Mensch & Maschine
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
MENSCH &<br />
MASCHINE<br />
PAUSENRAUM<br />
Eine Kantine von<br />
Oscar Niemeyer<br />
WERKFÜHRUNGEN<br />
Die schönsten<br />
Fabriken Sachsens<br />
IDEENGESCHICHTEN<br />
Erfinder und<br />
ihre Werkstätten
Hans Hesse, Annaberger Bergaltar, 1520/21 © Ev.-Luth. Kirchgemeinde Annaberg-Buchholz, Foto: D. Knoblauch.<br />
4. Sächsische Landesausstellung<br />
www.boom-sachsen.de<br />
Boom.<br />
ERÖFFNUNG<br />
11.07.<br />
2020<br />
500 Jahre<br />
Industriekultur<br />
in Sachsen<br />
Audi-Bau<br />
Zwickau<br />
6 Schauplätze<br />
Mit freundlicher Unterstützung von<br />
Durchgeführt von<br />
Die 4. Sächsische Landesausstellung wird mitfinanziert auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushalts des Freistaats Sachsen.
3<br />
EDITORIAL<br />
Titel: © Felix Adler, © Oscar Niemeyer VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Illustration: Anja Stiehler-Patschan/Jutta Fricke Illustrators<br />
Zahlenspiele<br />
Industrie braucht Know-how. Wer<br />
Berge tunneln oder Erze schmelzen will,<br />
der sollte schon über Fachwissen verfügen.<br />
Noch komplizierter wird es, will<br />
man darüber hinaus Dinge in die Welt<br />
bringen, die tagein, tagaus gleich aussehen,<br />
gleich funktionieren und beim<br />
Nutzer gleiche Effekte erzielen: Autos<br />
zum Beispiel oder zu Pellets gepresstes<br />
Hundefutter. Derartige Massenprodukte<br />
beruhen im Kern auf Zahlen, Daten,<br />
Algorithmen… Gut also, wer angesichts<br />
solcher Herausforderungen ein<br />
Mathematik-Genie in seinen Reihen<br />
weiß. Einen wie Adam Riese zum Beispiel.<br />
Der ist nicht einfach der Bruder<br />
von Graf Zahl oder ein Kinderschreck<br />
aus dem Mathebuch; Adam Riese hat es<br />
tatsächlich gegeben: Geboren in Bamberg<br />
und später im erzgebirgischen Annaberg<br />
daheim, wurde er im 16. Jahrhundert<br />
zum mastermind der<br />
sächsischen Industriegeschichte: kein<br />
Förderturm, keine Lohnbuchhaltung<br />
ohne Rieses Zahlenspiele. Auf Rechenmeister<br />
Riese konnte der sächsische<br />
Aufschwung auf einfache Weise addieren,<br />
subtrahieren, exportieren: In insgesamt<br />
vier Rechenbüchern revolutionierte<br />
Riese die Algebra. Sein<br />
vermutlich aber größtes Verdienst: Er<br />
ersetzte die römischen Zahlzeichen<br />
durch die wesentlich leichter zu handhabenden<br />
arabischen Ziffern. So ließen<br />
sich Normumfänge von Silbermünzen<br />
berechnen, Idealmaße für Standardbekleidung<br />
festlegen, ja sogar Algorithmen<br />
für digitale Produktionsstraßen darstellen.<br />
Aus einst mühsam zusammengezimmerten<br />
Waren mit Ecken und<br />
Ralf Hanselle,<br />
Journalist und Redakteur von<br />
<strong>Mensch</strong> & <strong>Maschine</strong><br />
Kanten wurden im Laufe der 500-jährigen<br />
Industriegeschichte Massenartikel<br />
und runde Sachen.<br />
So rund etwa wie die hippen Kugellautsprecher<br />
k20, die der Chemnitzer<br />
Formgestalter Karl Clauss Dietel anno<br />
1970 für den damaligen VEB Elektromechanik<br />
Mittweida entwarf. Oder so<br />
rund – oder mindestens eierförmig –<br />
wie die von Oscar Niemeyer entworfene<br />
Kantine auf dem Dach einer Leipziger<br />
Industrieanlage. Wer derlei kugelige<br />
Dinge bauen kann, muss mathematisch<br />
gut beschult worden sein. Denn da hilft<br />
nicht töpfern oder lange rumhantieren:<br />
Es braucht standardisierte<br />
Verfahren, genormte Formvorlagen,<br />
maschinelle Arbeitsgänge;<br />
kurz: Es braucht<br />
Industriekultur. Und die gibt<br />
es in kaum einem anderen<br />
Bundesland auf derart vielfältige<br />
Weise wie eben in<br />
Sachsen.<br />
Von Leipzig bis hinüber<br />
nach Görlitz dreht sich daher<br />
2020 manch eine<br />
Ausstellung, manch Festival oder Podium<br />
rund um das Thema Industrie. Im<br />
„Jahr der Industriekultur“ präsentiert<br />
Sachsen seinen wichtigsten Markenkern.<br />
Und die diesjährige 4. Sächsische<br />
Landesausstellung in Zwickau steht<br />
dem in nichts nach: Unter dem Titel<br />
„Boom. 500 Jahre Industriekultur in<br />
Sachsen“ zeigt sie einen spannenden<br />
Parcours vom Großen Berggeschrey bis<br />
weit hinein in die Industrie 5.0.<br />
Eine runde Sache also. Und der hat<br />
sich auch dieses Magazin verschrieben<br />
– nicht nur, indem es den bereits erwähnten<br />
Kult-Gestalter Karl Clauss<br />
Dietel porträtiert oder in Leipzig das Ei<br />
des Oscar Niemeyer besichtigt; mit<br />
zahlreichen Interviews, mit Reportagen<br />
über Gebetsteppiche aus Oelsnitz oder<br />
mit Werkbesichtigungen in Braunsdorf,<br />
Knappenrode oder Dresden zeigt es das<br />
Produktivste, was man aus Zahlen und<br />
Ziffern machen kann. Nach Adam Riese<br />
macht das übrigens 52 Seiten prallvoll<br />
mit spannenden Geschichten aus dem<br />
Herzland der Industrialisierung. Dazu<br />
wünschen wir gute Unterhaltung! •<br />
Covermotiv:<br />
Unser Cover zeigt den<br />
Unternehmer Ludwig<br />
Koehne zusammen<br />
mit dem Architekten<br />
Harald Kern in der neuen<br />
Niemeyer Sphere in<br />
Leipzig. Ein Gespräch<br />
zwischen den beiden<br />
finden Sie auf den<br />
Seiten 34–36<br />
MENSCH & MASCHINE
4<br />
INHALT<br />
6<br />
Im Kraftraum<br />
Die Industriegeschichte hat in Sachsen<br />
einzigartige Arbeits- und <strong>Maschine</strong>nräume<br />
hinterlassen. Eine fotografische<br />
Werksbesichtigung durch historische<br />
und moderne Fabrikationsanlagen<br />
14<br />
Interview mit<br />
Thomas Spring<br />
Der Kurator der 4. Sächsischen<br />
Landesausstellung über das Konzept<br />
von „Boom. 500 Jahre Industriekultur<br />
in Sachsen“<br />
18<br />
Lost Places<br />
In Schkeuditz haben Künstler und<br />
Kreative ein neues Festival für Street-<br />
Art organisiert. Ortstermin in einer<br />
alten Industriebrache<br />
22<br />
ARBEIT IST DAS<br />
EWIGE LEBEN<br />
In einer Kirche in Annaberg stellt<br />
ein Altar die Anfänge der erzgebirgischen<br />
Bergbauindustrie dar<br />
24<br />
Meine Jahre<br />
mit Erika<br />
Ein Porträt des legendären<br />
Gestalters Karl Clauss Dietel,<br />
Formgeber von Autos und<br />
anderen <strong>Maschine</strong>n<br />
34<br />
Niemeyers Kaffeekugel<br />
Ein Leipziger Unternehmer<br />
hat posthum einen Entwurf des<br />
brasilianischen Stararchitekten<br />
Oscar Niemeyer verwirklicht<br />
Fotos: © Marcus Glahn. Industriemuseum Chemnitz im Sächsischen Industriemuseum, © Karl Clauss Dietel VG Bild-Kunst, Bonn 2020. © Cihan Cakmak. akg-images. © Felix Adler, © Oscar Niemeyer VG Bild-Kunst, Bonn 2020<br />
MENSCH & MASCHINE
5<br />
37<br />
Die Unternehmerin<br />
Barbara Uthmann war eine der ersten<br />
Unternehmerinnen Sachsens. Porträt<br />
einer Frau mit Ideen und Einfluss<br />
44<br />
Utopie im Schwebezustand<br />
In der alten Dresdner Bergschwebebahn<br />
sprechen zwei Experten<br />
über Verkehrskonzepte von morgen<br />
30<br />
DER PERSER<br />
AUS SACHSEN<br />
Einst verband ein Teppich die<br />
DDR mit dem Morgenland<br />
38<br />
IDEENGESCHICHTEN<br />
Seit jeher ist Sachsen eine Ideenschmiede.<br />
Vier ganz besondere<br />
Erfinder und ihre Innovationen<br />
48<br />
SERVICE<br />
Die wichtigsten Ausstellungen,<br />
Events und Highlights im Jahr<br />
der Industriekultur 2020<br />
Fotos: akg-images/bilwissedition [M]. © Stephan Floss. Sammlung Museen Schloß Voigtsberg<br />
Herausgeber Freistaat Sachsen<br />
Archivstr. 1, 01097 Dresden<br />
Verlag Res Publica Verlags GmbH,<br />
Fasanenstraße 7–8, 10623 Berlin<br />
Geschäftsführung Alexander Marguier,<br />
Christoph Schwennicke (V.i.S.d.P.)<br />
Verlagsleitung Jörn Christiansen<br />
Leitung Redaktionsmarketing<br />
Janne Schumacher<br />
Chefin vom Dienst Kerstin Schröer<br />
42<br />
Unternehmer 4.0<br />
Lars Fassmann verbindet<br />
Engagement und Unternehmertum.<br />
Hausbesuch bei einem Geschäftsmann<br />
neuen Typs<br />
Redaktion Ralf Hanselle (fr.)<br />
Art-Direktion StudioKrimm (fr.)<br />
Bildredaktion Tanja Raeck, Magdalena<br />
Gruber (Praktikantin)<br />
Korrektorat Ulrike Mattern (fr.)<br />
Produktion Jeff Harwell (fr.)<br />
Herstellung/Vertrieb Erwin Böck<br />
Druck/Litho<br />
Neef+Stumme GmbH<br />
IMPRESSUM<br />
Schillerstr. 2, 29378 Wittingen<br />
50<br />
Nachwachsender<br />
Rohstoff<br />
Ein literarischer Nachschlag zur<br />
Industriekultur von Schriftstellerin<br />
Kerstin Preiwuß<br />
Leserservice Cicero Leserservice,<br />
20080 Hamburg, Tel.: +49 (0)30 346 465 656<br />
E-Mail: abo@cicero.de<br />
Verlag Tel.: +49 (0)30 981 941–100, Fax –199<br />
Diese Drucksache wird auf der Grundlage<br />
des von den Abgeordneten des Sächsischen<br />
Landtags beschlossenen Haushaltes zur<br />
Verfügung gestellt.<br />
Gedruckt auf UPM-Papier mit dem<br />
EU-Umweltzeichen Registriernummer FI/11/001<br />
MENSCH & MASCHINE
Energiefabrik Knappenrode<br />
Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war<br />
in den imposanten Hallen die modernste<br />
Brikettproduktion Deutschlands<br />
untergebracht. Endgültig geschlossen<br />
wurde die Fabrik 1993. Im Oktober 2020<br />
wird das Gebäude als Industriemuseum<br />
wiederauferstehen.
BILDERBOGEN<br />
Im Kraftraum<br />
500 Jahre Industriekultur haben imposante <strong>Maschine</strong>nund<br />
Werkhallen geformt. Eine Besichtigungstour<br />
FOTOS Marcus Glahn
Schauweberei Braunsdorf<br />
Ab 1827 wurden in dem historischen<br />
Gebäude nahe Chemnitz Garne produziert;<br />
später befanden sich hier eine<br />
Färberei und eine Filzfabrik. Seit 1994<br />
dokumentiert ein Museum die alten<br />
<strong>Maschine</strong>n und Arbeitsabläufe.
Eisenmühle Elstertrebnitz<br />
In der Nähe von Leipzig befindet sich<br />
die letzte erhaltene Eisenmühle Deutschlands<br />
– ein Kulturdenkmal der Mühlengeschichte.<br />
Mithilfe von Wasserkraft<br />
wurde hier einst Eisenpulver produziert,<br />
das man für Munition und Medikamente<br />
nutzte.
3-5 Power Electronics GmbH<br />
Mitten im Dresdner Technologiezentrum<br />
produziert die Firma 3-5 Power Electronics<br />
sogenannte Galliumarsenid-Leistungshalbleiter<br />
unter sterilen Bedingungen.<br />
Diese werden für neue Technologien im<br />
Bereich Elektromobilität und Industrie<br />
4.0 benötigt.<br />
Zinnwäsche Altenberg<br />
In dem heutigen Kulturdenkmal wurden<br />
seit dem Jahr 1577 Erze aus dem nahe<br />
gelegenen Bergbau verarbeitet. Zunächst<br />
wurden diese zu Schlamm verflüssigt<br />
und zerkleinert; anschließend dann in<br />
Schmelzhütten zu Reinzinn<br />
verschmolzen.
Tuchfabrik Crimmitschau<br />
1885 wurde in der Nähe von Zwickau<br />
die Tuchfabrik Gebr. Pfau eröffnet. Seit<br />
1990 steht das ehemalige Werk unter<br />
Denkmalschutz. An alten Textilmaschinen<br />
können Besucher weiterhin die<br />
historischen Produktionsschritte<br />
nachvollziehen.<br />
Porsche<br />
In den hochmodernen Montagehallen<br />
von Porsche in Leipzig startet die<br />
sächsische Industrie in die Zukunft. Auf<br />
345 000 Quadratmetern werden täglich<br />
500 Fahrzeuge der Typen Macan und<br />
Panamera gefertigt.
