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LP_Wagner_Zwischenerde

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Tanja <strong>Wagner</strong><br />

<strong>Zwischenerde</strong><br />

Wächter der Balance<br />

Fantasy-Roman<br />

NOEL-Verlag


Originalausgabe<br />

Juni 2020<br />

NOEL-Verlag GmbH<br />

Achstraße 28<br />

82386 Oberhausen/Obb.<br />

www.noel-verlag.de<br />

info@noel-verlag.de<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />

Nationalbibliografie, Frankfurt; ebenso in der Bayerischen Staatsbibliothek in<br />

München.<br />

Das Werk, einschließlich aller Abbildungen, ist urheberrechtlich geschützt. Jede<br />

Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsschutzgesetzes ist ohne<br />

Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig und strafbar.<br />

Das gilt besonders für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />

und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Der Autor übernimmt die volle Verantwortung für den Inhalt seines Werkes. Er<br />

versichert, dass sämtliche Namen frei erfunden sind.<br />

Autor:<br />

Covergestaltung:<br />

Tanja <strong>Wagner</strong><br />

NOEL-Verlag<br />

1. Auflage<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978-3-96753-002-5


Lieber Leser!<br />

Ja, an DICH ganz persönlich sind diese Worte gerichtet.<br />

Wusstest Du, dass die Erde von Anbeginn der Zeit<br />

voller mystischer Geheimnisse steckt?<br />

Ich weiß, dass Du und eigentlich alle Menschen wenig,<br />

bis gar nichts darüber wissen,<br />

doch lass mich Dir versichern, dass es Allianzen gibt,<br />

die alles in ihrer Macht Stehende tun werden,<br />

damit die Erde, wie wir sie heute kennen, erhalten bleibt.<br />

Insbesondere Viktorius Diabolo und sein graugeflügeltes Gefolge,<br />

aus dem tiefsten Kern des INDEMALUMS,<br />

gilt es zurückzudrängen.<br />

Wird es Primus und seinen Schutzwächtern, Angelo und seinen Balance-Wächtern,<br />

Pater Janus und den Mönchen, dem Magasch Clan,<br />

den WOCs und anderen gelingen,<br />

Dich und alle Bewohner dieses Planeten weiterhin zu beschützen?<br />

Und traust Du Dich, als Mensch,<br />

mutig an die Seite der Wächter zu treten?<br />

Ja? Worauf wartest Du dann?<br />

Tauch ein in die Welt von ZWISCHENERDE.


Für Alina und Lukas<br />

Meine Liebe zu Euch ist unendlich.


Wenn der Erde und ihren Bewohnern von der<br />

dunkelsten aller Mächte Gefahr droht,<br />

stellt sich jener Macht,<br />

mehr als nur eine Allianz,<br />

bis zum bitteren Ende, entgegen.


Ein guter Anfang ist die halbe Arbeit<br />

Auf einer alten Schriftrolle stand Folgendes geschrieben:<br />

Wenn die Erdenzeit gekommen ist,<br />

in der Feuer und Wasser das erste Mal aufeinanderprallen,<br />

werden sich die Elemente mit all ihrer Kraft verbinden.<br />

Das temperamentvolle und leuchtend heiße Feuer<br />

dringt in die zarte Gefühlswelt des beruhigenden<br />

und klaren frischen Wassers ein.<br />

Kontaktfähigkeit entsteht,<br />

die keinerlei Realitätssinn dieser Welt mehr erfordert.<br />

Feuer brennt in Wasser – Wasser fließt in Feuer<br />

Das Universum selbst zählt die Energie beider Elemente<br />

von diesem Tage an als eine,<br />

damit daraus, in einer Nachtgleiche,<br />

eine neue Schöpfung entstehen kann.<br />

‚Genau das ist es, was sie jetzt gebrauchen könnten‘, dachte sich Angelo<br />

Corondall, der Anführer der Balance-Wächter.<br />

Es war für ihn unfassbar, dass er heute Abend diese unerfreuliche, wenn<br />

nicht sogar schreckliche Nachricht von seiner geflügelten Botin überbracht<br />

bekommen hatte.<br />

Pandora, die kleine weiße Brieftaube, war darauf abgerichtet worden,<br />

einen zusammengerollten Zettel in ihren Schnabel aufnehmen zu können<br />

und damit zu ihrem Heimatschlag, in ihrem Fall ein großer goldener<br />

Käfig, zurückzufliegen. Dabei nutzte sie den Stand der Sonne und Sterne<br />

sowie das Magnetfeld der Erde als Kompass.<br />

Vielleicht verwendete sie aber auch nur rein optische Anhaltspunkte, das<br />

konnte bisher leider niemand so genau sagen. Dass ihr Name der heuti-<br />

7


gen Überbringung alle Ehre machen sollte, konnte Angelo beim bloßen<br />

Öffnen allerdings noch nicht wissen.<br />

Während Pandora in ihrem Käfig damit begann, ihre Belohnungskrümel<br />

zu picken, las er die Worte, die in dem Brief standen.<br />

Nach über zwanzig Jahren Frieden auf der Erde schien das Gleichgewicht<br />

zum ersten Mal wieder ernsthaft in Gefahr zu sein. Pater Janus,<br />

Vorstand des ortsansässigen Mönchsordens und einziger menschlicher<br />

Vertrauter von Angelo, berichtete in seinem Brief, den er immer in<br />

seinem Klostergarten einer Wächter-Statue in die gefalteten Hände legte,<br />

davon, dass die Menschen in Atlanta vermehrt von ‚Vorfällen‘ sprechen.<br />

Viele kamen von alleine zu ihm und klopften sogar des Nachts noch an<br />

die Türe. Andere riefen ihre Erlebnisse lautstark in die Messe, ehe sie auf<br />

Knien vor dem heiligen Altar zusammenbrachen und darum beteten,<br />

nicht vollkommen wahnsinnig zu werden.<br />

Pater Janus war bemüht, sie mit der derzeit vorherrschenden Sommerhitze<br />

zu beruhigen, doch die Familie, die es gestern am Rande der Stadt<br />

erwischt hatte, konnte selbst er nicht mehr täuschen.<br />

Aus dem vorläufigen Polizeibericht ging folgendes hervor: Der Vater<br />

hörte mitten in der Nacht seltsame Geräusche. Deshalb stand er auf und<br />

nahm sein Schrotgewehr aus dem Schrank heraus. Wenn es sich um Einbrecher<br />

handeln sollte, dachte er, dann wird es hoffentlich ausreichen,<br />

sie mit einem Warnschuss in die Flucht zu schlagen.<br />

Als er kurz darauf die große Holztreppe erreichte, musste er für einen<br />

Moment innehalten. Wieder und wieder schloss und öffnete er die Augen,<br />

denn was er da sah, konnte unmöglich sein. Eine riesige Kratzspur<br />

führte an der Wand entlang bis in den unteren Bereich des Hauses.<br />

Familienbilder hingen schief oder waren mehrfach durchtrennt worden.<br />

Plötzlich bellte draußen im Garten der dort angeleinte Schäferhund. Der<br />

Vater lief so schnell er konnte die Treppe hinunter, öffnete ruckartig und<br />

ohne lange zu zögern die Terrassentüre, trat ins Freie und blickte sich,<br />

mit dem Gewehr im Anschlag, nach allen Seiten um. Ein kurzer Knall<br />

durchdrang die Stille der Nacht, doch es handelte sich dabei nicht um<br />

einen versehentlich abgefeuerten Schuss, sondern um die gläserne Türe,<br />

die hinter ihm wieder zugedrückt wurde. Als er sich umdrehte, musste er<br />

erschrocken zusehen, wie diese, wie von Geisterhand, mit dem schweren<br />

Eichenholztisch des Wohnzimmers verbarrikadiert wurde. Als Nächstes<br />

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konnte er mit Erschrecken beobachten, wie ein übernatürlich großer<br />

Vogel, oder vielleicht sogar eines dieser Fabelwesen, die man sonst nur<br />

in diversen Büchern finden kann, und die meist nur der zu lebhaften<br />

Fantasie des Menschen zugeordnet werden, sich unglaublich schnell die<br />

Treppe nach oben bewegte.<br />

Erst als der Vater die Schreie seiner Frau und kurz darauf die seiner<br />

beiden Söhne vernahm, veranlasste ihn das durch Panik aufkommende<br />

Adrenalin, zu handeln.<br />

Da die vordere Haustüre wie jede Nacht verschlossen war, versuchte er<br />

mit dem Gewehrgriff das Glas der Terrassentüre einzuschlagen.<br />

Vergeblich!<br />

Der große Blumentopf aus Keramik hingegen brachte diese zum sofortigen<br />

Zersplittern.<br />

Der Vater schwang sich über die Tischplatte zurück ins Innere des Hauses,<br />

und als er den Treppenansatz erreichte, standen seine beiden Kinder<br />

bereits am oberen Geländer. Sie bewegten sich keinen Millimeter, ihre<br />

Blicke waren starr auf die halb geöffnete Schlafzimmertüre gerichtet.<br />

„Kinder, was ist passiert?“, rief ihnen der Vater schon von der Treppe<br />

aus zu. Und dann fügte er hinzu: „Martha …?”<br />

Oben angekommen, gab er der Tür mit der Hand einen Schubs und erst<br />

jetzt erfassten seine Augen ein solch unvorstellbar grauenvolles Bild. Sein<br />

ganzes Leben würde er diesen Anblick nicht mehr vergessen können.<br />

Die Laken lagen auf dem Boden verteilt und seine geliebte Frau lag mit<br />

starren, ausdruckslosen Augen, die an die Zimmerdecke gerichtet waren,<br />

inmitten eines roten Blutmeeres auf dem Bett.<br />

Ihr Nachthemd und die darunterliegende Haut waren genauso zerrissen,<br />

wie die Wand und die Bilder. Auch von ihrem eigentlich so wunderschönen<br />

Gesicht war kaum mehr was zu erkennen. Der Vater ließ das<br />

Gewehr fallen und sackte im Türrahmen vor Verzweiflung auf den<br />

Boden. Als er wieder aufsah, entdeckte er die mit Blut geschriebenen<br />

Worte über dem Bett:<br />

DAS IST ERST DER ANFANG!<br />

Der Brief schloss mit den Worten: „Wir wissen beide, mein geschätzter<br />

Freund Angelo, was dieses Zeichen zu bedeuten hat. Es ist nicht der<br />

Anfang, sondern das bevorstehende Ende. Die Mönche haben bereits<br />

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mit den Gebeten begonnen, und ich bitte Euch inständig, auch dieses<br />

