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Leseprobe: Die Schmetterlinge ... und die anderen (Léo Breda)

Für Britta Neumann hieß leben, mal die Würfel entscheiden lassen, mal Münzen werfen. Doch das ist zwanzig Jahre her. Aber als eine Stimme am Telefon sie daran erinnert, dass dieses Gesicht, das heutzutage alle von ihr kennen, nicht immer das Ihrige war, kommt das Spiel in den ruhigen Gassen ihrer Wahlheimat Frankfurt wieder in Fahrt. Sie weiß, dass sie dieses Mal nichts gewinnen kann und sogar alles verlieren könnte. „Die Schmetterlinge … und die anderen“, aus dem Französischen von Anni Sima-Ducree, verschreibt sich einer neuen Strömung des Roman Noir. Man schmunzelt, man lacht, dann taucht man mitten in spannungsgeladene Intrigen, wo die Grausamkeit der einen mit der Hinterlist der anderen wetteifert. Taschenbuch: 336 Seiten Verlag: FATHER OF SUN (8. Juli 2018) Sprache: Deutsch ISBN-10: 2954871784 ISBN-13: 978-2954871783

Für Britta Neumann hieß leben, mal die Würfel entscheiden lassen, mal Münzen werfen. Doch das ist zwanzig Jahre her. Aber als eine Stimme am Telefon sie daran erinnert, dass dieses Gesicht, das heutzutage alle von ihr kennen, nicht immer das Ihrige war, kommt das Spiel in den ruhigen Gassen ihrer Wahlheimat Frankfurt wieder in Fahrt. Sie weiß, dass sie dieses Mal nichts gewinnen kann und sogar alles verlieren könnte. „Die Schmetterlinge … und die anderen“, aus dem Französischen von Anni Sima-Ducree, verschreibt sich einer neuen Strömung des Roman Noir. Man schmunzelt, man lacht, dann taucht man mitten in spannungsgeladene Intrigen, wo die Grausamkeit der einen mit der Hinterlist der anderen wetteifert.

Taschenbuch: 336 Seiten
Verlag: FATHER OF SUN (8. Juli 2018)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 2954871784
ISBN-13: 978-2954871783

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<strong>Die</strong> <strong>Schmetterlinge</strong> ... <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>anderen</strong><br />

(<strong>Leseprobe</strong> – Juli 2020)


<strong>Léo</strong> BREDA<br />

<strong>Die</strong> <strong>Schmetterlinge</strong><br />

... <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>anderen</strong><br />

Roman<br />

Aus dem Französischen<br />

von Anni Sima-Ducree<br />

FATHER OF SUN


Alle Rechte vorbehalten für alle Länder.<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist<br />

ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,<br />

Übersetzungen, Mikroverfilmungen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Einspeicherung <strong>und</strong> Verarbeitung in<br />

elektronischen Systemen.<br />

Informationen über Bücher aus dem Father of Sun Verlag unter: www.fatherofsun.fr<br />

Umschlaggestaltung, Illustration: Limiè an nwèsè<br />

(Originalversion: ISBN 978-2-9548717-6-9,<br />

Father of Sun - éditions, Dreieich)<br />

Vollen Wortlaut<br />

© FATHER OF SUN, 2018.<br />

http://www.fatherofsun.fr<br />

ISBN 978-2-9548717-8-3


An unsere<br />

geliebten Irrtümer<br />

<strong>und</strong> lass uns hoffen,<br />

dass der Teufel<br />

tatsächlich<br />

im Detail steckt.


Erster Teil<br />

Z i n n o b e r r o t


1<br />

Spieglein, Spieglein<br />

Der schrille Ton drang in mein Ohr, als ich über <strong>die</strong> Schwelle trat.<br />

Ich ließ sogar versehentlich <strong>die</strong> Tür ziemlich unsanft hinter mir ins<br />

Schloss fallen. Kurzum war es äußerst unwahrscheinlich, dass meine<br />

Ankunft unbemerkt bleiben würde; trotzdem erschien niemand.<br />

Ganz offensichtlich hatte der alte Giancarlo keine Eile einen weiteren<br />

K<strong>und</strong>en willkommen zu heißen. Zugegebenermaßen: Ich war<br />

spät. Er hatte schon seine zwei Verkäuferinnen nach Hause geschickt<br />

<strong>und</strong> war offenbar im Begriff zu schließen aber ich kenne ihn;<br />

er würde es nicht übers Herz bringen mich rauszuschmeißen.<br />

Er ließ sich jedoch immer noch nicht blicken. Macht nichts, ich<br />

nutzte <strong>die</strong>se paar Minuten, alleine zu sein, um ein Auge auf <strong>die</strong> Neuheiten<br />

zu werfen.<br />

Giancarlo Rizzetti gefällt es, wenn seine K<strong>und</strong>en, insbesondere<br />

seine K<strong>und</strong>innen, sich in seiner Boutique wie zuhause fühlen. Und<br />

durch seine angenehme Art, schafft er <strong>die</strong>se gemütliche Atmosphäre,<br />

<strong>die</strong> den Eindruck vermittelt in einem Kaffeehaus oder etwas Ähnlichem<br />

zu sein. Das ist auf jeden Fall der Eindruck, den ich hatte, als<br />

ich das erste <strong>und</strong> einzige Mal tagsüber dort war. Ich hatte überwiegend<br />

schwatzende Frauen gesehen <strong>und</strong> es schien, als seien sie nur<br />

deshalb gekommen. Es waren zwar ein paar Männer da, aber eigentlich<br />

fielen sie nicht weiter ins Gewicht. Man muss wirklich von<br />

einem <strong>anderen</strong> Planeten kommen, um nicht zu wissen, dass "Nostra


Strada", <strong>die</strong> Boutique von Giancarlo Rizzetti, ein Ort ist, der mehr<br />

oder weniger dem weiblichen Teil der Gesellschaft vorbehalten ist.<br />

Ah! Das angenehme Geraune des nahezu ununterbrochenen Geschwätzes<br />

der parfümierten Damen, <strong>die</strong> über alles <strong>und</strong> nichts redeten,<br />

fröhlich <strong>und</strong> sorglos ... Ich hatte also beschlossen, nie wieder<br />

am helllichten Tag einen Fuß dorthinein zu setzen. <strong>Die</strong>se zuckersüße<br />

Affektiertheit war, vor allem heute Abend, das Letzte was ich<br />

brauchte. Aber dennoch war mir danach jemanden zu sehen <strong>und</strong> mit<br />

jemandem zu reden. Eine wohlwollende Person <strong>und</strong> ... nicht zu nahe<br />

stehend. Hmh! Warum nicht mein alter Giancarlo?<br />

»Oh! Meine liebe Donnerstagabend K<strong>und</strong>in!«, rief mein altes<br />

Schlitzohr, als er endlich aus dem Lager, in dem er beschäftigt<br />

war, rein schneite.<br />

»Wie geht es Ihnen Giancarlo?«<br />

Ich versuchte ihn mit einem strahlenden Gesicht zu begrüßen; er<br />

hingegen, baute sich direkt vor meiner Nase auf <strong>und</strong> musterte ganz<br />

frech mit seinen kleinen forschenden Augen, mein Gesicht. Während<br />

er mir <strong>die</strong> Hand gab, wackelte Giancarlo mit den Augenbrauen, wie<br />

um mit mir scherzhaft ein bisschen zu flirten, wahrscheinlich auch,<br />

um ein wenig meine Gedanken zu erraten. Der alte Fuchs! Tja! Man<br />

kann einem alten H<strong>und</strong> keine neuen Tricks beibringen. Ich sah sofort<br />

das Fragezeichen in seinem Gesicht, aber er rang sich dazu durch<br />

persönliche Fragen zu einem späteren Zeitpunkt zu stellen; sollte ich<br />

es ihm überhaupt gestatten.<br />

»Ich nehme an, dass etwas Unerwartetes passiert ist, meine<br />

Liebe, jedenfalls etwas recht Dringendes, um an einem <strong>Die</strong>nstag<br />

zwei Minuten vor Feierabend hierher zu kommen. Oder irre ich<br />

mich?«<br />

»Oh, Giancarlo! Ich weiß, es ist spät. Aber ich verspreche<br />

nicht zu viel Ihrer Zeit zu beanspruchen. Ich habe schon bei den neuen<br />

Modellen in dem Regal da, zwei Paar Pumps entdeckt, <strong>die</strong> mir<br />

gefallen. Das Rote, in der Farbe von zerdrückten Erdbeeren <strong>und</strong> das<br />

aus braunem Lack daneben ...«<br />

»Aber, aber, junge Dame! Ich betreibe <strong>die</strong>ses Geschäft seit<br />

fast vier<strong>und</strong>zwanzig Jahren <strong>und</strong> habe noch niemals abgelehnt eine<br />

meiner guten K<strong>und</strong>innen zu be<strong>die</strong>nen, selbst wenn es mir einen<br />

etwas späteren Feierabend beschert hat. Kommen Sie, machen Sie<br />

12


sich’s bequem. Ich schließe <strong>die</strong> Türe zu — ich will trotz allem nicht<br />

bis Mitternacht geöffnet haben. Und ich hole Ihnen was Sie möchten.<br />

<strong>Die</strong> roten Schuhe <strong>und</strong> ... <strong>die</strong> aus Lack. Ich bin gleich zurück! 38,<br />

39, ist ihre Größe, richtig?«<br />

»Sie haben ein gutes Gedächtnis!«<br />

»Ja, das ist berufsbedingt ...«<br />

Ich zog meinen Mantel aus <strong>und</strong> wählte einen der abgewetzten Skai-<br />

Puffs gegenüber dem schrägen Spiegel, um mich zu setzen.<br />

Mein unerwarteter Besuch hatte <strong>die</strong> Neugierde meines alten Giancarlo<br />

geweckt, doch momentan beschränkte er sich darauf, wie eine<br />

Katze, um den heißen Brei zu schleichen. Er wagte es noch nicht <strong>die</strong><br />

Frage, <strong>die</strong> ihm auf der Zunge brannte vorzubringen, aber ganz bestimmt,<br />

würde er bald ins kalte Wasser springen. Ich sah es kommen.<br />

Und wenn er mich jetzt fragen würde: »Was läuft schief, junge<br />

Dame?«, würde ich <strong>die</strong> Kraft haben weiter zu schweigen? Oder noch<br />

schlimmer! Würde ich <strong>die</strong> Stirn haben ihm nette kleine Geschichten<br />

zu erzählen, schön <strong>und</strong> gut zurechtgelegt aber falsch, wie <strong>die</strong>, <strong>die</strong> ich<br />

meiner Familie schon seit vier<strong>und</strong>zwanzig Jahren auftischte <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

ich all denjenigen wiederholte, welche ich in den vergangenen zwanzig<br />

Jahren kennengelernt hatte, seit dem Tag, an dem ich aufgehört<br />

hatte Jasmin zu sein?<br />

»Ja, ich erinnere mich, dass Sie einen schmalen Fuß haben«,<br />

sagte Giancarlo nachdenklich, nachdem er mich jeden der zwei Paar<br />

Schuhe anprobieren ließ. »Und wider Erwarten ... ist es ein Fuß, der<br />

scheinbar viel gelaufen ist.«<br />

»Ja, kann man so sagen, ja«, antwortete ich ihm absichtlich<br />

ausweichend.<br />

»Anfangs sind sie etwas eng«, fuhr er fort, professionell <strong>und</strong><br />

wie immer hilfsbereit, »aber sobald sie sich gedehnt haben, sind sie<br />

sehr bequem. Also, echt! <strong>Die</strong>se Schuhe sind von hervorragender<br />

Qualität.«<br />

»Das ist mir schon klar, Giancarlo, sonst wäre ich nicht hier.<br />

Sie gefallen mir sehr gut. Ich nehme beide!«<br />

»Bravo!«<br />

Über nichts war ich mir sicher, außer dass mir merkwürdig zumute<br />

war. Ich fand mich eigentlich ziemlich erbärmlich. Ich war umhergeirrt<br />

bis hierher, mit der vagen Idee im Kopf jemandem einzuge-<br />

13


stehen was ich auf dem Herzen hatte, ein bisschen wie wenn man<br />

eine zu schwer gewordene Last abwerfen würde. Aber letztendlich<br />

war ich doch erleichtert es abzuhacken <strong>und</strong> nach Hause gehen zu<br />

können. Es ist auf jeden Fall richtig, in dem Moment, wo ich den<br />

M<strong>und</strong> aufgemacht hätte, hätte ich mich möglicherweise gegenüber<br />

meinem alten Schuhhändler gew<strong>und</strong>en wie ein Aal. Er hatte es wirklich<br />

nicht ver<strong>die</strong>nt, meine Feigheit zu ertragen. In der Vergangenheit<br />

hatte ich jede Menge anderer Händler kennengelernt, mit Produkten,<br />

weit weniger zulässig, als meine hohen Schuhe, <strong>die</strong> ganz <strong>und</strong> gar<br />

meine Heuchelei ver<strong>die</strong>nt hätten, aber nicht er; nicht mein alter<br />

