Einäugig & blausilbig
Eine Frau. Dunkle Dokumente. Ein schaumweinschlürfender Zyklop. Und als ein Anruf die Zündschnur der Ereignisse entflammt, ist eines bereits besiegelt: Dieser Tag wird von Zwölf AutorInnen fortgeschrieben werden. Wie werden sie ihr Schicksal ausmalen? Welche Bilder werden die Kuppel ihres Schädels schmücken? Welche Gefühle werden sie ihr auf den Hals hetzen? Und wird es am Ende Sinn machen, sich so entschieden zu haben?
Ein Textperiment von Susanne Altmann, Nina Buschendorf, Peter Frankenbach, Hinnerk Henze, Kira Horžak, Cem Karci, Lana Kesselring, Sabrina Leich, Jonathan Mürmann, Annika Rauscher, Anna-Lina Weiß und Justin Ziemba – unter der Leitung von Stephan Ganser im Fachkurs Texthandwerk, Fakultät Kunst und Gestaltung, Sommersemester 2020
an der Bauhaus-Universität Weimar.
Eine Frau. Dunkle Dokumente. Ein schaumweinschlürfender Zyklop. Und als ein Anruf die Zündschnur der Ereignisse entflammt, ist eines bereits besiegelt: Dieser Tag wird von Zwölf AutorInnen fortgeschrieben werden. Wie werden sie ihr Schicksal ausmalen? Welche Bilder werden die Kuppel ihres Schädels schmücken? Welche Gefühle werden sie ihr auf den Hals hetzen? Und wird es am Ende Sinn machen, sich so entschieden zu haben?
Ein Textperiment von Susanne Altmann, Nina Buschendorf, Peter Frankenbach, Hinnerk Henze, Kira Horžak, Cem Karci, Lana Kesselring, Sabrina Leich, Jonathan Mürmann, Annika Rauscher, Anna-Lina Weiß und Justin Ziemba – unter der Leitung von Stephan Ganser im Fachkurs Texthandwerk, Fakultät Kunst und Gestaltung, Sommersemester 2020
an der Bauhaus-Universität Weimar.
- Seite 2 und 3: EINÄUGIG &BLAUSILBIGEine Kurzgesch
- Seite 4 und 5: nervös zuckenden Augenlid. Meine F
- Seite 6 und 7: „Das wird Ärger geben.“, setzt
- Seite 8 und 9: Geschwindigkeit seines Ganges eher
- Seite 10 und 11: auch noch die Toilette aufsuchen, w
- Seite 12 und 13: meine Sicht leicht unklar. Ich pres
- Seite 14 und 15: haben, um ihre Koffer zu öffnen. D
- Seite 16 und 17: nichts tun außer zu lernen, mit di
- Seite 18 und 19: Blick in den Rückspiegel. Wieder d
- Seite 20 und 21: dass er damals einfach nur aussteig
- Seite 22 und 23: mit beunruhigend ruhiger Stimme for
- Seite 24: knacken die Zweige unter mir mindes
EINÄUGIG &
BLAUSILBIG
Eine Kurzgeschichte von Susanne Altmann, Nina Buschendorf,
Peter Frankenbach, Hinnerk Henze, Kira Horžak, Cem Karci,
Lana Kesselring, Sabrina Leich, Jonathan Mürmann, Annika
Rauscher, Anna-Lina Weiß und Justin Ziemba. – unter der
Leitung von Stephan Ganser im Fachkurs Texthandwerk,
Fakultät Kunst und Gestaltung, Sommersemester 2020
an der Bauhaus-Universität Weimar.
Das Brummen krabbelt aus meiner linken Hosentasche über mein
Rückenmark zum Nacken. Am Übergang z3um Hinterkopf
verkantet es sich. Bleibt stecken. Drückt.
Jeder kann sehen, wie sich der Schweiß durch mein T-Shirt und
meinen Hoodie frisst. Wegen eines lächerlichen Anrufs. Die
Flecken unter meinen Armen und am Rücken kreischen es in die
Außenwelt: Weichei.
Das Brummen gewinnt. Meine Hand zuckt zur linken
Hosentasche. Drangehen oder nicht? Bestimmt schließen sie
Wetten über mich ab. Welche Seite lasse ich gewinnen?
„Ja.“ Kein ‚Ja?‘. Ich muss nicht fragen, was sie wollen.
„Sind Sie auf dem Weg?“
„Ja.“
„Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird gut laufen. Wir warten
diesmal in Raum 307 auf Sie. Die Anmeldung zeigt Ihnen den
Weg.“
Ich will den Weg aber gar nicht wissen. Ich will mich verlaufen
und verloren gehen.
Stattdessen nehme ich die Treppe.
Meine Füße arbeiten gegen mich. Ich habe Mühe, nicht mit der
Zehenspitze an den viel zu hohen Stufen hängen zu bleiben. Ich
weiß, dass ich 53 Mal die Chance habe, es nicht zu schaffen. 53 Mal
habe ich die Wahl, ob ich die Stufe über oder die unter mir nehme.
Ich könnte mich hinsetzen und nichts tun. Ich zwinge meine Füße,
mich weiter nach oben zu tragen.
Verblichenes Weiß im grauen Treppenhaus. 48 Entscheidungen
später stehe ich in einem schlecht ausgeleuchteten Flur.
Flackerndes kaltes Neonröhrenlicht, das mich in meiner ganzen
Pracht erstrahlen lässt. Durchgeschwitzt, kreidebleich, mit einem
nervös zuckenden Augenlid. Meine Füße tragen mich zur 307. Ich
halte inne, versuche meine hektische Atmung und meinen
trommelnden Puls zu beruhigen. Mache mich auf die Suche nach
meiner inneren Mitte. Ich scheitere katastrophal, denn als ich
glaube, meine innere Mitte, einen kleinen hoffnungslosen
blassgelben Punkt, weit entfernt erspäht zu haben, wird die Tür
aufgerissen und ich stehe einem Giganten gegenüber, der mit dem
Charme eines Zyklopen gesegnet ist. Es ist dunkel in seinem
Schatten.