Mal, uns Menschen zu helfen. Hochachtungsvoll Pater J.“<br />

Dieser lag noch immer geöffnet auf dem Schreibtisch vor Angelo, der<br />

aus dem Nachdenken gar nicht mehr herauszukommen schien.<br />

Konnte es wirklich sein, dass sich sein Erzfeind Viktorius, Anführer der<br />

Maltriten, nicht mehr an den festgelegten Vertrag halten wollte und<br />

tatsächlich einen neuen Versuch startete, die Erde Stück für Stück für<br />

sich selbst und seine dämonenhaften Grauflügler in Besitz zu nehmen?<br />

Seine weiteren Gedanken führten ihn unaufhaltsam an den Ort des Geschehens<br />

von damals zurück, deshalb beschloss er aufzustehen und sich<br />

ein Glas Whiskey einzufüllen. Das Glas in der Hand haltend trat Angelo<br />

jetzt an eines der großen Fenster seines sich über zwei Etagen erstreckenden<br />

Penthouse und blickte gedankenverloren über die Dächer der Stadt.<br />

Regentropfen begannen an die Scheibe zu prasseln und je mehr die<br />

Abendlichter der Stadt verschwommen, desto klarer wurden die Bilder<br />

der Erinnerung in seinem Kopf. Er sah nur allzu deutlich, wie Viktorius,<br />

als auch seine eigenen Leute und unzählige Schutzwächter, einer nach<br />

dem anderen, in diesem erbitterten Kampf ihr Leben lassen mussten.<br />

Am Ende war nichts weiter übriggeblieben als ein Feld der totalen Verwüstung,<br />

des Verlustes und des Todes.<br />

Da es Angelos Bestimmung von Anbeginn war, der Hüter über alle Elemente<br />

zu sein, verlieh er diese auch immer wieder weiter an seine ihm<br />

unterstellten Balance-Wächter.<br />

Es entwickelten sich mit der Zeit starke, geflügelte Krieger aus ihnen,<br />

ausgestattet mit der zusätzlichen Kraft eines ihnen besonders zugeteilten<br />

Elementes.<br />

Ihre Hauptaufgabe bestand darin, die Menschen vor allen dunklen Mächten<br />

zu beschützen und dafür zu sorgen, dass die Bewohner der Erde zu<br />

jeder Zeit ein normales Leben führen konnten, ohne auch nur ansatzweise<br />

jemals etwas über die wahre Existenz von ‚Gut und Böse‘ zu<br />

erfahren.<br />

Am schlimmsten traf Angelo an diesem unheilvollen Tag jedoch der<br />

Verlust von Adem.<br />

Sein langjähriger Freund und Balance-Wächter, mit der Kraft des Elementes<br />

der Erde ausgestattet, wurde bei dem direkten Versuch, eine<br />

Maltritin anzugreifen, von genau dieser in einen Feuerball eingehüllt, der<br />

wie aus dem Nichts aus ihrem Mund kam.<br />

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Die Flammen aus dem tiefsten Kern des INDEMALUMS nahmen<br />

sofort von seinem Körper Besitz und er stürzte ungebremst zu Boden.<br />

Nicht, dass dieses Schauspiel schon tragisch genug gewesen wäre, nein,<br />

Adems Sohn Ray, der sich in der Einlernphase seines Wächter-Daseins<br />

befand, musste als gerade mal Zehnjähriger mit eigenen Augen ansehen,<br />

wie sein Vater lichterloh und bei vollem Bewusstsein verbrannte. Die<br />

derzeitige Wächterin des Wassers kam zwar sofort herbeigeflogen, doch<br />

leider konnte Adem von keiner Macht dieser Welt Hilfe erhalten. Der<br />

instinktive Rettungsversuch führte sogar dazu, dass die Wächterin von<br />

vier anderen Grauflüglern angegriffen werden konnte. Mitten in der Luft<br />

wurde sie von genau diesen an Armen und Beinen gepackt und ihr<br />

Körper gnadenlos in der Mitte auseinandergerissen.<br />

Angelo hatte heute noch vor Augen, wie Ray nach diesem schockierenden<br />

Erlebnis unter Tränen in das angrenzende Waldstück verschwand,<br />

was ihm im Nachhinein betrachtet, mit hoher Wahrscheinlichkeit an<br />

diesem Tag das noch so junge Leben gerettet hatte.<br />

Außerdem spürte er den Tod seiner Balance-Wächterin klar und deutlich,<br />

denn es war üblich, dass die Elemente bei Ableben eines Wächters immer<br />

wieder zu ihm zurückkehrten.<br />

Angelo selbst spürte ihre Qualen und war somit zumindest einmal in<br />

dieser Nacht im Geiste gestorben.<br />

Körperlich hatte ihn das Schicksal verschont, denn als er sich hasserfüllt<br />

und mit blinder Wut Viktorius zuwenden wollte, um diesen ein für alle<br />

Mal auszulöschen, konnte er diesen elenden Feigling nirgendwo mehr<br />

entdecken.<br />

Beim erneuten Umblicken konnte er dafür zwischen all den Leichen,<br />

seine über alles geliebte Gefährtin Grace, die Wächterin der Luft, ausfindig<br />

machen. Sie war nur bewusstlos, und ihr Bein steckte unter einem<br />

großen Stahlrohr fest.<br />

Nachdem er sie befreit und stützend einen Arm um ihre Hüfte gelegt<br />

hatte, überkam ihn ein Gefühl von Dankbarkeit. Er würde nun doch<br />

nicht völlig alleine aus diesem grausamen und unnützen Kampf herausgehen.<br />

Um sie herum war alles ganz still, und die vereinzelten Flammen der in<br />

Brand gesteckten Häuser und Bäume verhinderten eine totale Finsternis.<br />

Doch für Angelo konnte diese Nacht nicht schwärzer sein, denn einige<br />

der Menschen, denen er Schutz angeboten hatte, wollten trotz der<br />

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Warnung der Mönche, weder ihre Häuser noch die Stadt rechtzeitig<br />

verlassen. Ihr tiefer Glaube an das Gute veranlasste sie zu bleiben. Sie<br />

wollten die Balance-Wächter, die sie wie wahrhaftige Helden verehrten,<br />

mit ihren eigenen Augen sehen, und wenn möglich, gegen das Böse<br />

unterstützen, nur um kurz darauf im Kampf durch maltritische Hand<br />

sterben müssen.<br />

Gerade als Angelo mit Grace den Ort in die dichten Verzweigungen des<br />

Waldes verlassen wollte, hörten sie ein klägliches Weinen.<br />

Da Grace kaum in der Lage war, sich selbst auf den Beinen zu halten,<br />

beschloss Angelo, noch einmal allein zurückzulaufen, um sich zu vergewissern,<br />

dass er nichts übersehen hatte. Schon gar nicht einen dieser elenden<br />

Grauflügler, die imstande waren, einem wer weiß was vorzugaukeln.<br />

Das Weinen, das nur mehr ein Wimmern zu sein schien, kam aus einem<br />

der Häuser, das äußerlich kaum Spuren davongetragen hatte. In dessen<br />

Inneren sah es jedoch so aus, als wäre ein Tornado hindurchgefegt.<br />

Nur mit viel Mühe gelang es Angelo durch umgestürzte Möbel, wie<br />

Schränke, Tische und Stühle, bis an das letzte der vielen Zimmer vorzudringen.<br />

Dort angekommen, musste er zunächst einen ganzen Stützbalken wieder<br />

in aufrechte Position bringen, um überhaupt die Türe öffnen zu können.<br />

Sein Blick schweifte durch den Raum.<br />

Der durch das Fenster einfallende Mondschein half ihm dabei, sich ein<br />

wenig besser orientieren zu können.<br />

Als er weiter eintrat, sah er an der rechten Wandseite eine Wiege stehen.<br />

Angelo schloss die Augen und atmete tief durch.<br />

Er fragte sich, ob es noch etwas gäbe, das diese Nacht an Grausamkeiten<br />

überbieten könne.<br />

‚Wenn es sich hierbei um ein Menschenkind und keinen Maltriten handelt‘,<br />

dachte er, ‚dann werde ich es trotzdem töten müssen. Erstens hat<br />

es keine Eltern mehr, die es großziehen können und zweitens könnte es<br />

von Viktorius selbst oder einem seiner Grauflügler mit einer bösen<br />

Macht infiziert und absichtlich zurückgelassen worden sein.<br />

Nach einiger Zeit trat Angelo näher an die Wiege heran und zwang sich,<br />

einen Blick hineinzuwerfen.<br />

Eine gefühlte Ewigkeit blickte er auf das Baby, welches ihn ebenfalls mit<br />

großen Augen anschaute.<br />

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Die kleinen Händchen bewegten sich oberhalb der weißen Seidendecke<br />

auf und ab und die Füßchen strampelten synchron darunter. Die mit rosa<br />

Schleifen verzierte Umrandung ließ Angelo zu dem Schluss kommen,<br />

dass es sich bei diesem Kind, mit den dunklen Haaren auf dem Köpfchen,<br />

um ein Mädchen handeln musste. „Welch ein zerbrechliches<br />

kleines Wesen du doch bist”, flüsterte er leise vor sich hin.<br />

Nur allzu gern hätte er es berührt oder sofort in seine Arme genommen,<br />

doch er wusste, dass er dieses Wagnis in gar keinem Fall eingehen durfte.<br />

Ihr fröhliches Lächeln machte es Angelo nicht gerade leichter, wenn er<br />

daran dachte, was mit ihr geschehen werde.<br />

‚Dieses Mädchen wird gleich nichts mehr von dem süßen Leben in sich<br />

spüren, welches eigentlich da draußen auf sie gewartet hätte. Das Leid<br />

und die Schattenseiten der Welt werden ihr aber auch niemals bekannt<br />

sein und somit für immer erspart bleiben‘, sinnierte er.<br />

Von tiefem Schmerz erfüllt legte Angelo seine Hand auf die Brust des<br />

Kindes.<br />

Seinen Blick wendete er ab, er wollte es nicht sehen.<br />

Sollte das Indemalum das Kind bereits infiziert haben, würde gleich die<br />

gesamte Kraft des Wassers durch ihren kleinen Körper fließen und<br />

gemeinsam mit dem Bösen ihn in tausend Stücke reißen. Bei diesem Gedanken<br />

lief Angelo eine Träne über die Wange, denn er war eigentlich<br />

kein skrupelloser Mörder.<br />

Gleichzeitig konnte er in seiner Hand das schnelle und aufgeregte Pochen<br />

des kleinen Herzens fühlen.<br />

Jetzt war er in gewisser Hinsicht froh, dass er genau dieses Element dafür<br />

einsetzen konnte, denn das Wasser stand für absolute Reinheit und nur<br />

diese Art von Erlösung, sollte dem unschuldigen Mädchen zuteilwerden.<br />

Mit gesenkten Augen, der Wiege abgewandt, sprach Angelo mit stockender<br />

Stimme die alten Worte: „Femina cor ona ego dare aquaum.”<br />

Im selben Moment spürte und sah er die Kraft des Elementes.<br />

In seinem Herzen begann diese in ihrer von je her zugeordneten Farbe<br />

zu leuchten. Das blaue Wasser jagte regelrecht durch die Adern über<br />

seine Brust, den linken Arm hinab, bis in seine dem Kind aufgelegte<br />

Handfläche.<br />

Erst als das strömende Gefühl versiegte und das Leuchten erlosch,<br />

wusste Angelo, dass es vollbracht war.<br />

Mit fest zusammengekniffenen Augen wartete er auf die Reaktion, einen<br />

Knall oder ähnliches, damit das Grauen ihn endlich da hatte, wo es den<br />

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Hüter der Elemente schon immer haben wollte – nämlich auf seinen<br />