14<br />
LANDESAUSSTELLUNG<br />
CRASH, BOOM,<br />
BANG!<br />
Thomas Spring, Kurator der<br />
4. Sächsischen Landesausstellung,<br />
über die Geschichte von Industrie,<br />
Identität und Innovation<br />
TEXT Michael Bartsch<br />
FOTOS Felix Adler<br />
Herr Spring, Sie kuratieren die<br />
4. Sächsische Landesausstellung. Wofür<br />
braucht es solche Veranstaltungen<br />
eigentlich?<br />
Thomas Spring: Landesausstellungen dienen<br />
der Identitätsbildung. Die Industriekultur,<br />
um die es bei dieser 4. Landesausstellung<br />
inhaltlich geht, ist für Sachsen<br />
und seine Einwohner prägend. Wir<br />
gehen in der Ausstellung so weit zu behaupten:<br />
Das Herz von Sachsen ist die<br />
Industriekultur. Diese einzigartige Tradition<br />
kann man mindestens 500 Jahre<br />
zurückverfolgen. Dass dieses Thema<br />
dennoch so lange unbeachtet geblieben<br />
ist, ist leider nichts Sachsen-Spezifisches.<br />
Auch im Ruhrgebiet hat es lange gedauert,<br />
dieses Thema zu ent decken. Nach<br />
dem Ende des Kohlebergbaus wollte<br />
man dort die meisten alten Zechen und<br />
Gebäude abreißen. Später haben sich<br />
dann Bürgerinitiativen darum gekümmert,<br />
und danach erst haben auch die<br />
Politik und die breite Öffentlichkeit<br />
erkannt, welches Potenzial in der Industriekultur<br />
steckt.<br />
Große Ereignisse<br />
werfen Lichter und<br />
Schatten voraus<br />
In Sachsen gäbe es sicherlich viele<br />
Orte, an denen man diese besondere<br />
Tradition darstellen könnte. Warum<br />
hat man sich auf den Audi-Bau in<br />
Zwickau geeinigt?<br />
Für eine Ausstellung zur Industriekultur<br />
braucht es natürlich ein gutes<br />
Gebäude. Gesetzt war, dass dieses in<br />
MENSCH & MASCHINE
Thomas Spring präsentiert<br />
die Ausstellungsflächen
16<br />
LANDESAUSSTELLUNG<br />
Südwest sachsen liegen und über einen<br />
gewissen Industriecharme mit einer historischen<br />
Patina verfügen sollte. Außerdem<br />
musste es für den erwarteten Besucheransturm<br />
gerüstet sein und eine gute<br />
Anbindung an Autobahn und öffentlichen<br />
Verkehr aufweisen. Bei der Auswahl<br />
spielten auch die erwartbaren Kosten<br />
für die Instandsetzung des Gebäudes<br />
eine Rolle. Beim Audi-Bau in Zwickau<br />
handelt es sich um eine architek tonisch<br />
solide ehemalige Montagehalle auf dem<br />
Gelände des Audi-Werkes. Im Ausführungsjahr<br />
1938 war hier das Gelände<br />
der Auto Union, die hier DKW-Frontautos,<br />
dann Lkws und Geschütz lafetten<br />
für den Krieg produzierte. In der<br />
DDR wurde das Gebäude dann für die<br />
Endmontage des legendären Trabants<br />
genutzt. Wir befinden uns also auf<br />
einem traditionsreichen Gelände, auf<br />
dem sich die Geschichte von Audi,<br />
Auto Union und IFA-Sachsenring zeigt.<br />
Die Zwickauer Halle ist aber nicht der<br />
einzige Ort der Landesausstellung.<br />
Neben der Zentralausstellung werden<br />
die Besucherinnen und Besucher sechs<br />
sogenannte Schauplatzausstellungen an<br />
authentischen Orten der Industriegeschichte<br />
erleben. In unserer Zentralausstellung<br />
wird das Wort Kultur großgeschrieben.<br />
Wir zeigen dort nicht in<br />
erster Linie beeindruckende <strong>Maschine</strong>n<br />
und technische Exponate, sondern<br />
fragen nach der kulturellen Basis, nach<br />
der Software der Industrialisierung in<br />
Sachsen. Wenn Sie so wollen, stellen wir<br />
Marx vom Kopf auf die Füße – ohne<br />
Kultur, ohne Ideen und ohne das Arbeitsethos<br />
und eine gewisse Prägung der<br />
<strong>Mensch</strong>en kommt es nämlich nicht zu<br />
so etwas wie Industrialisierung. Das<br />
zeigen wir mittels historischer Objekte,<br />
Dokumente und zahlreicher Medieninstallationen,<br />
aber auch mit wertvollen<br />
Kunstwerken und teils spektakulären<br />
Exponaten. Eines der wichtigsten, aber<br />
auch unscheinbarsten ist eine Dampfmaschine<br />
in einer Nussschale, die für<br />
die Weltausstellung in Chicago 1893<br />
hergestellt wurde – eine wunderbare,<br />
fast barocke Metapher für das Verhältnis<br />
von <strong>Mensch</strong>, <strong>Maschine</strong> und Welt.<br />
Die Struktur der Landesausstellung<br />
verfolgt ein ähnliches Prinzip wie der<br />
Zweckverband Industriemuseum mit<br />
einem zentralen Ort und mehreren<br />
Satelliten.<br />
Ja, diese Struktur hat sich bewährt. Den<br />
großen kulturhistorischen Überblick<br />
bietet bei uns natürlich die Zentralausstellung<br />
in Zwickau, an den sechs<br />
anderen Schauplätzen setzen wir jeweils<br />
einen spezifischen Schwerpunkt. Wenn<br />
Sie tiefer bohren wollen oder sich für<br />
einzelne Branchen interessieren, fahren<br />
Sie zum Beispiel nach Chemnitz-Hilbersdorf<br />
und erfahren dort etwas über<br />
die Eisenbahn. Oder Sie fahren ins Industriemuseum<br />
Chemnitz, um etwas<br />
über die Bedeutung von <strong>Maschine</strong>n zu<br />
lernen. Oder zur Textilfabrik der<br />
Gebrüder Pfau nach Crimmitschau<br />
oder in die Kohle- und Erzbergwerke<br />
von Freiberg und Oelsnitz.<br />
Wieso haben Sie sich für „Boom“ als<br />
Titel entschieden?<br />
Der griffige Begriff hat uns sehr überzeugt,<br />
und wir gehen davon aus, dass er<br />
auch das Publikum ansprechen wird.<br />
Er ist weit mehr als ein flotter Marketingbegriff:<br />
So steht etwa das historische<br />
Berggeschrey der Renaissance für eine<br />
Boomphase der sächsischen Geschichte<br />
mit gewaltigen Auswirkungen. Die<br />
lange und kontinuierliche Tradition des<br />
Bergbaus hat die Bevölkerung seither<br />
kulturell tief geprägt. Zwickau war ein<br />
Zentrum dieses Aufbruchs und hat sich<br />
damals auf Empfehlung des Erasmus<br />
von Rotterdam einen neuen Schuldirektor<br />
in die Stadt geholt – niemand<br />
anders als den in Glauchau geborenen<br />
Georgius Agricola, den Begründer<br />
der Montanwissenschaften. So stehen<br />
die Besucherinnen und Besucher der<br />
Zentralausstellung in einem großen<br />
Netzwerk des europäischen Humanismus.<br />
Zugleich gab es in der Renaissance<br />
erstmals eine ganz neue Verbindung<br />
von Kapital und Arbeit, Wissen<br />
„Das Herz von<br />
Sachsen ist die<br />
einzigartige<br />
Industriekultur“<br />
und Kultur – deshalb heißt unser erstes<br />
Kapitel auch „Barock und Berggeschrey“.<br />
Denn ohne den Bergbau, den durch<br />
ihn begründeten Reichtum und<br />
ohne sein technisches Know-how wäre<br />
der sächsische Barock nicht möglich<br />
gewesen und schon gar nicht so üppig<br />
ausgefallen. Wenn das also kein<br />
Boom ist!<br />
Wie viel Selbstverklärung, wie viel<br />
Sachsen-Mythos steckt in der<br />
Ausstellung?<br />
Bei aller Wertschätzung für diesen<br />
speziellen sächsischen Weg in die Industrialisierung<br />
– aber die Gefahr der<br />
Verklärung sehe ich nicht. Treffsicher ist<br />
der Begriff „Boom“ ja auch deswegen,<br />
weil in ihm immer schon sein Gegenteil<br />
anklingt, also die Abschwünge. Und<br />
von denen gab es in Sachsen viele:<br />
Phasen des Niedergangs, aus denen<br />
sich die <strong>Mensch</strong>en immer wieder durch<br />
Erfindungsgeist und Innovationen<br />
herausarbeiten konnten.<br />
Sie machen auch um das heikle Thema<br />
Deindustrialisierung nach 1990 keinen<br />
Bogen.<br />
Es ist wohlfeil aus heutiger Perspektive<br />
zu sagen, die Treuhand hätte damals<br />
alles anders und besser machen können.<br />
Wir lenken den Blick auf Details und<br />
überraschen unser Publikum. Zum Beispiel<br />
mit einer Denkschrift von Ludwig<br />
Erhard aus dem Jahr 1953. Damals<br />
bereits schrieb der Vater des westdeutschen<br />
Wirtschaftswunders von den Problemen<br />
einer Wiedervereinigung und<br />
empfahl dabei, wie bei der Währungsreform<br />
in den westlichen Besatzungszonen<br />
vorzugehen. Das hieß, man solle<br />
die Entwicklung dem Markt überlassen<br />
und nicht eingreifen. Diesen Ratschlag<br />
MENSCH & MASCHINE
17<br />
„Boom“ zeigt einen<br />
Parcours von der<br />
Renaissance bis in<br />
die Moderne<br />
Blick auf die Ausstellungsaufbauten<br />
in Zwickau<br />
Thomas Spring, geboren 1954, ist<br />
Kurator, Ausstellungsmacher und<br />
Künstler. Seit 1998 konzipiert und<br />
produziert er Ausstellungen. Bekannt<br />
wurde er vor allem durch das Tanztheater<br />
„Zukunft der Arbeit“ im<br />
Themenpark der EXPO 2000 und in<br />
Sachsen durch die Konzeption des<br />
Landesmuseums für Archäologie in<br />
Chemnitz. Die von Spring kuratierte<br />
4. Sächsische Landesausstellung<br />
„Boom. 500 Jahre Industriekultur in<br />
Sachsen“ findet ab 11. Juli im Audi-Bau<br />
Zwickau statt. boom-sachsen.de<br />
hatten wohl viele aus dem Westen<br />
noch im Jahr 1990 im Kopf, und auch<br />
die im Osten glaubten an ein neues<br />
Wirtschaftswunder. Dann aber kamen<br />
die Mühen der Ebene, aber auch die<br />
Irrtümer und die Glücksritter – und<br />
natürlich die Gangster.<br />
Gehen Sie im letzten, in die Zukunft<br />
weisenden Kapitel auch auf die wachsende<br />
Technik- und Fortschrittsskepsis<br />
der <strong>Mensch</strong>en ein?<br />
Ja, natürlich. Aber wir zeigen im<br />
Ausblick „Industriekultur 2020“ auch,<br />
dass nur forschungsintensive und<br />
hoch innovative Produkte nachhaltige<br />
Arbeitsplätze schaffen werden. Wir präsentieren<br />
dort eine Videoinstallation<br />
mit Zukunftsmachern, die zeigt, woran<br />
die Leute aus der Wirtschaft heute<br />
arbeiten, wie sie über Sachsen denken<br />
und welche Vorteile der Standort hat.<br />
In Sachsen werden heute die erstaunlichsten<br />
Dinge entwickelt – egal ob es<br />
sich um LEDs, 5-G- Vernetzung,<br />
intuitive Roboter programmierung<br />
oder Umwelttechnik handelt. Die in<br />
Sachsen traditionell anwendungsorientierte<br />
Forschungslandschaft ist<br />
eine der besten in ganz Deutschland.<br />
Darauf kann man stolz sein; denn<br />
das war nach der Wiedervereinigung<br />
wahrlich nicht selbstverständlich. •<br />
MENSCH & MASCHINE
Zeichen und Wunden<br />
In Schkeuditz haben engagierte Künstler und<br />
Studenten ein Festival für Street-Art auf die Beine<br />
gestellt. „RoomBoom“, so der Titel, haucht einer<br />
alten Industriebrache neues Leben ein<br />
Das „RoomBoom“-Team rund<br />
um Francisco Föse (ganz rechts)<br />
und Franziska Rattay
RAUMEXPLOSION<br />
19<br />
TEXT Ralf Hanselle<br />
FOTOS Cihan Cakmak<br />
Die Straße ist flüchtig. Nichts, was<br />
auf ihr geschieht, ist von Dauer;<br />
niemand verweilt hier für Ewigkeiten.<br />
Und so wie sie selbst, ist ihre<br />
Kunst: vorübergehend, ein Stück weit<br />
vergänglich. Als in den 90er-Jahren die<br />
Graffitis an den Vorstadtfassaden immer<br />
öfter Platz für großformatige Wandmalereien<br />
und das schmuddelige Wort tag<br />
Da ist es eigentlich verständlich, dass<br />
auch die sechs jungen <strong>Mensch</strong>en, die<br />
sich an einem tristen Frühlingsmorgen<br />
des Jahres 2020 vor einem grauen<br />
Eisengusstor irgendwo in der nordwestsächsischen<br />
Kreisstadt Schkeuditz<br />
ein gefunden haben, merkwürdig<br />
melancholisch dreinschauen. Wetterfest<br />
eingepackt in windabweisende Jacken<br />
umweht sie ein Hauch von kargem<br />
Beton-Blues. Denn was sie einst hier<br />
geschaffen haben, ist nicht mehr da;<br />
und worauf sie Mühe und Arbeit ver-<br />
Oben: Rauminstallation<br />
von Mavis Fürchtegott<br />
Links: Installation<br />
von Melanie Schulz<br />
Unten: Mural<br />
von Bond Truluv<br />
Fotos: Cihan Cakmak (2). Franz Kinzel (2)<br />
dem gewählteren Begriff Street-Art<br />
Platz machen musste, da schien aus den<br />
Brachen der Städte eine neue, eine<br />
melancholische Kunst zu erwachsen.<br />
Denn wie stets auf der Straße überlebte<br />
sie selten einmal zwei, drei volle<br />
Jahreszyklen. Heute gemalt, morgen<br />
verschwunden. Geboren im Windschatten<br />
temporärer Strömungen wie Fluxus<br />
oder Happening, schoss die Straßenkunst<br />
harsche Breitseiten gegen einen<br />
konservativen Werkbegriff. Weit vor<br />
Superstars wie Jean-Michel Basquiat<br />
oder Banksy war sie ihrem ganzen<br />
Wesen nach nicht kommerziell. Es gab<br />
nichts zu verkaufen und nichts zu<br />
verdienen. Verfall war ihr auf Leib und<br />
Fassade geschrieben.<br />
MENSCH & MASCHINE
20<br />
RAUMEXPLOSION<br />
„RoomBoom ist eine<br />
Kreativexplosion mit<br />
Nachwirkungen weit<br />
über Sachsen hinaus“<br />
Francisco Föse<br />
wandten, blättert nach und nach<br />
von der Fassade herunter. „Unsere Arbeit<br />
war von Anfang an befristet“, erklärt<br />
Francisco Föse, ein hochgewachsener<br />
Architekt und urban artist aus Leipzig,<br />
die leicht gedrückte Stimmung der<br />