Eine Sandpapierstimme dringt heraus, sickert an der massigen
Gestalt vorbei. „Ist sie das? Lass sie rein, Polyphem.“ Grollend gibt
der bärtige Fels den Weg frei. Sonnenlicht blendet mich, sticht in
den Augen und macht mich einige Herzschläge lang blind.
Drinnen sieht es aus wie früher. Nein, das ist falsch, es sieht so aus
wie in der Zeit, in der ich kein Geld hatte. Zwischen kahlen
unverputzten Wänden steht ein glänzender Metalltisch. Dahinter
sitzt ein langer dürrer Mann. Er ist so wie in meiner Erinnerung.
Vielleicht sind ein paar Falten hinzugekommen. Das Gesicht ist
härter, aber genau kann ich ihn im Gegenlicht nicht erkennen.
Hinter mir schließt Polyphem die Tür. Er nimmt neben dem
Mann vor einer schmalen Mappe Platz.
„Wir dachten schon, wir müssen Sie suchen“, sagt Frank und
erhebt sich mit der Eleganz eines Raubtiers. Seine Stimme ist kalt
wie Stahl, der sich an meine Kehle schmiegt. „Haben Sie die
Dokumente?“ Mein Gehirn verweigert die Zugehörigkeit zu
meinem Körper, seilt sich ab. Eine dicke Fliege summt durch den
Raum, dreht unsichtbare Ringe, bevor sie mit Wucht gegen die
Fensterscheibe fliegt und auf den Zementboden trudelt,
benommen im Kreis krabbelnd.
Die Drohung in Franks Blick - nur ich habe sie gesehen. Damals
hatte er mich beiseite genommen und sich zu mir hinab gebeugt;
mir ins Ohr geflüstert: „Eine Drohung dauert eine Sekunde. Merk
dir das.“ Der Schweiß tropft von meinen Händen auf den
Betonboden. Polyphem hat sich in seinem Stuhl zurückgelehnt
und starrt mich unverwandt an, die Mappe vor ihm ist geschlossen.
Franks Augen brennen sich durch mich hindurch.
„Haben Sie die Dokumente?“
Plötzlich sehe ich Illja, wie er vor mir steht, seine schlanke Gestalt
vor den Felsen, die sich dem tosenden Meer entgegenwerfen. Die
Hände hat er entspannt in die Hosentaschen geschoben. Seine
grünen Augen blicken auf das Meer hinaus. Dann dreht er sich mir
halb zu. „Niemals, verstehst du? Niemals. Ist egal, worum’s geht,
wofür. Verstehst du?“
Meine Hand zittert, als ich sie langsam hebe und Frank eine
graublaue Mappe hinhalte. Abschätzend, na klar, wie denn auch
sonst, blättert er durch die Seiten. Er schaut auf, schaut mich an
und trinkt, ohne mich auch nur einen Moment aus den Augen zu
verlieren, aus seiner Tasse.
Blickkontakt halten. Und wieder die Mappe betrachten. Ich
betrachte wieder den Raum. 307. Nicht nennenswert anders als
211. Der gleiche Bürokalender aus dem Jahr 2012. Der Computer
mit seinem Windows-Vista-Charme.
Er weiß ja ganz genau, was in der Mappe steht, er hat alles ja
schon viel zu oft in viel zu unfertigen Versionen gelesen.
„Wir publizieren.“, sagt Frank. „Danke“, sage ich. „Anonym?“, frage
ich.
„So wolltest du es.“
Die Sekretärin hatte also doch recht.
„Das wird Ärger geben.“, setzt Polyphem an. Ich weiß mit
Sicherheit, dass das nicht das erste Mal ist, dass er diesen Einwand
einbringt. Ich hätte es genauso gemacht, wenn ich da stünde wo er
steht - es ist voraussehend, vernünftig.
„Das hatten wir schon.“, Franks Blick verbietet wieder
Widerworte.
Kaffee wird aufgetischt. Wir wollen trinken und stoßen mit Sekt
an. Trocken. Rotkäppchen. „Auf einen vollen Erfolg.“, sage ich
voller Schultütennaivität und Zuversicht. Die Sekretärin wird
hereingebeten. Instantkaffee zum Sekt, aus kleinen Plastiktassen.
Ob er Angst hat, dass es rauskommt, bevor der Artikel
rauskommt?
Der zweite Sekt. Rosē. Mumm.
Polyphem bemerkt, dass Instantkaffee immer leicht sauer sei. Ich
habe wieder das Gefühl, dass meine Aufregung von vorhin
unbegründet war. Mein Verstand sagt mir aber, sie war es nicht.
Der dritte Sekt. Halbtrocken. Freixenet.
„Was für eine Plörre.“, schimpft Polyphem.
„Tu doch nicht so, als hättest du Ahnung von Alkohol.“
Ich muss auf die Toilette und als ich das sage, merke ich erst, wie
dringend ich tatsächlich auf die Toilette muss.
Beckenbodentraining wird maßlos unterschätzt.
Wieder wird die Sekretärin gerufen, mir den Weg zu weisen. Ich
weiß, sie wollen mich nicht aus den Augen lassen. Draußen
Dämmerung - in den langen Gängen weiter notaufnahmehelle
Leuchtröhren.
Zwei Feuerlöscher. „Sind wir allein im Gebäude?“
Zumindest auf dieser Etage. Morgen ist ja Feiertag und die
meisten Kollegen haben sich heute schon Urlaub genommen.
Schultoilettencharme. Giftig pinke Seife.
Der Himmel mittlerweile genauso pink. Im Spiegel bin ich und im
offenen Türrahmen steht die Sekretärin. Die gibt sich noch nicht
einmal Mühe, unauffällig zu sein.
Die Seife riecht unangenehm künstlich nach Pfirsich. Trotzdem
wasche ich mir viel zu lange die Hände. Die Sekretärin lässt sich
nicht beirren und folgt jeder meiner Bewegungen wie ein
Schatten. Ein neonlichthell erleuchteter Schatten. Hypnotisiert
lausche ich dem Rauschen des Wassers.
Auf dem Weg zurück in Raum 307 geht mein Schatten mir voraus.
