blank durch »einen Kon-<br />
22<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>
takt zwischen dem Individuum und den<br />
dunkelsten und gewalttätigsten Kräften<br />
der menschlichen Natur.« Krieg, Mord<br />
und Vergewaltigung etwa konfrontieren<br />
die Menschen mit dem Tod oder unkontrollierbarer<br />
Gewalt. Solche Ereignisse<br />
überwältigen die normalen psychischen<br />
Abwehrmechanismen eines Menschen,<br />
die traumatisierte Person versucht das<br />
Erlebte zu verdrängen, doch das Unterbewusstsein<br />
fordert eine Verarbeitung.<br />
Oft ist der Verdrängungsmechanismus<br />
so stark, dass erst bis zu zehn Jahre nach<br />
dem eigentlichen Vorfall die Folgen sichtbar<br />
werden.<br />
Betrachtet man unter diesen Vorzeichen<br />
das Abtreibungsgeschehen, so liegt<br />
es nahe, das PAS als Form des PTSD zu<br />
definieren: Auch eine Abtreibung führt<br />
zu einer direkten Konfrontation mit dem<br />
»Der Regierung sind entsprechende<br />
Studien nicht bekannt.«<br />
Bundestagsdrucksache 15/3155<br />
Tod; daneben beschreiben Frauen <strong>–</strong> gerade<br />
wenn sie zur Abtreibung gedrängt<br />
werden <strong>–</strong> die Durchführung der Abtreibung,<br />
bei der sie festgebunden und hilflos<br />
auf dem Behandlungsstuhl liegen, als eine<br />
der Vergewaltigung ähnliche Situation.<br />
Selbstmorde / 100.000 Frauen<br />
REHDER MEDIENAGENTUR<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
Selbstmordgefahr bei Frauen<br />
nach durchgeführten Abtreibungen<br />
nach Fehlgeburten<br />
Allgemein<br />
nach Geburten<br />
Bei den Vietnam-Veteranen wurden ebenso<br />
wie bei Frauen, die unter ihrer Abtreibung<br />
leiden, drei große Symptomkomplexe<br />
beobachtet:<br />
1.) Übererregbarkeit: Die traumatisierte<br />
Person verhält sich ständig so, als ob eine<br />
große Gefahr drohe. Angstattacken, aggressives<br />
Verhalten, Konzentrationsschwierigkeiten<br />
und Schlafstörungen sind<br />
nur einige der daraus resultierenden typischen<br />
Symptome.<br />
2.) Überwältigung: Darunter versteht<br />
man das ungewollte und unerwartete<br />
Wiedererleben des traumatisierenden<br />
Ereignisses, das sowohl in einem kurzen<br />
Aufblitzen der Erinnerungen, den so genannten<br />
Flashbacks, als auch etwa in<br />
Träumen durchbricht.<br />
3.) Einengung: Die Person entwickelt<br />
Verhaltensmuster, um Situationen zu<br />
vermeiden, die mit dem Abtreibungsgeschehen<br />
assoziiert werden können. Dazu<br />
gehört etwa, dass Frauen nach einer Abtreibung<br />
nicht mehr im Stande sind, sich<br />
an das Geschehene zu erinnern, dass sie<br />
Beziehungen zu den Menschen abbrechen,<br />
die in die Abtreibung involviert<br />
waren, sie Kinder oder schwangere Frauen<br />
meiden, ihre Liebesfähigkeit verlieren,<br />
es zu Drogen- und Alkoholmissbrauch<br />
kommt und selbstzerstörerische Tendenzen<br />
auftreten bis hin zum Selbstmord.<br />
Abbildung 3<br />
0<br />
15 - 19 20 - 24 25 - 29 30 - 34 35 - 39 40 - 49<br />
Quelle: Mika Gissler, Elina Hemminki; Jouko Lonnqvist: »Suicides after pregnancy in Finland, 1987-94:<br />
register linkage study«. British Medical Journal 1996; 313:1431-1434 (7. Dezember).<br />
Neben diesen Hauptsymptomen kann<br />
es <strong>–</strong> in unterschiedlicher Intensität <strong>–</strong> zu<br />
einer großen Bandbreite an psychischen,<br />
psychosomatischen und körperlichen Folgeerscheinungen<br />
kommen, die oft dringend<br />
behandlungsbedürftig sind. Eine<br />
im Jahr 2003 im »Canadian Medical Association<br />
Journal« (CMAJ) veröffentlichte<br />
Studie zeigt, dass das Risiko, in eine psychiatrische<br />
Klinik eingeliefert werden zu<br />
müssen, für Frauen, die innerhalb der<br />
UNBEWÄLTIGTE TRAUMATA LASSEN SICH<br />
NICHT DAUERHAFT VERDRÄNGEN<br />
vergangenen drei Monaten eine Abtreibung<br />
haben vornehmen lassen, um das<br />
2,6-fache höher ist als das der Frauen,<br />
die im gleichen Zeitraum ein Kind geboren<br />
haben. Diese Ergebnisse bestätigen<br />
eine kanadische Studie, die einen Zeitraum<br />
von fünf Jahren in den Blick nimmt<br />
und nach der sich 25 Prozent der Frauen,<br />
die abgetrieben haben, in psychiatrische<br />
Behandlung begeben mussten; in der<br />
Kontrollgruppe waren es dagegen nur<br />
drei Prozent. Bei solchen Zahlen verwundert<br />
es nicht, dass Fachleute im deutschsprachigen<br />
Raum von durchschnittlich<br />
50.000 Euro Folgekosten je Abtreibung<br />
ausgehen.<br />
Da hier nicht auf jedes einzelne Symptom<br />
des PAS eingegangen werden kann,<br />
sollen nachfolgend beispielhaft vier typische<br />
Symptome bzw. die daraus resultierenden<br />
Verhaltensänderungen von unter<br />
Abtreibung leidenden Frauen kurz beleuchtet<br />
werden: das »Roboter Feeling«,<br />
Alpträume, Selbstverachtung und Suizidversuche.<br />
Direkt nach einer Abtreibung setzt bei<br />
Frauen oft ein totaler Ausfall der Gefühle<br />
ein, das so genannte »Roboter Feeling«.<br />
Sie sind überwältigt von dem, was sie<br />
getan haben, können aber nicht mit den<br />
daraus resultierenden Gefühlen wie<br />
Schrecken und Verzweiflung umgehen<br />
und fühlen deshalb überhaupt nichts<br />
mehr. »Ich stand auf und ging ins Badezimmer,<br />
um mich zu duschen. Ob ich<br />
wohl Schmerz empfinden werde, wenn<br />
ich das Wasser ganz heiß stelle, fragte ich<br />
mich. (…) Wein doch! Wein doch! Wein<br />
doch! befahl ich mir. Aber nichts geschah«,<br />
berichtet Susan Stanford in ihrem<br />
Buch »Werde ich morgen weinen?« über<br />
den Morgen nach der Abtreibung.<br />
Ein weiterer Umgang mit den übermächtigen<br />
Gefühlen ist die Verdrängung,<br />
Rationalisierung und Unterdrückung des<br />
Erlebten. Doch ein unbewältigtes Trauma<br />
lässt sich nicht einfach verdrängen, und<br />
so sucht sich das Unterbewusstsein eigene<br />
Wege der Aufarbeitung. In Alpträumen<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 23
GESELLSCHAFT<br />
wiederholt sich das Ereignis immer wieder.<br />
»Schreckliche Alpträume quälen mich<br />
seither jede Nacht. Darüber darf ich aber<br />
nicht sprechen. Tote Kinder <strong>–</strong> wohin ich<br />
sehe«, so eine betroffene Frau. Wie ihr<br />
geht es Expertenangaben zufolge fast der<br />
Hälfte aller Frauen nach einer Abtreibung,<br />
und das zum Teil viele Jahre lang. Träume<br />
von abgerissenen Gliedmaßen, dem grausamen<br />
Ermorden eines hilflosen Kindes<br />
oder vom eigentlichen Abtreibungsgeschehen<br />
wiederholen sich blitzartig<br />
manchmal auch im Wachzustand als so<br />
genannte Flashbacks <strong>–</strong> oft ausgelöst durch<br />
ein kleines Detail, das mit der Abtreibung<br />
in Verbindung gebracht werden kann,<br />
Heilung erfordert einen mit der Abtreibungsthematik vertrauten Therapeuten.<br />
etwa ein an das Absaugen erinnerndes<br />
Staubsaugergeräusch oder die Begegnung<br />
mit einer schwangeren Frau.<br />
Von Alpträumen und Flashbacks gequälte<br />
Frauen sind oft auch anfällig für<br />
ein weiteres typisches Symptom des PAS:<br />
die Selbstverachtung. Diese kann so stark<br />
werden, dass die betroffenen Frauen<br />
selbstzerstörerische Tendenzen zeigen,<br />
die gepaart mit einer oft langjährigen<br />
Depression als Folge des unverarbeiteten<br />
Schmerzes bis hin zu Suizidversuchen<br />
führen können. »Ich fand mich nicht<br />
mehr für wert, auf dieser Welt zu leben«,<br />
schreibt Karin Lamplaier über ihren<br />
Selbstmordversuch nach einer Abtreibung<br />
in ihrem Buch »Ich nannte sie Nadine«.<br />
Bis zu 60 Prozent der unter ihrer Abtreibung<br />
leidenden Frauen ist laut einer amerikanischen<br />
Studie der Gedanke an Selbstmord<br />
gekommen. 28 Prozent haben<br />
diesen Gedanken auch in die Tat umgesetzt<br />
<strong>–</strong> die glücklicherweise bei den meisten<br />
misslang.<br />
24<br />
Aufsehen erregte 1996 eine im renommierten<br />
»British Medical Journal« (BMJ)<br />
vorgestellt Studie von Mika Gissler. Der<br />
Forscher hatte die Selbstmordfälle von<br />
Frauen in Finnland von 1987-94 untersucht.<br />
Die jährliche Selbstmordrate lag<br />
bei 11,3 pro 100.000 Frauen. Die Selbstmordrate<br />
bei Frauen, die innerhalb eines<br />
Jahres vor dem Suizid ein Kind geboren<br />
hatten, lag deutlich tiefer, nämlich bei<br />
5,9, nach einer Fehlgeburt war dagegen<br />
die Rate mit 18,1 erhöht. Hatten die<br />
Frauen im Jahr zuvor eine vorgeburtliche<br />
Kindstötung vornehmen lassen, lag die<br />
Rate bei 34,7. Das bedeutet, dass die<br />
Suizidrate bei Frauen nach einer Abtreibung<br />
rund dreimal so<br />
hoch ist wie die durchschnittliche<br />
Selbstmordrate<br />
unter Frauen.<br />
Verglichen mit der<br />
Quote nach einer Geburt<br />
ist die Suizidrate<br />
bei Frauen nach einer<br />
Abtreibung sogar<br />
sechsmal so hoch (vgl.<br />
Abbildung 3). Die Erklärung<br />
Gisslers im<br />
BMJ: Das erhöhte Risiko<br />
von Selbstmord<br />
nach einer Abtreibung<br />
könnte auf die verheerende<br />
Wirkung einer<br />
Abtreibung auf die<br />
mentale Gesundheit<br />
der Frau zurückzuführen<br />
sein. Bestätigt<br />
wird Gissler vom amerikanischen<br />
PAS-Experten<br />
Philip Ney, der<br />
untersucht hat, warum Frauen, die nach<br />
einer Abtreibung nicht ausreichend Trauerarbeit<br />
leisten, häufig depressiv werden<br />
und deshalb Gefahr laufen, den Suizid<br />
als einzigen Ausweg zu sehen. Depressionen<br />
nach einer Abtreibung können laut<br />
Ney darauf zurückzuführen sein, »dass<br />
ein Schmerz so allumfassend ist, dass er<br />
die Psychologie einer Person verändert.«<br />
DANIEL RENNEN<br />
HEILUNGSCHANCEN STEIGEN NACH<br />
TRAUERARBEIT UND VERSÖHNUNG<br />
Die Heilung des Abtreibungstraumas<br />
erfordert einen mit der Abtreibungsthematik<br />
