Architektur verstehen

seemann.henschel.verlagsgruppe
von seemann.henschel.verlagsgruppe Mehr von diesem Publisher
13.07.2020 Aufrufe

6 Einleitung 4 Wir sind umgeben von Architektur. Sie ist Teil unserer Erlebniswelt und unseres Alltags, und somit beeinflusst sie unsere Lebensmuster ebenso tief greifend wie unterschwellig. Sie bestimmt, an wel - cher Stelle wir ein Gebäude betreten oder wie wir uns durch es hindurchbewegen; sie weckt in uns Erinnerungen, Empfindungen, Vorstellungen und Assoziationen. Zwischen der Baukunst verschiedener Zeiten, Orte und sozialer Kontexte gibt es große Unterschiede. Sie erlauben uns, Bauten bestimmten Stilbewegungen oder »...ismen« zuzuordnen. Dieser Führer soll ein Verständnis der wich tigsten Architekturepochen, -stile und -trends ermöglichen. Die Unterschiede zwi - schen ihnen sind meist im Technisch-Materiellen begründet, etwa der Bauaufgabe, dem lokalen Klima und den verfüg baren Baustoffen. Mit der Zeit bilde ten sich Konventionen heraus, die in den lokalen Kulturen langlebige Bautraditionen ent - stehen ließen. Über verschiedene Wege – Eroberungen, aber auch Handel – wirkten solche Traditionen auch auf die Gesellschaften und Kulturen anderer Länder. So führten beispielsweise die Europäer ihre heimische Architektur in die Kolonien ein. Liegen die Ursprünge der Architektur im Bedürfnis, sich einen Lebensraum zu schaf - fen, so fanden sich schnell Wege, mit den baulichen Notwendigkeiten auch Ideen aus - zudrücken, zum Beispiel den Göttern und den von ihnen regierten Naturelementen einen ihnen gemäßen Ausdruck zu geben. Dies gilt gewissermaßen heute noch: Archi - tek tur ermöglicht, unseren Platz in der Gesellschaft zu bestimmen und Kontakte zu Freun d en und Besuchern zu pflegen. Dieses Buch bietet eine Einführung in die wichtigsten Architekturbewegungen und die ihnen zugrunde liegenden Konzepte und Eigentümlichkeiten. Es bietet zwar keine »Checkliste« zum Abhaken von Charakteristika bestimmter Stile, erläutert aber, wie Architekten eine spezifische Ästhetik einsetzen, um praktische Probleme zu lösen und Ideen Ausdruck zu verleihen. Bei verschiedenen Architekturströmungen können durchaus die gleichen Stilmerkmale in Erscheinung treten, so wie sich manche Architekten und Bauwerke mühelos mindestens zwei Begriffen zuordnen lassen. Wir haben fünf Grundkategorien erarbeitet, die auf der nächsten Seite beschrieben werden. Während manche Stile über einen langen Zeitraum relativ konstant bleiben, sind andere einem beständigen Wandel unterlegen. So zeigt etwa das Kapitel Konfuzianismus die Kontinuität der chinesischen Bautradition, während die indische Baukunst belegt, dass eine Architekturtradition ebenso sehr von Veränderung, Anpassung und fremden Motiven gekennzeichnet wird wie von Konstanten. Bei vielen Stilrichtun - gen wiederum wird deutlich, mit welchem Tempo Ideen aufgegriffen werden, nur um nach wenigen Jahrzehnten von neuen, gefälligeren Trends abgelöst zu werden. Und schließlich können mehrere Tendenzen koexistieren, selbst wenn sie zunächst widersprüchlich erscheinen. Dies gilt etwa für die Epoche der öffentlichen Monumentalbauten und der Mittelalterbegeisterung im 19. Jahrhundert, die beide eine Reaktion auf dieselben Herausforderungen darstellen. Vor der Mitte des 19. Jahrhunderts begrif - fen sich Architekten nicht als Anhänger einer bestimmten Stilrichtung. Erst mit der zunehmenden Politisierung der Architektur ab den 1830er Jahren wurde die Entscheidung für einen Stil zu einer ideologischen Entscheidung. Im frühen 20. Jahr hundert schließlich war der Anschluss an eine bestimmte Bewegung zum Muss geworden. Erst in jüngster Zeit wehren sich Architekten gegen solche Kategorisierungen.