Wortlos schreite ich an ihr vorbei durch die Tür, die sie mir
demonstrativ aufhält. Polyphem kippt gerade den letzten Schluck
Plörre hinunter. Draußen ist es inzwischen dunkel. Die Fenster
spiegeln ein verzerrtes Bild in den Raum. Seltsam, denke ich, dass
Fenster nachts ihre Blickrichtung ändern.
„So”, sagt Frank und reißt mich damit aus meinem grübelnden
Starren, „dann ist es nun wohl an uns, den Tausch komplett zu
machen.” Polyphem reicht Frank die Mappe, die – inzwischen fast
vergessen – die ganze Zeit vor ihm auf dem Tisch gelegen hat.
Ohne hinzusehen, greift Frank nach ihr und hält sie mir entgegen.
Geben, nehmen. Geben, nehmen. Was für eine unnötige Kette,
denke ich.
Ich verstaue die Mappe in meiner Tasche und setzte zum
Sprechen an „Gut, dann…“
Frank unterbricht mich: „Ich begleite Sie noch mit nach draußen.“
Sie wollen mich wirklich nicht aus den Augen lassen.
Sein Stuhl kratzt unangenehm auf dem Boden, als Frank sich
erhebt. Die Sekretärin hält noch immer die Tür auf. Vermutlich,
weil sie zu neugierig war, um wieder zu gehen. Als Frank sich dem
Raumausgang nähert, bemerke ich, dass, obwohl seine
Bewegungen sonst eine raubtierhafte Eleganz besitzen, die
Geschwindigkeit seines Ganges eher der eines zielstrebigen
Faultiers gleicht. Trotzdem bleibe ich lieber einen Schritt hinter
ihm. Ich verlasse 307 so wortlos, wie ich gekommen bin und
schleiche mit Frank die 53 Stufen hinunter. Dieses Mal liegt keine
der 53 Entscheidungen bei mir.
Frank trägt ein ledernes Schuhpaar mit unterschiedlich farbigen
Schnürsenkeln. Rechts tiefseeblau, links kirschholzbraun.
Wir passieren zwei Etagen, bis wir im Erdgeschoss ankommen. In
keiner der Stockwerke brennt noch Licht und Frank macht sich
auch nicht die Mühe, es einzuschalten. Diese Angewohnheit liegt
wohl in der Familie, denke ich und bin nun doch ganz froh über
seinen bedächtigen Schritt.
Wieder sehe ich Ilja vor mir. Dunkle Haare, ein dunkler Bart. Nie
schaltet er das Licht in seiner Wohnung ein. Vielleicht will er mit
dem Schwarz verschmelzen. „Wissen ist Nacht”, lachte er immer,
wenn ich ihn darauf ansprach, und entschuldigte sich dann für die
unsichtbare Unordnung in seiner Wohnung.
Die Brandschutztür im Erdgeschoss schwingt auf. Ich gehe hinter
Frank ins Freie. Die Bäume, die den Parkplatz säumen, rauschen
wie Gischt-schlagend im nächtlichen Wind.
Ansonsten nur Atemgeräusche und Stille. Frank schaut mich an.
„Eine Sekunde”, sagt er nur und dreht, kaum ausgesprochen,
sogleich wieder um. Die Brandschutztür schwingt hinter ihm zu.
Und ich, ich lasse das unmoralische Faultier weiterschreiten.
Ich stehe vor dem Gebäude und warte darauf, dass Frank
zurückkommt. Die eine Sekunde, nach welcher er ursprünglich
wieder da sein wollte, ist mittlerweile verstrichen. Das ist schon
eine kleine Ewigkeit her, wie ich gerade überlege. Zumindest
kommt es mir so vor.
Will Frank mir vielleicht noch etwas übergeben? Schließlich habe
ich ihm die für die Publikation notwendigen Dokumente gegeben
und er hat mir ebenfalls eine Mappe anvertraut. Damit ist unser
Geschäft, von der Publikation einmal abgesehen, schon so gut wie
beendet.
Im Gegensatz zu vorhin ist meine Angst jetzt einer Welle der
Erleichterung gewichen. Erleichterung darüber, dass ich nicht
mehr ständig diese Dokumente mit mir herumtragen muss, deren
Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Damit hatte ich bisher
immer Angst, dass ich verfolgt oder angegriffen werden könnte.
Dass irgendjemand versucht, mir die Dokumente wieder
abzunehmen.
Ich schaue mich um. Der Nachthimmel über mir ist wolkenlos und
sternenklar. Straßenlaternen beleuchten mit ihrem gelblichen
Licht die Straßen. Aus manchen der Häuser in der Nähe dringt
Lärm, den ich leise wahrnehmen kann. Vermutlich Familien, die
sich streiten, wie mir durch den Kopf geht. Ehepartner, die sich
untereinander streiten, etwa. Oder Eltern mit ihren Kindern und
umgekehrt. Auf dem Bürgersteig sind noch einige Menschen
unterwegs. Ein älteres Ehepaar beispielsweise. Ein verliebtes
junges Pärchen, das gerade in einiger Entfernung an mir
vorbeigeht. Dort wieder ein junger Mann, der einen späten
Einkauf getätigt hat und nun eilig, obwohl er schwer bepackt ist,
versucht, seine Wohnung zu erreichen.
Als ich ihn so sehe, fällt mir ein, dass ich ja eigentlich auch bereits
zu Hause sein wollte. Doch Frank lässt auf sich warten. „Vielleicht
will er mir ein Honorar für meine gute Arbeit geben. Oder er muss
auch noch die Toilette aufsuchen, was bei dem vielen Sekt keine
Überraschung wäre”, sage ich zu mir selbst.
Trotz meiner Erleichterung bleiben Zweifel. Was wird nach der
Publikation passieren? Bin ich dann tatsächlich in Sicherheit?
Oder in größerer Gefahr? Von dem Inhalt der Dokumente wissen
nur ich selbst, Frank und Polyphem.
Und die Person, der sie ursprünglich gehört haben.