Giancarlo.<br />

Es war in Ordnung. Alles in allem hatte er das Recht nach Hause zu<br />

gehen, um sich auszuruhen. Und ich wollte jetzt nur bezahlen <strong>und</strong><br />

heimwärts gehen, zwar erleichtert, aber gleichzeitig mit einem tonnenschweren<br />

Herzen, da ich schlussendlich nicht den Mumm gehabt<br />

habe, ... zu reden.<br />

»Verzeihung, ich möchte nicht indiskret sein ... aber ...«<br />

»Was ist denn?«<br />

»Nun ja! Ich weiß nicht genau, ob ich ... darf.«<br />

»Aber ja doch! Schießen Sie los! Sie dürfen mich alles fragen,<br />

was Sie wollen. Es wird mich überhaupt nicht stören.«<br />

Unter seinen dichten, graumelierten Augenbrauen fixierte mich der<br />

alte Giancarlo mit einem Blick voller Zärtlichkeit.<br />

»Junge Dame, Sie haben meine Frage teilweise schon beantwortet.<br />

Ihre Voreiligkeit mir zu versichern, dass Sie nicht irritiert<br />

sein werden, egal was ich Sie fragen könnte, erscheint mir sehr befremdlich<br />

... <strong>Die</strong>s ist für mich ein Zeichen, dass Sie heute Abend<br />

nicht wirklich zum Schuhe kaufen gekommen sind. Ich bin übrigens<br />

in der Lage abzuschätzen, dass wenn Ihnen etwas fehlt, es sicherlich<br />

nicht ein Paar Schuhe ist. Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich freue<br />

mich, dass ich heute noch zwei Paar Schuhe verkauft habe; leichte<br />

Gewinne machen einen dicken Geldbeutel. Aber <strong>die</strong>ser Kauf ... ist<br />

nur ein Vorwand, nicht wahr?«<br />

Nein, nicht schon wieder! Nicht hier, nicht jetzt ... Genauso wie vor<br />

zwei Tagen, als ich abends <strong>die</strong>se Reportage im Fernsehen über ehemalige<br />

Prostituierte gesehen hatte. Zuerst hatte ich mit amüsierter<br />

Neugierde zugeschaut. Alle <strong>die</strong>se Mädchen erzählten, wie schwierig<br />

14


es ist, aus tausenderlei von Gründen, abzuspringen. Und ich sagte<br />

mir: »Pff! Quatsch! Das ist alles nur Getue.« Und dann langsam,<br />

keine Ahnung warum, spannte sich ein Bogen zwischen mir <strong>und</strong> den<br />

Mädchen, meinen Schwestern. Und ganz plötzlich löste sich bei mir<br />

ein Ventil. Aber er, mein alter Giancarlo, er würde doch sowas nicht<br />

heraufbeschwören ...<br />

»Ich habe es nicht eilig, wissen Sie. Wir können noch eine<br />

Weile bleiben. Aber nicht zu lang, gell ... Ich bin ein alter Mann.<br />

Und, um den Vorstellungen bezüglich älterer Menschen, deren<br />

Nächte angeblich mit der Zeit kürzer <strong>und</strong> kürzer werden, zu widersprechen,<br />

müssen Sie wissen: Ich! Ich brauche viel Schlaf. Und?<br />

Warum sagen Sie mir nicht einfach was Sie so sehr bedrückt <strong>und</strong><br />

dazu bringt mir <strong>die</strong>sen liebenswürdigen Besuch abzustatten?<br />

Selbstverständlich bleibt das unter uns, meine Liebe. Versprochen!«<br />

Wenn man bedenkt, dass mir dergleichen seit Jahren nicht mehr<br />

passiert ist ... Zum zweiten Mal innerhalb von acht<strong>und</strong>vierzig St<strong>und</strong>en,<br />

war ich in Tränen aufgelöst.<br />

Giancarlo kniete immer noch ein bisschen betreten vor mir <strong>und</strong><br />

tätschelte meine Hand. Er wusste nicht so recht, wie er mich besser<br />

trösten könnte.<br />

»Oh nein. Was ist denn los, was ist Ihnen pass ...? Ach, da!<br />

Nein!«<br />

Er stand plötzlich mit einer für sein Alter flinken Bewegung auf<br />

<strong>und</strong> steuerte mürrisch direkt auf <strong>die</strong> Eingangstür zu. Ein Mann —<br />

scheinbar ein Obdachloser — hatte sein Gesicht an das Schaufenster<br />

gedrückt, was seine Gesichtszüge zu einer fiesen Grimasse erstarren<br />

ließ, <strong>und</strong> er schaute uns eindringlich an.<br />

Giancarlo drehte den Schlüssel um <strong>und</strong> öffnete wütend <strong>die</strong> Tür.<br />

»Geh weg! Hau ab! Verschwinde von hier! Ich hab genug<br />

von dir.«<br />

Der Armselige ließ locker. Giancarlo ist zu ihm nicht sehr entgegenkommend<br />

gewesen, dennoch schien der Mann es ihm nicht übel<br />

zu nehmen. Während er sich zurückzog, schenkte er dem Älteren<br />

15


einen Blick, den hätte man beinahe als ehrerbietig bezeichnen können.<br />

<strong>Die</strong>s war für mich eine rettende Unterbrechung. Ich konnte mich so<br />

wieder fangen <strong>und</strong> <strong>die</strong>ses Übermaß an Emotionen abschütteln, <strong>die</strong><br />

mich aufgewühlt <strong>und</strong> dazu gedrängt hatten, meiner Niedergeschlagenheit<br />

Luft zu machen.<br />

»Alles Bestens«, sagte er, als er zurück kam. »Ich reiche<br />

gerne, denen <strong>die</strong> Hand, <strong>die</strong> in Not sind aber mitunter missbraucht es<br />

einer. Der da ist nicht bösartig. Aber er hat sich kürzlich schlecht benommen.<br />

Ich stecke ihn sozusagen in Quarantäne, sagen wir mal, ...<br />

für eine Weile«, schloss er in scherzhaftem Ton.<br />

»Ich wollte sowieso gerade gehen.«<br />

»Nicht doch, wie gesagt, ich habe alle Zeit der Welt. Sie<br />

brauchen sich nicht zu genieren. Moment mal ... Mmh, ich sollte eine<br />

Packung Papiertaschentücher hinter dem Tresen haben.«<br />

»Nein, nein, machen Sie sich keine Umstände! Alles was ich<br />

brauche, habe ich in meiner Handtasche. Es ist mir peinlich, so ein<br />

Theater vor Ihnen gemacht zu haben. Es tut mir leid.«<br />

»Es muss Ihnen nicht leid tun. Ich denke, in erster Linie sollten<br />

Sie sich jemandem anvertrauen.«<br />

Ich schaute Giancarlo ratlos an, <strong>und</strong> auf einmal entschied ich, mich<br />

etwas zu entspannen. Vielleicht würde mir das gut tun.<br />

»Ich weiß nicht so genau, wie ich an <strong>die</strong>ses Thema herangehen<br />

soll. Sie wissen schon, sobald man sich ein bisschen offenbart,<br />

neigen <strong>die</strong> Leute dazu, hinterm Rücken über einen zu reden ...«<br />

»Ich weiß. Aber wissen Sie, <strong>die</strong> Leute, das sind wir selbst.<br />

Na kommen Sie! Erzählen Sie mir ein bisschen, was Sie so durcheinanderbringt.<br />

Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«<br />

Ich zögerte nochmals, schlussendlich gab ich ihm dann doch einen<br />

Anhaltspunkt.<br />

»Ich glaube, mein Make-up lastet schwer auf mir.«<br />

Giancarlo starrte mich an, als ob er bereits verstanden hätte, dass<br />

<strong>die</strong> Worte <strong>die</strong> ich nicht aussprechen konnte, mich schon seit Jahren<br />

quälten.<br />

»Ich weiß, was Sie meinen ... Jedem seine Maske, jedem seine<br />

Geheimnisse. Wissen Sie was wir machen?«<br />

»...«<br />

16


»Sie gehen jetzt nach Hause <strong>und</strong> versuchen etwas zu<br />

schlafen. Morgen früh oder im Laufe der Woche werden Sie mit<br />

kühlem Kopf über all das nachgedacht haben, <strong>und</strong> falls Sie möchten,<br />

kommen Sie doch einfach wieder vorbei <strong>und</strong> wir unterhalten uns.<br />

Einverstanden? Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«<br />

»Nein, das ist nicht nötig. Ich habe mein Auto dahinten auf<br />

Ihrem kleinen Parkplatz stehen. Giancarlo, ... ich schätze Ihre Fre<strong>und</strong>lichkeit.«<br />

»Passen Sie auf sich auf.«<br />

Nachts, um <strong>die</strong>se fortgeschrittene Uhrzeit war im Viertel alles<br />

ruhig. Ich lief ein bisschen herum <strong>und</strong> war plötzlich wieder da. Giancarlo<br />

hatte <strong>die</strong> Leuchtreklame des Geschäfts schon lange gelöscht.<br />

Außer mir <strong>und</strong> einem trägen Taxifahrer, der in Zeitlupe Richtung<br />

Mainufer fuhr, war keine Menschenseele unterwegs. <strong>Die</strong> Schweizerstraße<br />

war für ein paar St<strong>und</strong>en im Schlaf versunken.<br />

Ich stand immer noch vor dem dunklen Schaufenster <strong>und</strong> fragte<br />

mich, was ich hier zu suchen hatte, als <strong>die</strong> St<strong>und</strong>e des Aufstandes<br />

schlug. Jahre später, nachdem ich ihn täglich gezwungen hatte nach<br />

meiner Pfeife zu tanzen, lange nachdem ich ihn zu einem gewöhnlichen<br />

Instrument gemacht hatte, nachdem ich ihn als solches, weder<br />

mit Respekt noch Schamgefühl, benutzt <strong>und</strong> missbraucht hatte,<br />

leitete mein Körper eine kleine Palastrevolution ein. Meine Füße<br />

widersetzten sich stur, sich von der Stelle zu bewegen, bald würde<br />

ich Wurzeln schlagen. Dann war es meine rechte Hand, <strong>die</strong> sich aus<br />

einem dumpfen Impuls heraus, der Mauer näherte, um meine flinken<br />

Fingerspitzen besser über <strong>die</strong> komplett mit schwarzen Mosaiksteinen<br />

bedeckte Fassade des Schuhladens, streicheln zu lassen. Nach Jahren<br />

der Knechtschaft brachte meine fleischliche Hülle ihr Bedürfnis<br />

nach Eigenständigkeit ans Licht. Ich bekam trotzdem wieder <strong>die</strong><br />

Oberhand <strong>und</strong> steuerte wie ein Roboter zu meinem Auto. Morgen<br />

wäre ein neuer Tag; wie eh <strong>und</strong> je.<br />

17


[Kapitel 7 – Spielend einfach]<br />

-Britta hat eine komische Begegnung (Einführung einer neuen<br />

Hauptfigur der Geschichte.)<br />

(…/…)<br />

Ich brauchte exakt eine St<strong>und</strong>e, nicht eine Sek<strong>und</strong>e mehr, um mich<br />

fertig zu machen, dann lief ich los. Ich trat aus dem Gebäude <strong>und</strong><br />

blieb direkt unten auf dem Bürgersteig kurz stehen, um ein paar Minuten<br />

<strong>die</strong> Sonnenstrahlen zu genießen.<br />

Das Viertel war frisch renoviert worden <strong>und</strong> alles war funkelnagelneu.<br />

<strong>Die</strong> große Halle <strong>und</strong> das Einkaufszentrum auf der <strong>anderen</strong> Straßenseite,<br />

das Altersheim, das Schwimmbad, <strong>die</strong> Bäckerei, all <strong>die</strong>se<br />

Gebäude wurden vor kurzem wie Pilze aus dem Boden gestampft,<br />

was mehr Backsteine, Stahl <strong>und</strong> Glas in <strong>die</strong> DNA meiner Straße<br />

injizierte. <strong>Die</strong> Mutation war drastisch gewesen. Ein großer Straßenabschnitt<br />

war unter Einsatz von Kränen <strong>und</strong> Baggern, von oben bis<br />

unten neu gestaltet worden, <strong>und</strong> <strong>die</strong> komplette Textorstraße bekam<br />

dadurch ein neues Kleid. Somit war unter <strong>die</strong>sen Gegebenheiten von<br />

Alltag zu sprechen, fast eine falsche Bezeichnung. Wobei sich einiges<br />

ziemlich schnell von selbst einspielte. Ein neuer Trott hatte sich<br />

etabliert, an den ich mich bereits gewöhnt hatte. Daher nahm ich mit<br />

einem sachk<strong>und</strong>igen Blick, mein Viertel in seinem neuen Gefieder<br />

unter <strong>die</strong> Lupe; keine zusätzliche, signifikante Veränderung wäre<br />

meiner Wachsamkeit entgangen. Es gab schätzungsweise <strong>die</strong> gleichen<br />

Tauben, <strong>die</strong> gleichen älteren Leute, <strong>die</strong> ihren kleinen Spaziergang<br />