Gruppe. Mit einem Ruck stößt er das<br />
graue Eingangstor auf, hinter dem eine<br />
weitläufige Industriebrache liegt. Oben<br />
im Portal der Tordurchfahrt flattern<br />
Fetzen eines rot-weißen Absperrbandes<br />
im Wind; letzter Gruß einer Kunstinstallation,<br />
die das Berliner Designkollektiv<br />
NAICE architecture hier zurückgelassen<br />
hat. „Wären all die aufwendig<br />
gestalteten Kunstwerke hier tatsächlich<br />
nur ein einziges Mal zu sehen gewesen“,<br />
sagt Föse, der die Wortführerschaft über<br />
die kleine Gruppe übernimmt, „dann<br />
wäre eine Wiederbegegnung mit diesem<br />
Ort tatsächlich eine traurige Sache.“<br />
Dieser Ort, von dem Föse da redet,<br />
bezeichnet das alte ZAW-Gelände im<br />
Norden von Schkeuditz. 1938 erbaut,<br />
bot es über viele Jahrzehnte unterschiedlichsten<br />
Unternehmen Obdach. Zunächst<br />
war in den grau-beige verputzten<br />
Gemäuern, aus dessen Rissen längst<br />
grüne Wildpflanzen wuchern, ein Anlagen-<br />
und <strong>Maschine</strong>nbauer untergebracht,<br />
später ein Aus- und Weiterbildungszentrum<br />
der Industrie- und<br />
Handelskammer. In verschiedensten<br />
Sparten wurde man von hier auf<br />
die Zukunft eingeschworen: Elektriker,<br />
Schweißer, sogar Kosmetikerinnen<br />
haben in dem Gebäude gelernt. 2014<br />
aber war Schluss. Seither steht das Haus<br />
leer: 1500 Quadratmeter Brache; Zeuge<br />
eines untergegangenen Industriezeitalters,<br />
das besonders im Speckgürtel zwischen<br />
Halle und Leipzig Wunden und Narben<br />
hinterlassen hat. „Ich habe mich in meinem<br />
Studium intensiv mit Leerständen<br />
wie diesem beschäftigt“, sagt Föse.<br />
Gerade in schrumpfenden Mittelstädten<br />
gebe es Unmengen davon; Orte, die<br />
man neudeutsch „Lost Places“ nennt.<br />
Irgendwann hat sich Föse gefragt, wie<br />
man diese aus ihrem Dornröschenschlaf<br />
wachküssen könne. Nach vielen Überlegungen<br />
kam ihm die Antwort: „Room-<br />
Boom!“ Ein Festival für Street-Art,<br />
Design, Performance, Graffiti, Writings<br />
und alles, was sonst noch temporär<br />
und vergänglich ist. Keine Wunder, aber<br />
Zeichen. Im September 2019 schließlich<br />
war es so weit: Drei Tage randvoll<br />
gepackt mit Kunst, Musik und kreativer<br />
Vernetzung gingen über die Bühne.<br />
„Das Gelände hier ist optimal für<br />
unser neues Gesamtkunstwerk gewesen“,<br />
schwärmt Franziska Rattay, studierte<br />
Puppenspielerin und einzige Frau bei<br />
„RoomBoom“ noch heute. „Die alte<br />
Industrieanlage liegt direkt zwischen den<br />
Kunstszenen zweier Landesmetropolen.<br />
Wir konnten von daher Studierende der<br />
Leipziger Hochschule für Grafik und<br />
Buchkunst sowie der Burg Giebichenstein<br />
für die Idee erwärmen.“<br />
Beste Voraussetzungen also für Festivalmacher,<br />
die weder über Finanzpolster<br />
noch über Erfahrung oder Material<br />
verfügten. Mit mehr als 100 Künstlern<br />
ging sie dennoch über die Bühne,<br />
die „Kreativexplosion, deren Nachbeben<br />
man noch weit über die sächsischen<br />
Landesgrenzen hinaus wahrnehmen<br />
dürfte“. Dass diese im September 2019<br />
via Internet verbreitete Selbstauskunft<br />
keine prahlerische Hybris, sondern<br />
sichtbare Realität war, das beweist noch<br />
immer der Blick auf die lange Teilnehmerliste<br />
des Festivals: Sie reicht von unbekannten<br />
Sprayern aus der Region<br />
bis hin zu echten Szenegrößen. „Am<br />
Anfang haben wir einen open call gestartet“,<br />
erklärt Initiator Föse. Künstler, die<br />
man darüber hinaus mit im Boot haben<br />
wollte, habe man direkt angeschrieben.<br />
Zuweilen habe man sich verwundert<br />
die Augen gerieben, wenn dann der ein<br />
oder andere tatsächlich zugesagt habe:<br />
Der Hamburger Sprayer Flying Förtress<br />
zum Beispiel – mit seinen bunten<br />
„Teddy Troops“ hat dieser vor Jahren<br />
characters kreiert, die man noch heute<br />
weit über die Hansestadt hinaus kennt.<br />
Oder das Berliner Kollektiv Klub7,<br />
deren Bild eine riesige Außenfassade<br />
des ZAW-Gebäudes schmückt.<br />
Franziska Rattay öffnet die schwere<br />
Feuerschutztür. Dahinter geht es in<br />
den hohl nachhallenden Bauch der<br />
Anlage. Er wirkt leer geräumt wie eine<br />
fluchtartig verlassene Wohnung. Ab<br />
und an liegen Trinkbecher auf dem<br />
Estrich, hier und da stolpert man über<br />
Utensilien für eine Installation. Sonst<br />
aber: gähnende Leere. Wo im letzten<br />
Sommer ein Tumult aus Künstlern,<br />
Musikern und Besuchern geherrscht<br />
haben muss, da hat sich jetzt eine<br />
Staub- und Schmutzschicht niedergelassen.<br />
Treppauf, treppab geht es<br />
durch verwinkelte Räume; vorbei an<br />
Rest spuren von Wandgemälden und<br />
Fotos: Cihan Cakmak. Franz Kinzel (2)<br />
MENSCH & MASCHINE
21<br />
Oben: Martin Gerstenberger<br />
Unten links: Hofansicht mit<br />
einer Arbeit von Klub7<br />
Unten rechts: Installation<br />
„5 cool Kids“ von Das Hybris<br />
Urbane Kunst<br />
Mit seinen zahlreichen industriellen Brachen<br />
ist Sachsen ein Eldorado für die internationale<br />
Street-Art-Szene. Weit über die Landesgrenzen<br />
hinaus bekannt ist etwa das seit<br />
2006 stattfindende Festival „ibug“. Dessen<br />
15. Auflage wird Ende August in Zwickau<br />
stattfinden<br />
Schablonenbildern. Da ist das in<br />
geometrischen Strukturen verlaufende<br />
Klebebandbild eines Tape-Art-<br />
Künstlers namens Dinopium oder ein<br />
fragmentiertes Pop-Art-Mural des<br />
prominenten Landshuter Künstlers<br />
Martin Gerstenberger, da sind die<br />
hastig zurückgelassenen Ventilatoren<br />
aus einer Installation namens „5 cool<br />
Kids“. Sonst aber ist in der provisorischen<br />
Ausstellungshalle nichts mehr.<br />
Formen, Farben – aber kein Betrachter.<br />
Im kommenden Jahr, sagt Francisco<br />
Föse, werde sich das sicherlich ändern.<br />
Dann starte die nächste Ausgabe der<br />
Raumexplosion „RoomBoom“.<br />
So zumindest haben es sich die<br />
sechs Freunde vorgenommen.<br />
Francisco Föse lässt die schwere<br />
Feuertür erneut ins Schloss fallen. Ein<br />
Knall – dann herrscht Stille über<br />
der weitläufigen Industrievernarbung.<br />
Totenstille. Noch ein Jahr bis zur<br />
Auferstehung. •<br />
MENSCH & MASCHINE
22 BILDGESCHICHTE<br />
ARBEIT IST<br />
DAS EWIGE LEBEN<br />
In einer alten Kirche in Annaberg-<br />
Buchholz erzählt ein spätgotischer<br />
Altar von den Anfängen der<br />
sächsischen Industriegeschichte<br />
1. DER LANDVERMESSER<br />
Ein Landvermesser steckt mit einem<br />
Beilwurf neu erschlossene Gruben -<br />
felder ab. Im Mittelalter eine übliche<br />
Vermessungspraxis.<br />
2. DER TRANSPORT<br />
Die verschiedenen Erzsorten wurden<br />
getrent zur Hütte transportiert.<br />
Gediegenes Silber wurde dafür extra<br />
in kleine Erzfässchen gefüllt.<br />
1.<br />
2.<br />
TEXT Ralf Hanselle<br />
Auf der Rückseite eines im Jahr 1521 geweihten Flügelaltars<br />
in der St. Annenkirche in Annaberg-Buchholz ist ein weltweit<br />
einzigartiger Bilderbogen angebracht, der in seinen<br />
vielen Details ein tieferes Verständnis für das erzgebirgische Montanwesen<br />
vor 500 Jahren gibt. Zugeschrieben wird das ursprünglich<br />
vierteilige Altarbild dem vermutlich aus Nürnberg stammenden<br />
Tafel- und Glasmaler Hans Hesse. Besonders auf der Mitteltafel<br />
seines Altars hat der spätgotische Meister eine vielschichtige Bildgeschichte<br />
über die Silbergewinnung an der Schwelle zur frühen<br />
Neuzeit geschaffen. Eingelassen in eine aufwendig umgestaltete<br />
Industrielandschaft, die eindeutige Bezüge zur Annaberger Geografie<br />
aufweist, erzählt Hesse von den tiefen Umbrüchen seiner Zeit.<br />
Mit der Darstellung von Stollen, Erzhalden, Schmelzöfen oder Prägewerken<br />
belegt er, wie stark der Bergbau die erzgebirgische Lebensund<br />
Vorstellungswelt an der Schwelle zur Renaissance geprägt hat.<br />
Zu einer Zeit, in der Michelangelo sein metaphysisches Welt- und<br />
Erlösungskonzept unter die Decke der Sixtinischen Kapelle in<br />
Rom malte, hält man es im sächsischen Annaberg eher irdisch und<br />
fast ein Stück vorreformatorisch: Denn auch wenn hier und da<br />
ein paar Engel im Bildhintergrund auftauchen und auf der linken<br />
Bildtafel der Bergbaupatron St. Wolfgang zu sehen ist, so ist die<br />
Kernbotschaft auf dem einst von der Bergknappschaft in Auftrag<br />
gegebenen Altar unübersehbar: Glückseligkeit erreicht nur, wer<br />
fleißig schuftet. Seit 500 Jahren folgt die erzgebirgische Erlösung<br />
daher labora und nur ganz wenig ora.<br />
Foto: © akg-images<br />
MENSCH & MASCHINE
BILDGESCHICHTE<br />
23<br />
3. DIE SCHALENLAMPE<br />
Ein Bergmann fährt aus einem<br />
Stollen aus. In der rechten Hand hält<br />
er eine Schalenlampe – ein offenes<br />
Geleucht, das mit Talg betrieben<br />
wurde.<br />
4. DER BERGMEISTER<br />
Als oberste Amtsperson beaufsichtigt<br />
der Bergmeister den Abbau<br />
und den Transport des Silbererzes.<br />
Daneben, im grünen Mantel, sieht<br />
man den Bergbaupatron St. Wolfgang,<br />
der hier im Umfeld von einfachen<br />
Arbeitern erscheint und die Szene<br />
metaphysisch überhöht.<br />
5. DER GÖPEL<br />
Hinter einer kegelförmigen<br />
Umhausung wird ein sogenannter<br />
Pferdegöpel betrieben. Mittels<br />
Muskelkraft eines einzigen Tieres<br />
wird so eine einfache Fördermaschine<br />
in Gang gesetzt.<br />
6. DER HASPELKNECHT<br />
Erzfördernde Haspelknechte bei der<br />
Arbeit. Neben dem Schacht ist ein<br />
brauner Erzhaufen zum Abtransport<br />
angehäuft.<br />
7. DER BERGMANN<br />
Schlegel- und Eisenarbeit im Stollen.<br />
Man sieht einen Bergmann mit Säbel<br />
und Grubenbeil.<br />
8. DIE PRÄGEANSTALT<br />
Den fertigen Silbermünzen wird mittels<br />
eines Hammers und einer Flachzange<br />
ein verbindlich festgelegter Wert<br />
eingeschrieben.<br />
7.<br />
5.<br />
3.<br />
8.<br />
6.<br />
4.<br />
MENSCH & MASCHINE
Bei Karl Clauss Dietel hat<br />
alles seinen Platz. Die richtige<br />
Form bestimmt Arbeit wie<br />
Privatleben des Chemnitzer<br />
Formgestalters
Meine Jahre<br />
mit Erika<br />
Karl Clauss Dietel hat Design-Geschichte<br />
geschrieben. Ein Hausbesuch bei dem<br />
Mann, der Lautsprecherboxen, Schreibmaschinen<br />
und sogar Kleinwagen eine<br />
je ganz besondere Form gegeben hat
26<br />
Oben links: Wartburg-<br />
Fertigung in Eisenach<br />
Unten: Der Simson-<br />
Roller SR 51 ist eine<br />
Kooperation zwischen<br />
Dietel und Lutz Rudolph<br />
Oben rechts: Entwürfe<br />
für nie gebaute<br />
Kleinwagen
FORMSACHE<br />
27<br />
Fotos: © Stephan Floss (vorherige Doppelseite). bpk/Jochen Moll. © Stephan Floss. Karl Clauss Dietel. Hannelore Zschocke/Industriemuseum Chemnitz. © Karl Clauss Dietel VG Bild-Kunst, Bonn 2020. © Lutz Rudoplh VG Bild-Kunst, Bonn 2020<br />
TEXT Marlen Hobrack<br />
FOTOS Stephan Floss<br />
Wie sich das wohl anfühlt,<br />
wenn der eigene Name mit<br />
Alltagsikonen wie der Simson,<br />
dem Wartburg oder der legendären<br />
Schreibmaschine Erika verknüpft ist?<br />
Diese Frage geht mir nicht mehr aus<br />
dem Kopf, als ich mich auf den Weg<br />
nach Chemnitz mache, um den Gestalter<br />
Karl Clauss Dietel in seinem Atelier<br />
zu besuchen. Sein Gesamtwerk, für<br />
das er als erster DDR-Gestalter mit dem<br />
Bundesdesignpreis ausgezeichnet wurde,<br />
wirkte weit über die Grenzen der einstigen<br />
DDR hinaus ikonisch. Ich selbst<br />
etwa wurde als Kind auf die Sitzfläche<br />
zwischen Vater und Mutter geklemmt,<br />
ohne Helm natürlich – es waren andere<br />
Zeiten –, und auf der Simson S50 zum<br />
Kindergarten gebracht. Ohne Dietel<br />
wäre ich vielleicht sicherer, aber bestimmt<br />
nicht abenteuerlicher befördert<br />
worden.<br />
An einem kleinen Weg an der Stadtgrenze<br />
liegen Haus und Atelier des<br />
Formgestalters. Formgestalter – eigentlich<br />
ist der Begriff ein Pleonasmus,<br />
beinhaltet Gestalt doch stets auch Form.<br />
Und vice versa.<br />
Dietel begrüßt seinen Besuch<br />
höflich und beginnt sogleich mit der<br />
Zu berei tung eines Tees. Genug Zeit, um<br />
sich im Atelier umzuschauen, wo man<br />
auf Ikonen der Formgestaltung blicken<br />
kann: hier ein Thonet-Stuhl, dort<br />
Marianne Brandts legendäre Bauhaus-<br />
Teekanne. Mit Brandt übrigens verband<br />
Dietel eine enge Freundschaft. Er entwarf<br />
später sogar die Gedenkstele für<br />
das Grab einer der wichtigsten Töchter<br />
von Chemnitz.<br />
Dietel bittet mich, an einem<br />
langen Tisch Platz zu nehmen. Er serviert<br />
köstlichen Tee und stellt mir ein<br />
großes Keksglas direkt vor die Nase<br />