Und weil die besagte Person das Fehlen der Dokumente, die sich
nun in Franks Besitz befinden, inzwischen sicherlich schon
bemerkt hat, ist die Gefahr nun auch noch nicht vollständig
beendet. Denn dass sie die Publikation einfach so abwarten wird,
kann ich mir so gut wie nicht vorstellen. Dass sie genau dies zu
verhindern versucht, hingegen durchaus.
„Und weiß sie von meiner Rolle in der ganzen Geschichte?”, frage
ich mich mit leiser Stimme, da ich verhindern möchte, dass mich
jemand hört. “Wird sie mich nicht zur Rechenschaft ziehen und
sich an mir rächen wollen? Und wenn das so ist, wie will sie sich an
mir rächen?”
Auf einen Schlag ist meine Sicherheit wie verflogen und die
Anspannung kehrt stattdessen zurück. Und mit der Anspannung
auch die Angst, die ich bereits zu überwinden gehofft hatte. Sie
fühlt sich an, wie eine mächtige Hand, durch die sich mein
Innerstes zusammenzieht.
Eine weitere Frage beschäftigt mich.
“Frank”, murmele ich. “Wo bleibst du denn nur? Oder was machst
du so lange auf der Toilette?”
Doch da er ja offensichtlich nicht antworten kann, bleibe ich mit
meinen Gedanken alleine. Und um ehrlich zu sein, wäre ich jetzt
lieber wieder bei Frank, statt meinen eigenen Gedanken
ausgeliefert zu sein.
Der Gedanke daran, dass eventuell jemand wissen könnte, dass ich
die Dokumente entwendet habe, lässt die Panik wieder
hochkochen. Es fängt in den Füßen an, die plötzlich kribbeln, als
wären sie eingeschlafen und würden mit dem Gefühl von
Fernsehrauschen wieder aufwachen. Nervös trete ich unbewusst
von einem Fuß auf den anderen, doch als die Angst meine Knie
erreicht, wird das schwierig. Sie fangen an zu schlottern, drohen
jeden Moment nachzugeben. Am liebsten würde ich mich jetzt
hinsetzen, doch hier draußen ist keine Bank und nochmal rein
möchte ich auf keinen Fall. Stattdessen lehne ich mich an die
schmutzige Wand des grauen Betonblocks. Ich lehne mich so fest
daran, dass sich die kleinen Steinchen durch meine Kleidung in
den Rücken bohren.
Für Außenstehende muss es lustig aussehen. So als ob vor mir ein
riesiger Abgrund wäre, den nur ich sehen kann. Und genau so
fühlt es sich gerade an, als wäre der Kontakt mit der Wand hinter
mir das einzige bisschen Sicherheit, das mich vor einem Sturz ins
Grauen bewahrt.
Aber leider ist die Wand nicht Sicherheit genug, um die Panik
daran zu hindern, weiter zu wandern. Nein, die Panik verschlingt
mich. Sie kocht und schäumt und führt dazu, dass der Schweiß
wieder ausbricht und mein Hoodie wieder eine Nuance dunkler
als vorher ist. In meinem Bauch legt sie sich nieder wie ein Stein,
sie erstickt das leichte, angenehme Blubbern vom Sekt und ersetzt
es durch ein drückendes Gefühl. So als hätte ich ein paar
Cheeseburger zu viel gegessen, aber nicht die leckeren
selbstgemachten, sondern die pappigen Dinger von McDonalds.
In meiner Brust macht sich ein Engegefühl breit, als ob es sich ein
Elefant darauf bequem gemacht hätte. Meine Atemzüge werden
flacher, dafür aber um ein Vielfaches schneller. Auch mein Herz
zieht an und ich höre meinen Puls in den Ohren rasen. Damit hätte
die Panik auch meinen Kopf erreicht. Mir wird schwindelig und
meine Sicht leicht unklar. Ich presse mich noch enger an die
Wand, möchte am liebsten mit ihr verschmelzen. Mich in ihr
verstecken.
Ich versuche mich an die Meditations- und Atemübungen zu
erinnern, die ich für solche Fälle gelernt habe, aber mein Kopf ist
leer. Nein, das stimmt nicht. Er ist zu voll. In meinem Kopf ist ein
Alarm losgegangen. Er schrillt und pocht im Rhythmus meines viel
zu schnellen Herzens. Die Gedanken rasen hin und her, versuchen
die Situation zu ergründen. Alles ist voller Fragen. „Was ist, wenn
sie wissen, dass ich die Dokumente entwendet habe?” „Werden sie
mich finden?” Eine kleine, sanfte Stimme flüstert Worte der
Beruhigung, versucht irgendwas zu sagen, doch sie wird von
lauten, panischen Schreien übertönt. „Und selbst wenn nicht -
sobald die Sache publiziert wird, würde es unmöglich sein, meine
Identität geheim zu halten.” Nun ist auch die Stimme des
Widerspruchs still.
Plötzlich knallt es, ein ohrenbetäubendes Geräusch, das es schafft,
mich aus dem Gedankenwirbel in meinem Kopf zu reißen. Als ich
mich umblicke, sehe ich Frank. Das Geräusch muss wohl das
Zufallen der Brandschutztür gewesen sein. Und das erste Mal in
meinem Leben bin ich tatsächlich froh, ihn zu sehen.
„Hier. Nimm das. Für alle Fälle.”
Mit diesen Worten überreicht er mir einen kleinen Beutel und
verschwindet ohne eine weitere Erklärung wieder im Gebäude.
Ich gehe einige Meter und setze mich auf einen Bordstein. Als
müsste ich mich vor einer Briefbombe schützen, öffne ich den
Beutel so pathetisch, als wolle ich einen Filmregisseur
beeindrucken. Der Einzige, der zusehen kann, ist ein Mülleimer.
Alles was der geboten bekommt, ist ein Häufchen Abfall, das einen
Beutel öffnet.
Als ich bei der Hälfte bin, sticht mir die Farbe Lila entgegen. Ich
greife rein und halte ein Milka Schokoladenherz in der Hand.
„I love Moni“. Das muss dann wohl die schräge Sekretärin sein.
Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendeine andere
Person aus diesem Laden so viel Nettigkeit vortäuschen kann, um
mit Vollmilchschokolade beschenkt zu werden.