über den Adlhoch Platz machten oder miteinander plaudernd<br />

auf Bänken saßen. Alles war wie gewöhnlich ... oder nahezu.<br />

Zunächst einmal war <strong>die</strong>ses Motorrad am Bordstein geparkt! Man<br />

hat zwar das Recht, sich eine Rentnerschleuder zu kaufen; das ist jedem<br />

Selbst überlassen. Aber hat man wirklich das Recht, solch eine<br />

Lackierung auszusuchen? <strong>Die</strong> Debatte ist eröffnet. Ich ließ das Paillettenzweirad<br />

zuerst links liegen, um den Platz zu überschauen. Dabei<br />

erspähte ich noch eine Widersinnigkeit, beziehungsweise eine<br />

Person, ein Schandfleck in der Landschaft, eine Art Kamel in einer<br />

Schafherde. Nein, liebe Fre<strong>und</strong>e! Elvis war nicht gestorben <strong>und</strong> er<br />

genoss auch nicht incognito sein Leben in Las Vegas. Weitersagen!<br />

Er war mitten unter uns, quietschlebendig, in Frankfurt! Ich hatte ihn


direkt vor meinen Augen. <strong>Die</strong> Legende des Rock'n'Rolls hatte seine<br />

Bühnenkleidung im Schrank vergraben <strong>und</strong> war Fotograf geworden.<br />

Ein Charmeur sondergleichen, knackig braun gebrannt; er sprach ungeniert<br />

<strong>die</strong> alten Damen des Seniorenheims an — einzig <strong>und</strong> allein<br />

<strong>die</strong> Damen — scherzte mit ihnen, <strong>und</strong> wie ich von meinem Beobachtungsposten<br />

wahrnehmen konnte, bat er um ihre Zustimmung, sie zu<br />

fotografieren. All <strong>die</strong>se alten Mädchen schienen von der Idee, vor<br />

dem Objektiv des braunen Schönlings zu posieren, begeistert zu<br />

sein. Sie glucksten vor Freude <strong>und</strong> erfüllten ganz selbstverständlich<br />

seine Bitte.<br />

<strong>Die</strong>ser kleine Ringelreihen hatte etwas Skurriles <strong>und</strong> Fröhliches,<br />

das meine Stimmung ein wenig aufpeppte.<br />

Ich überquerte den Platz, um mein Auto zu holen, das vor dem<br />

Tante-Emma-Laden, Ecke Schwanthaler- <strong>und</strong> Laubestraße stand.<br />

<strong>Die</strong> Blinker leuchteten auf, als ich <strong>die</strong> Türen aus der Entfernung<br />

entriegelte <strong>und</strong> meine Hupe posaunte, was kurz <strong>die</strong> Harmonie des<br />

Tschilpens der siebzigjährigen Mannequins, <strong>die</strong> sich auf der Esplanade<br />

präsentierten, unterbrach. Schließlich kündigte sich der Tag<br />

nicht so übel an, wie ich es mir vorgestellt hatte ...<br />

Eigentlich doch! Ich hätte es besser wissen müssen. <strong>Die</strong>ser Tag<br />

verhieß mies zu sein; ganz mies!<br />

Ich war kaum aus meiner Parklücke gefahren, hatte keine fünf<br />

Meter zurückgelegt, als ich das Gefühl bekam, jemand habe einen<br />

Pflug hinten an mein Auto gekuppelt. Ich hielt an, zog <strong>die</strong> Handbremse<br />

<strong>und</strong> sprang raus, um zu schauen, was los war; bäm! Mein<br />

rechter Hinterreifen war platt. Ich dachte, ich führe mit dem Aufzug<br />

nach oben, aber plötzlich öffnete sich <strong>die</strong> Tür <strong>und</strong> ich landete im<br />

Keller. Meine Oberlippe verzog sich zu einem resignierten Grinsen.<br />

Ich schüttelte demoralisiert den Kopf <strong>und</strong> sagte mir, dass ich echt<br />

verflucht war. Ich dachte nicht einmal daran, jemanden um Hilfe zu<br />

bitten. Ich parkte mein Auto einfach am Straßenrand <strong>und</strong> schickte<br />

Aliana eine Nachricht, um ihr mitzuteilen, dass ich mich verspäten<br />

würde, sie zu beruhigen <strong>und</strong> sie außerdem fre<strong>und</strong>lich zu bitten, ihr<br />

dickes Hinterteil zu bewegen <strong>und</strong> sich schon an <strong>die</strong> Arbeit zu ma-<br />

108


chen, ohne auf mich zu warten. In Wirklichkeit hatte sie eher einen<br />

kleinen Hintern, aber mein genervter Geist erfreute sich daran, sie<br />

nach seinem Belieben umzugestalten <strong>und</strong> ... ihr Pech!<br />

Nach <strong>die</strong>ser kleinen Umorganisation nahm ich meinen Kram raus<br />

<strong>und</strong> machte mich ans Reifen Wechseln.<br />

Ich hatte mir schon zwei Fingernägel abgebrochen <strong>und</strong> wischte mit<br />

dem Handrücken <strong>die</strong> Schweißperlen ab, <strong>die</strong> von meiner Stirn tropften,<br />

dabei tauschte sich mein Make-up teilweise gegen eine nette<br />

Lage Schmieröl, als ich aus dem Augenwinkel jemanden vorbeigehen<br />

sah. Ich drehte meinen Kopf nach links <strong>und</strong> ... Nun gut, ich vermute<br />

niemand wird glauben, was ich jetzt erzählen werde, aber das<br />

macht nichts. Stellt euch vor! Elvis in Person kreiste um mich herum.<br />

Und er machte Fotos von mir!<br />

»Sagen Sie mal, Herr Künstler! Was treiben Sie da? Eine<br />

Foto-Safari? Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu helfen? ... Sie<br />

sehen doch wie ich mich abrackere, oder?«<br />

Der Typ betrachtete mich mit skeptischem Blick. Ich war mir nicht<br />

ganz sicher, ob er meine Worte wirklich verstanden hatte. Bei seiner<br />

gebräunten Haut war der Zweifel legitim. Vielleicht war er Latino ...<br />

»¡Hola! You no parla kein Deutsch? ...«<br />

Der Typ musterte mich weiterhin, während er seinen Kopf hin <strong>und</strong><br />

her wiegte. Dann blitzte er mich mit seinem ausgemachten Süßholzraspler<br />

Strahlen an <strong>und</strong> ... fotografierte mich nochmal <strong>und</strong> drückte<br />

mir seine monströse Gummilinse unter <strong>die</strong> Nase!<br />

»Du Blödmann! Schleich dich! Ja, ja, ich weiß; ich bin ausfällig<br />

<strong>und</strong> unfre<strong>und</strong>lich. Aber so bin ich, wenn Trottel mich auf den<br />

Arm nehmen wollen. Dazu habe ich Ihnen nicht erlaubt, mich zu<br />

fotografieren. Also bitte, tun Sie mir den Gefallen, löschen Sie <strong>die</strong><br />

Speicherkarte von Ihrem Dingenskirchen ...«<br />

»Guten Tag! ... Zac!«, sagte Elvis, mir seine Hand reichend.<br />

Ich ergriff sie nicht. Dafür verschränkte ich wütend <strong>die</strong> Arme vor<br />

meiner Brust.<br />

»Und, werden Sie mir helfen, ja oder nein?«<br />

»Nein. Ich denke nicht.«<br />

»Was?«<br />

»Ich mag keine Autofahrer.«<br />

»Dann scheren Sie sich doch z ...«<br />

109


»Aber ich kann Sie irgendwo hinfahren, wenn Sie möchten.«<br />

Zac-Elvis drehte sich um <strong>und</strong> zeigte mit der Hand in Richtung des<br />

zweirädrigen Geräts für Lahme. Mein Kinn begann zu zittern; meine<br />

Nerven versagten. »Nein! Oh nein ... Nicht das Brausebonbon! Lieber<br />

Gott, wenn ich gesündigt habe, wenn ich Sie in irgendeiner<br />

Weise beleidigt habe, nehmen Sie zur Kenntnis, dass <strong>die</strong> Schuld in<br />

meiner sehr großen Unwissenheit begründet ist. Ich bedauere es<br />

unendlich <strong>und</strong> ich bitte Sie demütig auf Knien um Verzeihung. Aber<br />

aus Erbarmen könnten wir das nicht unter zivilisierten Menschen<br />

regeln? ...« Ich wollte unbedingt glauben, dass der Zeigefinger des<br />

Sängerfotografen auf ein anderes Fahrzeug deutete, egal welches,<br />

aber zu meiner bodenlosen Verzweiflung, war das geradewegs aus<br />

einer W<strong>und</strong>ertüte kommende knallbonbonfarbene Motorrad, das einzige<br />

motorisierte Vehikel am Platz.<br />

Ich schaute auf meine Uhr. Ich sollte vor neun Uhr dreißig im Büro<br />

sein, da ich einen Termin mit einem neuen Lieferanten hatte; ihn<br />

Aliana zu überlassen, wäre unchristlich von mir. In Gedanken eruierte<br />

ich, dass ich mit dem Motorrad viel schneller wäre als mit<br />

einem Taxi. Außerdem war ziemlich klar, dass ich mein Talent als<br />

Mechanikerin überschätzt hatte; den Reifenwechsel zu Ende zu<br />

bringen, würde mir endlos Zeit kosten.<br />

»Das ist fre<strong>und</strong>lich. Ich nehme Ihr Angebot an. Und bitte<br />

nehmen Sie meine Entschuldigung an. Ich habe es nicht so gemeint.<br />

Ich bin heute Morgen etwas grantig.«<br />

»Kommt vor.«<br />

Ich räumte meine Gerätschaften lose in den Kofferraum meines<br />

nun dreirädrigen Mercedes SLK, dann steuerten wir gemeinsam auf<br />

das zum Autoskooter umfrisierte Motorrad zu.<br />

»Hier! Ziehen Sie das auf!«, bot mir mein Retter an, aus<br />

dem Seitenkoffer seines Motorrads einen nostalgischen Jethelm, mit<br />

einem einfachen Kinnriemen mit Ratsche Verschluss <strong>und</strong> einem<br />

breiten, klappbaren Plexiglasvisier ziehend, das mich wie eine Fliege<br />

in Nahaufnahme aussehen ließ.<br />

»Oh, là, là! Sie sind aber gut ausgerüstet! Kann das Ding<br />

auch grillen? ... Nein, ich mache nur Spaß. Danke.«<br />

110


Mein Wohltäter ließ sich von meinen kleinen Sticheleien nicht irritieren.<br />

Der Junge war <strong>die</strong> Ruhe selbst. Er stieg auf, startete seine<br />

Maschine <strong>und</strong> lud mich ein, hinten aufzusteigen.<br />

»Zac, steht das für Zacharias?«, fragte ich, während ich mich<br />

setzte.<br />

»Zac wie Zaccaria! Ich bin Korse. Laut der Familienlegende<br />

ten<strong>die</strong>rte mein Vater zu Julien. Glücklicherweise hat mich meine<br />

Mutter vor <strong>die</strong>sem traurigen Schicksal bewahrt«, brabbelte er durch<br />

seinen Integralhelm.<br />

»Ah, okay! Zaccaria ... Korse ...«<br />

Ich schaute auf meine unfassbar weißen Hände <strong>und</strong> spürte einen<br />

leichten Anflug von Frustration. Neben meinem philanthropen Motorradfahrer<br />

mit goldbrauner Haut <strong>und</strong> dichten, lockigen Haaren,<br />

erschien ich wie eine große Aspirintablette, <strong>die</strong> sich nach ihrem Glas<br />

Wasser sehnt. Da ich mich nicht auf eine mediterrane Abstammung<br />

wie Monsieur berufen konnte, blieben mir kaum Alternativen, um<br />

gut auszusehen; ich könnte vielleicht beten <strong>und</strong> auf ein W<strong>und</strong>er<br />

warten oder mich wieder im Solarium grillen lassen. Aber ich träumte<br />

lieber davon, in <strong>die</strong> Sonne zu gehen <strong>und</strong> nichts anderes zu tun, als<br />

mich einen Monat lang an einem Strand zu aalen. <strong>Die</strong>ser Bursche<br />

musste komplett behämmert sein. Wenn ich auf Korsika geboren<br />

wäre, würde ich nicht eine Minute darüber nachdenken, auch nur<br />

einen Fuß nach Frankfurt zu setzen! Außer Frage! Aber ich war sehr<br />

wohl in Frankfurt. Und zu meinem Leidwesen war mir der Besitzer<br />

des hässlichsten Motorrads Europas <strong>und</strong> vielleicht der Welt, behilflich.<br />

Ich ließ mich in <strong>die</strong> Innenstadt fahren, schweigend <strong>und</strong> ein bisschen<br />

beschämt. Obwohl ich <strong>die</strong> glückliche Besitzerin einer Ducati Sport<br />

gewesen war, mit welcher ich mir mehr als einmal fast das Genick<br />

gebrochen hatte, überraschte ich mich, dem weichen <strong>und</strong> sicheren<br />

Komfort <strong>die</strong>ses Ochsenkarrens etwas abzugewinnen. Was war los<br />

mit mir? Schon wieder packte mich <strong>die</strong>ses Gefühl <strong>und</strong> ich war darauf<br />