– Süßkram in verschiedensten Formen<br />
und Farben. Während unseres<br />
Gesprächs wird er mich mehrmals<br />
zum Zugreifen „nötigen“. Aber man<br />
kann sich natürlich schlimmeren<br />
Verlockungen fügen.<br />
Man merkt Dietel an, dass er sich<br />
nicht zum ersten Mal in der Position<br />
des Befragten befindet. Der Tisch in seinem<br />
Atelier ist für das Gespräch bestens<br />
vorbereitet. Stapel mit Dokumenten liegen<br />
links und rechts verteilt. Auf ihnen<br />
ruhen Steine in Faustkeilgröße, wie natürliche<br />
Werkzeuge, von den Gezeiten<br />
auf <strong>Mensch</strong>enhandmaß gebracht. Später,<br />
während Dietel sich kurze Notizen<br />
macht, werden die abgerundeten Steine<br />
auf der Tischplatte in Schwingung<br />
geraten und seinen Worten einen Hintergrundsound<br />
beimischen.<br />
Mechanische<br />
Schreibmaschine<br />
Erika, Modell 50<br />
Den Begriff Design<br />
lehnt Dietel ab.<br />
Er versteht sich als<br />
Gestalter<br />
Unter der niedrig hängenden Edelstahllampe<br />
hindurch schaue ich zu ihm.<br />
Ein wenig erinnert die Situation an ein<br />
Verhör, nur komme ich mir wie die Verdächtige<br />
vor; etwas Skepsis merkt man<br />
ihm an. Vielleicht liegt es daran, dass<br />
mir bereits in unserem ersten Telefonat<br />
ein Fauxpas unterlief, als ich Dietel als<br />
„Designer“ bezeichnete. Dabei lehnt er<br />
wohl keinen Begriff stärker ab. Er versteht<br />
sich als Gestalter, in einer langen,<br />
sehr deutsch geprägten Tradition, die<br />
vom Werkbund bis zum Bauhaus reicht.<br />
Das Design-Konzept ist ihm zu<br />
beschränkt, obendrein impliziert es<br />
„Styling“, einen Fokus auf die Erscheinung.<br />
Viel Glanz, wenig dahinter.<br />
Er mag das nicht.<br />
Zur Erklärung deutet er auf die<br />
kleine Dose, aus der er eben noch Zucker<br />
in seinen Tee gelöffelt hat. Die<br />
Grundform des Kruges oder der Vase<br />
existiert seit Jahrtausenden. Aber diese<br />
hier besitzt einen kleinen Rand, eine<br />
Kehle, die nichts mit der Funktionalität<br />
des Gegenstandes zu tun hat, wohl aber<br />
mit seiner Gestalt. Seine Finger, die<br />
leicht zittern, folgen der sanften Einbuchtung.<br />
Wenn er von der „Poesie des<br />
Funktionalen“ spricht, dann meint er<br />
genau diese Einbuchtung.<br />
Dietel spricht mit großem Ernst.<br />
Nicht nur inhaltlich, auch was die Sprache<br />
anbelangt. Er formt Sätze, die er<br />
noch während des Sprechens korrigiert.<br />
Beinahe lyrisch mutet das an. Seine<br />
Blicke fahren über das Bücherregal zu<br />
seiner Rechten, in dem an prominenter<br />
Stelle Peter Handke von einem Bild<br />
sinnierend in den Raum hineinschaut.<br />
Kein Zufall, sagt Dietel. Kaum ein<br />
deutschsprachiger Autor gehe schließlich<br />
so präzise mit der Sprache um.<br />
Vielleicht also gibt es da Parallelen.<br />
MENSCH & MASCHINE
28 FORMSACHE<br />
Das Eis ist gebrochen. Er erzählt und<br />
erzählt.<br />
Dietel wird in Reinholdshain geboren;<br />
er ist, wie er betont, ein „in der<br />
Wolle gefärbter Sachse“. Weil sein Vater<br />
vor dem Zweiten Weltkrieg einen Wagenverleih<br />
betrieb, wird er als Unternehmer<br />
eingestuft. Der Sohn darf in der<br />
Folge das Gymnasium nicht besuchen.<br />
Der Traum vom Architekturstudium<br />
platzt. Dietel beginnt in der noch jungen<br />
DDR mit einer Ausbildung zum<br />
<strong>Maschine</strong>nschlosser und studiert im<br />
Anschluss an der Ingenieurschule für<br />
Kraftfahrzeugbau Zwickau. Kurz darauf<br />
tritt er sein Studium an der Kunsthochschule<br />
Berlin-Weißensee an.<br />
Von vornherein ist er Teil beider Welten:<br />
Ingenieur und Gestalter. Danach<br />
führt ihn seine erste Anstellung nach<br />
Chemnitz, ins Herz der sächsischen<br />
Industriekultur. Die Stadt wird ihm<br />
zum Schicksal. Rasch zieht es ihn in<br />
die Selbstständigkeit, die Angestelltentätigkeit<br />
ist ihm nichts.<br />
Bereits in seiner Diplomarbeit setzt er<br />
sich mit der Fahrzeugfertigung der DDR<br />
auseinander – und stellt ihr ein vernichtendes<br />
Urteil aus. Von Gestaltung könne<br />
keine Rede sein, meint er. Viel Chuzpe<br />
für einen jungen Mann. Er will es anders<br />
machen, besser. Dietel ist ein Denker-<br />
Ingenieur. Seine gestaltete Form<br />
ist produktgewordene Philosophie.<br />
Für Dietels Werk als Gestalter ist<br />
seither eine Sache besonders wichtig:<br />
das offene Prinzip, wie man es später<br />
wohl idealtypisch an seinem Entwurf<br />
der Simson S50, dem legendären<br />
Mokick, verwirklicht sieht. Das Prinzip<br />
ist so simpel wie genial und würde heute<br />
wohl unter dem Label „nachhaltig<br />
gedacht“ vermarktet. Die Form soll so<br />
gestaltet sein, dass die vom Verschleiß<br />
betroffenen oder dem technischen Fortschritt<br />
unterworfenen Teile vom Nutzer<br />
selbst ausgetauscht werden können.<br />
„Eine echte Emanzipation des Nutzers“,<br />
nennt Dietel das. Denn dieser Nutzer<br />
ist eben nicht nur Konsument, sondern<br />
gestaltet den Gegenstand quasi mit,<br />
passt ihn seinen Bedürfnissen im Wandel<br />
der Zeit an. Prompt muss ich an<br />
die Gegenstände meines Arbeitsalltages<br />
denken – das Smartphone in meiner<br />
Hand zum Beispiel, dessen technisches<br />
Skelett unter einer weich designten<br />
Hülle verschwindet. Dessen technische<br />
„Natur“ ist somit gar nicht greifbar, im<br />
Gegensatz zur Simson, deren Skelett<br />
Herz und Lunge – Motor und Vergaser<br />
– offenlegt.<br />
Zum offenen Prinzip gesellen sich<br />
noch die fünf großen L: Langlebig,<br />
Leicht, Lütt, Lebensfreundlich, Leise.<br />
Die drei ersten L garantieren minimalen<br />
Ressourceneinsatz. Lebensfreundlichkeit<br />
indes fällt nicht nur unter den Begriff<br />
der Nachhaltigkeit, sondern stellt auch<br />
den Nutzer als <strong>Mensch</strong>en in den Vordergrund,<br />
ebenso wie das Attribut<br />
„leise“.<br />
Gewappnet mit dieser Philosophie<br />
schickt Dietel sich in den folgenden<br />
Jahren an, sich dem Herzstück der deutschen<br />
Nachkriegslebenswirklichkeit zu<br />
Links: Blick in Dietels Atelier<br />
Unten: Modell für das<br />
von Dietel und Lutz Rudolph<br />
entwickelte Motorrad S50
29<br />
„Das mechanische<br />
Zeitalter wird in<br />
absehbarer Zeit zu<br />
Ende gehen“<br />
Fotos: © Stephan Floss (2). Georg Eckelt. © Karl Clauss Dietel VG Bild-Kunst, Bonn 2020. © Lutz Rudolph VG Bild-Kunst, Bonn 2020<br />
widmen: dem Automobil. Zwei Fahrzeuge<br />
markieren bald Höhe- und Tiefpunkt<br />
seiner Karriere. Der Trabi, für<br />
den Dietel zusammen mit Lutz Rudolph<br />
an insgesamt sieben Nachfolgemodellen<br />
arbeiten wird. Und der Wartburg,<br />
dessen Grundentwurf auf einer<br />
Studie Dietels aus dem Jahr 1962<br />
basiert.<br />
„Es gibt auch Dummköpfe, die mir<br />
meinen Wartburgentwurf streitig machen<br />
wollen“, bemerkt er eher enerviert<br />
als wütend. Er entrollt ein Poster und<br />
erklärt den Entwurf. Dabei folgen seine<br />
Finger den abgerundeten Formen,<br />
erläutern mir deren Semantik. Ziel war<br />
es, so sagt er, „dieses Produkt auf<br />
menschliches Maß zu bringen“.<br />
Breite und Höhe von Tischen und<br />
Stühlen ergeben sich aus den Maßen<br />
des menschlichen Körpers, erläutert er.<br />
Dietel beugt sich nun über den Tisch<br />
und breitet seine Arme aus. Mein Blick<br />
fällt auf die Wand rechts von mir, wo<br />
Leonardo da Vincis vitruvianischer<br />
<strong>Mensch</strong> als Zeitungsausschnitt hängt.<br />
Leonardo erscheint hier wie ein Hausgott,<br />
nein, der prototypische Gestalter,<br />
nicht der Erfinder, zu dem er oft stilisiert<br />
wird. Überhaupt gerät Dietel nun<br />
in Bewegung, verweilt kaum noch am<br />
Tisch. Überall in seinem Atelier hängen<br />
Bilder, Zeitungsausschnitte, Plakate,<br />
die illustrieren sollen, was er meint. Er<br />
geht zur gegenüberliegenden Wandseite,<br />
dort hängt ein ganzer Bilderstreifen.<br />
Er zeigt ihn als kleinen Hosenmatz am<br />
Lenkrad des väterlichen Wagens. Geradezu<br />
zwangsläufig erscheint da seine<br />
spätere Beziehung zum Automobil.<br />
Dietel hat einen weiteren Zeitungsausschnitt<br />
parat. Dieser zeigt einen Entwurf<br />
für ein Elektroauto der Marke<br />
Honda. Die Schnauze erinnert an ein<br />
freundliches, vereinfachtes Gesicht. Er<br />
legt seinen Wartburgentwurf daneben.<br />
Die Form semantik ist dieselbe, „’Ne<br />
anständige Sache“, nennt Dietel es. Das<br />
vermutlich schon größte Kompliment,<br />
das er vergibt. Er freut sich über die<br />
„geistige Kongruenz“. „Da fühlt man<br />
sich nicht einsam.“ Und dann sagt<br />
er einen dieser druckreifen Dietel-Sätze:<br />
„Das verankert eigenes Tun hinein in<br />
die Ströme der Zeiten.“<br />
Doch genug der schönen Sprache.<br />
Jetzt schwenkt er hinüber zum zeitgenössischen<br />
Automobil. So mancher<br />
moderne SUV, ein wahres Schlachtschiff<br />
auf den Straßen, in denen <strong>Mensch</strong>en<br />
wie Monaden im ewigen Stau der<br />
Innenstädte und Autobahnen stehen,<br />
sei vielleicht Ausdruck des Wunsches,<br />
der klaustrophobischen Nähe zu entgehen,<br />
meint er. Ob das Auto Zukunft<br />
hat? Das mechanische Zeitalter, das mit<br />
der Renaissance begann, es wird in<br />
abseh barer Zeit zu Ende gehen, glaubt<br />
er. Und mit ihm zusammen wohl<br />
auch das Auto.<br />
Dietels Lebenswerk begleitete die<br />
Hochphase des Automobils, dessen Goldenes<br />
Zeitalter und dessen Ende. Nun<br />
könnte man meinen, dass er im falschen<br />
Teil Deutschlands gelebt hat, wo die<br />
politischen Vorgaben seine Schöpferkraft<br />
hemmten. Zwar notierte er am Tag der<br />
Maueröffnung in sein Tagebuch „Endlich<br />
endet die Entmündigung“, aber die<br />
Gängelei hat ihn wohl auch angespornt.<br />
Das damals einzigartige Studium des<br />
Karosseriebaus, die Arbeit im Zentrum<br />
des DDR-Autobaus sowie die Notwendigkeit<br />
der Materialreduktion aufgrund<br />
der ökonomischen Zwänge – all das<br />
prägte sein Schaffen auf positive Weise.<br />
Was also bleibt, nach Jahrzehnten<br />
schöpferischer Arbeit? Produkte, die für<br />
den Nutzer als <strong>Mensch</strong>en geschaffen<br />
sind und die das <strong>Mensch</strong>liche zum Maß<br />
der Dinge erheben. •<br />
Was Dieter Rams im Westen, das ist<br />
Karl Clauss Dietel im Osten: ein<br />
Vordenker der Formgestaltung. Seine<br />
Entwürfe prägen nicht nur Klassiker<br />
des DDR-Designs. Nach 1990 gab<br />
Dietel Elektrofahrädern, Telefonen<br />
und sogar Häusern eine neue Form<br />
MENSCH & MASCHINE
30<br />
Der Perser aus<br />
Sachsen<br />
Was heute wie ein sozialistisches<br />
Märchen aus 1001 Nacht klingt, war<br />
gestern Wirklichkeit: Jahrzehntelang<br />
exportierte die DDR Orientteppiche<br />
in den Nahen und Mittleren Osten<br />
TEXT Jens Wiesner<br />
Am 11. Februar 1964 bricht eine<br />
kleine Delegation von DDR-<br />
Handelsvertretern mit einer besonderen<br />
Mission in den Nahen und<br />
Mittleren Osten auf. Unterwegs sind die<br />
Herren im Auftrag des VEB Halbmond,<br />
einem volkseigenen Betrieb, der im<br />
vogtländischen Oelsnitz Teppiche nach<br />
orientalischem Vorbild produziert.<br />
Ihr Ziel: dringend benötigte Devisen<br />
für die DDR-Wirtschaft.<br />
Die Idee, dieses Vorhaben ausgerechnet<br />
mit dem Verkauf von Orientteppichen<br />
in den Orient zu erreichen, klingt<br />
nur auf den ersten Blick wie das sprichwörtliche<br />
Vorhaben, Eulen nach Athen<br />
zu tragen. Erste Geschäftsverbindungen<br />
sind nämlich längst geknüpft: Bereits<br />
zwei Mal, 1957 und 1959, hat Halbmond-Betriebsdirektor<br />
Günter Dietzel<br />
seine Ware vor Ort anpreisen können<br />
und nach anfänglicher Skepsis der<br />
„Mohammedaner“ – ein damals durchaus<br />
übliches Wort – auch Erfolg. Bis<br />
Mitte der 60er-Jahre ist auf diese Weise<br />
ein Vertriebsnetz entstanden, das<br />
von Damaskus bis Kuwait reicht. Die<br />
Verkaufsstatistik kann sich sehen lassen:<br />
Wurden 1959 nur 64 000 Quadratmeter<br />
Orientteppich in den Nahen Osten<br />
exportiert, ist diese Zahl 1963 bereits<br />
auf 106 000 Quadratmeter angewachsen.<br />
Der Zeitplan der Delegation ist<br />
sportlich gesteckt: In dreieinhalb Wochen<br />
soll Station gemacht werden in Beirut,<br />
Damaskus, Amman, Jerusalem, Kuwait,<br />
Basra und Bagdad. „10 000 km auf<br />
Teppichpfaden der Freundschaft“, wie<br />
Dietzel in seinem Reisebericht für<br />
die VEB-Betriebszeitung „Die Brücke“<br />
schreiben wird.<br />
Unterwegs geht es darum, Handelskontakte<br />
bei Laune zu halten, Vertriebspartner<br />
zu finden und Preiserhöhungen<br />
durchzusetzen. Daneben gilt<br />