Einleitung 7 FÜNF KATEGORIEN VON BEGRIFFEN 1 EINE GESAMTKULTURELLE TENDENZ, zum Beispiel Humanismus oder Klassizismus GKT Diese Kategorie umfasst Baustile und Bauten denzen, die aus gesamtkulturellen Strömun gen hervorgingen. Gelegentlich gelang es Architekturtrends auch, neue Maßstäbe in der allgemeinen kulturellen Entwicklung zu setzen. Meistens finden sich Entsprechun gen in anderen künstlerischen Disziplinen. Auch weniger langlebige gesamtkulturelle Ten denzen kennzeichnen, dass ihre Anschauungen große Ausstrah - lungskraft haben. 2 VON ARCHITEKTEN DEFINIERTE ODER GEPRÄGTE BEWEGUNGEN, zum Beispiel Purismus oder Strukturalismus ADB Die Begriffe dieser Gruppe betreffen zumeist das 19. und 20. Jahrhundert, als viele Archi - tekten die Notwendigkeit sahen, sich selbst und ihre Ideen zu definieren. Wo möglich schlossen sie sich mit Gleichgesinnten zu - sammen, um ihre Vorstellungen durch zu - setzen – häufig durch die Veröffent lichung von Manifesten. Obwohl von Archi tekten definierte Bewegungen oft mit eloquenter Rhetorik glänzen, mangelt es ihnen häufig an der intellektuellen Tiefe von weni ger be - wusst heraufbeschwo renen »…ismen«. 3 IM NACHHINEIN DEFINIERTE BEWEGUNGEN, zum Beispiel Griechische Vorklassik oder Manierismus NDB Diese Begriffe helfen, rückblickend Erschei - nungen zusammenzufassen, die zufällig oder zusammenhanglos aufzutreten schie - nen. Die Erbauer von Knossos werden sich kaum als Griechische Vorklassik bezeichnet haben, existierte doch die Vorstellung des Klassischen noch nicht. Dennoch trugen sie zur Ausbildung der Griechischen Klassik bei. Die nachträgliche Definition von Bewegun - gen ist ein wichtiges Mittel, genau untersuchen zu können, wie Bautrends im Laufe der Zeit verschmolzen, auseinander hervor - gingen und sich entwickelten. 4 PROPAGIEREN VON IDEEN, zum Beispiel Frömmigkeit oder Totalitarismus PI Kunst besitzt mehr oder weniger explizit das Potenzial, Vorstellungen und Ideen zum Aus druck zu bringen. Die Beziehung zwi - schen Architektur und Ideologie ist daher eine besondere. Architektur kostet Geld. Je größer das Bauwerk ist, desto reicher und mächtiger ist folglich auch der Bauherr und desto größer ist sein Interesse, sein Anliegen zu demonstrieren. 5 NATIONALE ODER REGIONALE TENDENZEN, zum Beispiel Schintoismus oder Usonianism NRT Bis zu dem Zeitpunkt, als man dank des technischen Fortschritts das Raumklima verän dern und Baustoffe auch aus großen Entfer nungen herbeiholen konnte, war die Einbindung von Architektur in die Umgebung unvermeidbar. Die Inter aktion zwi - schen Anschauungen und Vorstellungen einer Gesellschaft sowie Klima, Topo grafie und Baumaterialien bedingte ortsbezogene, charak te ris tische Bautraditionen. Sie lassen sich als natio nale oder regionale Tendenzen be schreiben und waren im 19. Jahrhundert oft mit der Frage nach der nationalen Identität verknüpft.

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Wir sind umgeben von <strong>Architektur</strong>.<br />