<strong>und</strong> dran mir <strong>die</strong> Augen auszuweinen. Veränderungen vollzogen<br />

sich in mir, das war klar. Und ich war nicht sicher, ob mir das Zusammenleben<br />

mit meinem neuen Ich gefiel ...<br />

111


[Zweiter Teil: Scharlachrot / Kapitel 8 – Misston]<br />

-Eine alte Bekannte taucht wieder in Brittas Leben auf.<br />

(…/…)<br />

Das Büro war von Samstag achtzehn Uhr bis Montagmorgen neun<br />

Uhr geschlossen aber ich stellte das Telefon immer auf mein Handy<br />

um. In der Regel ließ ich <strong>die</strong> K<strong>und</strong>en auf den Anrufbeantworter sprechen<br />

<strong>und</strong> hörte anschließend <strong>die</strong> Nachrichten ab. Aber mir schoss in<br />

den Kopf, was Aliana mir wegen des berühmten, unbekannten Anrufers<br />

berichtet hatte <strong>und</strong> so entschied ich, das Telefon abzunehmen.<br />

Denn sollte es sich um einen Zögerlichen handeln, würde ich womöglich<br />

sein Vertrauen gewinnen <strong>und</strong> ihn von einem möglichen zu<br />

einem tatsächlichen K<strong>und</strong>en machen.<br />

»Hallo, guten Tag! Neumann Catering, Britta Neumann am<br />

Apparat. Was kann ich für Sie tun?«<br />

»Jasmin? ...«<br />

Das Blut gefror mir in den Adern, als ich eine Frau <strong>die</strong>sen Namen<br />

aussprechen hörte; ich hatte den Eindruck <strong>die</strong>se Stimme wiederzuerkennen.<br />

Ein Knoten bildete sich in meiner Magengrube. Mein ganzer<br />

Körper fing an zu zittern. Wie durch ein W<strong>und</strong>er hielt ich mich<br />

noch auf den Beinen.<br />

»Wie bitte? ...«<br />

»Jasmin? ... Ich möchte gerne Jasmin sprechen.«<br />

»... Ähm, ich glaube, Sie haben sich verwählt. Es gibt hier<br />

keine Jasmin. Tut mir leid.«<br />

»Oh doch, es gibt eine! Und zwar <strong>die</strong>jenige, mit der ich gerade<br />

spreche. Vielleicht gehst du deine Post holen? Ich rufe dich in<br />

fünf Minuten wieder an.«<br />

Sonntags Post? ... Das Telefonat mit <strong>die</strong>ser Unbekannten hatte nur<br />

einige Sek<strong>und</strong>en gedauert aber <strong>die</strong> reichten aus, um meine Welt ins<br />

Wanken zu bringen. Alles was in meinem Leben gut lief, schien<br />

plötzlich kurz davor sich einfach in Luft aufzulösen. Es gab eine<br />

Spannung <strong>und</strong> eine eindeutige Feindseligkeit in dem fast monotonen<br />

Redefluss ... Ich hätte mir gewünscht, kaltblütiger zu sein, stattdessen<br />

stürzte ich barfuß zum Treppenabsatz. Meine Beine überschlugen<br />

sich beinahe <strong>und</strong> ich sauste <strong>die</strong> Treppe hinunter, um Sek<strong>und</strong>en


später, steif wie ein Brett, vor meinem Briefkasten zu stehen. Ich<br />

zögerte ihn zu öffnen, fürchtend eine schreckliche Nachricht vorzufinden,<br />

etwas das mich umhauen würde. Nichtsdestotrotz leerte<br />

ich ihn. Es waren einige Werbeprospekte darin, obwohl ich neben<br />

dem Briefkastenschlitz einen gut sichtbaren Aufkleber platziert hatte,<br />

der ausdrücklich daraufhinwies: Keine Werbung! Danke. Außerdem<br />

entdeckte ich einen Briefumschlag ohne Adressat <strong>und</strong> Absender.<br />

Hektisch schaute ich nach hinten, um sicher zu sein, dass mich<br />

niemand beobachtete. Ich konnte nicht warten den Umschlag aufzumachen<br />

<strong>und</strong> zerfetzte auf der Stelle, mit nervösen Fingern das<br />

Papier.<br />

Das Erste was ich sah, war das Foto. Komischerweise blieb mein<br />

Blick an unbedeutenden Details hängen; <strong>die</strong> Farbe des BHs passte<br />

nicht ganz zu der des Höschens. Und ich erinnerte mich in der Tat,<br />

wegen einer Laufmasche in einem meiner Nylons, musste ich improvisieren<br />

<strong>und</strong> mir nur für <strong>die</strong> Fotoaufnahmen, ein neues Paar von<br />

Gina leihen. Sie waren anthrazit <strong>und</strong> nicht schwarz, wie der Rest<br />

meiner Kleidung. Ich entsinne mich auch, dass ich <strong>die</strong> Idee mit dem<br />

zinnoberroten Korsett verworfen hatte; ich hielt es für zu übertrieben.<br />

Ich hatte mich schlussendlich für schlicht entschieden: Balconett-BH,<br />

G-String, Nylonstrümpfe, Strapse <strong>und</strong> hochhackige Schuhe.<br />

<strong>Die</strong> feinen, schwarzen Dessous bildeten einen Kontrast zu meiner,<br />

mittels künstlicher Sonne, frisch gebräunten Haut; alle <strong>die</strong>se<br />

Details hatte ich in den Tiefen meines versehrten Gedächtnisses vergraben.<br />

Selbst nach all den Jahren fand ich mich auf dem Schnappschuss<br />

ziemlich präsentabel; vielleicht ein bisschen zu dünn aber ich hatte<br />

noch nie viel auf den Rippen. Ich hatte keine eindeutigen Posen eingenommen.<br />

Ich saß auf einem Stuhl, Beine übereinandergeschlagen,<br />

mit manikürten Händen <strong>und</strong> lächelte. Ich las noch einmal den kleinen<br />

Einleitungstext, den Sabine zu meinem Profil ausgetüftelt hatte:<br />

Ich heiße Jasmin. Ich bin eine kleine sexy Katze von sechs<strong>und</strong>zwanzig<br />

Jahren. Ich mag zärtliche <strong>und</strong> fantasievolle Männer, <strong>die</strong><br />

wissen, wie sie meinen Körper, einer Kindfrau, liebkosen. Ich mag<br />

erotische Massagen zu geben <strong>und</strong> Zungenspiele sind meine Spezialität.<br />

Analverkehr bekommst du bei mir nicht, aber ... viel Erregenderes.<br />

Wenn du willst, kann ich auch mit einer Fre<strong>und</strong>in zu dir<br />

121


kommen. Du kannst uns zuschauen, wenn wir uns gegenseitig oral<br />

verwöhnen (69). Du kannst gerne bei uns mitspielen, wenn du es<br />

wünschst <strong>und</strong> mich in allen Positionen nehmen. Nur geschützter<br />

Verkehr. Ich freue mich dich kennenzulernen. Leidenschaftliche<br />

Küsse. Deine Jasmin.<br />

Ich kam mit Beinen wie Blei zurück in <strong>die</strong> Wohnung. Schon klingelte<br />

das Telefon erneut.<br />

»Deine Adresse ausfindig zu machen war nicht einfach; dein<br />

richtiger Name ist furchtbar banal <strong>und</strong> ich musste eine Auswahl treffen.<br />

Aber wir haben uns endlich wieder gef<strong>und</strong>en.«<br />

»Ss ... Sabine? ...«<br />

»Ah! Siehst du? Deine Erinnerung kommt zurück. Du erkennst<br />

meine Stimme wieder. Das ist gut, denn du wirst mir ein wenig<br />

helfen müssen.«<br />

»Was? Moment! Womit soll ich Ihnen helfen? Und warum<br />

ich?«<br />

»Warum du? Zu guter Letzt fast zufällig. Das hat sozusagen<br />

das Schicksal entschieden. Ich habe <strong>die</strong> Liste meiner fünf besten<br />

Goldesel aus der Glanzzeit aufgestellt <strong>und</strong> du gehörst dazu. Aber <strong>die</strong><br />

<strong>anderen</strong> Mädchen müssen entweder geheiratet oder Deutschland<br />

verlassen haben, denn es ist mir nicht gelungen, ihre Spuren zurückzuverfolgen.<br />

Bei dir war ich erfolgreicher. Mein Anliegen an dich,<br />

ist nichts sonderlich Kompliziertes, keine Panik.«<br />

»Ich glaube, dass Sie sich für etwas halten, was Sie nie<br />

gewesen sind. Ich habe nie für Sie gearbeitet, sondern mit Ihnen. Es<br />

war nur eine Kooperation. Somit verstehe ich nicht, wie ich Ihr<br />

Goldesel gewesen sein könnte. Weder ich noch eins der Mädchen,<br />

<strong>die</strong> mir über den Weg gelaufen sind, haben je einen Zuhälter gehabt.<br />

Wir waren Mitglieder Ihrer Agentur. Das war’s!«<br />

»Jasmin, komm ... Machen wir keine Wortspielereien. Wenn<br />

du machst was ich dir sage, kannst du weiterhin dein neues Leben<br />

genießen <strong>und</strong> ich werde keine Leiche aus deinem Keller holen. Aber<br />

wenn du dich weigerst, ... werde ich dein Gedächtnis auffrischen<br />

müssen <strong>und</strong> gleichzeitig dafür sorgen, dass deine Geheimnisse für<br />

alle Leute um dich herum gelüftet werden. Das kann Schwierigkeiten<br />

bereiten ... Du weißt genauso gut wie ich, dass es besser wäre,<br />

einige Episoden aus deiner Vergangenheit nicht auszugraben. Das<br />

122


wäre nicht gut fürs Geschäft. Es würde einen schlechten Eindruck<br />

machen.«<br />

»Ich habe das Blatt gewendet! Was wollen Sie?«<br />

»Langsam, meine Hübsche! Ich glaube nicht, dass du in der<br />

Position bist, mir imponieren zu können. Bleib ganz ruhig, es geht<br />

nicht um dich persönlich, du bist viel zu alt, um den Job wieder aufzunehmen.<br />

Du würdest mir nicht mehr genug einbringen. Also, hör<br />

zu, was ich dir vorschlage: In deinem Gewerbe mangelt es dir gewiss<br />

nicht an Kontakten. Und sicherlich kennst du etliche junge<br />

Mädchen, vom Typ her ein bisschen wie du damals; nette Mädchen.<br />

Studentinnen, zum Beispiel! Ja, Studentinnen sind gut. Sie sind heutzutage<br />

kess, wie es im Buche steht, müssen ständig nebenbei etwas<br />

Geld ver<strong>die</strong>nen <strong>und</strong> haben keine Hemmungen. Du bringst mir lediglich<br />

fünf oder sechs davon <strong>und</strong> ich lasse dich für immer in Ruhe.<br />

Oder, wenn es dir lieber ist, kannst du mir auch einen kleinen Umschlag<br />

geben <strong>und</strong> wir sind quitt.«<br />

»Und wir sind quitt? Aber ich schulde Ihnen gar nichts!«<br />

»Nach allem was ich für dich getan habe. Du bist so <strong>und</strong>ankbar!<br />

Vergiss nicht, dass ich dir ein Leben ermöglicht habe, von dem<br />

du nicht einmal geträumt hättest.«<br />

»Sie sagen es!«<br />

»Ey! Sag mal! Niemand hat dich jemals gezwungen irgendetwas<br />

zu tun. Falls du es vergessen hast; du kamst aus freien Stücken<br />

zu mir, um deine <strong>Die</strong>nste anzubieten.«<br />

»Genau! Ich hatte mich freiwillig gemeldet Und was bitteschön<br />

haben Sie mit einer Namensliste von Leuten vor, <strong>die</strong> das nicht<br />

machen wollen?«<br />

»Betrachte dich als Priviligierte. Nicht jedes Mädchen wird<br />

<strong>die</strong> Chance gehabt haben, eine Edelnutte wie du zu sein. Wenigstens<br />

hattest du ein Wörtchen mitzureden. Aber glaub nicht, dass du <strong>die</strong><br />

Einzige bist, <strong>die</strong> einmal gedacht hat, dass deine Tugend zu opfern<br />

nichts war, im Vergleich zu dem materiellen Vorteilen, <strong>die</strong> du dadurch<br />

haben konntest. Und was meine Methoden betrifft, <strong>die</strong> Neulinge<br />

zu überreden bei mir einzusteigen, geht dich nichts an. Begnüg<br />

dich damit, sie auf den Weg zu bringen <strong>und</strong> alles Weitere mach ich.«<br />

»Also! Lange Rede, kurzer Sinn. Wie viel wollen Sie, um<br />

endgültig zu verschwinden?«<br />

123


»Jasmin, du solltest nicht auf so einem hohen Ross sitzen,<br />

weißt du ...«<br />

»Und nennen Sie mich nicht mehr bei <strong>die</strong>sem Namen! Ich<br />

heiße Britta Neumann. Der Rest ist Vergangenheit.«<br />

»Eine Vergangenheit, <strong>die</strong> nur darauf wartet wieder erweckt<br />

zu werden. Ich brauche eine kleine Finanzspritze, um ... ein neues<br />

Geschäft aufzuziehen. Und ob du willst oder nicht, du wirst mir helfen,<br />

sie zu bekommen. Achtzigtausend Euro <strong>und</strong> Schwamm drüber!«<br />

»Was? Sind Sie wahnsinnig? So viel Geld habe ich nicht!«<br />

»Komm schon! In deiner Branche kommt es auf achtzigtausend<br />

nicht an. Ich gebe dir zehn Tage, um <strong>die</strong> Summe zusammenzutragen.<br />