es, Ungenauigkeiten zu klären: „Bei der<br />
Kontrolle über die Eintragung unseres<br />
Warenzeichens mußten wir feststellen,<br />
daß einige Fehler vorgekommen<br />
sind. So steht dort geschrieben, daß<br />
sich unsere Firma in Westdeutschland<br />
be findet“, wird Dietzel berichten.<br />
„Selbstverständlich haben wir sofort die<br />
notwendigen Schritte eingeleitet.“<br />
Fotos: Halbmond Teppichwerke
ZEITREISE<br />
31<br />
Oben: Blick in das alte<br />
Halbmond-Atelier<br />
Unten: Teppichwerk<br />
Adorf<br />
Unten rechts: Halbmond-Vertreter<br />
mit<br />
Kunden in Dubai<br />
Rechts: Teppichmodell<br />
„Tefzet-Orient Kabristan“<br />
Fotos: Sammlung Museen Schloß Voigtsberg. © Peter Heyne<br />
Aber trotz manchem kulturellen<br />
Missverständnis bleibt das Magengrummeln<br />
auf den Verdauungstrakt der<br />
Delegation beschränkt, der auf die<br />
orientalische Küche maximal unvorbereitet<br />
war: Die Reise ist ein wirtschaftlicher<br />
Erfolg, mit vielen Handelspartnern<br />
können die geschäftlichen<br />
Bande sogar gestärkt werden.<br />
So trifft die Gruppe im arabischen<br />
Teil Jerusalems auch Herrn Dashani,<br />
einen der größten Abnehmer von<br />
DDR-Persern in der Stadt. Mit ihm<br />
einigt man sich auf das Alleinverkaufsrecht<br />
für die Teppichqualität „Täbris<br />
Super“ – ein Exportschlager unter<br />
den DDR-Orientteppichen. Dashanis<br />
Kunden: Urlauber aus aller Welt: „Diese<br />
Touristen kaufen gern eine Täbris-<br />
Brücke, nehmen sie mit nach Hause<br />
und berichten ihren Angehörigen, dass<br />
diese Brücke eben aus dem heiligen<br />
Jerusalem stammt“, so Dietzel. Dass<br />
die verhältnismäßig günstige Brücke<br />
überhaupt nicht im Orient produziert<br />
wurde, nehmen viele in Kauf – oder<br />
sie haben das Etikett mit dem Halbmond<br />
und dem Vermerk „Täbris<br />
Super“ schlicht übersehen.<br />
Staunen lehrt die Delegation im<br />
weiteren Verlauf ihrer Reise jene besondere<br />
Anzahl an Teppichen, die im Emirat<br />
Kuwait nachgeordert wird – einem<br />
Land, das vor Dietzel wohl erst zehn<br />
oder vielleicht 15 DDR-Bürger bereist<br />
haben. Die schlichte Erklärung der<br />
Kuwaiter: In dem Scheichtum arbeiteten<br />
viele ägyptische Lehrer. „Da in Kuwait<br />
Teppiche billiger sind, in ihrer Heimat<br />
aber teuer, nehmen diese Familien<br />
auf jeden Fall Teppiche mit nach Hause.“<br />
Aus dem – zugegeben gefärbten –<br />
Reisebericht Dietzels lässt sich<br />
MENSCH & MASCHINE
32<br />
Historische Darstellung<br />
des Halbmond-Ateliers<br />
in Oelsnitz<br />
herauslesen, dass die maschinell in der<br />
DDR hergestellten Perserteppiche ihren<br />
Originalen aus dem Orient ebenbürtig<br />
waren – oder zumindest einen akzeptablen<br />
Kompromiss in Sachen Preis und<br />
Qualität boten.<br />
Das sieht auch Dagmar Zimmermann<br />
so. Zimmermann arbeitet für die<br />
Museen Schloß Voigtsberg im Teppichmuseum<br />
der Stadt – und weiß ganz<br />
genau, wie der Teppich nach Oelsnitz<br />
kam. Statten wir ihr also einen Besuch<br />
ab. Auf nach Sachsen, auf ins Vogtland,<br />
an den Ort des Geschehens!<br />
Ein erster Eindruck: Wer die<br />
10 000-Einwohner-Stadt mit dem Zug<br />
erreicht, merkt schnell, dass hier die<br />
großen Tage der Teppichindustrie vorbei<br />
sind. Die großen Fabrikgebäude<br />
am Bahnhof, die das weitläufige VEB-<br />
Werksareal ausmachten, stehen längst<br />
leer. Zwar gibt es die Halbmond-Teppich<br />
werke noch, allerdings ist das Unternehmen<br />
heute sehr viel kleiner als zu seinen<br />
Glanzzeiten im letzten Jahrhundert,<br />
als hier 2500 <strong>Mensch</strong>en (Stand: 1930)<br />
Arbeit hatten. Heute sind es 220.<br />
Wer wissen will, wie das geschehen<br />
konnte, muss noch ein wenig weiter<br />
reisen – und das nicht nur im Raum,<br />
sondern auch in der Zeit. Denn wie<br />
Zimmermann verrät, hatte sich Oelsnitz<br />
schon einen Namen als Teppichstadt<br />
gemacht, als Walter Ulbricht noch ein<br />
kleiner Bub und eine deutsche Teilung<br />
ein Schreckgespenst aus ferner Zukunft<br />
war.<br />
Wir schreiben das Jahr 1880: Das<br />
Zeitalter der Industrialisierung ist in<br />
vollem Gang und verschafft dem Textilgewerbe<br />
– schon seit dem Mittelalter<br />
ein wichtiger Wirtschaftszweig im Vogtland<br />
– einen Produktionsschub. Statt<br />
auf den Import von Teppichen wird zunehmend<br />
auf heimische Produktion<br />
gesetzt. In diese Gemengelage treten<br />
zwei findige Unternehmer, die ihre Region<br />
in wenigen Jahrzehnten zum deutschen<br />
Teppich-Mekka machen sollen:<br />
der Weber Carl Wilhelm Koch und sein<br />
Schwager Fritz te Kock. Gemeinsam<br />
gründen sie die erste vogtländische<br />
Teppichfabrik und etablieren die<br />
Orientteppichmarke „Halbmond“.<br />
Ihre Firma wächst schnell. Werden<br />
im Gründungsjahr 1880 bei Koch & te<br />
Kock 30 Arbeiter beschäftigt, sind es<br />
1882 bereits 115, 1890 660 und 1910<br />
2100. Weitere Firmen gründen sich;<br />
einige davon schließen sich 1921 unter<br />
dem Namen Tefzet zusammen, um<br />
Koch & te Kock Paroli zu bieten.<br />
„Was für Meißen das<br />
Porzellan ist, ist für<br />
Oelsnitz der Teppich“–<br />
diesen Satz prägte<br />
einst ein Oelsnitzer<br />
Stadtchronist<br />
Ihre Idee: Zunächst noch von Hand,<br />
dann mithilfe unterschiedlicher<br />
maschineller und halbmaschineller Produktionsmethoden<br />
wollen die Firmen<br />
Orientteppiche, die damals in Westeuropa<br />
mächtig im Trend lagen,<br />
imitieren und zu einem Preis anbieten,<br />
der auch für den durchschnittlichen<br />
Bürger erschwinglich ist. Dazu reist<br />
Koch 1894 sogar ins damalige Konstantinopel<br />
und bringt 64 Orientteppiche<br />
als Muster mit nach Deutschland. Der<br />
Konkurrent Tefzet hingegen setzt auf<br />
den maschinenunterstützten, handgestickten<br />
Tefzet-Orient, der bald als<br />
„Perser aus Deutschland“ in aller Munde<br />
sein wird.<br />
Leicht ist das nicht: Denn trotz der<br />
Kosten, die ein Import mit sich bringt<br />
Fotos: Sammlung Museen Schloß Voigtsberg.. Halbmond Teppichwerke<br />
MENSCH & MASCHINE
ZEITREISE<br />
33<br />
Foto: Halbmond Teppichwerke<br />
– ein in Deutschland komplett vom<br />
Hand geknüpfter Teppich lohnt sich<br />
einfach nicht! Die Lohnkosten in Persien<br />
betragen zum Ende des 19. Jahrhunderts<br />
nur ein Zehntel der hiesigen<br />
Kosten. So zahlt man für einen Teppich<br />
mit 409 600 Maschen, der in Persien<br />
umgerechnet 8,70 Mark kostet, in<br />
Deutschland über 100 Mark. Zudem<br />
gilt die Teppichproduktion als knifflige<br />
Handarbeit – selbst dann, wenn<br />
<strong>Maschine</strong>n die zumeist weiblichen<br />
Weberinnen unterstützen.<br />
Aber schließlich, Ende der 20er-<br />
Jahre, ist man so weit: Die Orientstickteppiche<br />
der Tefzet aus dem Vogtland<br />
etablieren sich in aller Welt als Alternative<br />
zu ihren Vorbildern aus dem Orient.<br />
Das liegt zugegebenermaßen auch daran,<br />
dass sich die Qualität der Exportware<br />
aus dem Orient mittlerweile verschlechtert<br />
hat.<br />
Ein Wort, das man in Oelsnitz übrigens<br />
bis heute nicht gern hört, ist das<br />
Wort Fälschung. Zu recht. Denn mit<br />
heutigen Vorstellungen von rechtlich<br />
geschütztem Design kommen wir beim<br />
Orientteppich nicht weit. Wie einst<br />
die Geschichten der alten orientalischen<br />
Märchenerzähler wurden die Designs<br />
über Jahrhunderte hinweg weitergegeben<br />
und sind bis heute im Grundsatz<br />
erhalten geblieben. Trotzdem: „Von<br />
Originalen, also von echten Orientteppichen<br />
kann man eigentlich nur sprechen,<br />
wenn sie aus dem Ursprungsland<br />
stammen“, weiß Zimmermann. Sprechen<br />
wir also besser von einer Orientteppich-Kopie,<br />
so wie es auch die Tefzet-<br />
Werbeprospekte der damaligen Zeit tun.<br />
„Immer schon war es das Bestreben<br />
der europäischen und amerikanischen<br />
Teppich-Industrie, einen Teppich zu<br />
schaffen, der den kostbaren alten orientalischen<br />
Stücken in Farbe, Musterung,<br />
Qualität und Lebensdauer ebenbürtig<br />
sein sollte“, tönte zum Beispiel eine<br />
Tefzet-Magazin-Anzeige aus den<br />
Alter Webstuhl des<br />
Teppichwerks in Adorf<br />
30er-Jahren. „Herrlich wie ein Echter,<br />
haltbar wie ein Echter... aber lange nicht<br />
so teuer!“ Und fügte vollmundig und<br />
mit einem Seitenhieb auf die Konkurrenz<br />
hinzu: „Nur auf dem Wege der<br />
Handarbeit ist es möglich, den ganzen<br />
Reiz der antiken Teppiche so vollendet<br />
wiederzugeben.“<br />
Ein Ende dieser Konkurrenz unter<br />
den Vogtländer Teppichbetrieben<br />
bringt erst die DDR. Sämtliche Teppichbetriebe<br />
werden verstaatlicht und unter<br />
dem Namen des Verkaufsschlagers von<br />
Koch & te Kock zum VEB Halbmond-<br />
Teppiche zusammengeführt.<br />
Womit wir bei unserer kleinen<br />
Zeitreise wieder bei der anfangs vorgestellten<br />
Reisegruppe aus der DDR<br />
angekommen wären. Die ist mittlerweile<br />
weitergereist und im Libanon<br />
angekommen. Das Bild, das sich den<br />
Vertretern dort bietet, ist ein atem beraubendes:<br />
In Achrafieh, einem der<br />
ältesten Bezirke der libanesischen<br />
Hauptstadt Beirut, wurde eine komplett<br />
neue Moschee aus dem Boden<br />
gestampft: ein großer Kugelbau, der die<br />
Herren aus der DDR beeindruckt.<br />
Was sie aber noch mehr beeindruckt ist<br />
dieses: „Die gesamte Moschee ist mit<br />
unseren Artikeln ausgelegt – 800 qm<br />
unserer Qualität Täbris-Super“, befindet<br />
Dietzel nicht ohne Stolz: „Was unsere<br />
Teppiche an betrifft, so muss ich sagen,<br />
dass sie sich in dem Raum sehr gut<br />
ausnahmen.“ •<br />
MENSCH & MASCHINE
TEXT Gerrit Wiesmann<br />
FOTOS Felix Adler<br />
Herr Koehne, Sie sind Gesellschafter<br />
von Kirow Ardelt und HeiterBlick,<br />
Unternehmen, die in Leipzig Eisenbahnkräne<br />
und Straßenbahnen bauen. Auf<br />
der Werkskantine schwebt seit geraumer<br />
Zeit eine große Kugel, die einem<br />
Restaurant und einer Bar Platz bietet.<br />
Was hat es damit auf sich?<br />
Ludwig Koehne: Architektur ist mein Ausgleich.<br />
Ich war 2007 geschäftlich in<br />
Brasilien und nutzte einen freien Tag,<br />
um mir Brasilia anzuschauen. Die<br />
Niemeyer-Gebäude dort waren in ihrer<br />
Kraft und Vitalität eine Offenbarung<br />
für mich. Zwei Jahre später dann lag ich<br />
nach einem Ski-Unfall in einem Hotelbett<br />
im Engadin. Die Wirtin hatte<br />
einen Bekannten, der sich dort von<br />
Niemeyer ein Haus bauen ließ. Gleichzeitig<br />
hatte ich in Leipzig einen Kantinenchef,<br />
der dort mehr als nur Kantinenessen<br />
kochen wollte. Ich hatte also Zeit zum<br />
Nachdenken: Und da ich von da an<br />
Zugang zu Niemeyer hatte, kombinierte<br />
ich meine Gedanken.<br />
Unternehmer und Bauherr Ludwig Koehne (links) zusammen mit dem ausführenden Architekten Harald Kern<br />
Eine ruhige Kugel<br />
schmieden<br />
Architekturlegende Oscar Niemeyer hat kurz<br />
vor seinem Tod eine spektakuläre Kugel<br />
für einen Leipziger Industriebau entworfen.<br />
Ein Gespräch mit Bauherr Ludwig Koehne und<br />
dem ausführenden Architekten Harald Kern<br />
Sie schrieben einen Brief an Niemeyer,<br />
in dem Sie vom Besuch in Brasilia und<br />
von dem „veritablen Restaurant-Chef“<br />
in Leipzig sprachen. Sie fragten ihn, ob<br />
er sich vorstellen könne, „einen kleinen<br />
Speise- und Tanzsaal auf dem Kantinengebäude<br />
zu errichten“. Und dann?<br />
LK: Ich bekam tatsächlich einen Termin<br />
bei Niemeyer in Rio. Das Projekt passte<br />
in seine Gedankenwelt. Er war überrascht,<br />
dass ich die Industrie nicht nur<br />
als wertmaximierendes Instrument<br />
ansah, sondern als etwas, das man mit<br />
Kultur kombinieren könnte. Niemeyer<br />
hatte volle künstlerische Freiheit. Für<br />
mich indes war es ein Bewerbungsgespräch<br />
– schließlich wusste ich, dass<br />
er Projekte auch immer wieder abgelehnt<br />
hatte. Zu meiner Überraschung<br />
aber freute er sich über die Aufgabe.<br />
Deutschland war für ihn eine offene<br />
Baustelle: Potsdam hatte damals seinen<br />
MENSCH & MASCHINE
ARCHITEKTUR<br />
35<br />
Die neue<br />
Niemeyer Sphere<br />
in Leipzig
36 ARCHITEKTUR<br />
Entwurf für ein Spaßbad verworfen,<br />
und so war das Wohnhaus im Berliner<br />
Hansaviertel von 1957 zu diesem Zeitpunkt<br />
der einzige Bau aus seinem Büro.<br />
Hat er Ihnen dann in typischer<br />
Niemeyer-Manier einen Entwurf mit<br />
Filzstift auf eine Papierserviette<br />
gezeichnet?<br />
LK: Nein, der Entwurf kam später per<br />
Mail: Skizzen, Seitenansichten und<br />