Knien.<br />

Er war ein von Viktorius und dessen dunklen Gefolge gefürchteter, doch<br />

im Glauben gebrochener Mann, dessen Grundmauern erschüttert, wenn<br />

nicht sogar zum völligen Einsturz gebracht worden waren.<br />

Schachmatt!<br />

Statt des erwarteten Geräusches hörte Angelo plötzlich ein aufeinanderfolgendes<br />

Hicksen und irgendetwas umklammerte zusätzlich seinen<br />

Daumen. Er bemerkte, dass es die Händchen des Mädchens waren. Die<br />

gerade eingeflößte Wassermenge schien nichts weiter als einen schlimmen<br />

Schluckauf in ihr hervorgerufen zu haben.<br />

Angelo wusste nicht so recht, wie er mit der neuen Situation umgehen<br />

sollte. Erstens hätte diese Kleine nicht mehr daliegen dürfen, zweitens<br />

steckte nun die geballte Kraft des Wassers in ihr, was drittens wiederum<br />

unmöglich schien, da sie ein Menschenkind war.<br />

Viel Zeit zum Grübeln blieb ihm aber nicht, denn die Decke des Zimmers<br />

knackste und knarrte und der Putz rieselte sowohl auf Angelos<br />

Kopf, als auch auf die Wiege herab.<br />

„Ach, was soll’s”, hörte er sich selbst, nach all den Jahren, klar und<br />

deutlich sagen.<br />

Mit dem Whiskey-Glas in der Hand, noch immer vor dem Fenster<br />

stehend, kehrte er langsam aber sicher aus seinen Erinnerungen zurück.<br />

Angelos Ohr vernahm nun das Schwingen von großen, schweren Flügeln<br />

und kurz darauf folgte das bekannte Landungsgeräusch. Ein kurzer Blick<br />

in den oberen Bereich seines Penthouses bestätigte ihm die Anwesenheit<br />

eines Balance-Wächters.<br />

„Oh bitte, Dad! Du hast doch Mum und mir hoch und heilig versprochen,<br />

dass du die Finger von diesem Teufelszeug lässt.”<br />

„Jack, ich finde es auch schön, dich zu sehen”, antwortet Angelo entnervt<br />

seinem Sohn, dem amtierenden Wächter des Eises. Dieser kam gerade<br />

durch eine sich bei Elementerkennung automatisch öffnende Dachluke,<br />

im wahrsten Sinne des Wortes, hereingeschneit. „Mum sagte mir, dass<br />

du mich in einer dringenden Angelegenheit sprechen möchtest. Was soll<br />

ich sagen, hier bin ich, trotz des Sauwetters. Eigentlich wäre ich auf einer<br />

angesagten Party mit vielen heißen Frauen und …”<br />

„Wir haben ein ernstzunehmendes Problem. Wenn du also so freundlich<br />

wärst und mich heute Abend ausnahmsweise mal mit deinen Sprüchen<br />

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verschonen würdest. Ich wäre dir wirklich sehr dankbar”, unterbrach<br />

Angelo Jack, der gerade dabei war, seine Flügel in den Hautöffnungen<br />

der Schulterblätter verschwinden zu lassen. Es ist sehr praktisch, denn<br />

so können sich die Wächter wie ganz normale Leute unter den Menschen<br />

bewegen. Einziger Nachteil besteht darin, dass in Kleidung, an genau<br />

diesen Stellen, immer kaum sichtbare Einschnitte gemacht werden müssen.<br />

Egal ob bei Shirts, Hemden, Pullovern oder Anzügen.<br />

Jack tat es sichtlich weh, dass er diese Prozedur sogar seiner nagelneuen<br />

Saint Lauren Lederjacke antun musste, aber es führte nun mal kein Weg<br />

daran vorbei.<br />

Lässig stieg er die Stufen der Wendeltreppe hinab und stellte sich direkt<br />

neben seinen Vater ans Fenster. „Was ist denn passiert? Also, falls dir<br />

wieder so ein graugeflügeltes ‚Etwas‘ Kopfschmerzen bereitet, dann<br />

mache ich mich auf den Weg und erledige die Sache für dich. Kurz,<br />

schnell und sauber. Wie immer.”<br />

Angelo nahm einen Schluck von seinem Whiskey. Das Eis darin war<br />

schon längst geschmolzen.<br />

„Wenn die Sache nur so einfach wäre. Bist du vielleicht so freundlich?”<br />

Jack verstand und nach nur einem Handwisch über das Glas befanden<br />

sich zwei exakt geformte Eiswürfel darin.<br />

Angelo nickte dankend, dann fuhr er fort: „Erinnerst du dich an die<br />

Geschichte, die ich Jara und dir erzählt habe, als ihr noch Kinder wart?<br />

Viele Abende verbrachten wir am Strand. Die Wellen rauschten, der<br />

Wind wehte uns sanft ins Gesicht und die langsam untergehende Sonne<br />

tauchte den Himmel in leuchtende, warme Farben. Bis das Lagerfeuer<br />

brannte, spielten du und deine Schwester unentwegt Fangen. Euer ausgelassenes<br />

Lachen erklingt noch heute wie eine wunderschöne Melodie<br />

in meinen Ohren.”<br />

Jack betrachtete seinen Vater von der Seite, denn immer, wenn er in<br />

dieser speziellen Art zu reden begann, schien ihm etwas sehr wichtig zu<br />

sein und viel zu bedeuten.<br />

„Ja, ich erinnere mich. Auch an das Fangspiel, denn darin war ich grundsätzlich<br />

besser als Jara. Ich hatte sie meist bereits nach dem Anlaufen<br />

eingefangen, während sie eine gefühlte Ewigkeit brauchte, um mich zu<br />

erwischen.”<br />

Angelo musste schmunzeln. „Das stimmt. Aber Jara ist niemals müde<br />

geworden, dir hinterherzulaufen, und hat es solange nicht aufgegeben,<br />

bis sie es letzten Endes doch irgendwie geschafft hatte. Obwohl euch ein<br />

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Geschlechterunterschied und vier Jahre trennen, habt ihr den größten<br />

Teil eurer Zeit zusammen verbracht. In dir hat Jara schon sehr früh ein<br />

Vorbild und etwas Besonderes gesehen. Ist sie gefallen, warst du meist<br />

als Erster zur Stelle, um sie wieder aufzuheben. Du hast ihr die Tränen<br />

selbst mit schmutzigen Händen aus dem Gesicht gewischt und sie durch<br />

deine Faxen schnell wieder zum Lachen gebracht.”<br />

Jack grinste, als er sich vom Fenster in Richtung der Zimmerbar bewegte.<br />

Statt nach einer der alkoholhaltigen Flaschen zu greifen, öffnete er eine<br />

danebenliegende Klappe, worin sich unter anderem das Kühlfach befand.<br />

Daraus schnappte er sich eine Dose Cola und ließ sich damit auf<br />

dem großen braunen Ledersofa nieder.<br />

„Das, was du da erzählst, ist alles richtig und auch sehr schön gewesen,<br />

doch ich kann mir nicht vorstellen, dass du mich deswegen so dringend<br />

sprechen wolltest, nur um mit mir in Erinnerungen zu schwelgen … oder<br />

etwa doch?”<br />

„Du hast recht. Darum bist du nicht hier”, antwortete Angelo, der sich<br />

ebenfalls vom Fenster abgewandt hatte. „Du bist hier, weil ich deine<br />

Hilfe brauche. Nicht nur deine, sondern die von allen Balance-Wächtern.<br />

In meiner Geschichte habe ich euch oft von Feuer, Wasser, Luft, Erde<br />

und Eis erzählt. Wie sie die Erde am Leben erhalten, und dass es ohne<br />

diese Elemente nur ein kalter und grausamer Ort wäre. Nur mehr der<br />

Mann mit dem Tor zum Indemalum, in seinen ansonsten so toten Augen,<br />

würde dann über alles der alleinige Herrscher sein.”<br />

„Den Teil fand ich immer toll und furchteinflößend zugleich. Na ja,<br />

mittlerweile weiß ich zum Glück, dass du damit einfach die Maltriten und<br />

Grauflügler in einer Person zusammengefasst hast. Das war brillant<br />

ausgedacht, Dad. Ich werde das hoffentlich einmal meinen eigenen Kindern<br />

mit so einer energiegeladenen Spannung weitererzählen können.”<br />

Mit auf dem Rücken verschränkten Armen ging Angelo im Raum auf<br />

und ab. Er wusste, dass irgendwann der Tag der Wahrheit kommen<br />

würde, aber er hoffte, dass es nicht so bald passieren würde.<br />

Heute war der Tag gekommen, und ihm bleibt keine andere Wahl mehr.<br />

„Jack, diesen Mann gibt es wirklich. Er trägt die Schuld an allen Vorkommnissen.<br />