Du musst zugeben, ich hätte viel bösartiger sein können.<br />

Aber ich zeige Einsicht. Ich gewähre dir etwas Zeit, um dich wieder<br />

zu sortieren. Aber pass gut auf! Leg das nicht als Schwäche aus. Du<br />

würdest einem großen Irrtum unterliegen. Du hast <strong>die</strong> Wahl: Entweder<br />

du bringst mir <strong>die</strong> Scheine oder <strong>die</strong> Liste mit den Namen, Adressen<br />

<strong>und</strong> Telefonnummern unserer Engelchen. Du wirst nur ein einziges<br />

Mal meine Schlepperin sein, das ist doch kein Akt. Du kriegst<br />

das schon hin.«<br />

»Ich werde Ihnen bestimmt nicht helfen, was Sie beinahe<br />

aus mir gemacht haben, jemandem <strong>anderen</strong> anzutun.«<br />

»Beinahe? Ich lach mich kaputt. Ich habe dir fünf Jahre lang<br />

Arbeit gegeben.«<br />

»Vier!«<br />

»Vier, ... wenn du willst. Auf jeden Fall, gibt es keinen Ort<br />

in der Schweiz, wo ich dich nicht hingeschickt habe <strong>und</strong> wo man<br />

deinen süßen, kleinen Arsch nicht kennt. Und du redest davon, was<br />

ich beinahe aus dir gemacht habe! Ich habe aus dir <strong>die</strong> Nutte gemacht,<br />

<strong>die</strong> du bist. Oder zumindest, habe ich deine Ausbildung vervollständigt.<br />

Denn wenn ich mich recht erinnere, laut dem was du<br />

vorgabst, war es nicht das erste Mal, dass du deinen Körper für Geld<br />

verkauft hattest. Du hattest schon viel Erfahrung. Als du <strong>und</strong> dein<br />

Schätzchen auf mein Jobangebot in der Zeitung geantwortet hattet,<br />

warst du schon ein heißer Feger. Übrigens! Deine Fre<strong>und</strong>in, Gina,<br />

was ist denn aus der geworden?«<br />

»Ich habe <strong>die</strong>ses Geld nicht.«<br />

124


»Du wirst dir zu helfen wissen. Du bist ein großes Mädchen.<br />

Ich gebe dir bis Mittwochabend. Ich rufe dich Anfang der Woche an,<br />

um dir <strong>die</strong> Uhrzeit <strong>und</strong> den Treffpunkt zu geben. Damals warst du<br />

immer sehr engagiert, also enttäusch mich auch <strong>die</strong>smal nicht, Jasmin.<br />

Mach deinem Ruf alle Ehre. Und begeh nicht <strong>die</strong> Dummheit,<br />

<strong>die</strong> Bullen zu alarmieren; der Schuss würde nach hinten losgehen.<br />

Tschüss dann!«<br />

(…/…)<br />

125


[Kapitel 10 – Fre<strong>und</strong>e zur Not]<br />

-Britta holt sich Hilfe.<br />

(…/…)<br />

Der Ort war ein Sammelsurium mit der Atmosphäre einer Autowerkstatt<br />

<strong>und</strong> der Dekoration eines englischen Herrenklubs. <strong>Die</strong> Gesichter<br />

überfliegend, war mir schnell klar, <strong>die</strong> Klientel war ein bunt<br />

zusammengewürfeltes Völkchen, in dem sich würdige Vertreter<br />

verschiedener sozialer Schichten der Frankfurter Gesellschaft in<br />

seltsamem Einklang vermischten. <strong>Die</strong> Erklärung <strong>die</strong>ses Geheimnisses<br />

...; es gab nur Bärtige! <strong>Die</strong> Allianz durch das Haar!<br />

Ich schätzte <strong>die</strong> Ironie der Situation. Ich vermute, dass <strong>die</strong> Verlegenheit,<br />

<strong>die</strong> mich in dem Moment ergriff, als ich auf den Stufen<br />

des Ladens erschien, vergleichbar war mit dem, was einige Männer<br />

gefühlt haben mussten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Tür des Pussy Bells aufgeschoben<br />

hatten, als ich dort arbeitete. Es kam mir wieder in den Sinn, sobald<br />

ein Typ durch den schwarzen Samtvorhang trat, drehten meine Kolleginnen<br />

<strong>und</strong> ich, <strong>die</strong> in Reih <strong>und</strong> Glied, wie beim Schönheitswettbewerb<br />

der Truthennen, in Bustiers <strong>und</strong> Strapsen auf den Barhockern<br />

saßen, <strong>die</strong> Beine übereinandergeschlagen, wie auf Kommando<br />

unsere Köpfe in seine Richtung <strong>und</strong> taxierten den Neuankömmling<br />

ungeniert ab. Es gab unterschiedliche Möglichkeiten, je nach dem<br />

wer auftrat. Meistens war es ein Stammk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> da wussten wir<br />

bereits mehr oder weniger, was der Herr wollte. Das konnte zu lustigen<br />

Szenen führen. Es genügte, dass eine von uns sagte: »Oh nein!<br />

Habt erbarmen, nicht er! Der da, füllt mich ab. Er will immer ins<br />

Separee aber er ist echt eine Tortur. Es ist jedes Mal das Gleiche;<br />

entweder fällt mir danach <strong>die</strong> Hand fast ab oder mein Kiefer fühlt<br />

sich an wie ein Marshmallow.« Und plötzlich gab’s Bewegung auf<br />

dem Hühnerhof: »Ach, du willst uns veräppeln! Ich mag ihn, unseren<br />

Willi, mit seinem kleinen Bäuchlein. Es ist ein Zärtlicher.« »Ja,<br />

ja, klar. Red nur ...« »Ah! Na du Frischling, geh ma’ hin. Er kennt<br />

dich noch nicht, das wird ihm gefallen; er will immer ein neues


Hühnchen zum Befummeln haben.« »Oh nein, nein! Lass ihn mir,<br />

bitte! Ich habe heute noch nicht groß abgesahnt. <strong>Die</strong> Kleine, sie<br />

kann ruhig den Nächsten nehmen ...« »Mann, das ist mir wurscht.<br />

Geh, probier dein Glück. Und du, schau gut zu was sie macht. Du<br />

kannst dir eine Scheibe davon abschneiden, denn der Nächste ist<br />

<strong>die</strong>ner. Wird Zeit, dass du dich ein bisschen locker machst…« Und<br />

es gab auch <strong>die</strong> Fälle, wo unser Besucher nicht nur völlig unbekannt,<br />

sondern auch ziemlich schnuckelig war; wie eine unerwartete Gnade<br />

des Allerhöchsten, um etwas Balsam für <strong>die</strong> Seelen der Schar von<br />

Sünderinnen, <strong>die</strong> wir bildeten, zu bringen. In der Regel blieb er einen<br />

Moment unter der Tür stehen, bis er sich an das gedämpfte Licht<br />

gewöhnt hatte, das eigentlich unsere Makel kaschieren <strong>und</strong> uns noch<br />

attraktiver machen sollte. Dann überflogen seine Augen das Menü,<br />

während ihn der ganze Hühnerstall von Kopf bis Fuß eingehend<br />

musterte: »Mmh ... Gar nicht so schlecht der Neue! ... Endlich Frischfleisch!«<br />

»Wer geht zuerst?« »Eh, Mädels! Ich wette mit euch um<br />

eine Flasche, dass ich den da direkt ins Separee schleppe. Er hat<br />

keine Chance sich meinem Charme zu entziehen. Er riecht nach<br />

Champagner. Mmh, lecker!« » Nee, nee! Das ist viel zu einfach. Du<br />

musst das innerhalb von fünf Minuten hinbekommen, sonst zählt es<br />

nicht.«<br />

»Hey! Sie! Können’s nicht lesen? ... Sie haben einen Bart?<br />

Sie sind ein Mann? ... Nein! Hopp, hopp! Raus hier!«<br />

Na schön! Zumindest war es klar <strong>und</strong> deutlich; ich war in <strong>die</strong>sem<br />

Haus nicht willkommen. Angewidert kam mir der Gedanke, dass<br />

<strong>die</strong>ser Ort ebenso wie das Pussy Bell vollkommen frauenfeindlich<br />

war. <strong>Die</strong> donnernde Stimme des Hausherrn hatte mich in null Komma<br />

nichts aus meiner Träumerei gerissen. Haargenau wie wir damals,<br />

drehten sich alle in meine Richtung <strong>und</strong> warfen mir einen vernichtenden<br />

Blick zu — <strong>die</strong> Tatsache eine Frau zu sein, verlieh einem<br />

hier absolut keinen Vorteil, ganz im Gegenteil. Der junge Mann, der<br />

mich angefahren hatte, wedelte mit der Schere in seiner Hand durch<br />

<strong>die</strong> Luft, als wolle er damit seine Mitarbeiter <strong>und</strong> K<strong>und</strong>en darauf<br />

hinweisen, dass er sich um das Problem kümmerte. Mit wutentbran-<br />

141


nter Miene stampfte er <strong>die</strong> drei Stufen hoch <strong>und</strong> traf mich auf der<br />

kleinen Treppe, wo ich mich ganz klein machte. Beim Anblick seiner<br />

gerunzelten Stirn <strong>und</strong> seines verschlossenen Gesichts, hautnah<br />

vor mir, hatte ich fast Angst, dass er handgreiflich werden würde.<br />

»Ähm, Verzeihung ... Ich wollte nur ...«<br />

»Was? Was gibt’s? Was sagn Se? ...«<br />

An seiner Statur, ungeachtet seines Nikolausbartes, sah man ganz<br />

gut, dass es ein junger Mann war; vermutlich um <strong>die</strong> fünf<strong>und</strong>zwanzig.<br />

Trotzdem beeindruckte er mich mit seinen Tätowierungen, wie<br />

er Muskeln spielen ließ <strong>und</strong> mit mir wie zu einem H<strong>und</strong> sprach. Das<br />

große Tohuwabohu, das Sabine unlängst in meinem neuen Leben<br />

verursacht hatte, war wohl dafür verantwortlich; denn im Gegensatz<br />

zu meinen sonstigen Gewohnheiten, war ich nicht schlagfertig. Ich<br />

konnte nicht anders, als mich wie ein tapsiger Tölpel anzustellen,<br />

ohne <strong>die</strong> Courage zu haben, ihm Kontra zu geben.<br />

»Also? Sie wollen? ...«<br />

Ich schaffte es geradeso mit dem Finger auf einen Mann zu deuten;<br />

genau <strong>die</strong>ser, mit dem mein liebenswürdiger Gastgeber beschäftigt<br />

war, kurz bevor er mir an <strong>die</strong> Gurgel sprang, <strong>die</strong>ser, dessen Gesicht<br />

er behutsam mit einem weißen Frotteehandtuch bedeckt hatte, der<br />

einzige der keinerlei Reaktion erkennen ließ. Das Spektakel, das<br />

mein Eindringen in das testosteronschwangere Heiligtum verursachte,<br />

schien ihn nicht zu tangieren. Er blieb völlig unbeteiligt, halb liegend<br />

auf einem bequemen Loungesessel <strong>und</strong> rührte seinen Allerwertesten<br />

kein bisschen, der Kerl, als würde er ein Nickerchen machen.<br />

Entsetzt schaute der junge Mann meinem Fingerzeig hinterher. Er<br />

schnellte mit einem Satz in <strong>die</strong> Arena hinab <strong>und</strong> zog seinem K<strong>und</strong>en<br />

unwirsch das Handtuch vom Gesicht. <strong>Die</strong>ser fuhr hoch, als wäre er<br />

auf frischer Tat beim Kartenbetrug erwischt worden.<br />

»Fem! <strong>Die</strong> Maus, ist das deine?«<br />

Femi schoss wie eine Sprungfeder in <strong>die</strong> Höhe, bezahlte bar auf <strong>die</strong><br />

Kralle für <strong>die</strong> Pflege, <strong>die</strong> seiner Haarpracht ange<strong>die</strong>hen wurde,<br />

stammelte im Vorbeigehen eine vage Entschuldigung, mit Müh <strong>und</strong><br />