Schnitte. Alles war da: der Turm als<br />
tragender Schaft, die Kugel mit zwei<br />
Ebenen. Genauso, wie wir es später umgesetzt<br />
haben. Zuerst war ich geschockt.<br />
Die Kugel war bauphysikalisch ein<br />
Unding: zwei Drittel Glas mit entsprechender<br />
Aufheizung. Auch statisch war<br />
der Bau ambitioniert: ein zwei Meter<br />
breiter Turm, der von einer Kugel<br />
gekrönt werden sollte. Wie soll man so<br />
etwas bauen? Ich hatte einen Pavillon<br />
erwartet, und dann das. Es dauerte<br />
zwei Jahre, um die richtigen Bauexperten<br />
zu finden.<br />
Oscar Niemeyer starb dann 2012. War<br />
das ein Schlag für Sie?<br />
LK: Ja, absolut. Jedoch hatten wir das<br />
Glück, dass Niemeyers engster Mitarbeiter<br />
Jair Valera das Projekt zu Ende<br />
führen wollte. Unser Ziel war somit<br />
die posthume Umsetzung. Hätten wir<br />
Jair nicht gehabt, um jedes Detail zu<br />
bestimmen, es wäre aus den Entwürfen<br />
nichts geworden. Doch Jair hatte seit<br />
1974 mit Niemeyer zusammengearbeitet.<br />
Er konnte daher alle Fragen beantworten<br />
– in einem Prozess, der bis heute<br />
anhält: Die Bar, jeder Tisch, jeder Stuhl,<br />
jeder Teppich wurde von ihm im Sinne<br />
Niemeyers festgelegt. Man muss so<br />
einen Entwurf ja komplett durchziehen,<br />
sonst taugt er nichts.<br />
Oscar Niemeyer zählte zu den<br />
bedeutendsten Architekten der<br />
Moderne. Zahlreiche öffentliche<br />
Gebäude, die der Brasilianer für die<br />
Hauptstadt Brasilia baute, wurden<br />
1987 zum Weltkulturerbe erklärt<br />
„Ein Turm, der von<br />
einer Kugel gekrönt<br />
werden soll, ist<br />
statisch ambitioniert“<br />
Herr Kern, Sie sind der ausführende<br />
Architekt. Wie lief das Projekt ohne<br />
den Meister?<br />
Harald Kern: Ich habe in Leipzig immer<br />
wieder Pläne vorbereitet, aber die geistige<br />
Führung lag in Rio. Wir waren<br />
2013 erstmals bei Jair, um Details mit<br />
ihm festzulegen: die Raumproportionen,<br />
der endgültige Durchmesser der Kugel,<br />
die Kurvenführung. Meine Pläne<br />
beruhten ausschließlich auf Niemeyers<br />
Entwurf und auf den Workshops mit<br />
Jair. So haben wir beispielsweise lange<br />
über das Verhalten von Beton und<br />
Glas in der Kuppel gesprochen. Jair<br />
sprach in diesem Zusammenhang<br />
von einer Orange, von der man die<br />
Außenhaut abgenommen hätte, um<br />
das Fleisch sichtbar zu machen.<br />
Wann waren Sie sich sicher,<br />
dass es mit dem Bau klappen<br />
würde?<br />
HK: Eigentlich erst 2016, als<br />
die Baufirma ein Erprobungsbauteil<br />
erfolgreich umgesetzt<br />
hatte. Es war eine Herausforderung,<br />
eine so einfache<br />
und leichte Form auch einfach<br />
und leicht wirken zu lassen.<br />
Beton ist das tragende Element<br />
der Kugel und musste<br />
von daher so weiß und glatt<br />
aussehen wie möglich.<br />
Wie passt die Niemeyer<br />
Sphere in das<br />
Niemeyer-Œuvre?<br />
LK: Niemeyer mochte Solitäre,<br />
er baute gern auf der grünen<br />
Wiese oder am Wasser.<br />
In Leipzig musste sich das<br />
Gebäude in eine<br />
Fabriklandschaft einfügen. Er hat das<br />
Problem auf sehr niemeyersche Weise<br />
gelöst: durch maximalen Kontrast.<br />
Die Kugel reiht sich nahtlos ein<br />
in Niemeyers Œuvre: So ist das 2002<br />
fertiggestellte Niemeyer-Museum<br />
im brasilianischen Curitiba ein schmaler<br />
Turm mit einem augenförmigen<br />
Aufbau, der einen Niemeyer-Bau aus<br />
den 60er-Jahren ergänzt. In Curitiba<br />
hat sich Niemeyer selbst ergänzt, in<br />
Leipzig einen fremden Bau. Niemeyer<br />
hat viele Kuppeln gebaut, aber so eine<br />
Kugel nur ein einziges Mal.<br />
Herr Koehne, Sie haben mal gesagt,<br />
dass Architektur für ein Unternehmen<br />
die beste Werbung sei. Geht es bei<br />
der Kugel also mehr um die Ausstrahlung,<br />
als um die Architektur?<br />
LK: Es kommen da viele Dinge zusammen,<br />
die sich nicht ausschließen – dazu<br />
zählen natürlich auch Werbung und<br />
Kunst. Wir bauen langlebige Wirtschaftsgüter<br />
und wollen unseren Kunden<br />
das Vertrauen geben, dass wir noch<br />
lange als Unternehmen existieren: Eine<br />
Firma, die ein Gebäude für die Ewigkeit<br />
schafft, die plant auch langfristig. •
GESCHICHTE<br />
37<br />
WEIBER-<br />
WIRTSCHAFT<br />
Fotos: © Oscar Niemeyer VG Bild-Kunst, Bonn 2020 (vorherige Doppelseite). mauritius images/zoran milich/Alamy, © Oscar Niemeyer VG Bild-Kunst, Bonn 2020. mauritius images/Falkenstein/Bildagentur-online Historical Collect./Alamy<br />
Barbara Uthmann stand<br />
am Anfang einer<br />
langen Reihe sächsischer<br />
Unternehmerinnen<br />
TEXT Ulrike Mattern Mannes im Herbst 1553, da war sie 39<br />
Jahre alt, sehr erfolgreich das große<br />
Familienunternehmen mit Berg- und<br />
Seit 2002 steht das Denkmal von<br />
Barbara Uthmann am Markt<br />
von Annaberg-Buchholz wieder<br />
auf seinem Sockel, hoch über dem<br />
nach ihr benannten Brunnen. Es ist der<br />
Bronzenachguss eines Monuments<br />
von 1886, das im Zweiten Weltkrieg verloren<br />
ging. Die elegant ausstaffierte<br />
Bürgerin mit Häubchen, 1514 als Tochter<br />
einer begüterten Familie im 1496<br />
gegründeten Annaberg geboren, also<br />
quasi mit einem goldenen Löffel im<br />
Mund zur Welt gekommen, deutet hier<br />
mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand<br />
auf eine schmale Spitzenborte. Mit der<br />
Handfläche ihrer Linken hebt sie diese<br />
wie bei einer Präsentation vor Publikum<br />
von dem Klöppelsack. Geldkatze und<br />
Schlüsselbund, Insignien einer jeden<br />
guten Hausfrau, trägt sie an der Seite<br />
ihres faltenreichen Rockes, sodass<br />
sie stolz und selbstbewusst erscheint.<br />
In unserer gegenwärtigen Vorstellungswelt<br />
wüsste die Ehefrau und Mutter<br />
von insgesamt zwölf Kindern auf<br />
die neugierige Frage eines Bankberaters:<br />
„Und was machen Sie so beruflich?“,<br />
sicherlich souverän zu kontern. Barbara<br />
Uthmann führte nach dem Tod ihres<br />
Hüttenwerken weiter. Sie machte<br />
gewinnbringend Geschäfte mit Kupfer<br />
und Silber, sorgte jahrzehntelang für<br />
ein sicheres Einkommen der Annaberger<br />
Bergmänner, Steiger und Knappen<br />
sowie ihrer Familien.<br />
Die reichste Frau der Stadt soll eine<br />
großzügige Wohltäterin mit Weitblick<br />
gewesen sein. Denn als die Grubenfelder<br />
im Erzgebirge nicht mehr ausreichend<br />
Bodenschätze abwarfen und<br />
Kurfürst August der Witwe und ihren<br />
Söhnen das Kupferprivileg entzog, bewahrte<br />
die „Uthmannin“ kühlen Kopf<br />
– und bewies Mut zur Diversifikation.<br />
Dabei zahlte sich aus, dass das<br />
Ehepaar gemeinsam zweigleisig gewirtschaftet<br />
hatte: 1567 verkaufte Barbara<br />
Uthmann die von ihrem Ehemann<br />
erworbene Saigerhütte Olbernhau-<br />
Grünthal, die nur mit der Vorzugsstellung<br />
beim Kupferkauf einträglich zu<br />
führen war. Stattdessen baute sie<br />
den „Kram handel“ mit feinem Tuch<br />
und filigranen Spitzenborten aus.<br />
Die Kenntnisse dafür hatte sie sich<br />
während ihrer Ehe an geeignet; der aus<br />
Schlesien stammende Christoph Uthmann<br />
war ein erfahrener Textilhändler,<br />
in Annaberg arbeitete er das erste Mal<br />
als Schichtmeister auf Zechen.<br />
In Heimarbeit webten und klöppelten<br />
Hunderte Frauen für die „Verlegerin“<br />
Barbara Uthmann. Sie finanzierte<br />
deren Garn und vertrieb die fertige Ware<br />
über die Landesgrenzen hinaus. Auch<br />
die sächsische Kurfürstin Anna wurde<br />
auf die textilen Kostbarkeiten aus Annaberg<br />
aufmerksam. Am 9. Oktober 1560<br />
habe es die erste Bestellung aus fürstlichem<br />
Haus gegeben, schreibt Bernd Lahl<br />
in seinem Buch „Barbara Uthmann.<br />
Ihr Leben, ihre Stadt und ihre Zeit“<br />
anlässlich des 500. Geburtstags der einflussreichen<br />
Unternehmerin. Elf Jahre<br />
später, um 1571, endet das einträgliche<br />
Geschäftsmodell: Die schottischen Kaufleute<br />
umgehen die lokalen Verlegerinnen,<br />
indem sie direkt bei den Erzeugerinnen<br />
produzieren lassen. Der Spitzenmarkt<br />
wird unübersichtlich, viele Bortenhändlerinnen<br />
steigen aus, auch Barbara<br />
Uthmann, die 1575 stirbt. Das Spitzenklöppeln<br />
im Erzgebirge entwickelte sich<br />
trotz wirtschaftlicher Rückschläge weiter;<br />
es hat seit über 450 Jahren Bestand<br />
und wird noch heute unter anderem an<br />
der Klöppelschule in Annaberg-Buchholz<br />
unterrichtet, die Uthmans Namen<br />
trägt. Und jedes Jahr im September finden<br />
die Annaberger Klöppeltage statt. •<br />
MENSCH & MASCHINE
Ideengeschichten<br />
Sachsen ist Innovationsgebiet.<br />
Wo einst BH, Teebeutel und Kaffeefilter<br />
erfunden wurden, wird auch heute<br />
getüftelt und Neues probiert<br />
TEXT Ralf Hanselle<br />
FOTOS Frank Krems<br />
MENSCH & MASCHINE
HELLE KÖPFE<br />
39<br />
Matthias Bähr<br />
Die Trabis, an denen der Kfz-Tüftler<br />
Matthias Bähr seit sechs Jahren<br />
herumschraubt, sind einzigartig. Die Werkstatt<br />
seines Unternehmens Citysax<br />
verlassen sie lautlos und ohne blaue<br />
Abgaswolke. Aus knatternden Viertaktern<br />
aus Vorwendezeit zaubert der Dresdner<br />
modernste E-Pappen. „Das Geheimnis<br />
ist ein Bausatz aus E-Motor, Steuerung<br />
und Batterie, den ich entwickelt habe und<br />
den ich unter die Motorhaube setze.“<br />
Sven Grasselt-Gille<br />
Katastrophen verlangen schnelle Entscheidungen.<br />
Deren Folgen aber werden<br />
selten bedacht. In diese Lücke stößt der<br />
<strong>Maschine</strong>nbauer Sven Grasselt-Gille.<br />
Zusammen mit einem Team der<br />
TU-Dresden hat er ein Feldbett aus Jute<br />
und Wellpappe entwickelt, das schnell<br />
und kostengünstig in Krisen gebieten zum<br />
Einsatz kommen kann. Der Aufbau<br />
dauert zwei Minuten. Das Beste: ist alles<br />
vorbei, ist das Bett recycelbar.<br />
MENSCH & MASCHINE
Jutta Horezky<br />
Als erfahrene Rallye-Fahrerin hat Jutta<br />
Horezky viel Verschleiß. Das betrifft nicht<br />
nur Reifen und Bremsen; ebenso nutzt<br />
sie auch ihre Schuhe ab. Gerade bei Pumps,<br />
sagt Horezky, würden beim Kuppeln und<br />
Bremsen Leder und Absätze beschädigt.<br />
Vor gut fünf Jahren entwickelte Horezky<br />
daher den Autoschuh: ein Modell mit<br />
abgerundeten Absätzen aus kratzarmem<br />
Acryl. Vertrieben wird ihr Schuh seither<br />
über die Firma Triggers.<br />
Simon Scheffler (l.) und Torsten Mick<br />
KleePura ist einzigartig. Der Dünger, den<br />
die einstigen Mitarbeiter des Lehrstuhls<br />
Ökologischer Landbau der HTW Dresden<br />
entwickelt haben, ist der erste Biodünger<br />
der Welt. Während andere vermeintlich<br />
ökologischen Düngemittel oft Schlachtabfälle<br />
oder Reste aus der Lebensmittelindustrie<br />
enthalten, besteht KleePura<br />
aus gepresstem Bio-Klee. „KleePura heißt<br />
für uns Ganzheitlichkeit konsequent zu<br />
leben.“<br />
MENSCH & MASCHINE
Strahlen überm<br />
Sonnenberg
UNTERNEHMER 4.0<br />
43<br />
Lars Fassmann ist<br />
Unternehmer neuen Typs:<br />
alternativ, engagiert<br />
und heimatverbunden.<br />
Besuch bei einem<br />
spannenden Exoten<br />
TEXT Christine Zeiner<br />
FOTO Jasmin Zwick<br />
Diese Lampen! Sie sind das erste,<br />
was einem ins Auge springt,<br />
wenn man die Chemnitzer<br />
Kneipe Lokomov betritt. Die Leuchten<br />
mit den großen Kugeln und den markanten<br />
Verbindungsrohren sind beeindruckend<br />
– und sie bilden einen Kontrast<br />
nicht nur zu dem Altbau, in dem<br />
sich das Lokomov befindet, sondern<br />
zum gesamten Stadtteil Sonnenberg.<br />
„Sonnenberg? Was wollen Sie denn<br />
da?“, antwortet eine Frau auf die Frage<br />
nach dem Weg. „Ich sag mal so: Es gibt<br />
schönere Ecken.“ Sonnenberg, einst<br />
als Brennpunkt verschrien, mag nach wie<br />
vor keinen klingenden Namen haben.<br />
Doch in dem Viertel hat sich in den<br />
vergangenen Jahren viel getan. Und zu<br />
einem guten Teil liegt das eben an<br />
Lars Fassmann.<br />
Das Lokomov hat noch nicht geöffnet,<br />
aber Fassmann ist schon da. Dem<br />
43-Jährigen gehört das Lokal, das<br />
gesamte Haus und das Gebäude gegenüber.<br />
Darin: Ateliers, Wohnungen,<br />
Pizzeria, Club, Bandproberäume,<br />
Fotostudio und Werkstatt für Fahrrad-<br />
Oldtimer „nach bester Chemnitzer<br />
Industrietradition“, wie Fassmann sagt.<br />
Und mit der kennt sich der 1978 in<br />
Garnsdorf geborene Geschäftsmann bestens<br />
aus. Mit Mitte 20 gründete er das<br />
IT-Unternehmen Chemmedia AG,<br />
bis heute führender Anbieter in Sachen<br />
Lernsoftware. Er ist Gründungsmitglied<br />
des Landesverbands der Kultur- und<br />
Kreativwirtschaft Sachsen, Vizepräsident<br />