Er setzt diese Brut in die Welt und terrorisiert seit Anbeginn<br />

der Zeit die Menschen. Er will sie auslöschen und die Erde für sich<br />

und sein Gefolge einnehmen. Er allein ist dafür verantwortlich, dass<br />

deine Mutter schon seit zwei Jahrzehnten hinken muss, und er hat Adem<br />

auf dem Gewissen, meinen bisher treuesten Freund. An seinen Händen<br />

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klebt das Blut von Vielen und jetzt ist er zurückgekehrt, um noch einmal<br />

zu versuchen, was ihm beinahe schon gelungen wäre.” Jack stand vor<br />

Entsetzen der Mund weit offen und sein Körper saß wie eine versteinerte<br />

Statue auf dem Sofa.<br />

Angelo war vor ihm zum Stehen gekommen.<br />

„Du bist hier, weil du dich ab jetzt für einen noch größeren Kampf<br />

bereitmachen musst. Wir brauchen alle Elemente, denn nur vereint<br />

haben wir eine Chance, das aufkommende Indemalum in seinen Kern<br />

zurückzudrängen und hoffentlich ein für alle Mal darin einschließen zu<br />

können. Wir haben uns lange Zeit in Sicherheit gewiegt, vielleicht ein<br />

wenig zu sehr, aber das heißt nicht, dass wir nicht imstande sind, wieder<br />

die Allianz zu bilden, die wir schon immer waren. Die ganze letzte Nacht<br />

über versuche ich schon die Balance-Wächter zusammenzustellen. Da<br />

bist zum einen du mit der Kraft des Eises, deine Mutter mit der Kraft<br />

der Luft und Ray, mit der Kraft des Feuers.”<br />

„Dann fehlen also nur noch Wasser und Erde, wenn ich dich richtig<br />

verstanden habe”, antwortete Jack, der langsam seine Fassung zurückerlangte<br />

und wieder imstande war, von seiner Cola zu trinken.<br />

„Also die Sache ist die, es stimmt tatsächlich, dass mir das Erdelement<br />

fehlt. Mit Fehlen meine ich keine Person, der ich es als Wächter abgetreten<br />

hätte oder abtreten könnte, nein, ich meine damit dass es mir<br />

komplett fehlt. Adem ist der Letzte gewesen, dem ich es überlassen hatte,<br />

nur anscheinend ist die Kraft selbst nach seinem Tod nicht wieder zu mir<br />

zurückgekehrt. Ich grübele schon seit Jahren, wie das überhaupt sein<br />

kann. Das Wasserelement, nun – wie soll ich es dir am besten sagen? Ich<br />

fasse mich jetzt einfach mal kurz: Die Kraft des Wassers besitzt Jara.”<br />

Den Schluck, den Jack gerade zu sich nahm, spuckte er in hohem Bogen<br />

aus, so sehr hatte ihn der letzte Satz seines Vaters in Aufruhr versetzt.<br />

„Wie bitte? Das ist unmöglich! Das kann nicht sein!”<br />

„Ich weiß, das ist jetzt viel und bestimmt auch nicht leicht zu verstehen,<br />

doch bitte lass es mich erklären”, entgegnete Angelo, mit einer in Richtung<br />

Boden führenden Handbewegung, seinem aufgebrachten Sohn, damit<br />

dieser sich doch bitte etwas beruhigen soll.<br />

„Ich weiß nicht, was es da noch groß zu erklären gibt. Ich dachte all die<br />

Zeit, dass meine kleine Schwester ein Versuch von euch war, wenigstens<br />

ein Kind, ohne die Kraft eines Elementes, aufwachsen zu sehen, auch<br />

wenn du für mich vier Jahre zuvor bereits beschlossen hattest, dass ich<br />

einmal das Familienerbe antreten werde. Ich habe dich und Mum die<br />

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ganze Zeit über bei eurer ‚Heilen Welt-Aufrechterhaltung‘ unterstützt<br />

und jetzt erfahre ich so ganz nebenbei, dass alles inszeniert, wenn nicht<br />

sogar erstunken und erlogen war. Ach, und nicht zu vergessen, Jack,<br />

verstecke immer deine Kräfte vor Jara so gut es geht, sie ist zwar die<br />

Wächterin des Wassers, aber das musst du unbedingt vor ihr geheimhalten.<br />

Tut mir leid, Dad, aber das ist wirklich zu viel! Wenn es die<br />

Wahrheit ist, was hast du dir dabei gedacht? Warum hast du sie mir als<br />

ganz gewöhnliches Kind präsentiert? Oh warte, bitte sag mir zur<br />

Krönung nicht auch noch, dass du etwas mit einer anderen Frau hattest<br />

und du deine daraus hervorgegangene Tochter Jara dann wie ein Kuckuckskind<br />

in unsere Familie eingeschleust hast!”<br />

In seinem vor Unverständnis nur so strotzendem Zorn war Jack aufgestanden<br />

und direkt vor seinen Vater getreten.<br />

Angelo, der sonst immer die Ruhe selbst war, konnte weder den Blick in<br />

den Augen seines Sohnes ertragen, noch die Worte, die dieser ihm entgegengebracht<br />

hatte.<br />

Zum ersten Mal in seinem Leben erhielt Jack von ihm eine gewaltige<br />

Ohrfeige.<br />

Angelos Gesichtszüge verrieten, dass er selbst mehr als Jack unter der<br />

Ohrfeige litt.<br />

„Sprich nicht weiter! Hörst du! Ich würde Grace nicht betrügen. Niemals!<br />

Eher sterbe ich, als ihr so etwas anzutun.”<br />

„Es tut mir leid, Dad”, war alles, was Jack in diesem Moment hervorbringen<br />

konnte.<br />

Mit gesenktem Haupt setzte er sich wieder auf das Sofa und ließ sich<br />

nach hinten fallen.<br />

Da Angelo genau wusste, dass es jetzt an der Zeit war, Rede und Antwort<br />

zu stehen, erzählte er seinem Sohn in aller Ruhe, wie sich alles zugetragen<br />

hatte.<br />

Eine Sache verstand Jack am Ende trotzdem nicht, sodass er fragte:<br />

„Und wieso kam Jara dann noch niemals von der Insel runter, beziehungsweise<br />

warum hast du sie nicht gelehrt, mit ihrer Kraft umzugehen,<br />

wie du es bei mir getan hast? Wie soll uns dieser Umstand jetzt helfen<br />

können? Weiß Mum davon, und hat sie das all die Jahre über für gutgeheißen?”<br />

„Eins nach dem anderen. Ich war noch nicht ganz fertig”, bremste<br />

Angelo die wilde Fragerei. „Also das Haus ist nach mir komplett in sich<br />

zusammengefallen. Nur mit Mühe und Not schaffte ich es gerade noch<br />

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echtzeitig, mit deiner Schwester auf dem Arm, da rauszukommen.<br />

Deine Mutter wartete bereits voller Sorge an genau der Stelle, an der ich<br />

sie zurückgelassen hatte. Und um gleich mal eine deiner Fragen zu<br />

beantworten, nein, sie war keines Wegs begeistert oder hat es für gutgeheißen.<br />

Im Gegenteil, sie ermahnte mich sofort, dass ich doch wüsste,<br />

was zu tun gewesen wäre. Darauf entschloss ich mich, ihr das in eine<br />

Seidendecke eingewickelte Baby einfach in die Arme zu drücken. Mit<br />

großen entsetzten Augen sah mich deine Mutter an, doch meine Worte<br />

hätten niemals ausgereicht, um ihr verständlich erklären zu können,<br />

warum ich nicht in der Lage gewesen war, mich an die üblichen Vorgehensweisen<br />

zu halten. Grace funkelte mich weiter böse an, doch als<br />

das Bündel wieder zu hicksen begann, wagte Grace einen vorsichtigen<br />

Blick in die Decke hinein. Die wütenden Stirnfalten verschwanden eine<br />

nach der anderen, und das folgende Lächeln reichte deiner Mutter bis<br />

über beide Ohren. Das letzte Mal hatte ich dieses unendliche Strahlen,<br />

das ganz tief aus ihrem Inneren zu kommen scheint, bei deiner Geburt<br />

auf ihrem Gesicht gesehen. Als ich ihr nach kurzer Zeit Recht gab und<br />

sie mir das Mädchen hätte zurückgeben sollen, damit ich die Sache bis<br />

zum Ende hätte erledigen können, hätte sie plötzlich, so sehr sie mich<br />

auch liebt, eher mich getötet. Deine Mutter ist mit deiner Schwester auf<br />

dem Arm losmarschiert, obwohl sie selbst kaum laufen konnte. Ich blieb<br />

direkt hinter den beiden, damit nicht von irgendwoher doch noch Gefahr<br />

lauern konnte. Die Worte ‚Nein, nein, mein kleiner Schatz, der böse<br />

Mann wird dir nichts tun, da brauchst du überhaupt keine Angst haben,<br />

mein kleiner Schmetterling‘, die deine Mum damals an Jara richtete,<br />

konnte ich allerdings ziemlich genau verstehen und ich glaube, das war<br />

auch so beabsichtigt. Den Rest der Geschichte kennst du, denn von<br />

diesem Tag an waren und sind wir vier eine Familie.”<br />

Jack hörte seinem Vater ohne zu antworten zu, denn sein Kopf war<br />

damit beschäftigt, die neuen Informationen aufzunehmen. Er war gerade<br />

mal vier Jahre alt, als Jara von seinen Eltern mit in die Familie gebracht<br />

wurde.<br />

Fragen, wie zum Beispiel, wo kommt die denn plötzlich her und so<br />

weiter, hätte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht gestellt, denn meist<br />

hatten die Erwachsenen so oder so in allen Punkten recht. Außerdem<br />

liebte er Jara von Anfang an, und nun änderte sich nicht das Geringste<br />

an seinen Gefühlen zu ihr, als er die Wahrheit erfuhr, dass sie gar nicht<br />

seine leibliche Schwester sei.<br />

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Jetzt berichtete ihm Angelo noch von Pater Janus’ Brief und dass<br />