Not dem überaus verärgerten Blick seines Hausherrn mit flinkem<br />

142


Kamm <strong>und</strong> Haarschneider, standhaltend, dann bugsierte er mich wie<br />

einen Ausreißer auf <strong>die</strong> Gasse.<br />

»Können wir eine Minute aufhören zu rennen?«<br />

»Nein! Also Topas, das geht gar nicht! Du kannst nicht einfach<br />

so bei Themis reinspazieren ... Du hast mich vor allen blamiert!«<br />

»Femi, was ist das für ein Schwachsinn?«<br />

»Das ist kein Schwachsinn! Das ist so, basta. In Solomons<br />

Barbershop sind Frauen verboten.«<br />

»Verboten? Wie bitteee, für was hält sich dein Friseur<br />

denn?«<br />

Femi machte eine Vollbremsung <strong>und</strong> schwenkte blitzschnell mit<br />

großen Augen zu mir.<br />

»Themistokles Solomos! Ein Friseur? ... Bitte, sag so etwas<br />

nie wieder! Themis ist kein Friseur ... Er ist ein Barbier! Das sind<br />

zwei Paar Stiefel.«<br />

»Aha ... Aber ...«, stotterte ich in der Aufregung, was mich<br />

noch mehr nervte. »Was ist das, eine Sekte?«<br />

»Aaaahhh nein! Das ist unser Bereich; ohne Frauen, ohne<br />

Geliebte. Es ist wie ... ein privater Klub.«<br />

»Sag ich doch! Eine Sekte!«<br />

»Nein! Wenn es dir lieber ist, nenn es ... einen Verb<strong>und</strong> von<br />

Männern ... für Männer. Genau das!«<br />

»Ach? Genau das, bist du jetzt homo?«<br />

»Tzz! ... Topas, ich finde deinen Humor echt grenzwertig ...<br />

Was ist heute los mit dir? Du bist nicht ganz auf dem Damm. Du<br />

kannst froh sein, dass du es bist, sonst ...«<br />

Ich blieb stumm vor Fassungslosigkeit über so viel Vehemenz.<br />

Dann schüttelte ich mich, um mich wieder auf den Zweck meines<br />

Besuchs bei meinem tollen Fre<strong>und</strong>, zu konzentrieren.<br />

»Femi, ich muss mit dir reden. Es ist sehr wichtig.«<br />

»Das nehme ich an, weil ... Wenn du so weit gehst, mich<br />

beim Barbier zu stören, wirst du mich notgedrungen fragen, ob ich<br />

dich ins Ausland schmuggle, weil du eine Bank ausgeraubt hast oder<br />

was Ähnliches. Aber ich habe einen guten Plan für dich, wenn du<br />

möchtest; über London nach Casa, dann durch den Niger, dort kenne<br />

ich Fischer, <strong>die</strong> dich mit dem Boot von Lagos nach Accra mitneh-<br />

143


men können. Mama wird dich abholen; du weißt, sie liebt dich! Du<br />

kannst so lange bleiben, wie du möchtest. Oder aber du kannst zu<br />

Onkel Seidu gehen. Er wohnt in der Nähe von Kumasi, du erinnerst<br />

dich ... Er selbst ist zwar alt, aber meine Cousins sind auch da. Du<br />

wirst sehen, sie werden sich gut um dich kümmern. Also ich empfehle<br />

dir nicht zu Tante Afia zu gehen ... Sicher, das ist näher bei<br />

Mama; sie hat ein Haus in Tema. Aber das Problem ist, sie ist ein<br />

bisschen ... aufdringlich; zu arg Familie, Familie, verstehste ... Wann<br />

möchtest du gehen? Eilt es? ...«<br />

Ich hatte Femi ins Herz geschlossen. Und ich kam nicht umhin, von<br />

seiner Fähigkeit mich zu durchschauen, überrascht zu sein. Es war<br />

fast so, als könnte er erahnen, wenn es bei mir nicht gut lief. Wäre<br />

ich nicht bei ihm aufgekreuzt, hätte er mich sicherlich demnächst<br />

angerufen, um sich zu erk<strong>und</strong>igen, ob mir nichts fehle. Er hatte mir<br />

gegenüber <strong>die</strong>se Sensibilität, quasi einen sechsten Sinn. Heute lag er<br />

voll daneben, aber wenigstens hatte er <strong>die</strong> Eingebung, dass etwas<br />

nicht in Ordnung war.<br />

»Ich danke dir, aber ich habe keinerlei Veranlassung nach<br />

Ghana ins Exil zu gehen, obwohl es dort sehr schön <strong>und</strong> dein Heimatland<br />

ist. Es geht um etwas anderes ...«<br />

»Mmh ... Verstehe. Noch eine Weibergeschichte ... Oder einer<br />

deiner Liebhaber, der dir auf den Zeiger geht? Du brauchst wirklich<br />

einen Mann in deinem Leben ...«<br />

Exakt in dem Moment, hätte ich mir gewünscht, dass mein Femi,<br />

den Macho etwas weniger als üblich raushängen ließ, aber ich konnte<br />

nicht zu wählerisch sein. Also akzeptierte ich das Gesamtpaket zu<br />

nehmen <strong>und</strong> entschied bestimmte Dinge für mich zu behalten. Ich<br />

strich kurz mit meiner Hand über seinen frisch gestutzten Bart.<br />

»Zumindest hat er Talent dein ... Barbier«, lobte ich lächelnd.<br />

(…/…)<br />

144


[Kapitel 14 – Be<strong>die</strong>nung in begriffen]<br />

-Britta wurden Sabines ehemalige Geschäftsaufzeichnungen<br />

übergeben <strong>und</strong> beim Durchblättern der Seiten entdeckt sie sich selbst<br />

wieder.<br />

(…/…)<br />

Das Paket war eigentlich ein großer Umschlag aus Packpapier mit<br />

viel von <strong>die</strong>sem Klebeband, das man für Umzugskartons verwendet,<br />

eingewickelt. Seitdem ich ihn geöffnet hatte, stand ich ungläubig da<br />

<strong>und</strong> wagte kaum den Inhalt weiter zu untersuchen. Dann fingen<br />

meine Hände an mechanisch eines der zwei Geschäftsbücher durchzublättern;<br />

<strong>die</strong> Dokumentationen des Jahres 1987/88, <strong>die</strong> des Jahres<br />

1989, in dem ich mich ausgeklinkt hatte, erst einmal außer Acht lassend.<br />

Sabine hatte darin alles mit Akribie, in minikleiner doch lesbarer<br />

Schrift <strong>und</strong> jeder Menge Abkürzungen, aufgelistet: Datum, K<strong>und</strong>enname,<br />

Leistung, Dauer, Betrag, Name des Mädchens ... Alles!<br />

Ich erfuhr aus dem relativ dürftigen Tätigkeitsbericht, in Verbindung<br />

mit Lauras Namen, dass sie nur eine Stippvisite in das Metier gemacht<br />

hatte <strong>und</strong> das freute mich für sie. Und während meine Augen<br />

der Chronik einer gewissen Jasmin folgten, entdeckte ich mich selbst<br />

wieder. Stimmt, ich war <strong>die</strong>ses Mädchen gewesen. Kein verlorenes<br />

Mädchen, nur eine junge Frau, auf der Suche nach etwas, das sie nie<br />

fand. Es war mir noch nicht einmal schwer ums Herz. Ich war weder<br />

traurig noch froh. Mit ernüchtertem Blick kam mir ein ehemaliges<br />

Ich wieder ins Bewusstsein. Ah! 25.04.1988 ... Thomas Alexander:<br />

Dom-Duo, Abend + Opt Nacht kpl ... Den hatte ich völlig vergessen.<br />

Den Franco-Schweizer! Er lebte in Paris; ein Rechtsorientierter, junge,<br />

dynamische, Führungskraft, in den Dreißigern, betucht. Er war<br />

geschäftlich in Zürich unterwegs, <strong>und</strong> der Kerl wollte <strong>die</strong> Puppen<br />

tanzen lassen, um dem Pech zu entrinnen, bevor es zurück nach<br />

Hause ging; sein Favorit war gerade im ersten Wahlgang in Frankreich<br />

gegen den Sozi baden gegangen ... Mitélin ... Mittémon? ...<br />

Mitterand! Oder irgendsowas. Aber anscheinend glaubte er immer<br />

noch felsenfest, dass nicht alles gelaufen war. Er hatte uns, Gina <strong>und</strong><br />

mich, für den Abend gebucht, um ... seinen Stress abzubauen. Wir<br />

hatten uns mit ihm in seinem Hotelzimmer getroffen <strong>und</strong> er hatte<br />

gleich den Ton angegeben. Er hatte gesagt, er wolle uns beide ficken,


is der Arzt kommt! In solchen Fällen war ich noch erleichterter,<br />

dass meine Fre<strong>und</strong>in <strong>und</strong> ich ein eingespieltes Team waren, denn sie<br />

hatte, im Vergleich zu mir, schon viel Erfahrung in dem Metier, es<br />

machte ihr nichts aus, dass ich mich ein wenig auf sie verließ. Sie<br />

übernahm gerne <strong>die</strong> Frenetischen <strong>und</strong> ich mischte eher für das<br />

Horsd’œuvre mit <strong>und</strong> legte letzte Hand an. Und genau so war es an<br />

<strong>die</strong>sem Abend abgelaufen. Ich hatte den Galan als Leckerbissen<br />

großzügig mit der Zunge verwöhnt <strong>und</strong> Gina löste mich praktisch<br />

ab, solange der Herr meinte, er wäre stark genug, <strong>die</strong> ganze Welt<br />

durchzuvögeln. Man muss zugeben, er stand voll im Saft, der Lustmolch.<br />

Aber er wusste nicht, mit wem er es zu tun hatte. Gina hat<br />

ihn schlichtweg ausgepresst, den Armen! Und als ich daran glauben<br />

musste, hatte sich der Tiger in ein Katerchen verwandelt. Immerhin<br />

war ich ihm gegenüber sehr reizend gewesen. Mmh ... Ach schau!<br />

Der war ein Sonderfall: David Gröneberg; Bankier aus Genf. Er war<br />

mein regelmäßigster <strong>und</strong> auch mein letzter K<strong>und</strong>e gewesen. Er<br />

mochte sehr gerne <strong>die</strong> Spielchen mit seinem Gürtel. Er war nett aber<br />

ein bisschen seltsam; er nahm mich immer in der Hündchenstellung<br />

<strong>und</strong> berührte mich dabei nie mit den Händen. Er wollte immer, dass<br />

ich ihm zusah, wie er sich auszog, sich ein wenig selbst stimulierte<br />

<strong>und</strong> dann legte er mir von hinten seinen Gürtel um <strong>die</strong> Taille <strong>und</strong><br />

nahm mich ausdauernd auf allen vieren auf dem Bett. Mindestens<br />

waren <strong>die</strong> Hotels, in <strong>die</strong> er mich mitnahm, stets sehr angenehme Lokalitäten,<br />

wo das Personal gleichermaßen viel Wert auf Herzlichkeit<br />

wie auf Diskretion legte <strong>und</strong> jedes Mal wählte er einen <strong>anderen</strong> Ort.<br />

Er war ein spezieller K<strong>und</strong>e für mich <strong>und</strong> als solchen behandelte ich<br />

ihn auch. Deshalb organisierte ich mich entweder so, dass ich niemanden<br />

nach ihm hatte oder ich richtete mir genug Spielraum zu<br />

meinem nachfolgenden K<strong>und</strong>en ein, damit ich mich nicht hetzen<br />

musste, nachdem wir fertig waren. Er hatte eine Art Ritual eingeführt;<br />

nach einer ausgiebigen Dusche wollte er immer, dass wir uns<br />

nackt auf dem Bett ausstreckten <strong>und</strong> Champagner tranken. Das<br />

Wichtigste für ihn war, das Gefühl zu haben, seine Fre<strong>und</strong>in würde<br />

ihn begleiten. Er mochte <strong>die</strong> Vorstellung, all das wäre vertraulich,<br />

privat. Und so war es in gewisser Weise mit der Zeit geworden. Mit<br />

ihm musste ich immer aufpassen, nicht zu viel zu bechern. Abgesehen<br />

von den seltenen Malen als ich hinterher ein oder mehrere<br />

193


Verabredungen hatte, machte ich mich sofort auf den Weg <strong>und</strong> fuhr<br />

<strong>die</strong> lange Strecke mit dem Auto nach Hause. Eines Abends hatte ich<br />

mir auf der Rückfahrt einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Es<br />

war mir nicht so klar, aber ich war ganz schön beschwipst. Wir<br />

hatten auf unser Wohl getrunken <strong>und</strong> ich hatte nichts gegessen. Das<br />

Auto hat kurz vor einem Waldrand, einen Schlenker gemacht. Ich<br />

weiß nicht einmal, wie ich es geschafft habe, gerade noch zu bremsen.<br />

Ich hätte leicht auf einen Baum prallen können. Vielleicht hätte<br />

ich das ja auch tun sollen ... Kurz <strong>und</strong> gut! Ich hatte ihn im Pussy<br />

Bell kennengelernt. Das Lokal war nicht besonders nobel aber man<br />

kann sagen, es war ein ziemlich gut besuchter Klub. <strong>Die</strong> K<strong>und</strong>en<br />

waren alle mehr oder weniger respektvoll <strong>und</strong> sie konsumierten ohne<br />

groß aufs Geld zu schauen. Größtenteils waren sie damit zufrieden,<br />

uns ein wenig <strong>die</strong> Brüste, den Po <strong>und</strong> <strong>die</strong> Schenkel zu begrapschen<br />