Sollte das hier eine Entschuldigung dafür sein, dass er mich
betrunken belästigt hat und mir das Leben seit Monaten zur Hölle
macht, so hat sie nicht funktioniert. Ich bin nur noch wütender
darüber, dass er mich zu all dem gedrängt hat. Sein schwerer Atem
liegt nach wie vor auf meiner Haut. Genau wie seine selbstgefällige
Arroganz, die sich in Räumen absetzt wie kalter Zigarettenrauch.
Vielleicht ist es mein Vaterkomplex, der ihn trotzdem zufrieden
stellen will.
Ich muss an Illja denken. Daran, was er gesagt hatte, als wir
zusammen am Meer waren. Ich höre ihn immer wieder reden.
„Niemals, verstehst du? Niemals. Ist egal worum’s geht, wofür.
Verstehst du?“
Er konnte seine Familie nicht verraten. Die Loyalität zu Menschen
die er liebt, stand ihm immer ins Gesicht geschrieben. Das Grün in
seinen Augen vermittelte mir das beruhigende Gefühl von Freiheit.
Von jetzt an müssen es nur noch wenige Stunden sein, bis er
erfährt, dass ich ihn bestohlen habe. Um die Unterlagen. Um sein
Vertrauen. In meiner Brust macht sich wieder dieses Gefühl von
Enge breit. Ich atme, aber es fühlt sich so an, als würde mich
jemand zusammendrücken; als würde jemand versuchen, den
letzten Rest aus einer Caprisonne zu quetschen. Es ist wie
Klaustrophobie. Als wäre meine Lunge eingesperrt in einem
Fahrstuhl aus den Sechzigern, umgeben von schweren
Persönlichkeiten, die sich gegen mich lehnen, um genug Platz zu
haben, um ihre Koffer zu öffnen. Die Akten, die sie greifen wollen,
gleiten aus ihren verschwitzten Händen und verteilen sich überall
dort, wo ohnehin schon kein Platz ist. Meine Brust bleibt viele
Sekunden unbewegt, bis sie sich ruckartig wölbt, um Luft zu
atmen. Ich muss kurz weg gewesen sein. Vermutlich bin ich
unterzuckert. Kein Wunder, essen kann ich schon lange nicht
mehr. Meine zittrigen Hände greifen nach dem Milka Herz. So
muss sich meine kranke Großmutter gefühlt haben, als sie mir die
Hand gab wie ein zittriger Lachs. „Dattrich“ hat sie dazu immer
gesagt.
Ich nehme den Deckel ab. Während ich die mit Milchcreme
gefüllten Herzen in meinen Mund stopfe und sich mein Zustand
langsam verschlimmbessert, fällt eine Kreditkarte aus dem billigen
Plastik auf den Boden. Darauf ein Klebezettel. „Du wirst es
brauchen.“ Etwas weiter unten steht eine Nummer. „Es gibt eine
sichere Wohnung. Ruf an. Polyphem fährt dich.“ Dass Frank
offenbar erst nach weiteren 53 Treppen nach unten bemerkte, dass
es hier offensichtlich nicht nur um seinen Arsch geht, beweist
erneut, was für ein kaltschnäuziger Narziss er ist. Der Not
gehorchend wähle ich die Ziffern auf meinem Handy und stecke
mir mit jedem Tuten ein weiteres Herz in den Mund. Jemand
nimmt ab. „Das hat ja länger gedauert als der scheiß Artikel.“ Es ist
Polyphem, der sich kurz zu Wort meldet und sofort auflegt. Es
hupt. Ein schwarzer Cadillac. Polyphem am Steuer, als würde er
Mähdrescher fahren. Ich schaue mich ein letztes Mal um, während
ich ins Auto steige. Ich blinzel dem Mülleimer nickend zu, als wäre
es die letzte Gelegenheit mich zu verabschieden.
Ja, Illja, jetzt verstehe ich.
Worauf habe ich mich da bloß eingelassen? Hätte ich die Dinge
nicht einfach dabei belassen können? Aber nein, ich muss ja mal
wieder die Heldin spielen.
Gehemmt und angespannt vor Sorge vor dem, was jetzt auf mich
zukommt, setze ich mich auf den Beifahrersitz. „Werthers?”, fragt
Polyphem. „Nein danke, mir ist nicht so nach Süßkram.”, entgegne
ich ihm. Ich konnte diesen pappsüßen Bonbons noch nie was
abgewinnen. Höchsten Zahnschmerzen und einen klebrigen
Mund. Das brauche ich jetzt wirklich nicht. Schon komisch, dass
so ein ernster Riese wie Polyphem auf so komischen Oma-
Süßkram abfährt. Polyphem fährt los. „Wo bringst du mich hin?”,
frage ich mit zittriger Stimme. „Das weiß ich selber nicht.”,
antwortet er und zeigt auf das Navi zwischen uns. Das Ziel bewegt
sich. „Weißt du, wie lange wir in etwa fahren werden?”, frage ich
und fühle mich fast schon wie ein kleines Kind, das seine Eltern die
ganze Zeit mit der Frage Wie lange dauert‘s noch?” nervt. „Nein”,
antwortet er.
Es kommt mir so vor, als hätte jemand in Sachen Zeitrechnung das
Dezimalsystem eingeführt. Immer wieder verliere ich kurz den
Bezug zum Hier und Jetzt.
Die Realität zieht an meinem Bewusstsein vorbei wie ein D-Zug,
der an keiner Haltestelle Stopp macht und ich fahre genau in die
andere Richtung.
Im Delirium steuere ich eine alte Dampflokomotive. Es gelingt mir
gerade so, obwohl ich gar nicht weiß, wie man so ein Ding fährt.