schnelles Handeln jetzt das ‚A und O‘ sein wird. „Jack du musst deine<br />

Schwester davon überzeugen, die Insel zu verlassen und dann kommst<br />

du zusammen mit ihr und deiner Mutter wieder hierher zu mir. Ich werde<br />

mich in der Zwischenzeit auf die Suche nach dem fehlenden Element<br />

der Erde machen. Wenn Jara dann soweit ist, wird sie Ray zu uns<br />

zurückbringen und … ”<br />

„Ray? Du willst Jara zu diesem Egoisten schicken, und dann soll sie<br />

womöglich auf die Knie gehen, damit der feine Herr sich hierher bequemt?<br />

Nichts da, das kann ich regeln, ich werde in seiner Pizzeria<br />

vorbeischauen und ihm mal gehörig den Kopf waschen. Dem bleibt<br />

dann gar keine andere Wahl mehr als … ”<br />

Angelo legte eine Hand auf Jacks Schulter. „Nein, das wirst du nicht tun.<br />

Das ist nicht deine Aufgabe, und so wie ich dich und Ray kenne, wird<br />

daraus nur wieder das reinste Chaos entstehen. Ich erwarte von ihm, dass<br />

er aus voller Überzeugung heraus der Wächter des Feuers sein will, und<br />

nicht, weil er sich dazu gezwungen fühlt.“<br />

„Ich hoffe, du weißt, was du da tust”, waren die letzten Worte, die Jack<br />

an seinen Vater richtete, ehe er die Wendeltreppe nach oben ging, seine<br />

Flügel ausbreitete und sich durch die Luke in den sternenklaren<br />

Nachthimmel erhob.<br />

„Das hoffe ich auch mein Sohn, das hoffe ich.”<br />

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Auf zu neuen Ufern<br />

Auf der Erde gibt es unzählige Inseln. Viele davon sind groß, andere<br />

wiederum ganz klein und die meisten davon liegen mitten im Zentrum<br />

eines großen Meeres. Da fast alle schon bewohnt waren, beschloss<br />

Angelo sich eine neue zu erschaffen.<br />

Nur wenige Monate nach den tragischen Erlebnissen ließ er eine eigene<br />

kleine Insel im zweitgrößten Weltmeer, dem Atlantischen Ozean, für sich<br />

und seine Familie anlegen.<br />

Das Klima hier auf Corondall Island war nahezu perfekt, denn die hohe<br />

Luftfeuchtigkeit tat in erster Linie der Gesundheit gut. Einer von vielen<br />

Gründen, warum sich Angelo zusammen mit Grace für solch ein Leben<br />

entschieden hatte.<br />

Jara und Jack kannten, seit Kindheit an, keinen klassischen Schnupfen<br />

und ein grippaler Infekt war somit auch völlig ausgeschlossen gewesen.<br />

Gerade nach der tragischen Zeit war den Eltern hier im Großen und<br />

Ganzen sehr viel Positives widerfahren. Grace konnte ihre Mutterrolle<br />

ausleben und in vollen Zügen genießen.<br />

Nebenbei konnte sie sich selbst von den Gedanken an die Nacht und<br />

von ihrer dort herrührenden Verletzung erholen.<br />

Angelo war bis zum heutigen Tag der stolze Mann und Vater, der es<br />

geschafft hatte, seiner Familie ein beständiges Leben zu ermöglichen.<br />

An alles hatte er damals gedacht.<br />

Ein schönes, modernes Haus, in dem sie lebten, und mehrere kleinere<br />

Häuser, auf der gesamten Insel verteilt, in denen von ihm persönlich<br />

ausgewählte Menschen einziehen durften, hatte er geschaffen. Viele sehr<br />

arme Leute brachte er aus Atlanta mit hierher. Sie mussten allerdings ein<br />

gutes Wesen und eine reine Seele haben. Das war die einzige Bedingung,<br />

die er an sie stellte.<br />

Durch Reichen der linken, anstatt, wie gebräuchlich, der rechten Hand<br />

zu einer Begrüßung, konnte Angelo die Seele der Menschen zumindest<br />

einschätzen.<br />

Wenn es bei einem ganz normalen Händedruck bleibt, dann ist alles in<br />

bester Ordnung. Sollte sich jedoch auch nur eine der fünf Elementfarben<br />

in seiner Handfläche zu erkennen geben, dann hatte diese Person in<br />

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ihrem Leben, zu irgendeinem Zeitpunkt, etwas verbotenes, wenn nicht<br />

sogar abgrundtief Böses getan.<br />

Da die meisten Inselbewohner vor dem Abrutschen in die Armut ganz<br />

normalen Berufen nachgegangen waren, füllte sich Corondall Island<br />

nach und nach mit den wichtigsten Anlaufstellen, die es für ein einigermaßen<br />

zivilisiertes Leben braucht. Bauern, Bäcker, Metzger, drei Ärzte –<br />

einer für die Erwachsenen, einer für die Kinder und einer für die Tiere,<br />

ein mittelgroßer Drogeriemarkt und ganz neu – eine eigene kleine Boutique.<br />

Auf Letztes hatte Grace bestanden, denn auch, wenn sie sich bislang<br />

immer um die Kleidung ihrer Tochter gekümmert hatte, würde diese<br />

sich bestimmt auch mal gerne selbst das ein oder andere Teil aussuchen<br />

wollen.<br />

Die Bezahlung war zum Glück ziemlich einfach gehalten. Da Angelo und<br />

Grace es sich als oberstes Ziel gesetzt hatten, ihre Kinder fernab von<br />

weltlichem Übel großzuziehen, beschlossen sie, auf des Menschen wohl<br />

größtes Laster, das Geld, gänzlich zu verzichten.<br />

In der Stadt und auf den Konten hatten sie mehr als genug davon, was<br />

gewährleistete, lebensnotwendige Dinge nach Corondall Island liefern zu<br />

lassen.<br />

Diese Aufgabe übernahm ein Frachtschiff, das nur einmal pro Monat<br />

knapp vor der Insel anlegte.<br />

Auf einen Hubschrauberlandeplatz verzichtete Angelo.<br />

Auch wenn benötigte Materialien und Vorräte schon längst bezahlt<br />

waren, ehe sie ihr Ziel erreichten, wollten Angelo und Grace, von Anfang<br />

an, dass Jara und Jack lernen, dass man nicht alles im Leben umsonst<br />

haben kann.<br />

Für vieles arbeiteten die Menschen hart und man musste es sich immer<br />

erst verdienen, beziehungsweise leisten können.<br />

Genau wie Grace damals der ‚Familienname‘ für die Insel in den Kopf<br />

geschossen kam, genauso schnell hatte sie die Idee mit dem ‚Wert der<br />

Muscheln‘, als neue Bezahlung.<br />

Eigentlich sollte jedem diese Denkweise naiv, wenn nicht sogar etwas<br />

lächerlich erscheinen, doch Angelo liebte seine Frau und Gefährtin und<br />

bewunderte sie für ihre Hingabe zur Natur und für ihre selbstlose Art,<br />

sich nicht von festgefahrenen Vorgaben im Leben beeindrucken zu<br />

lassen.<br />

Die Kinder mussten folglich Stunden damit verbringen, die am Strand<br />

angespülten Muscheln einzusammeln. Zuhause wurden diese dann von<br />

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Meeresablagerungen und feinem Sand gesäubert. Hatten sie dies gemacht,<br />

so konnten sie sich ‚kaufen‘ was immer ihr Herz begehrte.<br />

Am allerliebsten entschieden sich die beiden für vorgefertigte Tütchen<br />

mit leckeren Naschereien. Davon gab es pro Monat gerade mal vier<br />

Stück, zum Greifen nahe, ausgestellt im Schaufenster des kleinen Bäckers.<br />

Angelo hielt es für das Beste, die Menge der Süßigkeiten so gering<br />

wie möglich zu halten, denn abgesehen davon, dass Grace das Zeug nicht<br />

als gesund empfand, hätte er über kurz oder lang einen Zahnarzt finden<br />

müssen, der bereit dazu gewesen wäre, sich, bis an sein Lebensende, auf<br />

der Insel aufzuhalten.<br />

Das Sammeln der Muscheln gestaltete sich auch gar nicht so leicht, wie<br />

man zunächst vielleicht annahm. Tausende wurden zwar mit nur einer<br />

einzigen Welle angespült, doch fast genau die gleiche Anzahl wurde mit<br />

dieser wieder in die schier unendlich wirkende Weite des großen Meeres<br />

hinausgezogen.<br />

Die auf Corondall Island festgelegten Preise waren der realen Welt eher<br />

wenig bis gar nicht angepasst.<br />

Nur eine von den besagten Tütchen zum Beispiel kostete hundert Muscheln.<br />

Kleidung und Sonstiges bewegte sich sogar in tausender Bereichen,<br />

denn weder Jack noch Jara sollten sich in der Lage fühlen, die verschiedenen<br />