des Industrieverbands und Gesellschafter<br />
eines Unternehmens namens Kabinettstückchen.<br />
Kurz: Fassmann ist engagierter<br />
Unternehmer im besten Sinne; immer<br />
mit einem Gespür für den richtigen<br />
Zeitpunkt, um Dinge anzugehen.<br />
Und er weiß stets, was zusammenpasst.<br />
„Die sind aus Erichs Lampenladen“,<br />
sagt er und schaut zur Decke. Die<br />
Originallampen aus dem Berliner Palast<br />
der Republik hängen über weniger eleganten<br />
Sesseln. Auf den Tischen stehen<br />
gelbe Tulpen. „Den hat der Chaos-<br />
Chemnitz-Hackerspace aufgestellt“, sagt<br />
er und zeigt auf einen „Raspi“, einen<br />
Mikrocomputer, der einen Röhrenmonitor<br />
ansteuert. Über den alten Bildschirm<br />
rattern Anzeigen. „Der gesamte<br />
Fahrplan“, sagt Fassmann und schmunzelt.<br />
Ein paar Jahre saß er für die Liste<br />
Piraten/Wählervereinigung Volkssolidarität<br />
im Stadtrat. Ob und wann die<br />
Verkehrsbetriebe ihre Daten für die Allgemeinheit<br />
als Open Data freigeben,<br />
sei dort damals lange Thema gewesen.<br />
Im Erdgeschoss ist ein Teil der Fassade<br />
angesprayt. Im oberen Teil fehlen<br />
vereinzelt Fenster. Das Dachgeschoss<br />
wird als Lager für Material und Ausstellungsstücke<br />
genutzt. Die Miete für<br />
die Ateliers beträgt maximal einen Euro<br />
Kaltmiete. Fassmann ist eben kein gewöhnlicher<br />
Investor. Für ihn zählt, wie<br />
er sagt, die „gesellschaftliche Rendite“.<br />
Als Gewerbetreibender will er etwas<br />
tun für seine Stadt. Davon wiederum<br />
profitiert auch er selbst – denn Chemnitz<br />
wird so zu einem Ort, wie er<br />
ihn sich immer gewünscht hat: offen,<br />
lebendig, vielseitig.<br />
Fassmann missbilligt die Extreme, er<br />
spricht und schreibt an gegen Rassismus,<br />
Rechte und Fußball-Hooligans – er<br />
kritisiert aber auch ein, wie er sagt, verzerrtes<br />
Bild seiner Stadt als Hort von<br />
Neonazis. Fassmann nimmt eine verengte<br />
Sicht mancher Chemnitzer aufs<br />
Korn, <strong>Mensch</strong>en, die zufrieden seien mit<br />
Haus, Garten, Auto und für die Themen,<br />
die ihm wichtig sind, keine Rolle<br />
spielen: sauberes Trinkwasser in Kenia<br />
oder die Ausbildung von Bankern, die<br />
Mikrokredite vergeben.<br />
Auf kompetente Weise, oft gespickt<br />
mit Sarkasmus, kann er sich auch zur<br />
Wirtschaftspolitik in seiner Stadt äußern.<br />
„Der Eindruck, dass wir eine reine<br />
Industriestadt sind, hält bis heute an.<br />
Dabei haben wir eine ganz gemischte<br />
Wirtschaft und viele Kulturschaffende.“<br />
Für die müsse etwas getan und so die<br />
Abwanderung gestoppt werden.<br />
Den Anstoß für diese Haltung gab<br />
für ihn vor Jahren der drohende Abriss<br />
von 180 Gründerzeithäusern: Gemeinsam<br />
mit seiner Lebensgefährtin fasste<br />
„Chemnitz hat<br />
viele Kreative und<br />
Kulturschaffende.<br />
Um die muss sich die<br />
Stadt kümmern“<br />
er damals einen Plan: „Ich kaufte ein<br />
paar Immobilien und gab die Flächen<br />
frei für kulturelle Projekte.“<br />
Den Anfang machte eine 1907 erbaute<br />
Villa. 2004 erwarb sie der junge<br />
Unternehmer und begann mit ihrer<br />
Sanierung. Heute hat in dem Haus sein<br />
eigenes Unternehmen, die Chemmedia<br />
AG, seinen Sitz. Fassmann hatte die<br />
Firma gegründet, da war er gerade mit<br />
dem Studium fertig. Anders als seine<br />
Kommilitonen wollte er Chemnitz<br />
damals nicht verlassen. Er erinnert sich<br />
noch heute an einen Brief, den er im<br />
letzten Semester vom damaligen Oberbürgermeister<br />
erhalten hatte: „,Wenn<br />
Sie in die Welt hinausgehen, berichten<br />
Sie positiv über Chemnitz‘, stand da<br />
geschrieben. Und ich dachte: Ich will<br />
doch gar nicht in die Welt hinaus. Ich<br />
will in Chemnitz bleiben!“ Eine tolle<br />
Stadt. Sie müsste sich halt nur ein bisschen<br />
verändern. Und dafür, so Fassmann<br />
in guter Unternehmertradition,<br />
dafür müsse man letztlich selber sorgen. •<br />
MENSCH & MASCHINE
44<br />
UTOPIE IM<br />
SCHWEBEZU-<br />
STAND<br />
Wie sieht die Mobilität<br />
von morgen aus? Wir<br />
haben zwei Verkehrsentwickler<br />
zu einer<br />
Fahrt mit der alten<br />
Dresdner Schwebebahn<br />
eingeladen, um<br />
ihre Utopien für<br />
das 21. Jahrhundert<br />
vorzustellen<br />
INTERVIEW Ralf Hanselle<br />
FOTOS Stephan Floss<br />
Frau Fitzthum, Herr Claus, ich begrüße<br />
Sie zu unserer Fahrt mit der Dresdner<br />
Bergschwebebahn. Die von dem Erfinder<br />
Eugen Langen entwickelte Bahn<br />
ist im Jahr 1901 an einem Elbhang im<br />
Osten Dresdens in Betrieb gegangen.<br />
Jenseits von Sachsen aber hat sie sich<br />
nie durchgesetzt. Wir sind somit zu<br />
Gast in einer untergegangenen Verkehrsutopie.<br />
Sie hingegen haben die Mobilität<br />
von morgen im Blick. Können<br />
Sie sich sicher sein, dass Ihren Projekten<br />
mehr Erfolg beschieden sein wird<br />
als einst den Ideen Langens?<br />
SÖREN CLAUS: Bei Visionen gibt es keine<br />
Gewissheiten. Es geht im Wesentlichen<br />
um zwei Dinge: zum einen um das<br />
technisch Mögliche, zum anderen um<br />
das finanziell Machbare. Das sieht man<br />
Willkommen in der Welt<br />
von gestern: Sören<br />
Claus und Luise Fitzthum<br />
in der historischen<br />
Bergschwebebahn
46<br />
auch hier bei der Schwebebahn: Die<br />
technischen Herausforderungen hat<br />
Langen, der ja auch Entwickler der<br />
Schwebebahn in Wuppertal gewesen ist,<br />
mit Bravour gemeistert. Aber es hat<br />
Parallelentwicklungen gegeben, die sich<br />
besser am Markt behaupten konnten.<br />
Dennoch hat man gerade in Sachsen<br />
viel Erfahrung mit Visionen zur Mobilität.<br />
Es gibt hier eine gute Infrastruktur<br />
für Forschung und Entwicklung. Das<br />
mag auch daran liegen, dass man uns<br />
Sachsen einen Hang zur Tüftelei nachsagt.<br />
Trotz allem Know-how: Müssen Sie<br />
nicht damit rechnen, dass auch<br />
Ihre Projekte am Ende nicht über die<br />
Prototyp-Phase hinauskommen?<br />
LUISE FITZTHUM: Ich kann ja nur für unser<br />
Projekt sprechen. Wir haben das Glück,<br />
die Leipziger Verkehrsbetriebe und andere<br />
Unternehmen mit im Boot zu haben.<br />
Die haben ein Interesse daran, die Entwicklung<br />
zur Marktreife zu bringen.<br />
Bevor wir Ihre Entwicklungen genauer<br />
vorstellen, lassen Sie uns kurz darüber<br />
nachdenken, was eigentlich am Anfang<br />
einer jeden Utopie steht.<br />
SC: Da spielt vieles eine Rolle: menschliche<br />
Bedürfnisse, technische Möglichkeiten.<br />
Im Wesentlichen geht es aber<br />
um eine Lücke. Bei unseren Projekten<br />
etwa geht es um Antworten auf die<br />
Frage, wie wir die Verkehrswende meistern<br />
und den ÖPNV ins Zeitalter der<br />
Digitalisierung bringen können.<br />
LF: Das verbindet uns. Die Gegenwart<br />
stellt uns vor neue Probleme. So wird in<br />
absehbarer Zukunft Fahrpersonal für<br />
Busse und Bahnen fehlen. Zudem werden<br />
auch die Bedürfnisse der Kunden ausgefeilter<br />
und individueller werden.<br />
Der klassische Alleinfahrer im eigenen<br />
Pkw wird ein Auslaufmodell und Verkehr<br />
öffentlicher werden.<br />
Was Sie beschreiben, ist ja ein generelles<br />
Problem unserer digitalen Gegenwart:<br />
Man verlangt von Produkten und<br />
Dienstleistungen, dass sie granular werden<br />
– das heißt, es gibt ein Bedürfnis<br />
In Oberloschwitz, dem<br />
Endpunkt der Schwebebahn,<br />
empfängt einen die<br />
historische Bergstation<br />
nach Passgenauigkeit. Die Dresdner<br />
Schwebebahn hier ist noch ein Beispiel<br />
für das alte, das vordigitale Denken:<br />
Hier laufen zwei Kabinen auf einem<br />
statischen Stahlträger. Alles ist somit<br />
festgelegt. Abweichung, Individualisierung<br />
oder Sonderwünsche sind nicht<br />
vorgesehen. Der Soziologe Max Weber<br />
prägte dafür einst den Begriff des<br />
„stahlharten Gehäuses“ des Industriezeitalters.<br />
SC: Ja, das Industriezeitalter 2.0 hatte<br />
noch sehr harte Rahmenbedingungen.<br />
Heute indes scheint alles weicher, aber<br />
auch diffuser geworden zu sein. Sie<br />
zum Beispiel, Frau Fitzthum, arbeiten<br />
an der TU Dresden an einem Projekt<br />
namens ABSOLUT. Dabei geht es um<br />
automatisiert fahrende Bus-Shuttles in<br />
Leipzig. Diese sollen, wenn sie fertig<br />
sind, auf die Bedürfnisse der Nutzerinnen<br />
und Nutzer reagieren können.<br />
LF: Wir planen ein hoch automatisiertes<br />
System, das auf einer Strecke von sieben<br />
Kilometern zwischen einem S-Bahnhof<br />
und dem Leipziger BMW-Werk verkehren<br />
wird. Die gut 13 000 Mitarbeiter<br />
dort arbeiten im Schichtdienst. Das<br />
heißt, die jetzigen Busse sind zu den<br />
Stoßzeiten überfüllt, sonst aber gähnend<br />
leer. Der ÖPNV in seiner jetzigen<br />
Form ist auf solche Veränderungen nicht<br />
ausgelegt; das ist wirtschaftlich nicht<br />
tragbar. Also überlegen wir, ob sich nicht<br />
ein Konzept mit automatisierten und<br />
fahrerlosen Bus-Shuttles entwickeln<br />
lässt. Geht alles gut, werden wir 2021<br />
den Probebetrieb starten.<br />
Wie wollen Sie denn die Bedürfnisse<br />
der Fahrgäste erfassen?<br />
MENSCH & MASCHINE
MOBILITÄT<br />
47<br />
LF: Der Bus soll im Linienbetrieb fahren,<br />
aber zusätzlich auch on demand zur<br />
Verfügung stehen – das heißt, man<br />
kann den Bus über eine App buchen.<br />
Sie, Herr Claus, arbeiten bei einem<br />
anderen sächsischen Verkehrsprojekt,<br />
dem sogenannten Smart Rail Connectivity<br />
Campus in Chemnitz. Dabei<br />
handelt es sich um eine Art Thinktank,<br />
in dem man über die Probleme des<br />
zukünftigen Schienenverkehrs nachdenkt.<br />
Es geht also auch bei Ihnen<br />
um den ÖPNV. Ist das, was Frau<br />
Fitzthum da beschrieben hat, auch ein<br />
Problem für Eisenbahner?<br />
SC: Wir forschen bei uns immer wieder<br />
zu Fragen der Mobilität im ländlichen<br />
Raum. Da stehen Sie vor ähnlichen Herausforderungen.<br />
Auf dem Land ist der<br />
ÖPNV oft sehr ausgedünnt. Gerade<br />
am Wochenende kommen <strong>Mensch</strong>en<br />
kaum noch vom Fleck. Deshalb beschäftigen<br />
auch wir uns mit On-demand-<br />
Systemen für die Schiene. Es gibt aber<br />
auch vergleichbare Probleme in großen<br />
Ballungsräumen: Denken Sie etwa an<br />
den Trubel nach Großveranstaltungen:<br />
Die Bahnsteige füllen sich, und der<br />
Normalbetrieb reicht nicht mehr aus.<br />
Wäre es da nicht schön, wenn man dank<br />
Künstlicher Intelligenz in der Lage<br />
wäre, das wachsende Bedürfnis der<br />
Kunden früh zu erkennen und zusätzliche<br />
Züge automatisch einzusteuern?<br />
Das Zauberwort heißt also KI?<br />
LF: Die Herausforderung für uns besteht<br />
darin, dass Fahrzeuge lernen müssen,<br />
mit der Infrastruktur zu kommunizieren.<br />
Dafür müssen wir das ganze Umfeld<br />
technisch ertüchtigen.<br />
SC: Der ÖPNV auf der Straße kann hier<br />
viel von der Bahn lernen – zum Beispiel<br />
bei der Leit- und Sicherungstechnik.<br />
Die Schiene fährt seit jeher mit einer<br />
Leittechnik. Das heißt, der Fahrer entscheidet<br />
nicht, wann er fährt; der<br />
Verkehr wird über Signalanlagen gesteuert.<br />
Das werden wir auch immer öfter<br />
beim Automobilverkehr erleben.<br />
LF: Das stimmt. Wir müssen etwa<br />
„Visionen verbinden<br />
das technisch<br />
Mögliche mit dem<br />
finanziell Machbaren“<br />
Ampelanlagen dazu bringen, ihr<br />
visuelles Signal zusätzlich auch als digitale<br />
Information an ein Fahrzeug<br />
zu übertragen.<br />
Und dennoch kennt auch die Bahn<br />
noch immer keine führerlosen Züge.<br />
SC: Das hat juristische und technische<br />
Gründe. Es gibt derzeit noch kein System,<br />
das derart fehlerfrei arbeitet, dass man es<br />
allein lassen könnte. Es gibt Situationen,<br />
die uns vor Herausforderungen stellen:<br />
Bahnübergänge zum Beispiel.<br />
LF: Da gibt es in der Tat Probleme:<br />
Wie bringen Sie der Technik bei,<br />
ob ein Objekt auf einer Fahrbahn eine<br />
Von der Bergstation der<br />
Schwebebahn aus schaut<br />
man auf Dresden und die<br />
Elbe<br />
Zurück in die Zukunft:<br />
Claus und Fitzthum<br />
diskutieren über den<br />
Verkehr von morgen<br />
Plastiktüte oder eine Katze ist? Und wie<br />
erklären Sie dem Algorithmus, wie<br />
sich Objekte im Notfall verhalten? Da<br />
ist vieles ungelöst.<br />
SM: Wie groß ist am Ende überhaupt<br />
die Bereitschaft der Fahrgäste, sich auf<br />
autonome Systeme einzulassen?<br />
LF: Das wird sich einspielen. Wir nutzen<br />
ja auch alle Fahrstühle – und die lenkt<br />
auch niemand mehr von Hand.<br />
SC: Wichtig ist, dass man den Fahrgästen<br />
den menschlichen Mehrwert der<br />
neuen Systeme erklärt. Wenn es in<br />