Mein dumpf pochender Herzschlag wird eins mit dem monotonen
Stampfen der Lok. Die Situation wächst mir über den Kopf. Ich
wäre jetzt gerne bei Ilija, aber das geht nicht. Nie wieder. Das
Stampfen wird lauter. Der Raum wird enger. Wie der Kapitän
eines U-Boots, das gerade aufgelaufen ist, sitze ich da und lasse
das Unkontrollierbare geschehen. Ich kann nur hoffen, dass sich
die Umstände zu meinen Gunsten entwickeln werden. Ich kann
nichts tun außer zu lernen, mit diesem Druck und dem Stampfen
klarzukommen. Vielleicht ist das meine persönliche Irrfahrt.. und
ich sitze neben einem großen Mann, der Polyphem heißt. Was für
eine Ironie. Da muss ich schon fast schmunzeln.
Das Auto wird langsamer und aus dem Radio ertönt “All Out Of
Love” von Air Supply. „Was ist jetzt los?” frage ich. „Das Signal ist
weg, jetzt müssen wir warten.” antwortet er.
Wir verlassen die Straße und biegen in einen McDrive ab. Das
grelle McDonalds Schild brennt sich in mein Sichtfeld ein. Fast
schon angenehm. Ein Moment der Klarheit.
„Hast du Hunger?” fragt Polyphem freundlich und wirkt dabei wie
ein anderer Mensch. Als wäre aus dem ernsten Riesen plötzlich ein
netter, hungriger Teddybär geworden.
„Eigentlich nicht, aber ich würde eine Apfeltasche nehmen.”
antworte ich.
Nachdem wir bestellt und unsere Bestellung entgegengenommen
haben, fahren wir auf den anliegenden, leeren Parkplatz und stellen
uns genau in die Mitte. Das Auto riecht nach Pommes. Wie früher,
wenn man mit den Eltern spät abends auf der Autobahn kurz bei
McDonalds Halt gemacht hat, weil sie keine Lust mehr hatten zu
kochen. Voller Vorfreude packt Polyphem seinen Burger aus. Man
sieht förmlich, wie der Speichel seinen Mundraum
überschwemmt. Plötzlich ertönt ein schrilles Signal. „Und was ist
das jetzt?” frage ich erschrocken. „Es geht weiter...” sagt er und
schmeißt sichtlich genervt und vielleicht auch ein bisschen traurig
seinen Big Mac zurück in die Papiertüte.
Schade, für einen kurzen Moment konnte ich vergessen, in was für
einer prekären Situation ich stecke.
Das Motorengeräusch schwillt wieder an und Polyphems rauhe
Hände packen das Lenkrad. Mit leisem Surren verlassen wir den
öden Steinboden und gleiten wieder auf dem dunklen Asphalt
entlang. Zwischen uns die mayoverklebte Tüte. Ich schaue auf das
Navi; die Zeitanzeige lässt 41 Minuten bis zum Ziel verlauten.
Mein Magen gibt mir einen kleinen Schubser. Mein Blick wandert
nach rechts aus dem Fenster, ich beobachte die Büsche und
Bäume, die vorbeifliegen, und knabber an meiner Apfeltasche.
Mein Fahrer beobachtet mich. Sein Blick verpasst mir ein ungutes
Gefühl der Überwachung. Ich drehe den Kopf und Polypehms
Augen zucken zurück auf die Straße. Ich tue so, als hätte ich seinen
Blick nicht bemerkt und richte auch meinen nach vorne.
Gelbweiße Laternen beleuchten die leeren Straßen und blauen
Autobahnschilder. Wir passieren eine Bergspitze und haben nun
einen Überblick über die leicht gewölbte Landschaft. Nur wenige
Autos beleben mit ihren feinen Scheinwerfern die sauber gebauten
Straßen, die sich durch die Landschaft ziehen wie betonierte
Flüsschen.
Als würden sich Polyphems Gedanken in meine einreihen, sagt er:
„Wir hätten lieber eher fahren sollen. Im Tagesgeschehen
verschwinden solche Geschäfte wie unsere. Die Nacht ist viel zu
ruhig.” „Wissen ist Nacht.”, rezitiere ich Ilja. Bei dem Gedanken an
ihn bekomme ich wieder Schuldgefühle. Ein Lächeln bezieht den
rechten Mundwinkel meines Fahrers. Wieder ein kurzer Blick zu
mir. Stirnrunzeln. Blick nach vorne. „Frank hat mir von ihm
erzählt.”, wendet er sich mir zu. „Und auch, dass ihr euch sehr nahe
steht.” Nahe standen, flüstert mein Kopf. Als hätte er diese
Gedanken durch das Motorengeräusch hören können, antwortet
er mir: „Ich denke, er wird dir verzeihen. Es wird seine Zeit
brauchen, aber Frank war sich da seiner Sache sicher.” Wieder ein
Blick in den Rückspiegel. Wieder dieses Stirnrunzeln. Ich folge
seinem Blick.
In der Reflexion erkenne ich einen silbernen Renault. Er scheint
nur wenige Meter hinter uns zu sein. Skeptisch schaue ich wieder
nach vorne und dann nach links. Das Gesicht der fahrenden
Person ist aus dem Seitenspiegel heraus nicht erkennbar.
„Der folgt uns schon seit unserer kleinen Pause.”, brummt
Polyphem und gibt Gas. Der Renault fällt zurück und
verschwindet in der Nacht. „Kein Bock auf Probleme.”, kommt es
von der Steuerseite. Doch hinter uns tauchen erneut die
Scheinwerfer auf. „Scheiße.”, höre ich nur. Der Motor heult auf
und unser Wagen prescht nach vorne. Das plötzliche
Beschleunigen drückt mich in den weichen Sitz und die
Apfeltasche in meinem Bauch fühlt sich ungut an. Ich wage nichts
zu sagen, sondern beobachte im Rückspiegel nur die kleinen
Lichter des Renault, der sich durch die wenigen Autos schlängelt,
um uns zu erreichen. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit
manövriert uns Polyphem in die nächste Ausfahrt und rast durch
die schmalen Straßen einer kleinen Stadt. Das Navigationsgerät in
unserer Mitte gibt laut seinen Unmut kund. „Was passiert, wenn
wir es nicht schaffen, ihn abzuschütteln?”, frage ich mit einem
flauen Gefühl im Magen. „Niemand sollte wissen, wer und wo du
bist, wenn diese Informationen veröffentlicht werden. Du weißt zu
viel, als dass du als Informationsquelle in die falschen Hände fällst.