Dinge ohne die elterliche Erlaubnis besorgen zu können.<br />

Da Jack der Größere und somit schneller im Einsammeln war, bekam er<br />

meist drei von den heißersehnten Tüten ab und Jara nur eine. Die<br />

Muscheln von seiner Schwester konnte er aber in Sachen Sauberkeit und<br />

Glanz meist nie übertreffen.<br />

Jack hatte nicht die Geduld, um stundenlang dazusitzen und mit einem<br />

kleinen Pinsel alles lupenrein zu putzen.<br />

Eines Tages kam es dann aber dazu, dass die Kinder ihren ganz eigenen<br />

Weg fanden, um dieses Problem aus der Welt, beziehungsweise von der<br />

Insel, zu schaffen.<br />

Sie entschieden, dass Jack von nun an nur die Muscheln sammeln und<br />

Jara sie anschließend säubern sollte.<br />

Wenn diese Prozedur, bis vierhundert Stück, geschafft war, lief er los und<br />

kaufte alle Tütchen auf einmal. Stolz überreichte Jack seiner Schwester<br />

dann ihren wohlverdienten Anteil. Jeder erhielt zwei. Angelo empfand<br />

diesen Zusammenschluss zu einer Art ‚Kleinunternehmen mit geteiltem<br />

Gewinn‘ seiner Kinder mehr als löblich.<br />

23


Desto mehr tat ihm der Tag weh, an dem er Jack mit in die Stadt nehmen<br />

und ihn abrupt aus seiner heilen Kinderwelt herausreißen musste. Mit<br />

neuneinhalb Jahren begann die Kraft des Eises, die durch seine jungen<br />

Adern floss, größer zu werden und sich mehr und mehr an die Oberfläche<br />

zu drängen.<br />

Er hatte das Element am Tag seiner Geburt, von seinem Vater als erster<br />

Nachkomme der Corondalls, quasi gleich mit vererbt bekommen.<br />

Als Jack Jara eines Nachmittags nachgelaufen war, weil sie ihn geneckt<br />

hatte, packte er sie an den Armen und wollte sie, wie so oft, mit sich auf<br />

den Boden fallen lassen. Meist kugelten sich die beiden dann eine ganze<br />

Weile, ehe sie erschöpft nebeneinander lagen und lachend nach Luft<br />

rangen.<br />

Dieses Mal war es völlig anders gewesen.<br />

Genau in dem Moment, als Jack seine Schwester unter sich hatte, wurden<br />

seine Hände durch die Anstrengung eiskalt und die Handflächen<br />

leuchteten in sehr hellem Blau auf. Der, durch die Kälte hervorgerufene,<br />

Schmerz schoss in Jaras Nervenbahn und sie krümmte sich, als hätte sie<br />

einen schweren Anfall erlitten, unter dem Körper ihres Bruders.<br />

Grace, die das Schreien bis ins Haus hören konnte, eilte so schnell wie<br />

möglich nach draußen. Beim Anblick ihrer Kinder wäre ihr beinahe das<br />

Herz stehengeblieben, doch sie handelte instinktiv und hob ihre rechte<br />

Hand. Mit einem, wie aus dem Nichts hervorgerufenen, Windstoß gelang<br />

es ihr, Jack von seiner Schwester zu lösen und diesen hoch in der Luft<br />

schweben zu lassen.<br />

Völlig unter Schock verlor Jara noch in dieser Sekunde das Bewusstsein.<br />

Als Jack von seiner Mutter wieder sanft auf dem Boden abgesetzt wurde,<br />

sackte er auf seine Knie, schlug die Hände vor das Gesicht und brach in<br />

bittere Tränen aus. Er verstand einfach nicht, was da gerade geschehen<br />

war, denn das Letzte, was er jemals tun wollte, war, seiner Schwester<br />

ernsthaft wehzutun.<br />

„Ist sie meinetwegen tot?”, hörte Grace ihn noch oft in ihrer Erinnerung<br />

fragen.<br />

Als Angelo zurück auf die Insel kam, wurde ihm, von seiner Frau, alles<br />

bis ins kleinste Detail erzählt. Er konnte zunächst nichts weiter tun, als<br />

stumm dazusitzen und zuzuhören.<br />

Plötzlich erhob er sich, küsste Grace die Stirn und begab sich in das<br />

Kinderzimmer von Jara.<br />

24


Der sanfte Abendwind wehte durch das offene Fenster und ließ den<br />

Stoff des weißen Vorhangs fast schwerelos auf- und abschweben. Als<br />

Angelo sich zu seiner kleinen fünfjährigen Tochter aufs Bett setzte,<br />

prüfte er zunächst ihre Temperatur. Alles war bestens.<br />

Dann legte er die Handfläche auf ihre Brust, um ihren Herzschlag fühlen<br />

zu können. Ein wenig schnell, aber das lag gewiss mehr an Jaras Schock,<br />

als an der Kraft des Eises.<br />

Liebevoll drückte er ihr einen Kuss auf die Wange, dann stand er auf,<br />

und nachdem er Jaras Zimmer verlassen hatte, öffnete er die gegenüberliegende<br />

Türe, um auch nach Jack zu sehen.<br />

Allerdings konnte er seinen Sohn nirgendwo finden.<br />

Erst ein leises Schluchzen brachte den Vater auf die richtige Spur.<br />

Angelo ging zum Kleiderschrank und zog die zwei Holztüren nach<br />

beiden Seiten auf. Er fand Jack, zusammengekrümmt in der hinteren<br />

Ecke sitzend, immer noch bitterlich am Weinen. Mit beiden Armen hob<br />

er seinen Sohn aus dem Versteck und schloss ihn ganz fest in seine Arme.<br />

Mehr brauchte es in diesem Moment nicht. Der Anführer der Wächter<br />

wusste nur allzu gut, wie verstörend die Elements-Erkennung das erste<br />

Mal sein kann, noch dazu in Zusammenhang mit einem unglücklichen<br />

Unfall.<br />

Er wusste außerdem, dass Jara nun schon zum zweiten Mal großes Glück<br />

gehabt hatte. Wäre Grace nicht rechtzeitig dagewesen, dann hätte Jack<br />

völlig unbewusst ihren Körper innerhalb weniger Minuten erfrieren lassen<br />

können.<br />

‚Ab morgen wird sich das alles ändern, denn ich werde dich lehren, mein<br />

Sohn, wie du mit der Kraft und der damit verbundenen Verantwortung<br />

umgehen musst‘, dachte sich Angelo, dem bereits selbst die Tränen über<br />

die Wangen liefen.<br />

Wie an fast jedem Abend der vergangenen Jahre saß Jara in ihrem weißen<br />

sommerlichen Kleid auf einem Felsvorsprung. Das Rauschen des Wassers<br />

und das Geräusch der sich am Stein brechenden Wellen waren ihr<br />

vertraut. Der warme Wind verfing sich spielerisch in ihren langen,<br />

schwarzen Haaren und strich ihr sanft über die glatte gebräunte Haut.<br />

Ihr Blick galt der Weite des Horizonts und der langsam untergehenden<br />

Sonne, die sogar imstande war, das sonst tagsüber so strahlend blaue<br />

25


Wasser in ein rotgelbes Meer, bestehend aus heißen und stark lodernden<br />

Flammen, zu verwandeln.<br />

Ohne, dass Jara die Augen schließen musste, war sofort wieder dieser<br />

Traum da.<br />

Es war immer das Gleiche.<br />

Sie sieht sich selbst, wie sie von dem großen Felsen aus Anlauf nimmt.<br />

Ohne zu zögern springt sie von der Felskante ab und fällt meterweit<br />

ungebremst in die Tiefe. Erst dann, wenn sie ihre Arme wie große<br />

Schwingen ausbreitet, beginnt sie langsamer zu werden und kurz darauf<br />

zu schweben.<br />

Wenn die Angst und das Gefühl des Fallens überwunden sind, schießt<br />

sie pfeilschnell und mit aller Kraft, die sie in ihren Armen aufbringen<br />

kann, bis hoch hinauf in die Wolken. Von hier oben aus kann sie den<br />

Strand und eigentlich die gesamte Insel überblicken.<br />

Wenn Jara dann kurz darauf über das gigantische Feuermeer der Sonne<br />

entgegenfliegt, dann fühlt sie sich wie in einem Rausch ähnlichen Zustand.<br />

Eine kaum hörbare Stimme scheint sie zu rufen und unbeirrt zu sich zu<br />

ziehen. Noch während sie die immer stärker werdende Wärme in der<br />

Luft genießt, verändert sich ihr Traum schlagartig.<br />

Das Wasser unter ihr beginnt aufbrausender und schneller zu fließen.<br />

Ein massives Erdbeben reißt einen tiefen Spalt inmitten des Meeres auf<br />

und die Fluten teilen sich an dieser Stelle sofort in zwei riesige Wasserfälle.<br />

Das Gefühl des leichten Schwebens und die Wärme verschwinden aus<br />

Jaras Körper.<br />

Sie spürt die aufkommende Angst in ihrem Herzen, das sofort wie wild<br />

zu schlagen beginnt.<br />

Jeden Augenblick wird sie in diesen schwarzen, schier endlos wirkenden<br />

Abgrund stürzen und nichts und niemand kann auch nur das Geringste<br />

dagegen tun. In ihren Gedanken ist es das wahrhaftige Böse selbst, das<br />

sie zu sich hinabzieht.<br />

Dieser schreckliche Mann aus den Geschichten ihres Vaters, der es nicht<br />

duldet, wenn man auf der Erde glücklich ist.<br />

Mit letzter Kraft versucht sie sich diesem unsichtbaren Sog, der nun<br />

vollends von ihr Besitz ergreift, zu entziehen. Verzweifelt streckt sie ihre<br />