vertrauten Therapeuten. Die Erfahrung<br />
hat gelehrt, dass reine Psychotherapie<br />
nicht in der Lage ist, dem<br />
Abtreibungstrauma gerecht zu werden.<br />
»Man kann Schuld nicht wegtherapieren«,<br />
begründet Maria Simon. Doch<br />
»wenn die Betroffene gemeinsam mit<br />
einem guten Therapeuten die einzelnen<br />
Schritte der Aufarbeitung und Bewältigung<br />
geht, dann stehen ihre Heilungschancen<br />
sehr gut«, erklärte die Linzer<br />
Psychotherapeutin Ingeborg Obereder<br />
gegenüber <strong>LebensForum</strong>. Ein erfolgreicher<br />
Heilungsprozess verläuft demnach<br />
in drei Phasen. Zuerst ist es nötig, dass<br />
»Ich fand mich nicht mehr für wert,<br />
auf dieser Welt zu leben.«<br />
die betroffene Frau mit der Trauerarbeit<br />
beginnt. Das beinhaltet Obereder zufolge,<br />
dass sich die Frau die Verlusterfahrung<br />
bewusst macht, ihren Fehler bekennt und<br />
betrauert. In einer zweiten Phase soll die<br />
Betroffene die Versöhnung mit dem Kind<br />
suchen. Dazu ist es notwendig, dass sie<br />
ihr Kind als eigenständige Person anerkennt,<br />
was sich etwa darin äußern kann,<br />
dass sie ihm einen Namen gibt oder ein<br />
symbolisches Begräbnis des Kindes vornimmt.<br />
Die Frau soll, wenn sie gläubig<br />
ist, auch Gott um Verzeihung bitten und<br />
lernen, sich selbst und den Mittätern, also<br />
dem Arzt, eventuell dem Partner, den<br />
Eltern und Freunden, zu verzeihen. »Der<br />
schwierigste Schritt ist sicherlich, sich<br />
selbst zu vergeben. Aber ohne Vergebung<br />
kommen wir in der Therapie keinen<br />
Schritt weiter«, so Obereder gegenüber<br />
<strong>LebensForum</strong>. In einer letzten Phase<br />
kann die Frau einen Neuanfang für ihr<br />
Leben suchen, der die Wiedergutmachung<br />
für das Geschehene mit einschließt,<br />
etwa indem sie schwangeren Frauen in<br />
Not hilft oder sich verstärkt für alleingelassene<br />
Kinder einsetzt. »Diese Wiedergutmachung<br />
ist eine große Hilfe für die<br />
Frauen«, erklärt Ingeborg Obereder.<br />
SELBSTHILFEGRUPPEN KÖNNEN<br />
BETROFFENE VON DRUCK BEFREIEN<br />
Sinnvoll kann es auch sein, sich einer<br />
Selbsthilfegruppe anzuschließen. »Nach<br />
der Abtreibung war ich körperlich und<br />
seelisch jahrelang krank. Ich ging von<br />
Arzt zu Arzt, ohne je gesund zu werden.<br />
Wut und Hass zerfraßen mein Leben!<br />
Angst und Verzweiflung bestimmten<br />
alles«, berichtet eine Frau, die schließlich<br />
beim Verein »Rahel« Hilfe gefunden hat.<br />
»Die Möglichkeit, über meine Probleme<br />
völlig frei zu sprechen, liebevoll angenommen<br />
zu sein, trauern zu dürfen, ohne sich<br />
zu schämen, befreiten mich von großem<br />
Druck! Hier fand ich Hilfe! Nun möchte<br />
ich auch anderen Frauen helfen, ihren<br />
Kummer zu überwinden.«<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>
MITTEILUNGEN DES BUNDESVORSTANDS<br />
Nicht nur die an den Stadtpark grenzende Orangerie in<br />
Fulda ist sehenswert.<br />
Runde und die Bundesdelegiertenversammlung<br />
vorgesehen. Einer der Workshops<br />
mit dem Titel »Von der Einladung<br />
bis zur Pressemeldung« wendet sich vor<br />
allem an die Regionalverbandsvorsitzenden,<br />
ein zweiter wird sich unter der Überschrift<br />
»Euthanasie: was spricht dafür?«<br />
mit den Argumenten der Gegenseite auseinander<br />
setzen. Im Anschluss an die<br />
einstündigen Workshops werden die Delegierten<br />
dann auf der BDV mit den Beratungen<br />
der Anträge beginnen.<br />
BDV <strong>2005</strong> in Fulda<br />
Vom 10.-12. Juni findet in Fulda die diesjährige<br />
Bundesdelegiertenversammlung der <strong>ALfA</strong> statt. Das Thema könnte<br />
kaum aktueller sein: »Euthanasie: heute ihr <strong>–</strong> morgen wir.«<br />
Wie in der letzten Ausgabe von<br />
<strong>LebensForum</strong> bereits angekündigt,<br />
findet die Bundesdelegiertenversammlung<br />
(BDV) der<br />
Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (<strong>ALfA</strong>)<br />
dieses Jahr nicht in Königswinter, sondern<br />
in Fulda statt. Die zentrale Lage und gute<br />
Verkehrsanbindung Fuldas dürfte vielen<br />
Delegierten entgegen kommen, und mit<br />
dem Bonifatiushaus haben wir hoffentlich<br />
einen Tagungsort gefunden, der dem<br />
AZK in nichts nachsteht.<br />
Von Cornelia Kaminski<br />
KULTURELLES RAHMENPROGRAMM<br />
Es ist uns gelungen, ein Kontingent<br />
an vergünstigten Karten für die Aufführung<br />
des Musicals »Bonifatius« am Samstagabend<br />
um 20 Uhr zu reservieren. Dieses<br />
Musical wurde eigens für das im letzten<br />
Jahr in Fulda gefeierte Bonifatiusjubiläum<br />
komponiert. Sämtliche Aufführungen<br />
waren ausverkauft und schlossen mit stehenden<br />
Ovationen eines begeisterten<br />
Publikums, so dass das Musical nun in<br />
ein zweites Aufführungsjahr geht. Die<br />
Preise für die Karten liegen je nach Kategorie<br />
zwischen 25 und 35 Euro. Das<br />
Musical wird im Schlosstheater aufgeführt,<br />
welches vom Bonifatiushaus zu Fuß<br />
VERSIERTE EXPERTEN ALS REFERENTEN<br />
Die BDV <strong>2005</strong> (10.<strong>–</strong>12. Juni) steht<br />
unter dem Motto: »Euthanasie: heute ihr<br />
<strong>–</strong> morgen wir«. Zu diesem Thema wird<br />
am Freitagabend (10.6.) eine Podiumsdiskussion<br />
stattfinden, zu der unter anderem<br />
der Bundesvorsitzende der Jungen Union<br />
Deutschlands, Philipp Missfelder, als auch<br />
der Würzburger Medizinrechtsexperte<br />
Rainer Beckmann, Mitglied der Enquete-<br />
Kommission »Ethik und Recht der modernen<br />
Medizin« des Deutschen Bundestags,<br />
teilnehmen werden. Angefragt sind<br />
außerdem: die frühere Bundesjustizministerin<br />
Herta Däubler-Gmelin (SPD) sowie<br />
Bischof Heinz Josef Algermissen.<br />
Am Samstag steht vormittags ein Vortrag<br />
des Stellvertretenden Vorsitzenden<br />
BUNDESTAG<br />
Wolfgang Zöller, Gesundheitsexperte der Union<br />
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und<br />
Gesundheitsexperten der Union, Wolfgang<br />
Zöller, auf dem Programm. Der<br />
Seehofer-Nachfolger Zöller ist langjähriges<br />
Mitglied der Aktion Lebensrecht<br />
für Alle und hat gerade erst in jüngster<br />
Zeit wieder durch unmissverständliche<br />
Stellungnahmen zur Abtreibung für Aufsehen<br />
gesorgt. Er steht im Anschluss an<br />
seinen Vortrag auch noch für eine Diskussion<br />
zur Verfügung.<br />
Nachmittags ist eine, im Vergleich zu<br />
früheren Jahren, eher kurze Workshop-<br />
JUNGE UNION<br />
Philipp Missfelder, Bundesvorsitzender der JU<br />
zu erreichen ist. Als Alternative bieten<br />
wir am Samstagabend für Interessierte<br />
eine eigene Stadtführung an, die ebenfalls<br />
um 20 Uhr beginnt.<br />
Über das endgültige Programm der<br />
Fachtagung sowie der Delegiertenversammlung<br />
werden wir rechtzeitig mit<br />
einem entsprechenden Einladungsschreiben<br />
informieren.<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 25
GESELLSCHAFT<br />
Erfolgreich verhindert<br />
Beinahe wären Pro Familia und Verbündete erfolgreich gewesen. Doch nachdem der Bundesrat die<br />
Zustimmung verweigerte, hat das Gesundheitsministerium seine Pläne vom Tisch genommen.<br />
Die »Pille danach« bleibt rezeptpflichtig.<br />
Von Bernward Büchner<br />
In zahlreichen Ländern ist sie bereits<br />
rezeptfrei zu haben, die »Pille<br />
danach«, nicht zu verwechseln mit<br />
der Abtreibungspille Mifegyne. Für die<br />
International Planned Parenthood Federation<br />
(IPPF) und deren deutsches Mitglied<br />
Pro Familia gebieten es die in den Rang<br />
von Menschenrechten erhobenen »sexuellen<br />
und reproduktiven Rechte«, den<br />
Zugang zu dieser Pille durch rezeptfreie<br />
Abgabe weltweit zu erleichtern.<br />
VERSTOSS GEGEN DIE<br />
SCHUTZPFLICHT DES STAATES<br />
In Deutschland waren entsprechende<br />
Bemühungen von Pro Familia bereits<br />
weit gediehen. Im Juli 2003 hatte das<br />
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte<br />
die Entlassung der »Pille<br />
danach«, das heißt von Arzneimitteln,<br />
die das Gestagen Levonorgestrel enthalten,<br />
aus der Rezeptpflicht befürwortet.<br />
Im Dezember 2003 veranstalteten der<br />
Landesverband Berlin von Pro Familia<br />
sowie das Familienplanungszentrum Berlin<br />
mit Unterstützung der Bundesanstalt<br />
für gesundheitliche Aufklärung im Berliner<br />
Abgeordnetenhaus eine Tagung »Pille<br />
danach <strong>–</strong> rezeptfreie Vergabe in Deutschland«.<br />
(Vgl. <strong>LebensForum</strong> Nr. 69 S. 21ff)<br />
In einem Offenen Brief an die politischen<br />
Entscheidungsträger machten sich<br />
die Teilnehmer dieser Tagung »mehrheitlich«<br />
die Forderung der Veranstalter<br />
zu eigen. Mädchen und Frauen müssten<br />
selbst entscheiden können, welche Form<br />
der »Nachverhütung« sie wählen wollten.<br />
Die Pille danach in die Nähe der Abtreibung<br />
zu rücken, sei weder ethisch noch<br />
medizinisch haltbar. Sie trage vielmehr<br />
dazu bei, die Zahl der ungewollten<br />
Schwangerschaften und damit auch der<br />
Abtreibungen zu reduzieren. Gynäkologinnen<br />
aus Frankreich und Schweden<br />
hatten allerdings bei der Tagung referiert,<br />
die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche<br />
in diesen Ländern sei seit der rezeptfreien<br />
26<br />
Abgabe der »Pille danach« nur geringfügig<br />
zurückgegangen.<br />
Mit der Bezeichnung der »Pille<br />
danach« als Mittel der »Nachverhütung«<br />
wird der falsche Eindruck erweckt, diese<br />
Pille wirke lediglich empfängnisverhütend.<br />
Offenbar soll darüber hinweggetäuscht<br />
werden, dass mit Hilfe der in der<br />
»Morning-after-pill« enthaltenen Substanzen<br />
die Einnistung (Nidation) einer<br />