<strong>und</strong> uns Obszönitäten ins Ohr zu flüstern, während sie auf der<br />

großen Leinwand Pornofilme schauten; weiter ging es nicht. Es gab<br />

keine Durchgeknallten. Manchmal war es sogar nötig, dass ich mich<br />

ein bisschen einbrachte, um einen zu ermutigen, mehr als nur zu<br />

tätscheln; Geschäft ist Geschäft! Ich ging auf den Typ zu, <strong>die</strong> Hüften<br />

wiegend, dann schmiegte ich mich mit treudoofer aber viel versprechender<br />

<strong>und</strong> eindeutiger Mimik, eng an ihn. Ich rieb meine Scham<br />

intensiv rittlings auf seinem Knie, bis zu dem Punkt, wo eine intime<br />

Zweisamkeit in einem Separee, der einzig, mögliche Ausweg meines<br />

kleinen Spielchens wäre. Das war nicht Davids Stil. Er hatte mich<br />

gefragt, ob wir uns außerhalb des Klubs treffen könnten <strong>und</strong> ich<br />

hatte geantwortet, es ließe sich arrangieren. Durch ihn kam ich übrigens<br />

zu <strong>die</strong>sem <strong>anderen</strong> Vorhaben da ... Ach nee! Nein, nein! Das<br />

war durch einen <strong>anderen</strong> K<strong>und</strong>en aus dem Pussy Bell! Ja. Äh ... Wie<br />

hieß der nochmal? Hm ... Weiß nicht mehr. Dirk ... Samuel ... Jochen?<br />

... Ach nein. Ich weiß nicht mehr. Jedenfalls hatte der Kerl<br />

mich gefragt, ob ich Strip-tease für Veranstaltungen, Partys machte.<br />

Es sollte für den Junggesellenabschied seines besten Fre<strong>und</strong>es sein.<br />

<strong>Die</strong> Idee schien mir zunächst ganz nett, aber als er mir den Preis<br />

nannte, den er dafür bezahlen wollte, fand ich sie schlichtweg sensationell.<br />

Also wurden wir uns einig, doch dann sagte ich mir: »Mein<br />

liebes Mädchen, auf was hast du dich jetzt schon wieder eingelassen?«<br />

Tanzen, okay! Aber vor einer Bande junger, entfesselter<br />

194


Wölfe zu strippen, so was hatte ich noch nie gemacht ... Ich verließ<br />

mich ganz darauf, dass Gina bestimmt ein Schnellkurs für mich<br />

einfallen würde, damit ich das meistern konnte.<br />

<strong>Die</strong> Bilder des Abends zogen erneut vor meinen Augen vorbei <strong>und</strong><br />

ich konnte kaum glauben, dass es sich wirklich um meine Erinnerungen<br />

handelte <strong>und</strong> nicht um eine Geschichte, <strong>die</strong> man mir über<br />

jemand <strong>anderen</strong> erzählt hätte.<br />

Das ist ganz schön eng da drinnen! Und was für eine Hitze! Pff!<br />

Ich ersticke.<br />

»Gut! Wir werden Sie jetzt hinübertragen, ja ... Sind Sie bereit?<br />

Achtung! Es geht los.«<br />

Der Boden war etwas verstärkt, damit ich ihn nicht mit meinen<br />

Pfennigabsätzen aufreiße. Wenn ich keine Netzstrümpfe, Mieder<br />

<strong>und</strong> das ganze Trallala getragen hätte, wäre ich mir vorgekommen<br />

wie ein kleines Mädchen, das Verstecken spielt. Dank des Lichts,<br />

das durch <strong>die</strong> Pappe schimmerte, sah ich <strong>die</strong> Umrisse meiner Gliedmaßen.<br />

Ich saß in der Hocke, <strong>die</strong> Arme um meine Knie geschlungen.<br />

Ich hätte gedacht, dass es noch viel mehr schaukeln würde, aber <strong>die</strong><br />

Jungs machten ihre Sache wirklich sehr gut. Gratulation!! Es war ein<br />

sehr eigenartiges Gefühl; wohl ein bisschen wie auf einem fliegenden<br />

Teppich zu sein aber ohne See- oder Höhenkrankheit; je nach<br />

Belieben. Das Stimmengewirr der jungen Leute, <strong>die</strong> sich in dem Saal<br />

versammelt hatten, <strong>die</strong> Hitze, <strong>die</strong> angestiegen war <strong>und</strong> dazu <strong>die</strong> Musik<br />

mit den dröhnenden Bässen! ... Das Herz schlug mir bis zum<br />

Hals. Ich wollte lachen, ich hatte einen riesen Bammel, gleichzeitig<br />

war ich vor Aufregung ganz aus dem Häuschen! Es war völlig irre!<br />

Ich konnte wahrhaftig kaum erwarten, dass es losging. Ich hatte den<br />

jungen Mann noch nie gesehen, den ich mit meinen lasziven Verrenkungen<br />

betören sollte, ich war viel zu spät angekommen, um mir<br />

selbst einen Überblick der Räumlichkeiten zu verschaffen <strong>und</strong> somit<br />

kannte ich den Ort an dem wir waren überhaupt nicht! Ich wusste lediglich,<br />

dass man mich leiten würde ... Doch so viel, na bravo! Aber<br />

es war ein bisschen zu spät, um einen Rückzieher zu machen.<br />

Plötzlich wechselte jemand <strong>die</strong> Kassette. Das hieß, ich war in Kürze<br />

195


dran. Ich hatte feuchte Hände. Ich erkannte meine Musik; jemand<br />

hatte <strong>die</strong> Anlage nochmal aufgedreht: Talalaaa-lalaaa-la! Talalaaalalaaa-la!<br />

Talalaaa-lalaaa-la! Taala-tat-taaaaaa… Bäm! Ich streckte<br />

mich abrupt mit erhobenen Armen, meinen Zylinder fest auf den<br />

Kopf gedrückt <strong>und</strong> stieß <strong>die</strong> Klappen des von den Jungs mit einer<br />

großen, roten Schleife versehenen Kartons auf, in dem ich zusammengekauert<br />

gewartet hatte — Talalat-tatata! Talalat-tatata! Talalat-tatata!<br />

Auf ging’s! Ich war förmlich aus der Box heraus, in mein<br />

Element geschossen <strong>und</strong> jetzt ging ich in <strong>die</strong> Vollen! Mit geschwellter<br />

Brust, ich fühlte mich ein wenig ... Wie soll ich sagen? Wenn ihr<br />

wollt, ich war Rocky, der in den Ring steigt! Ich weiß nicht, ob ihr<br />

euch ... Könnt ihr euch ungefähr in <strong>die</strong> Szene ... reinversetzen?<br />

<strong>Die</strong> Jungs hatten mir gesagt, dass ich mühelos erkennen würde, für<br />

welchen der Meute das Geschenk bestimmt war. Sie hatten nicht<br />

gelogen; um sämtliche Verwechslungen zu vermeiden, hatte sich<br />

einer seiner Kumpels genau hinter ihn gestellt <strong>und</strong> hielt ein Schild<br />

mit einem großen, weißen Pfeil, der auf seinen Kopf zeigte. Der<br />

junge Mann saß auf einem Stuhl direkt vor mir, mit großen Augen,<br />

<strong>die</strong> sagten wie glücklich <strong>und</strong> stolz er war, so wohlmeinende Fre<strong>und</strong>e<br />

zu haben. Ich schwang <strong>die</strong> Hüften im Rhythmus, erstaunt über mich<br />

selbst, das doch so glatt hinzubekommen. Ein echter Profi! Ich riss<br />

geschwind mit beiden Händen meine Klettverschlusshose auf, meine<br />

verführerischen Dessous enthüllend <strong>und</strong> ging auf ihn zu, setzte mich<br />

auf seinen Schoß, Beine weit gespreizt, den Kopf zurückgeworfen<br />

<strong>und</strong> zog seine Nase an meinen Busen, den ich mit einem hübschen<br />

Balconette-BH aus feiner Spitze, zur Geltung gebracht hatte. Mutiger<br />

werdend streichelte er meine Hüften <strong>und</strong> packte mich an der<br />

Taille. Aber ich erhob mich, unfassbar <strong>und</strong> aufreizend, ihn atemlos<br />

<strong>und</strong> geknickt zurücklassend <strong>und</strong> das war erst der Anfang. Ich wollte,<br />

dass er nur Augen für mich hatte, ich wollte ihn um den Verstand<br />

bringen. Dann erschallte Joes raue Stimme: Tala-Take off your coat!<br />

... Talalat-tatata! Ta-Reaaal slow. Talalat-tatata!<br />

Ich tanzte an <strong>die</strong>sem Abend zweimal mit Kostümwechsel. Für meinen<br />

zweiten Auftritt präsentierte ich mich in der Kluft einer Pseudosekretärin.<br />

Es war lustig zu sehen, dass obwohl jeder in dem Raum<br />

alle Einzelheiten meines Körperbaus kannte, <strong>die</strong> Uhr auf Null zurückgedreht<br />

war, kaum dass ich mich wieder angekleidet hatte. Jeder<br />

196


verschlang mich erneut mit den Augen <strong>und</strong> wartete ungeduldig, dass<br />

ich entblößte, was sich unter meinem eng um <strong>die</strong> Hüften anliegenden<br />

Kostümrock versteckte. Das Lied endete <strong>und</strong> ich errang unter<br />

großem Beifall meinen zweiten Triumpf des Abends. Danach wurde<br />

ich äußerst liebenswürdig behandelt. Ich hatte einen dicken Bademantel<br />

angezogen, was mir gut tat, denn als ich mich komplett entblättert<br />

hatte, nachdem ich meinen kleinen Slip in eine Ecke des<br />

Raumes geworfen hatte, nachdem ich mich in Position gebracht hatte,<br />

nur in hohen Schuhen <strong>und</strong> Strümpfen, das Gesäß schön nach hinten<br />

gewölbt, zog ich zwar <strong>die</strong> Aufmerksamkeit auf mich, war aber<br />

starr vor Kälte. Jetzt umzingelten mich <strong>die</strong> Jungs <strong>und</strong> schlugen sich<br />

nahezu darum, mich mit Getränken zu be<strong>die</strong>nen <strong>und</strong> mir kleine<br />

Häppchen zu bringen. Ich lehnte den Alkohol ab, sodann wurden mir<br />

Fruchtsäfte nach Belieben serviert. Sie boten mir an zu bleiben <strong>und</strong><br />

mit ihnen zu feiern aber das war nicht Teil der Abmachung; Arbeit<br />

ist Arbeit! Ich dankte ihnen für ihre Fre<strong>und</strong>lichkeit <strong>und</strong> verdrückte<br />

mich.<br />

(…/…)<br />

197


-Wenn eine Hand wegnimmt, was <strong>die</strong> andere gegeben hat.<br />

15<br />

Für jede Lösung ein Problem<br />

Es war der Moment, den ich am wenigsten mochte. Das Schnurren<br />

des Motors im Leerlauf war wie ein Wiegenlied <strong>und</strong> ich blieb hartnäckig,<br />

wie der Efeu an seinem Ast, an Zac kleben, aber trotzdem<br />

mussten wir uns trennen.<br />

»Hey! Kleiner Koala. Wir sind da. Schläfst du?«<br />

Zaccaria schaltete den Motor aus <strong>und</strong> ich stieg notgedrungen ab.<br />

»Danke für <strong>die</strong> Spazierfahrt, night rider.«<br />

»Aber es war mir ein Vergnügen, meine Liebe. Insbesondere,<br />

weil du mich <strong>die</strong>ses Mal angerufen hast. Ich bin geschmeichelt.<br />

Wir machen das wieder, wann immer es dir passt.«<br />

Obwohl er nicht gezögert hatte, mich knapp eine St<strong>und</strong>e nachdem<br />

er mich das erste Mal getroffen hatte, zu küssen, zeigte sich mein<br />

Zaccaria jetzt höchst zurückhaltend. Ich spürte, dass er genauso Lust<br />

auf mich wie ich auf ihn hatte, dennoch drängte er nicht darauf. Er<br />

wartete augenscheinlich, dass ich <strong>die</strong> Initiative ergriffe, <strong>die</strong> Nacht<br />

gemeinsam zu verbringen. Aber ich hatte noch zu viel ins Reine zu<br />

bringen <strong>und</strong> das ging ihn alles nichts an. Ich wollte mehr Klarheit in<br />

meinem Leben haben, bevor ich <strong>die</strong> Beziehung mit ihm vertiefe.<br />

»Ich habe keine Ahnung, wohin du fährst, Mister Secret-life,<br />

aber pass’ auf dich auf. Ich ruf dich an.«<br />

Ein Abschiedskuss <strong>und</strong> ich ging ins Haus.