Hände weit nach vorne in Richtung des Horizonts, der heiß glühenden<br />

Feuerscheibe, entgegen.<br />

26


Es kommt ihr so vor, als würden die Strahlen ihre Arme berühren und<br />

sie festhalten wollen, doch genau wie die vorigen Male schaffen sie es<br />

einfach nicht.<br />

Jara stürzt hinab in die Schwärze. Rechts und links begleitet sie das<br />

Geräusch der fallenden Wassermassen.<br />

Erst jetzt beginnt sie aus voller Kehle zu schreien, auch wenn sie weiß,<br />

dass es absolut keinen Sinn ergibt.<br />

Es ist und bleibt ein schier endloser Fall in ein ungewisses und absolutes<br />

Nichts.<br />

Aus nächster Nähe erklingt jetzt eine vertraute Stimme: „Hey Jara, ganz<br />

ruhig. Ich bin es. Hörst du mich?” Endlich reißt der Albtraum ab.<br />

Mit weit aufgerissenen Augen und schnell gehender Atmung wusste sie<br />

plötzlich wieder, wo sie sich eigentlich befand.<br />

Jara spürt den festen Druck von zwei Händen auf ihren Schultern, und<br />

als sie sich umdrehte, konnte sie in das besorgte Gesicht ihres Bruders<br />

Jack blicken, der genau hinter ihr auf dem Felsen kniete.<br />

Ohne lange zu überlegen fiel sie ihm in die Arme, und nur mit viel Mühe<br />

gelang es diesem, das Gleichgewicht für sie beide halten zu können.<br />

„Jack? Was machst du denn hier? Ich dachte, du kommst nicht vor<br />

nächster Woche.”<br />

„Ja, so war es auch von mir geplant. Aber ich dachte mir, dass ihr euch<br />

freut. Wie ich merke, ist mir bei dir die Überraschung schon richtig gut<br />

gelungen”, antwortete Jack seiner Schwester, die jetzt sichtlich bis über<br />

beide Ohren strahlte. „Geht es dir gut? Als ich hier am Strand ankam,<br />

hat es nicht so ausgesehen. Du hast wild um dich geschlagen. Ich dachte<br />

schon, du kämpfst vielleicht gegen eine Biene oder ähnliches, aber als ich<br />

näherkam und dir sogar schon gewunken hatte, wirktest du völlig<br />

weggetreten und wie in einer Art Trance gefangen.”<br />

„Alles bestens. Wirklich. Schau mich bitte nicht so an. Komm, wir gehen<br />

nach Hause. Mum wird begeistert sein, dich zu sehen.”<br />

Bei diesen Worten stand Jara schwungvoll auf und nahm ihren Bruder<br />

einfach an der Hand und zog ihn mit sich.<br />

Grace, die in der Küche gerade damit beschäftigt war, einen leckeren<br />

Apfelkuchen von dem heißen Backblech zu lösen, konnte kaum glauben,<br />

wen sie da durch das Fenster geradewegs auf das Haus zukommen sah.<br />

27


Schnell befreite sie ihre Hände von den Backhandschuhen, warf sie auf<br />

die Arbeitsplatte, und eilte anschließend nach vorne zur Eingangstüre.<br />

„Jack! Ach, ich freue mich so sehr, dich zu sehen. Was machst du denn<br />

hier? Mit deinem Erscheinen habe ich gar nicht gerechnet.” Mutter und<br />

Sohn nahmen sich fest in die Arme.<br />

„Ich weiß Mum, aber auf der Arbeit ist diese Woche nicht viel los<br />

gewesen”, antwortete Jack keuchend, nachdem Grace sich von ihm<br />

gelöst und er das Gefühl hatte, wieder atmen zu können.<br />

„Kommt rein, ich habe Kuchen gebacken. Wirst du für länger bleiben?<br />

Kommt dein Vater heute auch noch?” Grace war bemüht, nicht zu aufgeregt<br />

oder gar hastig zu sprechen, denn sie wusste genau, dass der<br />

unangekündigte Besuch von ihrem Sohn mit Sicherheit nichts Gutes zu<br />

bedeuten hatte. Sie hoffte vor allem, dass ihrem Mann nichts zugestoßen<br />

sei, deshalb auch immer die Frage, ob er denn noch kommt, quasi als<br />

geheimes Codewort.<br />

„Nein, soweit ich weiß, wird Dad heute nicht persönlich kommen, aber<br />

er lässt dich in jedem Fall lieb grüßen. Außerdem bin ich ja in seiner<br />

Stellvertretung da, um bei den Damen nach dem Rechten zu sehen.<br />

Mach’ dir keine Sorgen, Mum, es geht ihm gut, denn er hat mich sogar<br />

nach der Arbeit noch bis an die Schiffsanlegestelle begleitet”, antwortete<br />

Jack, der gerade dabei war, sich im Flur seine Schuhe auszuziehen. „Ich<br />

habe gar kein Schiff kommen oder wieder auslaufen sehen. Dabei bin ich<br />

doch die ganze Zeit über am Strand gewesen”, warf Jara nachdenklich<br />

ein.<br />

„Schatz, bist du so lieb und würdest aus dem Keller eine Flasche<br />

Mineralwasser holen? Ach, und zwei Zwiebeln, die brauch’ ich für das<br />

Abendessen”, bat Grace ihre Tochter schnell, denn sie wollte unbedingt<br />

vermeiden, dass noch mehr derartige Fragen in den Raum gestellt werden<br />

konnten. Außerdem hatte sie das dringende Bedürfnis mit Jack ein paar<br />

Worte allein zu wechseln. Begeisterung sah zwar anders aus, als wie Jara<br />

sie gerade demonstrierte, doch sie würde niemals ihrer Mutter eine solche<br />

Bitte ausschlagen.<br />

Mit einem kurzen Seufzer begab sie sich in die hintere Hälfte des Hauses,<br />

und nur wenige Augenblicke später konnte Grace auch schon die<br />

schwere Türe zum Kellerbereich zufallen hören.<br />

Sie zog ihren Sohn mit in die Küche. „Jack, was ist los? Wieso hat mir<br />

keiner gesagt, dass du kommen würdest? Wir haben das sonst immer<br />

untereinander abgesprochen. Hast du gehört, was Jara gefragt hat?”<br />

28


„Mum, beruhige dich. Ich werde dir alles erklären, sobald sie ins Bett<br />

gegangen ist. Das ist keine Sache, die ich dir zwischen Tür und Angel<br />

berichten möchte. Vertrau’ mir bitte einfach, dass Dad und ich unsere<br />

Gründe haben.”<br />

„Natürlich! Genau dieses Verhalten hast du dir von deinem Vater angeeignet.<br />

Immer schön den Ball flachhalten, nur nicht zu viel Informationen.<br />

Jetzt will ich dir mal was sagen, mein Sohn. Wir Frauen sind nicht<br />

so zerbrechlich wie ihr immer glaubt. Wir können so viel mehr als ihr alle<br />

zusammen ertragen, wenn es sein muss. Also behandel’ mich nicht wie<br />

ein dummes Schulmädchen und merk’ dir meine Worte gut für später,<br />

wenn du selbst mal eine Frau und Kinder hast.” Jack hatte auf einem der<br />

Küchenstühle Platz genommen und ihm bleibt nichts weiter übrig, als<br />

seine aufgebrachte Mutter zu beobachten wie sie während ihrer Ansprache,<br />

zwischen Apfelkuchen und Fenster, hin und her tigerte.<br />

„Mum, bitte ich werde dir … ”, versuchte er einen neuen Anlauf, doch<br />

seine Worte wurden direkt von Grace im Keim erstickt.<br />

„Du wirst mir sofort sagen was Sache ist, oder ich fliege selbst zu deinem<br />

Dad und … ”<br />

Grace stoppte, denn jetzt stand Jara starr und mit fragenden Augen<br />

genau hinter ihrem Bruder.<br />

Die Wasserflasche und die Zwiebeln hielt sie fest in ihren Händen. Jack<br />

drehte sich von seinem Stuhl aus zu seiner Schwester um und nahm ihr<br />

die Sachen ab. Diese stellte und legte er vorerst auf den Esstisch.<br />

„Ist irgendetwas passiert?”, fragte Jara mit schnell wechselndem Blick<br />

zwischen Jack, der mittlerweile seinen Kopf schwer in den Nacken gelegt<br />

hatte, und ihrer Mutter.<br />

Ratlosigkeit und die Suche nach Antworten füllten den Raum.<br />

Nach einer gefühlten Ewigkeit fand Grace wieder zu Worten. „Passiert?<br />

Nein. Dein Bruder und ich haben nur über Dad gesprochen und dass er<br />

nicht wieder zu viel arbeiten soll. Du weißt, dass ich mir sonst Sorgen<br />

mache, und deswegen meinte ich gerade, dass ich am liebsten selbst wie<br />

der Wind zu ihm hinfliegen würde, um mich zu vergewissern, dass er sich<br />

auch wohlfühlt. Nicht wahr, Jack?”<br />

Leider war Grace viel zu hektisch im Reden und das Lächeln wirkte<br />

aufgesetzt.<br />

Jara konnte der Erklärung ihrer Mutter zwar folgen, doch dieser den<br />

erwarteten Glauben zu schenken fiel ihr nicht besonders leicht. Dass Jack<br />

in genau dem Moment aufstand, als Jara sich zu ihm an den Esstisch<br />

29


setzen wollte, und die Küche mit den Worten ‚entschuldigt mich bitte<br />

für einen Moment‘, verließ, machte die vorherrschende Situation nicht<br />

gerade angenehmer.<br />

„Jara, bitte warte hier einen Moment. Ich bin gleich zurück.”<br />

„Moment mal … ”, wollte jene noch auf die verwirrende Verhaltensweise<br />

ihrer Lieben antworten, doch Grace war ihrem Sohn bereits in den Vorgarten<br />

gefolgt.<br />

„Jack, was ist nur los mit dir? Willst du, dass Jara mitbekommt, dass etwas<br />

nicht in Ordnung ist? Wir haben doch nicht umsonst all die Jahre …”<br />

„Doch das haben wir”, unterbrach er seine Mutter schroff.<br />

Grace verschränkte die Arme vor der Brust und war fassungslos über die<br />

Art und Weise, wie ihr Sohn plötzlich mit ihr sprach. „Anscheinend hast<br />

du dieses Mal deine guten Manieren in der Stadt zurückgelassen. Ich gehe<br />

jetzt zurück ins Haus. Du kannst wieder reinkommen, wenn du dir über<br />

dein Verhalten Gedanken gemacht hast, junger Mann!”<br />

Jack war näher an seine Mutter herangetreten. „Mum, was soll das?<br />

Behandel’ mich nicht wie ein kleines Kind, das erst lernen muss, was<br />

Recht und Unrecht ist. Und eines weiß ich mit Sicherheit, und zwar, dass<br />

es nicht richtig ist, Jara weiterhin so eine Show vorzuspielen. Sie hat ein<br />

Recht darauf zu erfahren, wie die Welt wirklich ist und sie muss es sogar.”<br />