bereits befruchteten Eizelle in der Gebärmutter<br />
- mit tödlicher Wirkung für den<br />
Embryo im Frühstadium seiner Entwicklung<br />
- verhindert werden kann. In den<br />
gebräuchlichen Lehrbüchern der Gynäkologie<br />
und Geburtshilfe ist dies leicht<br />
nachzulesen.<br />
Die Pille danach<br />
Weil ihre Wirkung bereits vor Abschluss<br />
der Einnistung des befruchteten<br />
Eies in der Gebärmutter eintritt, gilt die<br />
Einnahme der »Pille danach« zwar nicht<br />
als Schwangerschaftsabbruch im Sinne<br />
des Gesetzes (§ 218 Absatz 1 Satz 2 Strafgesetzbuch).<br />
Soweit sie dessen Nidation<br />
verhindert, tötet sie jedoch den Embryo,<br />
»Neben- und Wechselwirkungen<br />
der ›Pille danach‹ sind erheblich.«<br />
Ina Lenke (FDP) in einer Pressemitteilung<br />
dem <strong>–</strong> nicht anders als dem künstlich<br />
gezeugten in der Petrischale <strong>–</strong> bereits<br />
Menschenwürde und Lebensrecht zukommen.<br />
Angesichts des Schutzes des<br />
künstlich gezeugten Embryos durch das<br />
Embryonenschutzgesetz wäre die Zulassung<br />
erst recht einer rezeptfreien Abgabe<br />
der »Pille danach« inkonsequent und ein<br />
Niederlage für die<br />
Abtreibungslobby:<br />
Die frühabtreibenden »Pille<br />
danach«-Präparate Duofem<br />
von Hexal und Tetragynom<br />
von Schreing bleiben<br />
rezeptpflichtig.<br />
Verstoß gegen die Schutzpflicht des Staates,<br />
die ihm auferlegt, sich schützend vor<br />
das Leben Ungeborener zu stellen und<br />
seinen rechtlichen Schutzanspruch »im<br />
allgemeinen Bewusstsein zu erhalten und<br />
zu beleben« (Bundesverfassungsgericht).<br />
Das Bundesministerium für Gesundheit<br />
war gleichwohl bereit, den Forderun-<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>
gen von Pro Familia und anderen nachzukommen<br />
und die hierfür nach dem<br />
Arzneimittelgesetz erforderliche Rechtsverordnung<br />
zu erlassen. Hierfür bedurfte<br />
es allerdings der Zustimmung des Bundesrates,<br />
der sich jedoch in seiner Mehrheit<br />
den gegen das Vorhaben des Ministeriums<br />
vorgebrachten Bedenken<br />
angeschlossen hat.<br />
BUNDESVERBAND LEBENSRECHT ZEIGTE<br />
SCHWERE GESUNDHEITLICHE RISIKEN AUF<br />
In einem Schreiben an die Ministerpräsidenten<br />
der Bundesländer hatte der<br />
Bundesverband Lebensrecht (BVL) über<br />
den Hinweis auf die Schutzpflicht des<br />
Staates für das menschliche Leben hinaus<br />
schwere gesundheitliche Risiken aufgezeigt.<br />
Die »Pille danach« enthält nämlich<br />
eine Hormondosis, die mehrfach höher<br />
ist als diejenige herkömmlicher Kontrazeptiva.<br />
Aufgrund dessen wird dem Organismus<br />
der Frau wegen der bloßen<br />
Möglichkeit des Eintritts einer Befruchtung<br />
nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr<br />
eine hormonelle Belastung zugemutet,<br />
deren Risiken und Nebenwirkungen<br />
besonders bei jungen Frauen<br />
keineswegs zu vernachlässigen sind. Eine<br />
nur durch die Rezeptpflicht gewährleistete<br />
ärztliche Aufklärung hierüber erscheint<br />
unverzichtbar. Ferner stünde zu befürchten,<br />
dass die Möglichkeit des rezeptfreien<br />
»Mit der erforderlichen Zustimmung<br />
des Bundesrates ist nicht zu rechnen.«<br />
Bundesministerium für Gesundheit<br />
Erwerbs der »Pille danach« die Bemühungen<br />
um eine verantwortliche Empfängnisverhütung<br />
vor dem Geschlechtsverkehr<br />
insbesondere bei jungen Menschen<br />
deutlich erschweren würde.<br />
Die von den Lebensrechtlern erhobenen<br />
Bedenken werden auch von Vertretern<br />
der Ärzteschaft vielfach geteilt. Die<br />
frauenpolitische Sprecherin der FDP-<br />
Bundestagsfraktion Ina Lenke beispielsweise<br />
bezeichnete die »Pille danach« als<br />
ein ernst zu nehmendes Medikament, das<br />
sehr stark den Hormonhaushalt der Frau<br />
beeinflusse. Die Neben- und Wechselwirkungen<br />
des Präparats seien erheblich.<br />
Deshalb sei eine ärztliche Beratung und<br />
Überwachung der Einnahme unerlässlich.<br />
Ferner warnte die Präsidentin des Ärztinnenverbandes<br />
Astrid Buehren vor der<br />
Unterschätzung der gesundheitlichen<br />
Folgen der »Pille danach«. Es wäre das<br />
erste Hormonpräparat, das freigestellt<br />
würde.<br />
In einer dem Bundesverband Lebensrecht<br />
vorliegenden Antwort auf eine Anfrage<br />
der Bundestagsabgeordneten Dr.<br />
Maria Flachsbarth (CDU) vom 5. November<br />
2004 hat das Bundesministerium<br />
für Gesundheit inzwischen mitgeteilt, die<br />
Entlassung Levonorgestrelhaltiger Arzneimittel<br />
aus der Verschreibungspflicht<br />
sei »derzeit nicht in Aussicht genommen,<br />
da nicht mit der erforderlichen Zustimmung<br />
des Bundesrates zu rechnen ist.«<br />
Nach einem Schreiben des Bundeskanzleramts<br />
an den Bundesverband Lebensrecht<br />
vom 17. Dezember 2004 hat die<br />
Bundesregierung die Anregung eines Expertengremiums,<br />
die Arzneimittel zur<br />
Notfallkonzeption aus der Verschreibungspflicht<br />
herauszunehmen, »geprüft,<br />
aber nach enger Abstimmung mit den<br />
Bundesländern nicht aufgegriffen.« Nach<br />
einem Beschluss des Bundesrates vom<br />
selben Tag werde es nicht zu einer Änderung<br />
der Rechtslage kommen.<br />
DIE FEIER ENTFÄLLT,<br />
DIE MEDIEN SCHWEIGEN<br />
Erstaunlicherweise ist das für Pro Familia<br />
und seine Verbündeten enttäuschende<br />
Ergebnis ihres Bemühens bisher zu<br />
den Medien anscheinend nicht vorgedrungen.<br />
Hätte die in der Presse vielfach<br />
berichtete und wohlwollend kommentierte<br />
Initiative Erfolg gehabt, wäre dies<br />
gewiss längst als wichtiger Schritt zur<br />
vollständigen Anerkennung eines »Menschenrechts<br />
auf sexuelle und reproduktive<br />
Gesundheit« gefeiert worden. Da es nun<br />
aber nichts zu feiern gibt, wird offenbar<br />
vorgezogen, die Sache still zu beerdigen.<br />
Der Beitrag erschien zuerst am 27. Januar <strong>2005</strong><br />
in: Die Tagespost, S. 9<br />
IM PORTRAIT<br />
Bernward Büchner<br />
geb. 1937, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht,<br />
inzwischen im Ruhestand,<br />
ist seit 1985 Vorsitzender der<br />
Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V.<br />
(JVL) sowie seit<br />
2002 stellvertretender<br />
Vorsitzender<br />
des Bundesverband<br />
Lebensrecht (BVL).<br />
Büchner ist Mitglied<br />
der Aktion<br />
Lebensrecht für Alle (<strong>ALfA</strong>) und der<br />
Christdemokraten für das Leben (CDL).<br />
KURZ & BÜ NDIG<br />
»Pille danach«-Hotline eingerichtet<br />
Rechtzeitig zum Straßenkarneval hat die<br />
Organisation Pro Familia eine Telefon-Hotline<br />
für die »Pille danach« eingerichtet. Für 12<br />
Cent pro Minute erhalten Anrufer rund um<br />
die Uhr (Des)Informationen über das frühabtreibende<br />
Präparat. Die automatischen Ansagen<br />
können auf Deutsch, Türkisch, Englisch<br />
und Russisch abgerufen werden. Damit solle,<br />
so Pro Familia, »sicher gestellt werden, dass<br />
MigrantInnen in gleichem Maße von dem<br />
neuen Service profitieren«. Mit der Hotline<br />
will Pro Familia das als »Methode der<br />
Nachverhütung« verharmloste Präparat nach<br />
eigenen Angaben »bekannter machen« und<br />
»der Forderung nach rezeptfreier Abgabe<br />
Nachdruck verleihen«.<br />
reh<br />
Clinton lobt sexuelle Enthaltsamkeit<br />
US-Senatorin Hillary Clinton hält die von den<br />
Republikanern propagierte sexuelle Enthaltsamkeit<br />
für geeignet,<br />
um die wachsende<br />
Zahl von<br />
Abtreibungen einzudämmen.<br />
Bei einer<br />
Rede in Albany,<br />
der Hauptstadt des<br />
Staates New York,<br />
äußerte sich die<br />
Hillary Clinton<br />
frühere »First Lady«<br />
lobend über »moralische<br />
und religiöse<br />
Werte«, die Jugendliche<br />
zum Verzicht auf den Geschlechtsverkehr<br />
ermunterten. »Wir unterstützen diese Programme,<br />
sie sind nicht nur intelligent, sondern<br />
auch gerechtfertigt.« Mitte Dezember hatte<br />
bereits der gescheiterte Präsidentschaftskandidat<br />
John Kerry seine Partei aufgefordert,<br />
sich kritischer mit dem Thema Abtreibung<br />
auseinander zu setzen. Die Demokraten müssten<br />
deutlicher machen, dass sie Abtreibungen<br />
nicht gut fänden und mehr Lebensrechtler in<br />
ihre Reihen aufnehmen.<br />
reh<br />
Planned Parenthood-Chefin tritt ab<br />
Gloria Feldt, Präsidentin der weltweit größten<br />
Abtreibungsorganisation »Planned Parenthood«<br />
scheidet überraschend aus dem Amt.<br />
Dem <strong>Magazin</strong> »Newsweek« sagte Feldt, dies<br />
gehöre zur Strategie. Die Strategie der Abtreibungslobby<br />
gleiche einem Staffellauf: »Du<br />
machst Deine Runde und übergibst deinen<br />
Stab an den Nächsten. So funktioniert es.«<br />
Laut des aktuellsten Jahresberichts von Planned<br />
Parenthood erzielt die Organisation 34<br />
Prozent ihrer Einnahmen durch Abtreibungen.<br />
Nur 17 Prozent sind private Spenden, der<br />
Großteil stammt aus Regierungsgeldern. reh<br />
US SENAT<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 27
GESELLSCHAFT<br />
Geschäftstüchtig sorgt »pro familia« dafür, dass die<br />
Nachfrage nach ihren Dienstleistungen nicht abreißt.<br />
Pro Familia hat eine neue Geschäftsidee entwickelt: Zu »Sexperten«<br />
ausgebildete Teenager sollen jüngere Mitschüler zu frühem Sex<br />
ermuntern. Denn für Abtreibungen gibt es schließlich pro familia.<br />
Pro Familia plant für das laufende<br />
Jahr an vier mittelhessischen<br />
Schulen ein »Peer-Education-<br />
Projekt«. Dabei sollen 14/15-jährige<br />
Schüler/innen in fünf dreistündigen Schulungen<br />
von Pro Familia-Mitarbeitern<br />
darauf »trainiert« werden, in den Klassen<br />
ihrer Schule im Zweierteam selbständig<br />
Sexualkundeunterricht abzuhalten. Vorgesehen<br />
sind in den 7., 8. und 9. Klassen<br />