Sie ist Teil unserer Erlebniswelt und<br />

unseres Alltags, und somit beeinflusst sie<br />

unsere Lebensmuster ebenso tief greifend<br />

wie unterschwellig. Sie bestimmt, an wel -<br />

cher Stelle wir ein Gebäude betreten oder<br />

wie wir uns durch es hindurchbewegen; sie<br />

weckt in uns Erinnerungen, Empfindungen,<br />

Vorstellungen und Assoziationen.<br />

Zwischen der Baukunst verschiedener<br />

Zeiten, Orte und sozialer Kontexte gibt es<br />

große Unterschiede. Sie erlauben uns,<br />

Bauten bestimmten Stilbewegungen oder<br />

»...ismen« zuzuordnen.<br />

Dieser Führer soll ein Verständnis der<br />

wich tigsten <strong>Architektur</strong>epochen, -stile und<br />

-trends ermöglichen. Die Unterschiede zwi -<br />

schen ihnen sind meist im Technisch-Materiellen<br />

begründet, etwa der Bauaufgabe,<br />

dem lokalen Klima und den verfüg baren<br />

Baustoffen. Mit der Zeit bilde ten sich<br />

Konventionen heraus, die in den lokalen<br />

Kulturen langlebige Bautraditionen ent -<br />

stehen ließen. Über verschiedene Wege –<br />

Eroberungen, aber auch Handel – wirkten<br />

solche Traditionen auch auf die Gesellschaften<br />

und Kulturen anderer Länder. So<br />

führten beispielsweise die Europäer ihre<br />

heimische <strong>Architektur</strong> in die Kolonien ein.<br />

Liegen die Ursprünge der <strong>Architektur</strong> im<br />

Bedürfnis, sich einen Lebensraum zu schaf -<br />

fen, so fanden sich schnell Wege, mit den<br />

baulichen Notwendigkeiten auch Ideen aus -<br />

zudrücken, zum Beispiel den Göttern und<br />

den von ihnen regierten Naturelementen<br />

einen ihnen gemäßen Ausdruck zu geben.<br />

Dies gilt gewissermaßen heute noch: Archi -<br />

tek tur ermöglicht, unseren Platz in der<br />

Gesellschaft zu bestimmen und Kontakte zu<br />

Freun d en und Besuchern zu pflegen.<br />

Dieses Buch bietet eine Einführung in die<br />

wichtigsten <strong>Architektur</strong>bewegungen und<br />

die ihnen zugrunde liegenden Konzepte und<br />

Eigentümlichkeiten. Es bietet zwar keine<br />

»Checkliste« zum Abhaken von Charakteristika<br />

bestimmter Stile, erläutert aber, wie<br />

Architekten eine spezifische Ästhetik<br />

einsetzen, um praktische Probleme zu lösen<br />

und Ideen Ausdruck zu verleihen.<br />

Bei verschiedenen <strong>Architektur</strong>strömungen<br />

können durchaus die gleichen Stilmerkmale<br />

in Erscheinung treten, so wie sich manche<br />

Architekten und Bauwerke mühelos mindestens<br />

zwei Begriffen zuordnen lassen. Wir<br />

haben fünf Grundkategorien erarbeitet, die<br />

auf der nächsten Seite beschrieben werden.<br />

Während manche Stile über einen langen<br />

Zeitraum relativ konstant bleiben, sind<br />

andere einem beständigen Wandel unterlegen.<br />

So zeigt etwa das Kapitel Konfuzianismus<br />

die Kontinuität der chinesischen<br />

Bautradition, während die indische Baukunst<br />

belegt, dass eine <strong>Architektur</strong>tradition<br />

ebenso sehr von Veränderung, Anpassung<br />

und fremden Motiven gekennzeichnet wird<br />

wie von Konstanten. Bei vielen Stilrichtun -<br />

gen wiederum wird deutlich, mit welchem<br />

Tempo Ideen aufgegriffen werden, nur um<br />

nach wenigen Jahrzehnten von neuen,<br />

gefälligeren Trends abgelöst zu werden.<br />

Und schließlich können mehrere Tendenzen<br />

koexistieren, selbst wenn sie zunächst widersprüchlich<br />

erscheinen. Dies gilt etwa für die<br />

Epoche der öffentlichen Monumentalbauten<br />

und der Mittelalterbegeisterung im 19. Jahrhundert,<br />

die beide eine Reaktion auf<br />

dieselben Herausforderungen darstellen.<br />

Vor der Mitte des 19. Jahrhunderts begrif -<br />

fen sich Architekten nicht als Anhänger<br />

einer bestimmten Stilrichtung. Erst mit der<br />

zunehmenden Politisierung der <strong>Architektur</strong><br />

ab den 1830er Jahren wurde die Entscheidung<br />

für einen Stil zu einer ideologischen<br />

Entscheidung. Im frühen 20. Jahr hundert<br />

schließlich war der Anschluss an eine<br />

bestimmte Bewegung zum Muss geworden.<br />

Erst in jüngster Zeit wehren sich Architekten<br />

gegen solche Kategorisierungen.

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