Grace kniff kurz die Augen zusammen, dann winkte sie mit der Hand<br />

ab. „Von was für einer Welt sprichst du? Etwa von einer, in die sie<br />

überhaupt nicht gehört? Eine, die mit Leichtigkeit imstande gewesen ist,<br />

dich und dein Leben zu verändern? Soll Jara, genau wie du, all die<br />

Schattenseiten und die schrecklichen Kreaturen, die diese Welt beinhaltet,<br />

kennenlernen? Zu diesen zähle ich auch die Menschen, die sie<br />

bewohnen. Allesamt sind nichts weiter als Egoisten, die kein Gespür<br />

mehr für Selbstlosigkeit und wahre Liebe entwickeln können, und die,<br />

wie ich finde, selbst schuld an ihrem täglichen Leid tragen.”<br />

„Mag sein, dass die Menschen nicht mehr das sind, was sie einmal waren<br />

oder was sie sein sollten. Dennoch sind wir es, die dazu berufen worden<br />

sind, sie mit all unserer Kraft und den uns zur Verfügung stehenden<br />

Mitteln, vor jeglichen Angriffen des Indemalums zu beschützen. Hast du<br />

das wirklich alles verdrängt oder in all den Jahren völlig vergessen? Ich<br />

meine, du bist die Wächterin der Luft, aber ich habe nach dem Vorfall<br />

mit mir und Jara nie mehr erlebt, dass du deine Kraft je wieder eingesetzt<br />

hättest.”<br />

30


Jack war bemüht, seine Vorwürfe gegenüber seiner Mutter, so gut es<br />

ging, in Grenzen zu halten.<br />

Schließlich hatte er die Vergangenheit bereits von seinem Vater erzählt<br />

bekommen. Wie er, oder seine Eltern, das Ganze nun Jara schonend<br />

beibringen sollten, das konnte er sich beim besten Willen noch immer<br />

nicht vorstellen.<br />

Traurig blickte Grace ihren Sohn an. „Kinder leiden in diesen schlimmen<br />

Zeiten am meisten, oder hast du vielleicht vergessen wie du hier auf der<br />

Insel aufgewachsen bist? Bevor du Atlanta, deine Berufung, wie du es<br />

selbst so schön nennst, und das wahre Gesicht der Erde kanntest, warst<br />

du ein lebensfroher und ausgelassener Junge. Schlimm zu sehen und zu<br />

hören, dass an irgendeinem Punkt mein Einfluss und meine Erziehung<br />

anscheinend ein jähes Ende gefunden haben.” Jack merkte schnell, dass<br />

sich die Unterhaltung in eine völlig andere Richtung entwickelte, als es<br />

eigentlich von ihm beabsichtigt war.<br />

Außerdem konnte er die Enttäuschung in den Augen seiner Mutter kaum<br />

mehr ertragen.<br />

Er kam noch einen Schritt näher und umklammerte Graces Oberarme.<br />

„Mum, du weißt, dass ich nichts vergessen habe und es auch niemals<br />

werde. Aber … ”<br />

Die Worte wollen einfach nicht über seine Lippen kommen, doch Jack<br />

wollte und konnte die schwere Last nicht länger für sich behalten. „ER<br />

ist zurück.”<br />

Aus Graces Blick wich die Enttäuschung schlagartig. Die Pupillen<br />

weiteten sich und die Mundwinkel begannen zu zucken. „Nein, bitte<br />

Jack, sag, dass das nicht wahr ist.”<br />

„Ich wünschte, ich könnte es”, antwortete er ihr mit gesenktem Kopf<br />

und kaum hörbar.<br />

Dann wendete sich Jack von seiner Mutter ab, denn er war erschrocken<br />

darüber, dass die bloße Überbringung dieser Nachricht ihn emotional so<br />

mitreißen würde. Er, der doch sonst die Coolness in Person war, musste<br />

sich zum ersten Mal seit Kindertagen schwer zusammennehmen, um<br />

nicht ungehemmt wie ein kleiner Junge loszuweinen. Nach einer Weile<br />

drehte er sich um, weil er hinter sich keinen Laut und keinen Atemzug<br />

mehr hörte.<br />

Nur aus geringer Entfernung hörte er ein lautes Klacken. Die Haustüre<br />

war ins Schloss gefallen.<br />

31


Jara, die von der Unterhaltung zum Glück nichts mitbekommen hatte,<br />

war gerade dabei, den Kuchen mit einem Messer in gleich große Teile zu<br />

schneiden, als Grace im Laufschritt an der Küchentüre vorbeihuschte.<br />

Um eventuell mit ihrer Mutter sprechen zu können, löste Jara ihre Aufmerksamkeit<br />

von dem Blech und betrat den Flurbereich. Leider konnte<br />

sie von dort aus nur noch zusehen, wie Grace die marmorierte Treppe<br />

hinauf in den ersten Stock eilte. Die Türe des elterlichen Schlafzimmers<br />

wurde geöffnet und sofort wieder geschlossen.<br />

Zurück in der Küche überfiel Jara ein Gefühl von tiefer Sorge, denn<br />

sowohl ihre Mutter, als auch ihr Bruder, verhielten sich immer weniger<br />

so, als sie es eigentlich von ihnen gewohnt war.<br />

„Bekomme ich ein Stück von dem leckeren Kuchen?” Jacks Frage holte<br />

sie aus ihren Gedanken zurück. Er stand nun angelehnt im Türrahmen.<br />

Obwohl er lächelte, konnte sie deutlich an seinen Gesichtszügen erkennen,<br />

dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war. „Klar. Setz<br />

dich doch bitte”, antwortete Jara und griff dabei in den großen Hängeschrank<br />

über der Spüle, um zwei mittelgroße Teller herauszuholen.<br />

Sie aßen gemeinsam und nach einer halben Stunde war auch Grace<br />

wieder zu ihnen dazugekommen. Sie tat das, was sie als Mutter schon in<br />

all den Jahren am besten konnte. Nämlich, so-tun-als-ob-nichts-wäre.<br />

Da Jara wusste, dass sie in solchen Momenten auf bohrende Fragen keine<br />

oder nur belanglose Antworten erhält, entschied sie sich lieber auf das<br />

Schauspiel der beiden mit einzugehen.<br />

Der Abend verlief ab jetzt sogar noch richtig gut.<br />

Es wurde gegessen, getrunken und gelacht.<br />

Als die Uhr bereits kurz vor dreiundzwanzig Uhr anzeigte, spürte Jara<br />

plötzlich den Anflug einer großen Müdigkeit. Merkwürdig, denn eigentlich<br />

war sie durchaus in der Lage bis spät in die Nacht wachzubleiben.<br />

Nach dem Duschen saß sie oft noch stundenlang am offenen Fenster<br />

ihres Zimmers und schaute dabei mit verlorenem Blick in den weiten,<br />

glitzernden und sternenklaren Nachthimmel.<br />

Jara stand von ihrem Stuhl auf. „Entschuldigt mich bitte, aber ich glaube,<br />

ich …”, zu mehr kam sie nicht, denn ihre Beine fühlten sich schwammig<br />

an und alles um sie herum begann sich zu drehen. Jack und Grace hatten<br />

sich ebenfalls von ihren Plätzen erhoben. Gemeinsam stützten sie Jara,<br />

damit diese nicht in sich zusammensacken und auf dem harten Boden<br />

aufschlagen konnte.<br />

32


„Ganz ruhig. Schlaf jetzt, mein kleiner Schmetterling. Dir wird nichts<br />

passieren, das verspreche ich dir.”<br />

Wie aus weiter Ferne drangen die Worte ihrer Mutter bis zu ihren Ohren<br />

durch. Dann Stille.<br />

Dass sie im Wohnzimmer behutsam auf die große Couch gelegt wurde,<br />

bekam Jara gar nicht mehr mit.<br />

Grace verließ in Windeseile den Raum und begab sich nach oben in das<br />

Zimmer ihrer Tochter. Dort angekommen öffnete sie hastig den verspiegelten<br />

Kleiderschrank und holte einen langen, weinroten Cardigan<br />

aus diesem heraus.<br />

Als sie selbst vor wenigen Stunden in ihrem Schlafzimmer war, hatte sie<br />

mit Angelo kommuniziert.<br />

Das Gespräch verlief leise und gefasst. Dennoch konnte sie es jetzt kaum<br />

mehr erwarten, ihn endlich in ihre Arme zu schließen.<br />

Zurück im Wohnzimmer hob sie den Oberkörper ihrer Tochter ein<br />

Stück weit an, wobei ihr Jack sofort behilflich war, Jara den leichten<br />

Strickmantel anzuziehen.<br />

Gesprochen wurde nicht viel. Das brauchte es auch gar nicht, denn Jack<br />

hatte, nach der Rückkehr seiner Mutter, eine Notiz auf einem kleinen<br />

Zettel, unter dem Küchentisch liegend, gefunden. Diese konnte er, als<br />

seine Schwester mal für kurze Zeit im Badezimmer verschwand, dann<br />

auch lesen.<br />

Als Angelo von Graces Aufruhr und über die Tatsache, dass auch sein<br />

Sohn anscheinend mit der Situation überfordert sei, im Bilde war, beschloss<br />

er, die Angelegenheit lieber selbst in die Hand zu nehmen.<br />

So oder so fühlte er sich für alles, was geschehen war, verantwortlich,<br />

daher wollte er es sein, der seiner Frau und seiner Tochter die Wahrheit<br />

über Jara und ihr Wesen beichten würde.<br />

Wohl war ihm bei dem Gedanken keinesfalls, doch es war zu einer<br />

unumgänglichen Notwendigkeit geworden, ihnen die volle Wahrheit zu<br />

sagen.<br />

Jetzt wollte Jack seiner Mutter in ihre heißgeliebte weiße Sommerjacke<br />

helfen, doch diese wehrte ab. „Du denkst doch nicht ernsthaft, dass mir<br />

kalt werden könnte, oder? Die Luft ist mein Element … schon vergessen?”<br />

Mit leichtem Augenrollen, jedoch schmunzelnd, warf er die Jacke über<br />

die Lehne der Couch. Dann beugte er sich zu seiner Schwester hinab und<br />

hob sie auf seine Arme.<br />

33


Jetzt war höchste Eile geboten, denn die verabreichte Menge an ‚Elementsblüten-K.-o.-Tropfen‘,<br />

einem Gemisch aus Erdknollen, Feuerstrauchblättern,<br />

Eisgrashalmen, Wasserlilienwurzeln und einem Schuss<br />

des Nektars der ausschließlich bei jedem zweiten Vollmond blühenden<br />

NOCTURN SANGUINIS Rose, würde nicht ewig halten.<br />

Grace hatte sich das kleine Fläschchen vor ein paar Tagen bei einer<br />

Magascha, die am anderen Ende der Insel lebte, wegen ihrer Schlafstörungen<br />

und der damit verbundenen wirren Träume mixen lassen. Die<br />

‚gute Kräuterhexe‘, wie Grace die in die Jahre gekommene Frau selbst<br />

liebevoll nannte, hatte sie noch gewarnt, dass es bei übermäßiger Einnahme<br />

zu schweren Komplikationen kommen könne. Wenn man sich<br />

aber an die Dosis von fünf Tropfen halte, dann schlafe man die ganze<br />

Nacht durch, ohne am nächsten Tag überhaupt zu wissen, wie man in<br />

sein Bett gelangt ist.<br />

Da die Substanz völlig farb- und geruchlos war, konnte Jara auch den<br />

leicht blumig-seifigen Geschmack in ihrem Wasser kaum ausmachen. Sie<br />

fühlte sich sogar zwanzig Minuten nach der unbewussten Einnahme<br />

noch topfit.<br />

Im Garten gab Grace zuerst ihrem Sohn und anschließend ihrer in<br />

dessen Armen sehr tief schlafenden Tochter einen liebevollen Kuss auf<br />

die Wange. „Ich liebe euch.”<br />

Plötzlich schossen aus ihren Schulterblättern zwei federleichte, fast<br />

durchsichtig schimmernde und sehr majestätische Flügel empor, und in<br />

ihren sonst so grünen Augen begann ein aufbrausender und starker Wind<br />

zu toben.<br />

Jack schien nur auf die Aktion seiner Mutter gewartet zu haben, denn<br />

nur Sekundenbruchteile später breitete auch er seine großen, schneeweißen<br />

Flügel aus, und seine blauen Augen begannen solange zu schimmern,<br />

bis sich funkelnde Eiskristalle vollends über beide Pupillen gelegt hatten.<br />

Mit nur wenigen Flügelschlägen konnten die beiden sofort den notwendigen<br />

Auftrieb erreichen. Pfeilschnell und für das bloße Auge kaum<br />

sichtbar schossen sie hoch in den ungetrübten Himmel.<br />

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