jeweils drei mal zwei Stunden Sexualaufklärung<br />
durch die »peer educators«. Aus<br />
den Schulungsunterlagen geht hervor,<br />
dass die »Inhalte der Schulung der peereducators«<br />
den zu vermittelnden Klasseninhalten<br />
entsprechen. In den beiden<br />
ersten Schulungstreffen steht auf dem<br />
Stundenplan: »Weiblicher, männlicher<br />
Körper, Zyklus, Spermien; Verhütungsmittel,<br />
Vor- und Nachteile, Pille danach,<br />
schwanger werden, Abbruch«.<br />
Von der Schulleiterin der beteiligten<br />
Kestner-Schule in Wetzlar wird das Konzept<br />
so charakterisiert: »Dieser Baustein<br />
ist als bester Ansatz gedacht, um mit<br />
Jugendlichen ins Gespräch zu kommen<br />
und sie zu sensibilisieren, sich der Thematik<br />
enttabuisiert und damit offen zu<br />
nähern, Fragen zu stellen und kompetente<br />
Antworten sowie Hilfestellungen zu erhalten«<br />
(Schreiben vom 11.11.04). Pro<br />
Familia als Betreiber des Programms lobt<br />
sich folgendermaßen: »Ziel des Projekts<br />
ist eine bewusste Auseinandersetzungen<br />
von Jugendlichen mit sich selbst. (...)<br />
Begegnungen von Gleichaltrigen zum<br />
Thema, sexuelle Identitätsbildung, Austausch,<br />
selbständige Durchführung der<br />
28<br />
Lernziel Sex<br />
Von Hubert Hecker<br />
Veranstaltung, Meinungsbildung, Förderung<br />
von Engagement, Werte und Normen<br />
zu hinterfragen und zu besprechen,<br />
Kommunikation und Persönlichkeitsförderung.«<br />
Der Ansatz der so genannten Gleichaltrigen-Erziehung,<br />
also dass Schüler<br />
ihren Mitschüler/innen bei unterrichtlichen<br />
Inhalten helfen und nachhelfen,<br />
erklären und üben, repetieren und ggf.<br />
sogar kleinere Unterrichtsabschnitte unter<br />
Anleitung und Aufsicht des Lehrers übernehmen<br />
können, ist keine neue pädagogische<br />
Erkenntnis und wird an vielen<br />
Schulen praktiziert. Etwas völlig anderes<br />
ist bei diesem Projekt geplant: Eine schulfremde<br />
Beratungsinstitution, deren Mitarbeiter<br />
keine schulpädagogische Ausund<br />
Fortbildung absolviert haben, »trainieren«<br />
mit verbandseigenen Methoden<br />
und Zielen 14jährige Schüler/innen als<br />
»Multiplikatoren«, die dann in ihrer<br />
Schule »eigenständigen« Sexualkundeunterricht<br />
abhalten sollen. Wenn dieser<br />
Weg pädagogisch sinnvoll wäre, würde<br />
er die gesamte Aus- und Fortbildung von<br />
Lehrern in Frage stellen. Schule und<br />
Schulaufsicht verzichten darüber hinaus<br />
auf Kontrolle von Inhalten und Pädagogik;<br />
Pro Familia macht, was es will, z. B.<br />
Sexualkunde in der 7. und 8. Klasse, wo<br />
es laut Lehrplan gar nicht vorgesehen ist,<br />
und propagiert Ziele, die gegen den Erziehungsauftrag<br />
der Schule gerichtet sind.<br />
Es ist ausgeschlossen, dass 14jährige<br />
Schüler/innen zu den höchst komplexen<br />
Fragen von »Verhütungsmitteln, Pille<br />
danach, Schwangerschaft, Abtreibungen«<br />
DANIEL RENNEN<br />
und Post-Abortion-Syndrom »kompetente<br />
Antworten und Hilfestellungen«<br />
geben können, wie die Schulleiterin der<br />
Wetzlarer Kestner-Schule behauptet. Die<br />
Themen um Sexualität, Abtreibung, Kinder<br />
und Familie sind nicht nur psychologisch<br />
gesehen hoch sensible Bereiche und<br />
in der pädagogischen Vermittlung anspruchsvoll,<br />
sondern auch in der sozialen<br />
und rechtlichen Dimension mit komplexen<br />
Fragestellungen verbunden, zu denen<br />
14jährige in keiner Weise mit Hintergrundwissen<br />
und Erörterungszugängen<br />
beitragen können.<br />
Die ethischen Gesichtspunkte bzw. die<br />
entsprechende Verantwortung bei diesen<br />
Themenkomplexen ist besonders hervorzuheben.<br />
Gesellschaftspolitisch hat die<br />
Sexualerziehung »die grundlegende Bedeutung<br />
von Ehe und Familie zu vermitteln«<br />
(§ 7 des Hessischen Schulgesetzes,<br />
»Sexualerziehung«). Von diesen grundgesetzlich<br />
verankerten Werten als gesellschaftliche<br />
Lernziele, von Sexualpädagogik<br />
als Teil der Persönlichkeitserziehung<br />
und dem Ziel einer sittlichen Reife mündiger<br />
Menschen, wie es das Bundesverfassungsgericht<br />
im einschlägigen Urteil<br />
1977 aussagt, ist das Sexualprogramm<br />
von Pro Familia meilenweit entfernt. Es<br />
ist im Gegenteil zu erwarten, dass Pro<br />
Familia diese Schulschiene dazu benutzen<br />
will, seinen Blitz-Beratungs- und Verharmlosungsansatz<br />
bei Abtreibungen in<br />
den Schülerköpfen zu »multiplizieren«.<br />
»Alles ausprobieren,<br />
wenn man Lust dazu hat.«<br />
Zitat aus Pro Familia-Broschüre<br />
Aus der Pro Familia-Broschüre: »Du<br />
veränderst dich. …mehr darüber wissen«<br />
für 13- bis 16Jährige ergibt sich das Programm<br />
einer hedonistischen Lebensführung,<br />
das Pro Familia über die Schüler-<br />
Multiplikatoren an die Siebt- und Achtklässler<br />
vermitteln will. Auf S. 14 heißt<br />
es: »Das Glied (umgangsprachlich auch<br />
Schwanz, Pimmel …) ist nicht nur zum<br />
Wasserlassen (Pinkeln) da. Sondern vor<br />
allem auch ›zum Sex haben‹ und Lust<br />
erleben <strong>–</strong> das kann Selbstbefriedigung<br />
sein, oder Geschlechtsverkehr (miteinander<br />
schlafen), oder alles mögliche andere«.<br />
Und: »Alles ausprobieren, wenn man<br />
dazu Lust hat«, auch Anal- und Oralver-<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>
kehr sowie »Sexualität mit sich ganz alleine«.<br />
Mit solchen Sprüchen werden die<br />
Jugendlichen auf eine reduktionistische<br />
Sex-Spur gesetzt und mit »allem möglichen<br />
anderen« wird die Phantasie eines<br />
13Jährigen sicher lebenskundig angereichert<br />
und zur weiteren Internet-Recherche<br />
angeregt. Es ist also völlig berechtigt,<br />
dass die Wetzlarer Neue Zeitung die von<br />
Pro Familia trainierten Schüler-Multiplikatoren<br />
als junge »Sexperten« bezeichnet.<br />
Pro Familia betreibt eine Frühsexualisierung<br />
von Jugendlichen, propagiert<br />
einen möglichst frühen Geschlechtsverkehr<br />
<strong>–</strong> auch ohne Wissen und gegen den<br />
Willen der Eltern. In der besagten Broschüre<br />
heißt es: »Es war richtig gut, dass<br />
wir die Wohnung ganz für uns hatten,<br />
weil ihre Eltern weg waren. (...) Sie war<br />
viel entspannter, aktiver, leidenschaftlicher<br />
als damals meine Exfreundin«, sagt ein<br />
14jähriger Junge. Solche Geschichten im<br />
»Bravo«-Stil werden bis heute hunderttausendfach<br />
in hessischen Schulen über<br />
die Pro Familia-Broschüren und -Sexualpädagogen<br />
an junge Schüler vermittelt.<br />
Bei den jungen Lesern wird für »das erste<br />
Mal« ein Leistungsdruck aufgebaut, der<br />
von Aktivität und Leidenschaft nur so<br />
strotzt. Schließlich ist die indirekte Aufforderung<br />
an die Schüler/innen, frühesten<br />
Geschlechtsverkehr ohne Wissen und<br />
evtl. gegen den Willen der Eltern zu<br />
vollziehen, ein Vertrauensbruch zwischen<br />
Schule und Elternhaus. Die für den Sexualkundeunterricht<br />
verantwortlichen<br />
Lehrer sind verpflichtet, die Eltern über<br />
dieses Material und die Inhalte des Unterrichts<br />
zu informieren. Welche Eltern<br />
können dem zustimmen?<br />
Bei so viel frühsexueller Leidenschaft<br />
wird natürlich irgendwann »was schief<br />
gehen mit der Verhütung«. Kein Problem<br />
für Pro Familia: »Denn es gibt noch die<br />
Pille danach und die Spirale danach«.<br />
Und wenn auch das »schief geht«, gibt<br />
es für den Fall, dass »die Schwangerschaft<br />
zu große Probleme verursachen würde«,<br />
ja noch die »Abbruch«-Beratungsstellen<br />
von Pro Familia. Der Inhalt der dort<br />
getätigten Blitz-Beratungen wird den<br />
Schülern so vermittelt: Die Abreibung<br />
selbst sei »nicht riskant«, denn sie bedeutet<br />
nur, »dass die oberste Schicht der<br />
Gebärmutterschleimhaut und mit ihr der<br />
Embryo (das ist die mehr oder weniger<br />
entwickelte befruchtete Eizelle) aus der<br />
Gebärmutter entfernt werden. Das kann<br />
durch Absaugen oder Ausschaben geschehen<br />
oder durch Einnahme einer Pille, die<br />
die Abstoßung des Gebärmutterinhalts<br />
bewirkt« (S. 66-68). Das also sind die<br />
»kompetenten Antworten sowie Hilfestellungen«,<br />
auf die Pro Familia unter der<br />
Überschrift »Abbruch« die Multiplikatoren-Schüler<br />
trainiert und diese so geschulten<br />
jungen Sexperten sollen dann diese<br />
verharmloste Abtreibung ihren Mitschüler/innen<br />
nahe bringen.<br />
Was Pro Familia in seinen Programmen,<br />
Broschüren, Beratungsstellen, Schulungen<br />
und somit auch in Schulen über<br />
Abtreibungen verbreitet, verstößt in jeder<br />
Hinsicht gegen Recht und Gesetz, Bundesverfassungsgerichtsurteile<br />
und gesellschaftliche<br />
Ethik. Im geltenden § 219<br />
heißt es zum Thema Lebensschutz, was<br />
in gleicher Weise für die schulische Vermittlung<br />
gilt: »(1) Die Beratung dient<br />
dem Schutz des ungeborenen Lebens.<br />
Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu<br />
lassen, die Frau zur Fortsetzung der<br />
Schwangerschaft zu ermutigen und ihr<br />
Perspektiven für ein Leben mit dem Kind<br />
»Sie war viel leidenschaftlicher<br />
als meine Exfreundin.«<br />
Zitat aus pro familia-Broschüre<br />
zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche<br />
und gewissenhafte Entscheidung<br />
zu treffen. Dabei muss der Frau<br />
bewusst sein, dass das Ungeborene in<br />
jedem Stadium der Schwangerschaft (also<br />
auch als ›befruchtete Eizelle‹) auch ihr<br />
gegenüber ein eignes Recht auf Leben<br />
hat und dass deshalb nach der Rechtsordnung<br />
ein Schwangerschaftsabbruch nur<br />
in Ausnahmesituationen in Betracht kommen<br />
kann, wenn der Frau durch das Austragen<br />
des Kindes eine Belastung erwächst,<br />
die so schwer und außergewöhnlich<br />
ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze<br />
übersteigt.« Für die Schulen hat das<br />
Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil<br />
von 1993 den Lebensschutz zur besonderen<br />
Aufgabe gemacht: »Der Schutzauftrag<br />
verpflichtet den Staat schließlich<br />
auch, den rechtlichen Schutzanspruch<br />
des ungeborenen Lebens im allgemeinen<br />
Bewusstsein zu erhalten und zu beleben.<br />
Deshalb müssen die Organe des Staates<br />
in Bund und Ländern erkennbar für den<br />
Schutz des Lebens eintreten. Das betrifft<br />
auch und gerade die Lehrpläne der Schule.«<br />
Nach dem Bericht der Bundesregierung<br />
auf eine Anfrage der CDU/CSU-<br />
Bundestagsfraktion ist zwischen 1996 bis<br />
2003 die Zahl der Abtreibungen bei Minderjährigen<br />
von 4724 um 61,8 Prozent<br />
auf 7.645 gestiegen; bei Mädchen unter<br />
15 Jahren hat sich die Abtreibungszahl<br />
im gleichen Zeitraum auf 715 fast verdoppelt.<br />
Pro Familia dagegen sieht sich durch<br />
diese Entwicklung der Jugend-<br />
Abtreibungen, bei denen sie kräftig mitgewirkt<br />
und mitverdient hat, in ihrer<br />
Strategie bestärkt, noch mehr und für<br />
noch jüngere Schüler ihren Aufklärungsund<br />
Verführungsunterricht anzubieten.<br />
Dabei ist dieses laute Haltet-den-Dieb-<br />
Rufen leicht als verlogene Geschäftsmasche<br />
von Pro Familia zu erkennen: Aufgrund<br />
der massiven Frühsexualisierung<br />
durch Pro Familia-Broschüren und -Sexperten,<br />
wird es unweigerlich zu einer<br />
steigenden Zahl von Frühschwangerschaften<br />
kommen. Und diesen schwangeren<br />
Mädchen bietet Pro Familia dann ihre<br />
Beratungs- und Abtreibungsscheine an,<br />
die anschließend in den verbandseigenen<br />
Abtreibungskliniken eingelöst werden<br />
können. Für jede Blitz-Beratung bekommt<br />
Pro Familia einen staatlichen<br />
Zuschuss von ca. 50 Euro, für jede Abtreibung<br />
kassiert die Organisation<br />
mehrere hundert Euro.<br />
Die Lüneburger Ärztin Dr. Gille hat<br />
in einer breit angelegten Untersuchung<br />
festgestellt, dass 80 Prozent der Jugendlichen<br />
im Nachhinein wünschen, sie<br />
hätten »mit dem Sex noch warten sollen«<br />
(Der Gynäkologe, 7/2004). Auf diesem<br />
Hintergrund muss man die Frühsexualisierung<br />
in den Aufklärungsbroschüren<br />
und -schulungen von Pro Familia tatsächlich<br />
als Verführungspädagogik charakterisieren.<br />
Das heisst konkret: die Kinder<br />
und Jugendlichen haben von sich aus das<br />
Gefühl oder die Einstellung, dass sie nicht<br />
so früh mit dem Sex beginnen sollten,<br />
werden dann aber von Pro Familia dazu<br />
ermuntert <strong>–</strong> alle Bedenken und Risiken<br />
herunterspielend <strong>–</strong>, bedenkenlos mit einer<br />
Sexualbeziehung zu beginnen. Diese Pro<br />
Familia-Verführungspädagogik steht dem<br />
Erziehungsanspruch und -auftrag von<br />
Elternhaus und Schule diametral entgegen.<br />
Aus diesem Grund sollten die Pro<br />
Familia-Schriften und -Sexperten strikt<br />
aus der Schule herausgehalten werden.<br />
IM PORTRAIT<br />
Hubert Hecker<br />
Der Autor, Jahrgang 1947, ist Oberstudienrat<br />
in Hadamar<br />
/Westerwald. Er<br />
unterrichtet katholische<br />
Religionslehre,<br />
Geschichte<br />
sowie Politik und<br />
Wirtschaft.<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 29
B Ü CHERFORUM<br />
Vielleicht geht es in der Debatte<br />
um Sterbehilfe dem Selbstbestimmungsrecht<br />
ähnlich wie der<br />
Menschenwürde in der bioethischen<br />
Diskussion. Die Häufigkeit ihrer Zitate<br />
und ihre besonderen<br />
Akzentuierungen<br />
haben beide<br />
Begriffe für die<br />
breite Öffentlichkeit<br />
eher undeutlicher<br />
gemacht.<br />
Anhand der eingehenden Analyse USamerikanischer,<br />
englischer und deutscher<br />
Rechtsprechungsverfahren zeigt der Jurist<br />
Oliver Tolmein, wie viel<br />
Skepsis gegenüber der<br />
Ermittlung der »mutmaßlichen<br />
Einwilligung«<br />
mit Hilfe von Angehörigen<br />
oder Betreuern als<br />
einer erweiterten Form<br />
von »Selbstbestimmung«<br />
angebracht ist, wenn es<br />
um die Sterbehilfe bei<br />
Wachkomapatienten<br />
geht. Paralleles gilt für<br />
das »substituted judgement«<br />
im Betreuungsrecht<br />
der USA und den<br />
britischen »Best interest-<br />
Standard«. Hier drängt<br />
sich immer wieder die<br />
Außenperspektive in den Vordergrund,<br />
d. h., der Wachkomapatient wird in seinem<br />
Zustand, selbst von Richtern, nahezu<br />
ausnahmslos als Schwerstbehinderter<br />
wahrgenommen, seine Situation als »aussichtsloser«<br />
Fall mit »infauster Prognose«<br />
definiert, als »menschenunwürdig« oder<br />
»nicht mehr lebenswert« bemitleidet und<br />
im Endeffekt fehl beurteilt, d.h. diskriminiert.<br />
Tolmein macht deutlich, dass auch<br />
Vormundschaftsgerichte überfordert sind,<br />
wenn sie über den Abbruch der künstlichen<br />
Ernährung entscheiden und damit<br />
das Urteil über Leben und Tod des Betroffenen<br />
fällen sollen.<br />
Weitere Schwierigkeiten: Niemand<br />
weiß Sicheres über die Wahrnehmungsfähigkeit<br />
solcher Patienten und deren<br />
Kommunikationsmöglichkeiten nichtsprachlicher<br />
Art. Die Prognose über den<br />
individuellen Verlauf lässt sich nur vage<br />
stellen. Ferner entspricht der Inhalt einer<br />
Patientenverfügung insofern nie der gegenwärtigen<br />
Situation, als sie aktuelle<br />
Patientenwünsche nicht befriedigend<br />
antizipieren kann. Die aus früheren Äußerungen<br />
abgeleitete »Selbstbestimmung«<br />
über Lebenserhaltung oder Behandlungsverzicht<br />
beruht also auf einer<br />
Fiktion. Trotzdem gilt das »Kemptener<br />
30<br />
Wie autonom<br />
ist der Patient?<br />
Urteil« (1995) bislang als juristisches<br />
exemplum, um das Konzept der mutmaßlichen<br />
Einwilligung trotz dogmatischer<br />
Unschärfe rechtspolitisch zu nutzen und<br />
die Grundsatzdebatte um Verzicht oder<br />
Abbruch von Behandlungsmaß-<br />
nahmen bei nichteinwilligungsfähigen<br />
Patienten voranzutreiben.<br />
Es gibt auch<br />
praktische Einwände: viele Wachkomapatienten<br />
werden trotz Schluckfähigkeit<br />
nur deswegen über eine Sonde ernährt,<br />
weil dies weniger aufwändig<br />
und damit ökonomischer<br />
ist als die Löffelernährung.<br />
Tolmein stellt den bisherigen<br />
Konzepten den<br />
»bedürfnisorientierten<br />
Ansatz« gegenüber, der<br />
sich am Patienten orientiert<br />
und mit dem deutschen<br />
Betreuungsrecht<br />
vereinbar wäre. Doch<br />
auch das »aktuelle Bedürfnis«<br />
des Patienten<br />
untersteht notwendigerer<br />
Weise der Interpretation<br />
durch Arzt und Betreuer.<br />
In Zweifelsfällen könnten<br />
Verfahrenspfleger bestellt werden. Das<br />
Strafrecht muss gerade hier als Garantie<br />
für den Lebensschutz erhalten bleiben,<br />
so Tolmein, zumal aufgrund einer fiktiven<br />
»mutmaßlichen Einwilligung« sonst auch<br />
andere schwerstbehinderte Menschen<br />
ihres Lebens nicht mehr sicher wären<br />
und eine Euthanasie-Lösung nach niederländisch-belgischem<br />
Muster resultieren<br />
könnte. Skepsis ist allerdings gegenüber<br />
Tolmeins Vorschlag angebracht, eine<br />
Lösung parallel zum §218a StGB zu suchen,<br />
nämlich »die passive Sterbehilfe<br />
nach Einhalten des dafür vorgesehenen,<br />
de lege ferenda (...) zu regelnden betreuungsrechtlichen<br />
Verfahrens« straffrei zu<br />
ermöglichen. Ob sich dann aber nicht<br />
auch wie hinter dem »mutmaßlichen<br />
Willen« verstärkt oder überwiegend die<br />
Interessen von Angehörigen und ökonomischen<br />
Dienstleistern durchsetzen und<br />
diese »ungeschoren« bleiben? Ein lesenswerter<br />
Beitrag für die juristische und<br />
politische Diskussion: für Lebensrechtler.<br />
Dr. Maria Overdick-Gulden<br />
Oliver Tolmein<br />
Selbstbestimmungsrecht und Einwilligungsfähigkeit<br />
Frankfurt a. M. 2004. 312 Seiten. 32,00 EUR<br />
Im Schaufenster<br />
Klinische<br />
Sterbehilfe und<br />
Menschenwürde<br />
Der Umgang mit dem<br />
sterbenden Menschen<br />
stellt seit jeher einen<br />
besonderen Gradmesser<br />
für die Humanität<br />
einer Gesellschaft dar.<br />
Die in diesem Band<br />
versammelten Beiträge basieren auf einem<br />
interdisziplinären Symposium, das in der Villa<br />
La Collina am Comer See, im Rahmen der<br />
Cadenabbia-Gesprächsreihe »Medizin-Ethik-<br />
Recht« der Konrad-Adenauer-Stiftung stattfand,<br />
und in dessen Verlauf namhafte Theologen,<br />
Philosophen, Historiker, Mediziner und<br />
Juristen zentrale Fragen der Sterbehilfe über<br />
Fach- und Ländergrenzen hinweg miteinander<br />
diskutierten. Wer bislang noch wenig Gelegenheit<br />
hatte, sich eingehender mit grundlegenden<br />
Fragen des Themas zu befassen oder<br />
wer nach Fallbeispielen aus der klinischen<br />
Praxis Ausschau hält, wird hier garantiert<br />
fündig werden. Fazit: Eine lohnende Lektüre.<br />
reh<br />
Volker Schumpelick (Hrsg.): Klinische Sterbehilfe<br />
und Menschenwürde <strong>–</strong> Ein deutsch-niederländischer<br />
Dialog. Herausgegeben im Auftrag der Konrad-<br />
Adenauer-Stiftung. Herder, Freiburg i.Br., Dezember<br />
2003. 464 Seiten. 18,00 EUR.<br />
Das Werden<br />
des Lebens<br />
In den bioethischen<br />
Debatten hat sich<br />
Nobelpreisträgerin<br />
Christiane Nüsslein-<br />
Volhard nicht selten<br />
mit Nachdruck zu<br />
Wort gemeldet. Als<br />
Mitglied des Nationalen<br />
Ethikrats zählt<br />
die Direktorin am Max-Planck-Institut für<br />
Entwicklungsbiologie zudem zu jenen Akteuren,<br />
die direkt Einfluss auf die Gestaltung der<br />
Biopolitik nehmen. Ihr jüngstes Buch wird<br />
vom Verlag zu Recht als »spannende Reise<br />
durch die Geschichte der Entwicklungsbiologie«<br />