Zukunft Teilbereiche von Bahnstrecken<br />
geben wird, auf denen ein Zug autonom<br />
fahren kann, dann hat der Zugführer<br />
mehr Zeit, sich um die Bedürfnisse<br />
der Kunden zu kümmern. Unsere<br />
Verkehrsutopien verfolgen also keinen<br />
Selbstzweck. Der <strong>Mensch</strong> ist kein<br />
lästiges Übel der Technik. Der <strong>Mensch</strong><br />
muss im Zentrum der Innovationen<br />
stehen. •<br />
MENSCH & MASCHINE
48 SERVICE<br />
Der Terminator<br />
Neues von <strong>Mensch</strong> und <strong>Maschine</strong>:<br />
Highlights aus dem Jahr der<br />
Industriekultur 2020<br />
INDUSTRIE.KULTUR.RALLYE<br />
CRIMMITSCHAU<br />
Spurensuche zur industriekulturellen<br />
Vergangenheit<br />
Mit GPS-Geräten steuern Sie interessante<br />
Ziele in der alten Textilstadt an.<br />
Jeweils 1. Samstag im Monat, 14–17 Uhr<br />
BOHEI UND TAMTAM<br />
Straßenmarkt und Kunstfestival<br />
in Leipzig<br />
Ein Rundgang durch die Off-Kultur<br />
und Street-Art-Szene der Stadt.<br />
4. Juli 2020, ab 15 Uhr<br />
4. SÄCHSISCHE LANDESAUSSTELLUNG<br />
Eröffnung „Boom. 500 Jahre<br />
Industriekultur in Sachsen“<br />
Ein kulturhistorisches Panorama in<br />
der Zentralausstellung im Audi-Bau<br />
Zwickau. Ergänzt durch zahlreiche<br />
Veranstaltungen und sechs Nebenausstellungen.<br />
11. Juli 2020<br />
10. AUGUST-HORCH-KLASSIK<br />
Eine historische Fahrzeugparade<br />
rund um Zwickau<br />
Mehr als 150 historische Automobile<br />
und Motorräder machen die Straßen<br />
auf einer circa 120 Kilometer langen<br />
Strecke unsicher.<br />
26. Juli 2020<br />
IBUG 2020<br />
Street-Art-Festival an verschiedenen<br />
Orten in Zwickau<br />
Eine Woche lang Murals, Installationen,<br />
Graffitis und kreative Betätigung.<br />
Ende August 2020<br />
Industrie.Kultur.Rallye<br />
RUNDGANG DURCH „SPAMERS<br />
BÜCHERFABRIK“<br />
Annäherung an einen bedeutenden<br />
Leipziger Verleger<br />
Otto Spamer hätte 2020 seinen 200.<br />
Geburtstag gefeiert. Eine Ausstellung<br />
würdigt den engagierten<br />
Schulbuchmacher.<br />
Bis 4. September 2020<br />
Installation während der ibug 2018<br />
Ein Highlight der 4. Sächsischen Landesausstellung<br />
ist eine Dampfmaschine in der Nussschale
SERVICE<br />
49<br />
Fotos: © Thomas Dietze. Andreas Gosch, Dampfmaschinen-Miniatur, 1893, Dampfmaschine in Nussschale, Inventarnummer G 8970, © Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Museum für Sächsische Volkskunst. Luise Blumstengel.<br />
© Klaus-D. Sonntag, Handyproduktion in Leipzig, 2000. © M.L.-Preiss-DSD<br />
„Das Auge der Fotografie“ zeigt u.a. Bilder<br />
von Klaus-D. Sonntag<br />
8. TAGE DER INDUSTRIEKULTUR<br />
Begegnung mit dem industriekulturellen<br />
Erbe Leipzigs<br />
Auf sechs Themenrouten können Besucher<br />
die Museen und Sammlungsbestände<br />
der Stadt inspizieren. Alles dreht<br />
sich dabei um <strong>Maschine</strong>n und Motoren.<br />
3.–6. September 2020<br />
DAS AUGE DER FOTOGRAFEN<br />
Ausstellung im Museum für<br />
Druckkunst, Leipzig<br />
Fotografen dokumentieren den Einfluss<br />
der Industrie auf <strong>Mensch</strong>, Architektur<br />
und Umwelt im 20. Jahrhundert.<br />
Bis 6. September 2020<br />
TAG DES OFFENEN DENKMALS<br />
Bundesweite Begehung<br />
historischer Baudenkmäler<br />
Entdecken Sie im Jahr der Industriekultur<br />
Sachsens Fabriken und<br />
Industriegebäude.<br />
13. September 2020<br />
FIX VORAN MIT FRONTANTRIEB<br />
Eine Ausstellung zum 90. Jubiläum<br />
der DKW-Rennwagen<br />
Ein Rundgang durch die Geschichte<br />
eines besonderen Automobils<br />
mit Frontantrieb und 2-Takt-Motor.<br />
Bis 4. Oktober 2020<br />
GOLDENER HERBST IN DER OBERLAUSITZ<br />
Eine Zeitreise mit der Eisenbahn<br />
durch eine alte Kulturlandschaft<br />
Mit einer Dampflok und historischen<br />
Eisenbahnwagen von Bad Muskau<br />
über Weißwasser bis nach Riesa.<br />
17. Oktober 2020<br />
GÖRLITZ LOST PLACES TOUR<br />
Ein Blick hinter den Leerstand<br />
der Stadt<br />
Alte Industrieanlagen, Gewerbehöfe<br />
und Handelshäuser warten darauf,<br />
entdeckt zu werden.<br />
18. Oktober 2020, 13 Uhr<br />
DICKE LUFT. BURG KRIEBSTEIN<br />
UND DIE PAPIERFABRIK<br />
Sonderausstellung in der<br />
Burg Kriebstein<br />
Ein Streifzug durch die Geschichte<br />
der Industrialisierung im Zschopautal.<br />
Bis 31. Oktobert 2020, 10–16 Uhr<br />
Tag des offenen Denkmals<br />
HEIMARBEIT / HAUSINDUSTRIE<br />
Sonderausstellung im Esche-Museum<br />
Heimarbeit in der Region um<br />
Limbach als Vorläufer einer besonderen<br />
industriellen Entwicklung.<br />
Bis 1. November 2020, 14–17 Uhr<br />
GEWINNSPIEL<br />
Preisfrage: Was ist das<br />
Berggeschrey?<br />
a) Eine Umschreibung<br />
fürs Jodeln<br />
b) Eine spezielle Art von Käse<br />
c) Ein Fund an großen<br />
Erzvorkommen<br />
Unter den richtigen Einsendungen<br />
verlosen wir:<br />
Ein verlängertes Wochenende<br />
zum Thema „Industriekultur“<br />
für zwei Personen in Leipzig<br />
und Zwickau<br />
- 2 x Übernachtung inkl. Frühstück in<br />
einem 4*-Innenstadt-Hotel in Leipzig<br />
- Thematischer Stadtrundgang durch<br />
die Leipziger Innenstadt inklusive<br />
Eintritt in das Kunstkraftwerk<br />
- 70-min. geführte Motorbootfahrt mit<br />
Bootsanmietung auf dem Karl-<br />
Heine-Kanal und der Weißen Elster<br />
- Tagesausflug nach Zwickau zur<br />
Sächsischen Landesausstellung<br />
„Boom. 500 Jahre Industriekultur in<br />
Sachsen“<br />
Schreiben Sie die Lösung mit Ihrem<br />
Namen, Ihrer Post- und E-Mail-<br />
Adresse auf eine frankierte<br />
Postkarte und schicken Sie diese<br />
bis zum 31.8.2020 an:<br />
Redaktion „Industriekultur“, c/o<br />
Ketchum, Käthe-Kollwitz-Ufer 79,<br />
01309 Dresden<br />
Oder senden Sie uns eine E-Mail an<br />
gewinnen@so-geht-saechsisch.de<br />
Viel Glück!<br />
Teilnahmebedingungen: Veranstalter des Gewinnspiels ist der Freistaat<br />
Sachsen, Sächsische Staatskanzlei, 01095 Dresden. Teilnahmeberechtigt<br />
sind Personen über 18 Jahre, die ihren Wohnsitz in<br />
Deutschland haben. Mitarbeitern oder Familienmitgliedern des Veranstalters,<br />
des Verlags und der an der Organisation beteiligten Agentur<br />
ist die Teilnahme nicht gestattet. Die Benachrichtigung über den<br />
Gewinn erfolgt per E-Mail. Eine Barauszahlung des Gewinns und ein<br />
Umtausch des Gewinns sind ausgeschlossen. Für die Durchführung<br />
des Gewinnspiels ist es erforderlich, die folgenden Daten zu erheben:<br />
Name, Postanschrift und E-Mail-Adresse. Rechtsgrundlage der Datenverarbeitung<br />
ist Art. 6 Abs. 1 lit. b) und f) DSGVO. Ihre personenbezogenen<br />
Daten werden nach Ende der Aktion, spätestens nach dem<br />
31.12.2020 gelöscht. Eine Weiterleitung an Dritte erfolgt nicht. Es steht<br />
dem Teilnehmer jederzeit frei, per Widerruf unter gewinnen@so-gehtsaechsisch.de<br />
die Einwilligung in die Speicherung seiner Kontaktdaten<br />
zurückzunehmen und somit von der Teilnahme zurückzutreten.<br />
Die Informationsrechte gemäß Art 13 DSGVO finden Sie unter<br />
www.so-geht-saechsisch.de/Nutzungsbedingungen<br />
MENSCH & MASCHINE
50 GREENWASHING<br />
NACH-<br />
WACHSENDER<br />
ROHSTOFF<br />
Kerstin Preiwuß<br />
feiert den Baum als<br />
ein Investment<br />
in die Zukunft<br />
TEXT Kerstin Preiwuß<br />
ILLUSTRATION Anja Stiehler-Patschan<br />
Gehen Sie mal durch die alte<br />
Handels- und Industriestadt<br />
Leipzig spazieren und achten<br />
Sie dabei nicht auf die üblichen Superlative,<br />
achten Sie bitte auf die Bäume, die<br />
Ihren Gehweg flankieren. Viele davon<br />
sind mit einer Stele versehen, auf der<br />
ein Schild angebracht ist. Nehmen Sie<br />
sich die Zeit zum Lesen, es lohnt sich.<br />
Sie erfahren nicht nur, was für ein<br />
Baum Ihren Weg säumt, sondern auch,<br />
wer ihn gestiftet hat und warum. Letzteres<br />
ist wohl noch immer in Deutschland<br />
einmalig, denn obwohl es mittlerweile<br />
in vielen Städten Baumpatenschaften<br />
gibt, bietet nur Leipzig die Möglichkeit,<br />
sich als Stifter auch persönlich zu verewigen.<br />
Jetzt denken Sie bitte kurz daran,<br />
welch hohen Stellenwert ein Baum<br />
auf der ewigen Liste der Dinge einnimmt,<br />
die man im Leben getan haben<br />
sollte, ob für sich oder für andere oder<br />
gleich für die ganze Welt, dann werden<br />
Sie sicher verstehen, wie krisensicher<br />
diese Anlage ist. Der Baum als perfektes<br />
Joint Venture von privatem und öffentlichem<br />
Wohl, welches seine Pflege garantiert,<br />
steht doch für immer symbolisch<br />
für den Stolz auf die eigene<br />
Existenz. Als nachwachsender Rohstoff<br />
schafft er eine Nähe zum eigenen Lebensweg<br />
und ist daher äußerst vertrauenswürdig<br />
– um nicht zu sagen wertstabil,<br />
denn im Normalfall wird er einen<br />
überdauern. 250 Euro kostet diese Option<br />
und ist daher nicht zu hoch, als<br />
dass sie nicht auch für den Einzelnen<br />
interessant wäre. Wer will, kann sich<br />
auch als eine Art Trust zusammentun.<br />
„Für wahre Freunde“ steht etwa an einer<br />
Thüringischen Eberesche, gestiftet von<br />
Zorro, Mr Gibs und Jackson. „In Erinnerung<br />
an Frank ‚the floorman‘, gestiftet<br />
von allen Freunden der Donnerstagsrunde“,<br />
an einer anderen. „Wenn wir<br />
von dieser Schule gehen, soll das Bäumchen<br />
hier noch lange stehen“, offenbart<br />
eine Säulen-Hainbuche, gestiftet von<br />
drei vierten Klassen. „Zum Andenken<br />
an Biotectid und meine Leipziger Zeit“<br />
erinnert an die Arbeit für ein in der<br />
Bio-City ansässiges Unternehmen. Fast<br />
immer sind die Bäume für jemanden<br />
oder zur Erinnerung. „Katharina – Wie<br />
ein Wunder liegst du neben uns, liebst<br />
und atmest Zauber in uns hinein“, erfährt<br />
man durch eine Straßen-Robinie<br />
von einer Geburt. Sämtliche Facetten<br />
des <strong>Mensch</strong>lichen geben die Inschriften<br />
wieder, und oft sind sie dabei ein emphatisches<br />
Bekenntnis zur Kultur. An<br />
zentralen öffentlichen Plätzen häufen<br />
sich die Ehrenbäume. Eine Platane<br />
wächst „In Verehrung für Felix Mendelssohn<br />
Bartholdy“, eine andere preist<br />
auf Latein gleich die römische Göttin<br />
Diana. Aber es geht auch schlichter;<br />
etwa: „Der Wind, der Wind, das himmlische<br />
Kind“. Viele werden aphoristisch,<br />
wie etwa „Erwerben ist leichter als<br />
Erhalten“, das als unternehmerische<br />
Grundregel so manche Firmengeschichte<br />
begleitet. Diese Bäume säumen<br />
weder Hain noch Grundstück. Überall<br />
in der Stadt warten sie auf einen Hund,<br />
der bereit ist, sein Bein zu heben. „Südvorstadt,<br />
auf immer Dein. Wir kommen<br />
zurück! Hier wollen wir sein.“ Jedes<br />
Blatt eine schöne Stunde in Leipzig. Ein<br />
Chor aus unterschiedlichsten Stimmen<br />
gleichberechtigt im Raum verteilt. Dabei<br />
sind die Inschriften lediglich Mittel<br />
zum Zweck, denn Leipzig boomt und<br />
verdichtet sich stetig, was wiederum<br />
bedeutet, dass einem die Füchse nicht<br />
mehr aus der innerstädtischen Wildnis<br />
heraus über den Weg laufen, sondern<br />
zwischen Häuserschluchten. Leipzig<br />
wäre aber nicht die Handelsstadt, die sie<br />
ist, fände sie nicht eine Lösung, die es<br />
einem leicht macht, eigene Entscheidungen<br />
in ihrem Sinne zu treffen. An<br />
sich selbst erinnern und damit Gutes<br />
tun, dieses unternehmerische Selbstverständnis<br />
des Mäzenatentums kommt in<br />
den Bäumen so unprätentiös wie unideologisch<br />
zum Ausdruck und zeigt,<br />
dass es nur eine geschickte Verknüpfung<br />
von Einzelinteressen braucht, um auf<br />
das Wohl aller zu zielen. Überlegt man<br />
sich, welche Wege Entwicklung oft<br />
nimmt, dann erscheint es nahe liegend,<br />
hier von einer fortwährend nachwachsenden<br />
Kultur zu sprechen. •<br />
Illustration: Anja Stiehler-Patschan/Jutta Fricke Illustrators<br />
MENSCH & MASCHINE
IN DRESDEN<br />
IST DIE KUNST<br />
ZU HAUSE.<br />
„Gemäldegalerie Alte Meister“ und<br />
der „Skulpturensammlung bis 1800“<br />
Di–So 10–18 Uhr<br />
www.skd.museum<br />
„Sixtinische Madonna“<br />
Gefördert durch<br />
Hauptförderer
ZUKUNFTSMACHER.<br />
ERFINDER- UND UNTERNEHMERGEIST HAT IN SACHSEN<br />
EINE LANGE TRADITION. Ob Bergbau, Textilien, <strong>Maschine</strong>n,<br />
Eisenbahn oder Autos, Mikrochips und neue Technologien: Im<br />
Freistaat wird seit jeher am Fortschritt gearbeitet. 2020 werfen<br />
wir daher einen Blick zurück zu den Ursprüngen und feiern<br />
500 Jahre Industriekultur in Sachsen. Wie die auch aussehen<br />
kann, zeigt der von Daniel Buren gestaltete Schornstein des<br />
Heizkraftwerks in Chemnitz.<br />
Mehr dazu unter www.so-geht-sächsisch.de