Dass das nicht möglich ist, dafür haben wir gesorgt. Oder werden
wir sorgen.”, sagt Polyphem grimmig und wie um seine Worte zu
unterstreichen, fasst er in die rechte Jackentasche. Seine Hände
umfassen den Griff einer Pistole.
Ich kneife die Augen zusammen und beiße mir auf die
schokoladige Unterlippe mit Apfeltaschen-Geschmack. Vor
meinem inneren Auge sehe ich zwei kleine Jungs in einem
muschelförmigen Gartensandkasten auf einem Balkon im 11. Stock
eines Betonklotzes der Nordweststadt, Ortsbezirk 8, spielen. Da
ist kein Sand drin. Banknoten. Kleine Jungs in einer kleinen
Wohnung mit kleinen Bündeln Banknoten. Sie haben sich lieb.
Doch was beide noch mehr lieben, ist das Spiel mit dem Geld.
Einer der Burschen streicht sich seine langen, zuckerklebrigen,
schwarzen Haare aus dem Gesicht und schreibt mit einem
angekauten Buntstift etwas in sein Notizheft. Der andere Junge
fächert die Scheinchen in seiner Hand auf, grinst so breit, dass
seine katzenartigen Reißzähne kein Entkommen aus dem Spiel
zulassen und sagt „Zieh eine!“
So stelle ich sie mir vor. Als wären sie als Bankräuber geboren
worden; als hätte man ihnen die Kriminalität in die Wiege gelegt;
als wären sie schon immer ein gefährliches Duo gewesen. Nein.
Letzteres stimmt nicht. Nicht mehr. Ilja und Frank sind zwar noch
blutsverwandte Brüder, aber sie waren ein unschlagbares Team.
Präteritum. Jedes lustige Spiel unter Kindern kann irgendwann in
Zankerei enden. Bis einer heult. Ich frage mich, ob sie irgendwann
noch einmal unschlagbar hätten werden können, wenn ich nicht
zwischen sie gekommen wäre. Ich habe es mir nicht ausgesucht,
Frank hat mich schließlich beauftragt, aber ich hätte Nein sagen
können… sogar sagen müssen, nachdem ich Iljas klugen Kopf
kennengelernt und sein weiches Herz meines berührt hatte. Er ist
ein besonnener Mensch, wenn man das überhaupt über einen
Verbrecher sagen darf. Er ist ruhig, clever und zielstrebig. Jeden
Raub hat er von vorne bis hinten allein geplant und skizziert.
Frank hat sie ausgeführt und für dieses höhere Risiko später auch
eine höhere Summe des Gewinns verlangt. Ich glaubte vor Jahren
schon nicht seinen Worten, Ilja hätte nicht teilen wollen, wäre zu
geizig gewesen, um seinem Bruder mehr Kohle zu überlassen. Ich
wusste, noch bevor Ilja es mir im Urlaub am Meer selbst erzählte,
dass er damals einfach nur aussteigen wollte. Raus aus der
gemeinsamen Schein-Wohnung in dem Betonklotz in der
Nordweststadt, Ortsbezirk 8. Raus aus dem kindischen
Versteckspiel. Raus aus dem geschwisterlichen Druck. Es ging
nicht um Geld. Er geizte nie. Auch nicht mit seinen Gefühlen mir
gegenüber. Und obwohl ich nur so tun wollte als ob – auch ich
hatte irgendwann ehrliche Gefühle für diesen besonderen
Menschen entwickelt. Wie sehr ich mir nun wünsche, in der
Mappe an Frank einfach nur die Liebesbriefe von Ilja abgegeben
zu haben. Sein Rat an mich, der mir die letzten Stunden in den
Ohren hallte, niemals etwas nur deswegen zu tun, weil man
jemandem irgendwann einmal sein Wort gegeben hatte, macht
mich jetzt wahnsinnig. Ich hatte es Frank versprochen, aber
damals kannte ich Ilja noch nicht.
„Scheiße!“ Polyphem reißt mich aus meinen Schuldgefühlen. „Bleib
sitzen!” Er hält.
Mein Rücken prallt unsanft gegen die Lehne des Sitzes.
Gleichzeitig erkenne ich den Grund für die Vollbremsung - ein
anderes Auto, in einem dreckigen Beige und mit
eingeschmettertem Vorderlicht, kommt rasend schnell näher.
Genau auf uns zu. Polyphem flucht noch einmal laut.
„Das ist doch ein verdammter schlechter Scherz,“ stößt er wütend
hervor und ich werfe ihm einen ungläubigen Blick zu.
„Jetzt ist der Punkt, an dem du auch mal nervös wirst, ja?“
Polyphem geht nicht auf mich ein. Über den Seitenspiegel
beobachtet er den Renault, der scharf hinter uns parkt. Murmelt
etwas Unverständliches und dreht sich mir zu. „Erkennst du auch
nur einen der Wagen?“
Ich schüttle mit dem Kopf. Mein Körper fühlt sich mittlerweile
ruhig an, fast taub. Die Panik bleibt aus. Vielleicht, weil das hier
trotz allem keine Überraschung ist. Ich wusste ja von Anfang an,
worauf ich mich einlasse. Nicht unbedingt emotional; und mit der
Sache zwischen Ilja und mir hat ja auch niemand gerechnet - ich
zuallerletzt. Aber grundlegend. Den Auftrag anzunehmen und heil
aus der Sache wieder herauszukommen, wäre damals schon eine
lachhafte Vorstellung gewesen.
Jetzt also unausweichlich – was immer kommt, kommt.
Das Fahrzeug vor uns hält in gut zehn Metern Entfernung. Kurz
scheint alles still. Niemand anderes in Sicht und die Autotüren
bewegen sich nicht. Es ist, als würden alle drei Parteien auf etwas
warten. Mein Mund wird jetzt doch trocken.
„Der Renault war keine Überraschung. Das Teil da,“ zischt
Polyphem und weist mit dem Kinn auf das beige Auto, „das gehört
Frank.“
„Frank?“
„Frank.“
Pause. Ich fühle mich, als würden mir mehrere Puzzleteile fehlen.