beworben, auf welcher »der Leser die<br />
wunderbar anmutenden Vorgänge der Gestaltbildung<br />
kennen« lerne. Bemüht die stellenweise<br />
komplizierte Materie verständlich und<br />
mit Zeichnungen auch anschaulich zu machen,<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>
ist der Autorin ein lesenwertes Werk gelungen,<br />
das auch Laien wichtige Erkenntnisse der<br />
Entwicklungsbiologie näher zu bringen vermag.<br />
Deutlichen Widerspruch verdienen jedoch die<br />
Thesen, die sie im letzten, dem einzigen biopolitischen<br />
Kapitel aufstellt und in dem etwa<br />
als »Mensch« erst »der Säugling« definiert<br />
wird, »der zur Not auch ohne Mutter weiterleben«<br />
kann. Hier erweist sich die Autorin als<br />
Anhängerin eines Szientizismus, der, weil er<br />
Teilaspekte als ganze Wahrheit ausgibt, zu<br />
eklatanten Fehlschlüssen führt. Es ist nicht<br />
ohne Tragik, wie wenige Seiten Nüsslein-<br />
Volhard ausreichen, um ihr sonst gelungenes<br />
Buch selbst zu diskreditieren.<br />
reh<br />
Christiane Nüsslein-Volhard: Werden des Lebens.<br />
Wie Gene die Entwicklung steuern. C.H. Beck, München<br />
2004. 208 Seiten, 55 Abbildungen. 19,90 EUR.<br />
Menschenwürde<br />
und Lebensschutz<br />
In einem lässt sich<br />
den Autoren des<br />
vorliegenden Bandes<br />
gewiss zustimmen:<br />
Kaum ein Begriff hat<br />
in der bioethischen<br />
Debatte eine so inflationäre<br />
Verwendung<br />
gefunden, wie<br />
der der »Menschenwürde«. Während die einen<br />
mit ihr sowohl das Verbot der Abtreibung, der<br />
Euthanasie als auch der verbrauchenden Embryonenforschung<br />
begründen, bringen andere<br />
den Begriff in Anschlag, um mit ihm das Klonen<br />
zu Forschungszwecken, die Präimplantationsdiagnostik<br />
(PID) und die »Tötung auf Verlangen«<br />
salonfähig zu machen. Dass die Autoren,<br />
drei protestantische Theologen, den Versuch<br />
unternehmen, systematisch Geschichte und<br />
theologische Deutung des Menschenwürdekonzepts<br />
aufzuarbeiten, ist begrüßenswert,<br />
der vorliegende Band jedoch ein Paradebeispiel<br />
dafür, wie katastrophal so etwas misslingen<br />
kann. Von der zuvor als »bedingungsloser<br />
Zuspruch und Anspruch Gottes an den<br />
leiblichen Menschen« definierten Menschenwürde<br />
bleibt am Ende des Buches kaum mehr<br />
etwas übrig. Allein bei der aktiven Sterbehilfe<br />
scheuen sich die Autoren, die überdies eine<br />
völlig unzureichende Vorstellung von Leiblichkeit<br />
besitzen, die Vermeidung von Leid zu<br />
einem Prinzip zu erheben, das jeden Wunsch<br />
rechtfertigt. Fazit: Gut verzichtbar.<br />
reh<br />
Peter Dabrock, Lars Klinnert, Stefanie Schardien: Menschenwürde<br />
und Lebensschutz. Herausforderungen<br />
theologischer Bioethik. Gütersloher Verlagshaus<br />
2004. 368 Seiten. 29,95 EUR.<br />
Bücher, die sich mit der demographischen<br />
Katastrophe auseinandersetzen,<br />
der ganz Europa<br />
mit Riesenschritten entgegen eilt, haben<br />
Konjunktur. Viele Titel lohnen die Lektüre,<br />
so etwa »Das<br />
Methusalem-<br />
Komplott«, von<br />
F.A.Z-Herausgeber<br />
Frank Schirrmacher,<br />
»Die demographische<br />
Zeitenwende«<br />
des Bevölkerungswissenschaftlers<br />
Herwig Birg oder »Die Pyramide<br />
steht Kopf« des Autorenehepaars Roland<br />
und Andrea Tichy.<br />
Doch nur eines ist bisher<br />
unverzichtbar. Denn<br />
»kinderlos. Europa in der<br />
demographischen Falle«,<br />
aus der Feder des Journalisten<br />
und Publizisten<br />
Stephan Baier, liefert nicht<br />
nur die schonungsloseste,<br />
sondern auch die ehrlichste<br />
Analyse des Problems.<br />
So macht Baier<br />
etwa die Massenabtreibungen<br />
in Europa der<br />
letzten Jahrzehnte als die<br />
eigentliche Ursache für<br />
den fehlenden Nachwuchs<br />
aus. Demographisch<br />
betrachtet würden europaweit<br />
»zwar nahezu ausreichend Kinder gezeugt,<br />
aber viel zu wenige geboren.«<br />
Allein in Deutschland werden <strong>–</strong> veranschaulicht<br />
Baier in seinem mutigen, im<br />
Aachener MM-Verlag erschienenen Buch<br />
<strong>–</strong> »Tag für Tag rund 30 Schulklassen<br />
abgetrieben <strong>–</strong> einschließlich Samstag und<br />
Sonntag.« Die Folge: Immer wenige Erwerbstätige<br />
müssen nun die explodierenden<br />
Kosten schultern, die Pensionen und<br />
Renten, Gesundheit und Pflege von immer<br />
mehr erwerbslosen Menschen mit<br />
steigender Lebenserwartung verursachen.<br />
Unter den wachsenden finanziellen Belastungen<br />
würden sich jedoch nicht nur<br />
immer weniger Paare für Kinder entscheiden,<br />
und so selbst zu einer weiteren Verschärfung<br />
der Lage beitragen. Unweigerlich<br />
würden die Jungen auch den Alten<br />
»das Tor zur Euthanasie« immer weiter<br />
aufstoßen.<br />
Was das Buch besonders wertvoll<br />
macht, ist dass der Autor, der auch regelmäßig<br />
im <strong>LebensForum</strong> publiziert, keineswegs<br />
bei seiner faktenreichen Beschreibung<br />
künftiger Szenarien stehen bleibt,<br />
sondern gangbare Wege aus der Krise<br />
aufzeigt. Der »Krieg der Generationen«,<br />
der drohende Verteilungskampf zwischen<br />
Krieg der<br />
Generationen<br />
jungen und alten Menschen, so die These<br />
dieses Buches, das einem wahren Augenöffner<br />
gleichkommt, ist »kein unbeeinflussbares<br />
Schicksal, dem wir wehrlos<br />
entgegen treiben«. Er lässt sich verhindern.<br />
Dafür sei<br />
allerdings, so Baier,<br />
eine »radikale<br />
Wende« notwendig.<br />
Nur wenn<br />
Politik und Gesellschaft<br />
die Familie<br />
künftig ganz ins Zentrum all ihrer<br />
Bemühungen rückten, könne die Katastrophe<br />
noch abgewendet werden. Dabei<br />
präsentiert Baier als einer<br />
der wenigen Vorschläge, die<br />
nicht vor allem zu Lasten<br />
älterer Generationen gehen.<br />
So fordert der Autor etwa,<br />
die öffentliche Hand solle,<br />
anstatt Millionen Euro in ein<br />
»immer engeres und flächendeckenderes<br />
Netz« von<br />
Kinderbetreuungseinrichtungen<br />
zu pumpen, dieses<br />
Geld den Eltern »in die<br />
Hand geben« und so für eine<br />
echte Wahlfreiheit zwischen<br />
Familie und Beruf sorgen.<br />
Erst dann könnten Eltern<br />
tatsächlich entscheiden, »ob<br />
sie sich selbst hauptamtlich<br />
um Erziehung und Betreuung ihrer Kinder<br />
kümmern«, und die steuerlichen Vorteile<br />
als eine Art »Erziehungsgehalt«<br />
verbuchen wollen oder ob sie einer außerfamiliären<br />
Berufsarbeit nachgehen<br />
und mit dem Geld eine von mehreren<br />
Kinderbetreuungsmöglichkeiten finanzieren<br />
wollen. Bemerkenswert sind auch<br />
die Vorschläge, die der Autor zur Einführung<br />
eines Familienwahlrechts sowie zur<br />
Abschaffung der Erbschaftssteuer macht.<br />
Für noch wichtiger als den richtigen Gebrauch<br />
der steuer- und sozialpolitischen<br />
Instrumente scheint dem Autor jedoch<br />
der Wechsel der Mentalität zu sein, den<br />
er für unverzichtbar erklärt. Denn ohne<br />
eine Abkehr von der »Selbstverwirklichungsideologie«<br />
hin zu einem »Bekenntnis<br />
persönlicher Verantwortung« könne<br />
die »Barbarisierung der europäischen<br />
Wohlstandsgesellschaft« nicht gestoppt<br />
werden. Fazit: Eine Pflichtlektüre für<br />
Politiker und jeden, der sich um das Gemeinwohl<br />
müht.<br />
Stefan Rehder, M.A.<br />
Stephan Baier<br />
kinderlos. Europa in der demographischen Falle<br />
MM-Verlag, Aachen 2004, 280 Seiten.18,00 EUR<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 31
KURZ VOR SCHLUSS<br />
Expressis verbis<br />
»<br />
Es gibt im realen Leben für Frauen auch<br />
Situationen, wo Abtreibungen unvermeidlich<br />
sind. Da sind wir verpflichtet, dass wir die<br />
bestmöglichen Bedingungen schaffen.«<br />
Luise Müller, Superintendentin der Evangelischen<br />
Kirche Salzburg und Tirol<br />
»<br />
Dass in einer Wohlstandsgesellschaft wie<br />
der unseren, die nachweislich die reichste<br />
und verfressenste aller Jahrtausende ist,<br />
Argumente wie ‚sozialer Härtefall’ zu hören<br />
sind, ist (...) nicht zu rechtfertigen.«<br />
Klaus Berger, Buchautor und Professor für<br />
Neutestamentliche Theologie in Heidelberg zur<br />
Diskussion um Abtreibung<br />
»<br />
Wenn wir den Leidensdruck in das Zentrum<br />
der Überlegung stellen, bietet das Gesetz<br />
ausreichenden Spielraum, das Leben wegen<br />
Depressionen zu beenden.«<br />
Aus der Stellungnahme einer Kommission der<br />
Niederländischen Regierung, in der Euthanasie<br />
auch für Lebensmüde gefordert wird<br />
»<br />
Rund 20 Prozent der Ärzte, die Schwerstkranke<br />
behandeln, haben schon eine aktive<br />
Lebensbeendigung erlebt.«<br />
»<br />
Karl-Heinz Wehkamp, Professor für Gesundheitswissenschaften<br />
zum Ergebnis einer anonymen<br />
Befragung unter deutschen Medizinern<br />
Ende der neunziger Jahre.<br />
Zu einem brüderlichen Miteinander soll man<br />
uns erziehen, nicht zu einem Miteinander<br />
von Brudermördern.«<br />
Tops & Flops<br />
Joachim Kardinal Meisner<br />
Joachim Kardinal Meisner<br />
hat in mehreren Predigten<br />
Abtreibungen verurteilt und<br />
mehr Lebensschutz gefordert.<br />
Verstöße gegen die Menschenrechte<br />
seien, so der Kölner Erzbischof an Weihnachten,<br />
auch ein »Attentat auf die Heiligkeit<br />
Gottes«. Die Kirche müsse »sich<br />
vor die ungeborenen Kinder stellen, um<br />
sie vor Abtreibung zu schützen.« Auch<br />
müsse sie sich »an<br />
die Krankenbetten<br />
der alten und<br />
behinderten Menschen<br />
stellen, um<br />
sie vor der Euthanasie<br />
zu bewahren.«<br />
An Sylvester<br />
sagte Meisner,<br />
Politiker würden<br />
über die demographische<br />
Entwicklung in Deutschland<br />
»lamentieren und schwadronieren«, aber<br />