Als ich in meiner Wohnung ankam, schaute ich aus dem Fenster<br />

<strong>und</strong> Zac stand immer noch auf dem Platz. Er wartete jedes Mal bis<br />

das Licht in meinem Appartement anging, bevor er losfuhr. Ich winkte<br />

ihm <strong>und</strong> er antwortete mit einer kleinen Handbewegung, dann<br />

startete er sein Motorad <strong>und</strong> verschwand in der Dunkelheit.<br />

Ich hasste mir das eingestehen zu müssen, aber offenk<strong>und</strong>ig musste<br />

etwas in meinem Verhältnis zu <strong>anderen</strong> verdorben sein. Man hatte<br />

sich meiner reichlich be<strong>die</strong>nt — in der Regel, weil ich es so wollte<br />

— <strong>und</strong> wie von einem seltsamen Automatismus getrieben, be<strong>die</strong>nte<br />

ich mich meinerseits, ungeniert der <strong>anderen</strong>. In meinen objektiven<br />

Augenblicken, wenn mein Ego sich eine Pause gönnte <strong>und</strong> darauf<br />

verzichtete, mir <strong>die</strong> Realität der Dinge zu verschleiern, gestand ich<br />

mir ein, dass ich unter einer Art emotionalem Manko litt; einem quälenden<br />

Mangel, der auf einer Epoche beruhte, deren Beginn einzuordnen,<br />

mir ziemliche Mühe bereitete. Dennoch vergaß ich nicht all<br />

<strong>die</strong> Behaglichkeit, <strong>die</strong> mir Femi trotz unserer Diskrepanzen <strong>und</strong> zahlreichen<br />

Streitigkeiten, gegeben hatte. Und er tat <strong>die</strong>s in gewissem<br />

Maße immer noch. Ich betrachtete unsere langjährige Fre<strong>und</strong>schaft<br />

als Segen. Allerdings war <strong>die</strong>s nicht oder nicht mehr genug. Über<br />

zwanzig Jahre hatte ich mir eingeredet, alles in meinem Leben sei<br />

bestens, dann hatte ein kleines Nichts alles infrage gestellt. Eine<br />

simple Fernsehsendung hatte eine Ecke des Teppichs angehoben, unter<br />

welchen ich meinen Staub gekehrt hatte. Folglich war ich gekommen,<br />

Giancarlo zu benutzen, um zu flicken, was noch geflickt<br />

werden konnte <strong>und</strong> <strong>die</strong>s hatte ziemlich gut funktioniert, bis alles<br />

komplett in sich zusammenfiel. All <strong>die</strong>se Jahre auf wackligem F<strong>und</strong>ament<br />

stehend, hatte mein Kartenhaus den heftigen Böen eines Orkans<br />

namens Sabine, nicht standgehalten. Jetzt war es Zac, dessen<br />

ich mich be<strong>die</strong>nte, um mein Leben erträglicher zu machen. <strong>Die</strong>s war<br />

aus meiner Warte weder bösartig noch wirklich wissentlich; es war<br />

lediglich eine Tatsache. Wenn ich eine Bestandsaufnahme der letzten<br />

Zeiten machen sollte, würde ich sagen, dass Giancarlo <strong>und</strong> Zac,<br />

jeder auf seine Art dazu beigetragen hatten, meinen Mangel an Zuneigung<br />

auszugleichen. Und dafür war ich ihnen dankbar ... allen<br />

beiden.<br />

Ich schaute noch einen Augenblick nach draussen, denn nach ein<br />

paar Sek<strong>und</strong>en würde ich mich umdrehen <strong>und</strong> erneut mit den Fragen<br />

204


konfrontieren, <strong>die</strong> ich fein säuberlich für den Abend beiseite geschoben<br />

hatte. Langsam aber sicher verloren <strong>die</strong> guten Erinnerungen, <strong>die</strong><br />

ich an Giancarlo behalten hatte, ihren Glanz. Ich hatte mich ihm<br />

anvertraut <strong>und</strong> wahrscheinlich dachte er mir einen großen <strong>Die</strong>nst zu<br />

erweisen, indem er angeblich mein Problem lösen ließ. Allerdings<br />

hatte ich immer noch keine Nachricht von Sabine <strong>und</strong> daher keinerlei<br />

Gewissheit über sie. Doch dessen ungeachtet hielt ich <strong>die</strong> Dokumente,<br />

<strong>die</strong> sie gegen mich besessen hatte, in der Hand <strong>und</strong> das war<br />

schon mal nicht schlecht. Aber waren sie komplett? Und wer außer<br />

mir hatte sie einsehen können? Ich hatte eine Telefonnummer, um<br />

Giancarlo zu kontaktieren aber zwischen den Zeilen lesend, verstand<br />

ich, dass er nicht unbedingt wollte, dass ich sie benutze. Alles in Allem:<br />

Waren meine Probleme gelöst? Ja oder vielleicht, das heißt:<br />

Nein! Ich hatte einst bewiesen, ein wahrer Künstler der Vogel Strauß<br />

Methode zu sein. Ich hatte schon so viele Dinge ausgelöscht, von<br />

denen ich nichts mehr wissen wollte, das könnte ich ohne Weiteres<br />

wiederholen. Es lag mir durchaus. Aber heutzutage war daran nicht<br />

mehr zu denken. Ich beabsichtigte mich mit all <strong>die</strong>sen Fragezeichen<br />

zu attackieren <strong>und</strong> jedem den Hals umzudrehen. Aber nur mit<br />

Maulaffen feilhalten war das nicht zu bewältigen. <strong>Die</strong> nächtlichen<br />

Spazierfahrten mit Zac waren echte Sauerstoffspritzen. Ich wollte<br />

jedes Mal so spät wie möglich zurückkehren, obwohl ich wusste,<br />

aufgeschoben ist nicht aufgehoben, denn meine Sorgen erledigten<br />

sich natürlich durch meine Abwesenheit nicht von selbst. Sie warteten<br />

treu <strong>und</strong> brav auf mich. So drehte ich mich um, ging zum<br />

Schrank, holte mein großes Sorgenpaket heraus <strong>und</strong> breitete es auf<br />

dem Couchtisch aus.<br />

Ich war bis zum Hals in <strong>die</strong> Geschäftsbücher versunken, auf der<br />

Suche nach irgendeinem hoffnungstragenden Hinweis, als es an der<br />

Tür klingelte. Um elf Uhr abends ... Das musste Herr Spillner sein,<br />

mein Nachbar von unten. Er konnte schlecht laufen, aber der Alte<br />

war weder taub noch blind; vermutlich hatte er mich nach Hause<br />

kommen gehört <strong>und</strong> stieg hoch, mich zu fragen, ob ich ihm zufälligerweise<br />

bis morgen mit einem Liter Öl oder drei Stück Zucker<br />

aushelfen könnte oder vielleicht wollte er mit mir über ein sensibles<br />

Thema, das er gerne bei der nächsten Eigentümerversammlung besprechen<br />

würde, reden. Rentner, <strong>die</strong> können sich alles erlauben.<br />

205


Ich nahm meine Lesebrille ab, legte meinen Stift aus der Hand <strong>und</strong><br />

ging <strong>die</strong> Tür öffnen. Trotzdem hakte ich aus reiner Gewohnheit <strong>die</strong><br />

Türkette ein.<br />

<strong>Die</strong>s war nicht Herr Spillner.<br />

Ein Unbekannter stand vor meiner Wohnungstür — was nutzt eine<br />

Sprechanlage, wenn irgendwer in Ihr Haus eindringen <strong>und</strong> frei durch<br />

<strong>die</strong> Stockwerke spazieren kann? <strong>Die</strong>s wäre vielleicht eine Frage für<br />

<strong>die</strong> nächste Hauptversammlung ...<br />

»Guten Abend der Herr ...«<br />

Mein Gegenüber hatte ein sehr junges Gesicht. Er müsste höchstens<br />

zwanzig sein. Er war ein paar Zentimeter größer als ich <strong>und</strong> sein an<br />

den Schultern etwas zu großer Blouson, ließ ihn fast schmächtig aussehen.<br />

»Britta Neumann? ...«<br />

»Höchstpersönlich. Um was geht’s?«<br />

Der Mann grinste mich in einer Art an, <strong>die</strong> mir nicht gefiel.<br />

»Um Sie. Beziehungsweise um uns. Ich bin hier, damit Sie<br />

sich für unsere <strong>Die</strong>nste erkenntlich zeigen können.«<br />

»... Was meinen Sie? Wer sind Sie?«<br />

»... Ein Fre<strong>und</strong>. Wir sind bei Herr Nguyen gewesen. Er hat<br />

uns versichert, Ihnen das Paket übergeben zu haben.«<br />

Ich hab’s genau gewusst! Ich hätte darauf wetten können. Wenn<br />

<strong>die</strong>ser Kerl <strong>die</strong> Lotterie gewesen wäre, wäre ich jetzt Millionärin.<br />

»Darf ich einen Moment reinkommen? Es wird nicht lang<br />

dauern.«<br />

Ich war plötzlich bleich, gelähmt. Ich schätzte <strong>die</strong> Situation schnell<br />

ein: Ich konnte gänzlich ablehnen zu kooperieren <strong>und</strong> gegenüber<br />

<strong>die</strong>sem einen jungen Mann würde ich mich gut <strong>und</strong> gerne verteidigen<br />

können. Aber auf eine Million waren <strong>die</strong> Chancen, dass es um<br />

einen Kampf auf Augenhöhe ginge, gleich null. Femi hatte behauptet,<br />

dass für einen Menschen, der sich auf ein betrügerisches Unternehmen<br />

einlässt, isoliertes Handeln dem Laufen auf heißen Kohlen<br />

entsprach. <strong>Die</strong>s erschien mir zur St<strong>und</strong>e logisch. Und wenn ich an<br />

<strong>die</strong>ser Theorie festhielt, müsste ich daraus ableiten, dass <strong>die</strong>ser Junge<br />

bestimmt kein Einzelkämpfer war, denn er wirkte auf mich vollkommen<br />

ruhig <strong>und</strong> seiner selbst sicher. Sollte ich ihm eine Abfuhr<br />

erteilen, würde er später mit seinen Komplizen angerückt kommen,<br />

206


<strong>die</strong> sich wahrscheinlich weit schlechter aufgelegt erweisen würden,<br />

als er derzeit. Es war so klar, wie zwei <strong>und</strong> zwei vier sind. Überflüssig<br />

geworden, stellte mein Gehirn augenblicklich seine Arbeit ein;<br />

ich entsicherte <strong>die</strong> Kette, öffnete <strong>die</strong> Tür <strong>und</strong> trat zur Seite, wie eine<br />

Schlafwandlerin, um ihm Zutritt zu meinem Zuhause zu gewähren.<br />

Der junge Mann schob mich gewaltlos vor sich her <strong>und</strong> schloss <strong>die</strong><br />

Tür.<br />

Das Verzeichnis mit meinem Datenblatt <strong>und</strong> denen meiner Zeitgenossinnen<br />

lag auf dem Tisch, neben dem, durch meine in der Mitte<br />

steckende Brille offen gehaltenen, Geschäftsbuch das ich wälzte.<br />

»Wir haben keine Kopien davon gemacht«, sagte er lässig,<br />

mit dem Finger auf <strong>die</strong> Register deutend. »Ich schwör’s!«<br />

Ich schwieg noch immer. Ich wartete darauf zu erfahren, in welche<br />

Richtung der Wind sich drehen würde. Mein junger Gesprächspartner<br />

schaute kurz aus dem Fenster, rieb sich <strong>die</strong> Hände, knackte seine<br />

Knöchel, dann drehte er sich um <strong>und</strong> sprach mit klarer Stimme zu<br />

mir.<br />

»Hat Ihnen das Geschenk wenigstens gefallen?«<br />

»Würden Sie bitte zur Sache kommen?«<br />

Er bedachte mich mit einem leicht amüsierten Blick.<br />

»Sie sind praktisch veranlagt ... Das ist gut. Lassen Sie uns<br />

bitte einen Moment reden.«<br />

<strong>Die</strong> gekünstelte Ausdrucksweise <strong>die</strong>ses jungen Mannes klang in<br />

meinen Ohren wie das Knarren einer Tür. Ich setzte mich wieder auf<br />

meine Couch <strong>und</strong> er nahm, ohne dass ich ihn dazu einlud, Platz auf<br />

einem Stuhl, mir gegenüber.<br />

»Don Rizzetti ist Ihr Wohltäter, Madam. Er betrachtet Sie,<br />

als seinen Schützling. Er hat uns gebeten Ihnen einen Gefallen zu erweisen<br />

<strong>und</strong> wir würden ihm natürlich nichts abschlagen. Sie waren<br />

in Schwierigkeiten <strong>und</strong> unser Auftrag war, Ihre Probleme zu lösen.<br />

Das ist erledigt. Nun möchten wir uns über einige Dinge mit Ihnen<br />

unterhalten. Ein Projekt ...«<br />

Der junge Mann machte eine Pause, wahrscheinlich dachte er, dass<br />

es mir unter den Nägeln brennen würde, ihn mit Fragen zu bombar<strong>die</strong>ren.<br />

Ich tat nichts dergleichen. Er hatte auf jeden Fall ein<br />

M<strong>und</strong>werk für zwei. Ich brauchte ihn mitnichten anzuschieben, sich<br />

auszulassen, das schaffte er bestens alleine. Mir fiel auf, dass sein<br />

207


Deutsch, zwar von italienischem Singsang gefärbt, einwandfrei war.<br />

Das war möglicherweise der Gr<strong>und</strong>, warum Giancarlo ihn zu seinem<br />

Kurier gemacht hatte.<br />

(…/…)<br />

208

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