Mit Blick auf Polyphems Pistole schnalle ich mich ab.
„Du kannst mir nicht erzählen, dass Frank sich mit so einer
Schrottkarre sehen lässt.“
„Na, ich sag mal, sein offizielles Auto ist es nicht.“
„Und was macht Frank hier?“
„Die Frage ist vielmehr, wer in Franks Auto sitzt.“ Er schaut mich
an und hebt die Mundwinkel, die unangenehme Nachahmung
eines Lächelns. „Soweit ich weiß, haben nur zwei Menschen den
Schlüssel zu diesem Wagen. Und Frank überreicht in der
Redaktion gerade deine Arbeit. Persönlich.“
Ich spüre, wie sich ein Fragezeichen langsam über meinem Kopf
aufbläht, während ich Polyphem anstarre. „Dieser Dreckskerl“,
zischt es zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Dieses verdammte Schwein. Wie hat er uns gefunden?“, fährt er
mit beunruhigend ruhiger Stimme fort. Ein Geräusch hinter uns
erregt meine Aufmerksamkeit und als ich über meine linke
Schulter schaue, stelle ich fest, dass der Verfolger uns nun
eingeholt hat und hinter uns stehen bleibt. Geblendet vom Licht
wende ich mich mit zusammengekniffenen Augen wieder zu
Polyphem, der immer noch das Auto anstarrt und tue es ihm
gleich. Das Fragezeichen über meinem Kopf ist inzwischen so
groß, dass es für Polyphem und mich ziemlich eng im Auto und
schwer zu atmen wird. Ich fühle mich so hilflos wie ein Vogelbaby,
das von seinen Eltern aus dem Nest geschmissen wird.
Plötzlich öffnet sich die Tür des hinteren Autos und ich zucke
zusammen. „Pass auf, wirklich niemand sollte von dir erfahren. Das
könnte dich dein Leben kosten.“ Ich schlucke und beiße die Zähne
zusammen, um das Klappern zu unterdrücken und meine
Aufregung zu verbergen. Polyphem wendet sich zu mir und schaut
mir direkt in die Augen. Er wirkt gefasst. „Sobald die da
aussteigen, haben die dich. Deshalb musst du hier raus. Und zwar
vor denen.“ Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass mein Gehirn vor
Überforderung seine Worte nicht verarbeiten kann, oder dass es
vielleicht tatsächlich ein genialer Einfall ist, aber ich nicke ihm zu.
„Du wirst die Tür aufreißen und einfach in den Wald durch die
Nacht rennen. Um die hier kümmer‘ ich mich.“
Ein Blick in den Seitenspiegel. Jemand steigt aus dem hinteren
Auto. Ich öffne den Mund und noch bevor ich antworten kann,
erstickt ein Knall alle Worte in meinem Hals und Gedanken in
meinem Kopf. Das spitze Geräusch der zersplitternden
Autoscheiben nehme ich kaum wahr, als ich meinen Oberkörper
instinktiv nach unten reiße. Das vor einigen Momenten noch
riesige Fragezeichen im Auto hat jetzt ein Loch und saust
unkontrolliert wie ein Luftballon im Auto herum, während es all
seine Luft verliert. „Renn!“, brüllt mich Polyphem mit
aufgerissenen Augen an. Ohne zu blinzeln reiße ich die Tür auf
und renne geradeaus, um in der Dunkelheit zu verschwinden.
Doch genau in diesem Augenblick höre ich eine Stimme, die
meinen Namen ruft. Als ich mich in ihre Richtung drehe, schaue
ich direkt in die Scheinwerfer des beigefarbenen Autos und nehme
eine vertraute Silhouette wahr, die aus dem Auto steigt. Zu
undeutlich, um eine Person zu erkennen, allerdings deutlich
genug, um mein rasendes Herz für einen Moment stolpern zu
lassen. Plötzlich fühle ich einen Widerstand an meinem Fuß,
welcher mir jegliches Gleichgewicht entzieht, meinen Körper nach
vorne schmeißt und mich der Dunkelheit übergibt. Anstatt hart
auf dem Boden aufzuschlagen, überschlägt sich mein Körper
immer wieder und erneut peitscht ein kurzer Knall aus kurzer
Entfernung durch die Nacht. Ich spüre, wie sich stumpfe Dinge
widerstandslos wahllos in meinen Körper drücken. Zwei weitere
Knalle. Dicht gefolgt von einem weiteren, etwas dumpferen, der
allerdings daherkommt, dass mein Oberkörper auf einen großen,
unbeugsamen Widerstand trifft, der mich zwar augenblicklich
stoppt, mir jedoch ebenfalls die Luft aus der Lunge presst.
Vielleicht hat der Stein den Sauerstoff aber auch von meiner
Lunge durch die Blutbahn direkt ins Gehirn katapultiert,
jedenfalls ist der Nebel verschwunden und der erste klare Gedanke
hebt sich ab.
Ilja. Wer sonst sollte es so eilig haben, mich zu sehen.
Zurückgehen oder weiterlaufen? Dieses Mal wird keiner Wetten
über mich abschließen.
Zwei oder drei Stimmen krabbeln durchs Gestrüpp. Darunter
Iljas, die wie eine Flipperkugel von seinen Emotionen abprallt und
umher geschleudert wird. Als ich mich auf den Rücken drehe,
knacken die Zweige unter mir mindestens so laut wie die Schüsse
eben.
Die Schüsse...
Wusste Polyphem, dass Waffen zum Einsatz kommen würden?
Oder Frank? Warum sonst hätte der Hüne eine dabeihaben sollen?
Mein Herzschlag pocht in den Ohren. Dudummm. Dudummm.
Als wüsste der Muskel in meiner Brust, dass es um ein Haar
Nacht um mich geworden wäre und als wollte er versichern, dass
er weiterarbeitet.
Jemand hat den Ton wieder angestellt. Meine Gedanken
schweifen zur Straße zurück. Das Murmeln schwillt zu Geschrei
an.
Wie lange wird es dauern, bis sie mir nachlaufen? Wie lange habe
ich noch, bis ich eine Entscheidung treffen muss?