»das massenhafte Töten ungeborener<br />
Kinder im Mutterleib« ignorieren. An<br />
Dreikönig deutete der Kardinal Massentötungen<br />
als Folge der Selbstentgrenzung:<br />
»Wo der Mensch sich nicht relativieren<br />
und eingrenzen lässt, dort verfehlt er sich<br />
immer am Leben: zuerst Herodes, der<br />
die Kinder von Bethlehem umbringen<br />
lässt, dann unter anderem Hitler und<br />
Stalin, die Millionen Menschen vernichten<br />
ließen, und heute, in unserer Zeit,<br />
werden ungeborene Kinder millionenfach<br />
umgebracht.« bla<br />
ARCHIV<br />
Völlig vergaloppiert hat sich<br />
der Vorsitzende des Zentralrates<br />
der Juden in Deutschland,<br />
Paul Spiegel. Offensichtlich<br />
ohne Kenntnis des genauen<br />
Wortlauts, griff Spiegel Joachim Kardinal<br />
Meisner wegen<br />
dessen Predigt<br />
am Dreikönigstag<br />
scharf an.<br />
Via Medien<br />
warf Spiegel<br />
dem Erzbischof<br />
von Köln vor,<br />
Abtreibung und<br />
Euthanasie mit<br />
dem Holocaust<br />
verglichen und<br />
Paul Spiegel<br />
damit die Opfer der Nazi-Diktatur beleidigt<br />
zu haben. Der Deutschen Presse-<br />
Agentur (dpa) sagte Spiegel: Meisners<br />
Sätze seien eine Beleidigung von Millionen<br />
Holocaust-Opfern. »Was soll man<br />
von der Jugend erwarten, wenn ein katholischer<br />
Würdenträger auf diese Weise<br />
und ungestraft den millionenfachen Mord<br />
an Juden relativieren kann?«<br />
Den Erzbischof von Köln forderte der<br />
Vorsitzende des Zentralrats der Juden in<br />
Deutschland auf, sich unverzüglich von<br />
dem angeblichen Vergleich zu distanzieren<br />
und drohte laut dpa gar, es habe schon<br />
Personen des Öffentlichen Lebens gegeben,<br />
»die haben auf Grund solcher Äußerungen<br />
von ihren Ämtern zurücktreten<br />
müssen«. reh<br />
ARCHIV<br />
Kardinal Geraldo Majella Agnello, Präsident der<br />
brasilianischen Bischofskonferenz, zu der von<br />
der Regierung angestrebten Liberalisierung der<br />
Abtreibungsgesetzgebung<br />
»<br />
Der Druck, den der Rat der Vereinten<br />
Nationen zur Legalisierung der Abtreibung<br />
unter bestimmten Umständen auf den<br />
Maltesischen Staat ausübt, ist verwerflich<br />
und inakzeptabel.«<br />
Die Bischöfe von Malta zu der Forderung der<br />
UNO, Malta solle seine Abtreibungsgesetze<br />
liberalisieren<br />
32<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>
Aus dem Netz gefischt<br />
Eine Krankenschwester packt aus<br />
Diese Webseite ist nichts für schwache<br />
Nerven. Denn auf www.whatthenurse<br />
saw.com berichtet die Krankschwester<br />
Brenda Shafer von der Teilgeburtsabtreibung<br />
eines Kindes im 6. Monat. Shafer<br />
schildert das so: »Der Herzschlag des<br />
Kindes war auf dem Ultraschall klar sichtbar.<br />
Der Arzt dringt mit einer Geburtszange<br />
ein, packt die Beine des Kindes<br />
und zieht sie runter in den Geburtskanal.<br />
Dann holt er das Kind heraus, den Körper,<br />
die Arme, alles nur nicht den Kopf. Das<br />
Kind klammert mit seinen kleinen Fingern<br />
und tritt mit seinen Füßen. Als der<br />
Arzt ihm ein Paar Scheren in den Hinterkopf<br />
stößt, zucken die Arme des Kindes<br />
so krampfhaft wild, wie es Kinder tun,<br />
wenn sie denken, dass sie fallen. Dann<br />
drückt der Arzt die Scheren auseinander,<br />
Laut Bildungsministerium gibt es<br />
derzeit 345 anerkannte Ausbildungsberufe.<br />
Kein Wunder, dass die Arbeitslosenzahl<br />
bei fünf Millionen liegt. Es gibt<br />
einfach zu wenig Berufe. Doch wie aus<br />
Berlin verlautet, hat die Regierung jetzt<br />
ein Konzept entwickelt, das jeden gemäß<br />
seinen Talenten Arbeit bringen<br />
soll. Wer ohne Ausbildung ist, soll künftig<br />
Bannmeilen um Abtreibungskliniken<br />
errichten. Ketten aus ehemaligen<br />
Arbeitslosen sollen dafür sorgen, dass<br />
abtreibungswillige Frauen nicht Gefahr<br />
laufen, von betenden Lebensschützern<br />
belästig zu werden. Dank des flächendeckenden<br />
Netzes von Abtreibungsklinken<br />
ließen sich so gleich Hunderttausenden<br />
in Lohn und Brot bringen.<br />
»Deutschland. Das von morgen«<br />
um ein Loch im Schädel zu erzeugen.<br />
Danach führt er ein starkes Saugrohr in<br />
die Öffnung und saugt das Hirn des Kindes<br />
ab.«<br />
Da sich die lizensierte Krankenschwester<br />
für eine überzeugte Anhängerin des<br />
so genannten »Rechts auf Abtreibung«<br />
hielt, dachte sie, sie hätte kein Problem<br />
damit, dass ihre Agentur sie an eine Abtreibungsklinik<br />
vermittelte. An ihrem<br />
ersten Arbeitstag assistierte sie bei einigen<br />
vorgeburtlichen Kindstötungen im Ersten<br />
Trimester, darunter bei der Abtreibung<br />
eines Kindes, dessen Mutter gerade mal<br />
15 Jahre alt war, dafür aber bereits zwei<br />
Abtreibungen hinter sich hatte. Am dritten<br />
Arbeitstag sollte sie dem Arzt dann<br />
bei der beschriebenen Teilgeburtsabtreibung<br />
zur Hand gehen. Was sie sah und<br />
»Das Kind klammert mit seinen<br />
Fingern und trat mit den Füßen.«<br />
erlebte, änderte ihre Meinung. Gut möglich<br />
also, dass auch diejenigen, die ihre<br />
Meinung noch nicht geändert haben,<br />
Lebensrechtlern für einen »Wink mit<br />
dem Link« dankbar sind. reh<br />
Regierung und Gewerkschaften müssen<br />
sich nur noch über die Höhe des<br />
Schlechtwettergeldes einigen. Handwerklich<br />
Begabte, denen es an Techniken<br />
wie Lesen, Schreiben und Rechnen<br />
mangelt, sollen Eizellen für die Forschung<br />
entkernen. Dafür soll das Embryonenschutzgesetz<br />
entsorgt werden.<br />
Gefeilt wir noch an dem Vorschlag,<br />
Arbeitslosen mit Grundkenntnissen in<br />
Chemie, in Alten- und Krankenheimen<br />
weiter zu qualifizieren. Strittig ist vor<br />
allem, wo sie das Setzen von Spritzen<br />
erlernen sollen. Als aussichtsreichster<br />
Standort gilt Sonthofen. Doch heißt<br />
es, der Kanzler sperre sich noch dagegen,<br />
da dies vor allem in Bayern die<br />
Arbeitslosenquote senken würde. reh<br />
ARCHIV<br />
KURZ & BÜ NDIG<br />
McCorvey ficht »Roe vs. Wade« an<br />
Die Ex-Abtreibungsaktivisten Norma Mc-<br />
Corvey und Sandra Cano haben das Grundsatzurteil<br />
zur Freigabe von Abtreibungen in<br />
den USA beim<br />
Obersten Gerichtshof<br />
in<br />
Washington<br />
angefochten.<br />
McCorvey und<br />
Cano hatten<br />
das 19<strong>73</strong> ergangene<br />
Urteil<br />
durch ihre Klage<br />
selbst herbeigeführt.<br />
Ihre<br />
neuerliche Klage begründen beide nun mit<br />
»neuen Einsichten« über die Wirkung von<br />
Abtreibungen. Man habe damals zu wenig<br />
über die Folgeschäden von Abtreibungen<br />
gewusst. Auch könne die Frage nach dem<br />
Beginn menschlichen Lebens durch aktuelle<br />
Forschungen heute auf den Zeitpunkt der<br />
Empfängnis definiert werden. McCorvey will<br />
dem Gericht die Berichte von mehr als tausend<br />
Frauen vorlegen, die infolge von Abtreibungen<br />
schwere seelische Schäden erlitten hätten.<br />
Norma McCorvey hatte unter dem Pseudonym<br />
»Jane Roe« in dem als »Roe gegen Wade«<br />
bekannten Prozess für das Recht auf Abtreibung<br />
geklagt. Die Mutter dreier Kinder hat<br />
nach eigenen Angaben nie selbst abgetrieben,<br />
unterstützte aber jahrelang die Abtreibungslobby<br />
und arbeitete in einer Abtreibungsklinik.<br />
Durch den Kontakt mit Frauen, die abgetrieben<br />
haben, änderte sie später jedoch ihre Einstellung.<br />
reh<br />
Papst: Lebensschutz gebührt Vorrang<br />
Papst Johannes Paul II.<br />
Norma McCorvey<br />
Papst Johannes Paul II. hat in seiner Ansprache<br />
beim Neujahrempfang für das Diplomatische<br />
Corps in Rom den Schutz des Lebens als »die<br />
erste Herausforderung« bezeichnet. Im Laufe<br />
der letzten Jahre<br />
sei, so der Papst,<br />
»diese Herausforderung<br />
immer<br />
größer und entscheidender<br />
geworden«.<br />
Dabei<br />
liege der Schwerpunkt<br />
»vor allem<br />
auf dem Beginn<br />
des menschlichen<br />
Lebens, dem Moment, in dem der Mensch<br />
am schwächsten ist und am meisten des<br />
Schutzes bedarf«. Vor den beim Heiligen Stuhl<br />
akkreditierten Botschaftern von 174 Staaten<br />
betonte der Papst: »Der Schutz und die Förderung<br />
des menschlichen Lebens sind die<br />
vorrangige Aufgabe des Staates.« reh<br />
WWW.ROENOMORE.ORG<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 33
LESERFORUM<br />
»Zu Recht wird die These abgelehnt,<br />
wonach die Fortführung einer<br />
Zellforschung zulässig sei, wenn nur<br />
zu Beginn Unkenntnis über deren<br />
rechtswidrige Erlangung herrschte.<br />
Danach hätte auch Adam weiter<br />
essen dürfen, wenn Eva ihm erst nach<br />
dem ersten Bissen von der Herkunft<br />
erzählt hätte.«<br />
RA Reinhard H. Liedgens, Hürth zum Editorial:<br />
»Kultur des Todes führt in den Ruin«.<br />
Dass Sie es schaffen, selbst einem Dauerthema<br />
wie Abtreibung stets neue Aspekte<br />
abzuringen (zuletzt der ausgezeichnete<br />
Beitrag »Jedes vierte Kind wird abgetrieben«<br />
von Stefan Rehder und Veronika<br />
Blasel), imponiert mir. Die Lektüre von<br />
<strong>LebensForum</strong> macht immer wieder deutlich,<br />
welch ein erschreckendes Ausmaß<br />
die Tötung ungeborener Kinder im Mutterleib<br />
inzwischen angenommen hat und<br />
offenkundig, wie sträflich das Thema in<br />
den meisten anderen Medien vernachlässigt<br />
wird. <strong>LebensForum</strong> schließt eine<br />
enorme Lücke in der öffentlichen Kommunikation.<br />
Machen Sie weiter so!<br />
Priv.-Doz. Dr. iur. Arnd Uhle, Bonn-Bad Godesberg<br />
Tote zu Impfstoffen<br />
Der Beitrag von Irmtraut Babel über<br />
die Herstellung von Impfstoffen aus dem<br />
Gewebe abgetriebener Kinder hat mich<br />
zutiefst schockiert. Es scheint, als machten<br />
Wissenschaftler vor nichts mehr halt. In<br />
was für einer Welt leben wir eigentlich,<br />
wenn selbst Leichen kommerziell weiterverarbeitet<br />
werden? Gibt es denn überhaupt<br />
keinen Anstand mehr?<br />
Treffendes Titelbild<br />
Herzlichen Dank für die wieder einmal<br />
hervorragende Ausgabe des »Lebens-<br />
Forum«. Besonders ins Auge gestochen<br />
ist mir das Titelbild. Die Wahl des Verkehrsschilds<br />
(Gebotsschild!) macht in<br />
besonderer Weise deutlich, dass der Staat<br />
Abtreibungen in Deutschland nicht nur<br />
duldet, sondern sogar explizit dazu auffordert.<br />
Und es stimmt: Wieviele Frauen werden<br />
in unserem Land z. B. nach der sog.<br />
Pränataldiagnose unter Druck gesetzt,<br />
sie seien geradezu verpflichtet ihr Kind<br />
abzutreiben! Die Zeitangabe »Werktags<br />
von 0 bis 24 Uhr« unterstreicht sehr<br />
anschaulich, dass in den Augen des Staates<br />
jede Frau das Recht hat ihr Kind abzutreiben.<br />
Tatsächlich sieht es der Staat ja<br />
als seine Aufgabe an, flächendeckend für<br />
genügend Abtreibungseinrichtungen zu<br />
sorgen. Die erwachsene Person, die das<br />
Baby in den Mülleimer wirft, zeigt uns<br />
wieder einmal, welchen Wert ein ungeborenes<br />
Kind in den Augen vieler in Staat<br />
und Gesellschaft Verantwortlicher bereits<br />
hat <strong>–</strong> nämlich gar keinen!<br />
Antonia Egger, München<br />
Frauenfeindlich<br />
34<br />
Zuerst einmal ein »Danke« für Ihren<br />
engagierten Einsatz für den Lebensschutz<br />
und die gut verfassten Artikel in Ihrer<br />
Zeitschrift <strong>LebensForum</strong>. Heute möchte<br />
ich Ihnen jedoch auch eine Kritik am<br />
aktuellen Titelfoto übermitteln: Ich finde<br />
die Aufmachung des Schildes zwar plakativ,<br />
allerdings auch in gewisser Hinsicht<br />
frauenfeindlich, da wieder einmal die Frau<br />
als Hauptverantwortliche für einen<br />
Schwangerschaftsabbruch dargestellt<br />
wird. Außerdem hat das Bild meines Erachtens<br />
eine insgesamt negative, eher<br />
anklagende Wirkung. Sollte aber eine<br />
Zeitschrift wie die Ihre nicht eher dem<br />
Lebensschutz als einer Verurteilung der<br />
leider nicht entsprechend Handelnden<br />
dienen?<br />
Zusammenfassend möchte ich sagen,<br />
dass ich Ihre Zeitschrift gerne auch an<br />
Freunde/Freundinnen im Bekanntenkreis<br />
und Kolleginnen, die vom Lebensschutz<br />
nicht so überzeugt sind wie ich selbst,<br />
weiterreiche, tue dies aber nicht aus den<br />
oben genannten Kritikgründen. Ich bin<br />
mir sicher, dass diese Aufmachung eher<br />
eine abschreckende und Vorurteile gegenüber<br />
den Lebensschützern fördernde<br />
Wirkung hat als Interesse am Thema<br />
weckt.<br />
Bettina Schade, Berlin<br />
Dauerthema Abtreibung<br />
Sabine Schmidt, Stuttgart<br />
Mehr Positives<br />
Positive Resonanz: City-Life-Aktion in Frankfurt<br />
Es gibt keinen Zweifel: Die »Kultur<br />
des Todes« breitet sich aus. Dass Lebens-<br />
Forum sie unter die Lupe nimmt, finde<br />
ich gut und richtig. Besonders weil andernorts<br />
Vieles bewusst verschwiegen<br />
oder zumindest ignoriert wird. Gleichwohl<br />
würde ich mir mehr positive Beiträge<br />
im <strong>LebensForum</strong> wünschen. Beispiele<br />
dafür aus den letzten Ausgaben sind für<br />
mich: Der Bericht über die Umkehr eines<br />
ehemaligen Abtreibungsarztes (Nr. 72),<br />
die »City-Life«-Aktion der »Jugend für<br />
das Leben« (Nr. 71) oder auch der Umschwung<br />
der öffentlichen Meinung in<br />
den USA (Nr. 70). Solche Beiträge machen<br />
Mut. Und der ist gerade dann wichtig,<br />
wenn es wie derzeit Schlag auf Schlag<br />
geht.<br />
Reinhard Backes, Bonn<br />
<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong><br />
JUGEND FÜR DAS LEBEN
IMPRESSUM<br />
IMPRESSUM<br />
LEBENSFORUM<br />
Ausgabe Nr. <strong>73</strong>, 1. Quartal <strong>2005</strong><br />
ISSN 0945-4586<br />
Verlag<br />
Aktion Lebensrecht für Alle (<strong>ALfA</strong>) e.V.<br />
Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg<br />
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Herausgeber<br />
Aktion Lebensrecht für Alle e.V.<br />
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminski (V.i.S.d.P.)<br />
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Tel.: 0711 / 237 19 53-12, Fax 0711 / 237 19 53-53<br />
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Dr. phil. nat. Andreas Reimann<br />
Redaktion<br />
Veronika Blasel, M.A.,Alexandra Linder, M.A.,<br />
Dr. med. Maria Overdick-Gulden, Prof. Dr. med. Ingolf Schmid-<br />
Tannwald (Ärzte für das Leben e.V.), Kurt Hönscheidt (Fotos)<br />
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Vierteljährlich, Lebensforum Nr. 74 erscheint am 13.05.<strong>2005</strong>,<br />
Redaktionsschluss ist der 15.04.<strong>2005</strong><br />
Jahresbezugspreis<br />
12,- EUR (für ordentliche Mitglieder der <strong>ALfA</strong> und der Ärzte für<br />
das Leben im Beitrag enthalten)<br />
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einzuziehen:<br />
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Datum, Unterschrift
Vera Drake<br />
Mit »Vera Drake <strong>–</strong> Frau und Mutter« trägt<br />
Regisseur Mike Leigh die »Kultur des Todes«<br />
in die Kinos. Sein hoch dekorierter Film ist<br />
ein lupenreines Plädoyer für ein Recht auf<br />
vorgeburtliche Kindstötungen.<br />
Von Dr. José García<br />
Postvertriebsstück B 42890 Entgelt bezahlt<br />
Deutsche Post AG (DPAG)<br />
Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (<strong>ALfA</strong>)<br />
Ottmarsgässchen 8, 86152 Ausgburg<br />
Vera Drake <strong>–</strong> Frau und Mutter«<br />
wurde beim Filmfestival Venedig<br />
2004 mit dem »Goldenen Löwen«<br />
als bester Film ausgezeichnet. Für<br />
die Rolle der Vera Drake gewann Imelda<br />
Staunton den Preis als beste Hauptdarstellerin.<br />
Darüber hinaus wurde sie für<br />
den Oscar nominiert.<br />
Das hat seinen Grund. Denn die Familienmutter<br />
hütet ein Geheimnis: Vera<br />
hilft jungen Frauen abtreiben. Seit vielen<br />
Jahren leitet sie bei ungewollt schwanger<br />
gewordenen Mädchen mittels Einlauf die<br />
Abtreibung ein. Unter ihren »Patientinnen«<br />
ist auch eine gestandene Frau,<br />
die argumentiert, sie habe bereits sieben<br />
erklärt: »Zuallererst ist da die Tatsache,<br />
dass das Thema in den letzten Jahren<br />
durch religiöse Fundamentalisten, nicht<br />
zuletzt in der Bush-Regierung, wieder<br />
ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten<br />
ist. Es gibt Versuche, Abtreibung wieder<br />
zu kriminalisieren. Wenn das gelingen<br />
sollte, werden zwangsläufig wieder Laien<br />
die Arbeit von professionellen Medizinern<br />
machen«. Sein Film ist ein Plädoyer für<br />
die freie Abtreibung. Dramaturgisch setzt<br />
er dies durch eine Nebenhandlung um:<br />
Als ein junges Mädchen aus reicher Familie<br />
von einem Bekannten vergewaltigt<br />
wird, wendet sie sich an eine Freundin.<br />
Diese weiht sie in die »Lösung« ein: das<br />
Attest eines Psychiaters ermöglicht ihr<br />
die Abtreibung in einer teuren Klinik<br />
unter ärztlicher Aufsicht.<br />
Mike Leigh zeigt die Tötung ungeborener Kinder als Akt der Nächstenliebe: Vera Drake bei der Arbeit<br />
Der Film zeigt Vera Drake als Inbegriff<br />
der Hilfsbereitschaft: Sie versorgt im<br />
Jahre 1950 in London nicht nur ihren<br />
Mann und ihre zwei Kinder, sondern auch<br />
noch ihre kranke Mutter. Nebenbei arbeitet<br />
sie als Putzfrau bei der »besseren<br />
Gesellschaft«. Die filmisch gelungene<br />
Inszenierung lässt nicht nur die Enge und<br />
die gedeckten Grün- und Brauntöne des<br />
Arbeitermilieus mit den weiten Räumen<br />
und den hellen Farben der »eleganten<br />
Welt« kontrastieren. Im Gegensatz zu<br />
ihrer kinderlosen Schwägerin, die aus<br />
dem proletarischen Umfeld ausbrechen<br />
möchte, erscheint darüber hinaus Vera<br />
als eine glücklich anspruchlose Frau. Sympathischer<br />
könnte eine Filmfigur kaum<br />
gezeichnet werden.<br />
Kinder und könne kein achtes mehr ernähren.<br />
Dafür nimmt Vera natürlich kein<br />
Geld <strong>–</strong> sich bereichern, das tun andere,<br />
etwa die dubiose Bekannte, die ihr die<br />
Adressen liefert. Vera indessen handelt<br />
aus reinster Gutmütigkeit: »Ich helfe<br />
Frauen, die in Not sind«. Als jedoch nach<br />
ihrem Eingriff eine junge Frau in lebensbedrohlichem<br />
Zustand ins Krankenhaus<br />
eingeliefert wird, kommt die Polizei Vera<br />
auf die Spur. Für sie und ihre ahnungslose<br />
Familie stürzt eine Welt zusammen.<br />
Die Handlung ist in den fünfziger<br />
Jahren angesiedelt, weil damals Abtreibungen<br />
nicht nur illegal waren, sondern<br />
auch strafrechtliche Konsequenzen nach<br />
sich zogen, wie Regisseur Mike Leigh in<br />
einem Interview mit der taz (3. Februar)<br />
CONCORDE FILMVERLEIH<br />
»Es gibt Versuche, Abtreibung<br />
wieder zu kriminalisieren.«<br />
Mike Leigh, Regisseur<br />
Somit reitet der Film auf dem altbekannten,<br />
primitiven Argument, ein Abtreibungsverbot<br />
führe nur zu illegalen<br />
Abtreibungen, die unter großen Risiken<br />
von Kurpfuschern wie Vera Drake vorgenommen<br />
werden. Deshalb müsse die Abtreibung<br />
unter ärztlicher Aufsicht erlaubt<br />
werden. Merkwürdig, dass im zweistündigen,<br />
gut gespielten Film der Begriff<br />
»Baby« lediglich ein einziges Mal zu<br />
hören ist, als Veras Sohn Sid entsetzt<br />
ausruft: »Das ist falsch; das sind kleine<br />
Babys!« Selbst darauf hat der Regisseur<br />
in der Person von Veras Mann eine Antwort:<br />
»Für Sid gibt es nur schwarz oder<br />
weiß, er ist noch jung.« Dass Vera Drake<br />
aus lauter Menschenfreundlichkeit ungeborene<br />
Menschen getötet hat, wird damit<br />
wieder verdrängt.