Lesekompetenz und Lesekultur in der Klasse

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Petra Hüttis-Graff Einführungsvortrag 10 Strobl/Österreich 9.5.2011 3 Mit den Texten die Sprache lernen Viele Kinder wachsen bereits in ihrer Familie hinein in eine alltägliche Kultur des Lesens. Bereits weit vor der Schulzeit begegnen Kinder Texten im mündlichen Sprachgebrauch und im Umgang mit Medien. Besondere Bedeutung kommt hier nach Befunden von Wieler, Hurrelmann u.a. dem Vorlesen zu – derzeitig wird in Deutschland nur noch 40% der Kinder vorgelesen! (BAHN-Studie). Große Bedeutung haben auch Hörspielkassetten, Sprachspiele, Lieder und Reime als Sprachkultur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die Annäherung an das Lesen, an den Umgang mit vertexteter Sprache ist dabei stets eingebunden in soziale und emotionale Kontexte, die regelhaft erlebt und als bedeutsam empfunden werden. Kinder, die diese Erfahrungen nicht machen konnten, brauchen in der Schule solche persönlich bedeutsamen Gelegenheiten zur Teilhabe an Lesekultur, um dort typische Formate des Lesens kennen zu lernen und auch in ihrem Alltag selbstverständliche literale Praktiken zu entwickeln, um literarisch-ästhetische Kompetenzen zu erwerben und allein durch Sprache angeregte innere Vorstellungsbilder entfalten zu lernen. Was es bedeuten kann, kaum Lese-Erfahrungen gemacht zu haben, ersehen Sie an dem folgenden Text. Ich hatte kein bein klein Ich hatte keinen beim Kleinen. Sehr geehrte Frau x, ich konnte leider gestern nicht zum Elternabend kommen, da ich keinen Babysitter für meinen kleinen Sohn hatte. Mit freundlichen Grüßen XYZ Konzeptionelle Mündlichkeit - Situation der Nähe - . . . . . . . . . Konzeptionelle Schriftlichkeit – Situation der Distanz – Prof. Dr. Petra Hüttis-Graff 12 Vielleicht hilft es Ihnen zu wissen, dass ein Kind dieses von der Mutter gegebene Schreiben seiner Lehrerin an einem Schulmorgen gegeben hat. – Auch wenn die Rechtschreibung korrigiert ist, so dass Sie nicht mehr nur buchstabenweise synthetisieren oder wiederholt dasselbe oder laut lesen können, wird der Text nicht sogleich verständlich. (� TEXT 2) Erst wenn Sie wissen, dass am Tag zuvor Elternabend war, dass die Mutter nicht da war und dass das Schulkind einen kleinen Bruder hat, verstehen Sie die Mitteilung als Entschuldigungsbrief. Ohne diesen Handlungskontext bleibt der Text und seine Funktion

Petra Hüttis-Graff Einführungsvortrag 11 Strobl/Österreich 9.5.2011 unverständlich, im Text wird das Gemeinte nämlich mit sprachlichen Mitteln nicht ausgedrückt. Konzeptionell entspricht der geschriebene Text der Mündlichkeit: Würde die Mutter vor Ihnen stehen und Ihnen sagen: „Ich hatte gestern kein beim Kleinen.“ könnten Sie denselben Text sogleich verstehen Das Beispiel zeigt deutlich, dass geschriebene Sprache nicht die Verschriftung gesprochener Sprache ist. Die Linguisten Koch/Oesterreicher haben die unterschiedlichen Konzeptionen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit als ein Kontinuum beschrieben. Die jeweiligen sprachlichen Mittel sind funktional für unterschiedliche Kommunikationssituationen: Die alltagssprachliche Kommunikation ist dialogisch angelegt und oft in den außersprachlichen Kontext eingebettet, die Verständigung durch diese Situation der Nähe erleichtert. Konzeptionell schriftliche Sprache eröffnet zugleich neue Möglichkeiten der Kommunikation, nämlich die Kommunikation auch in einer Situation der Distanz von Sprachproduzent und –rezipient sowie der Distanz von begleitenden Handlungen und Umgebungen. Konzeptionell schriftliche Sprache aber stellt komplexe Anforderungen – sowohl an die Sprachproduktion – das Schreiben und das Vortragen beispielsweise – als auch an die Rezeption – das Lesen und auch das Zuhören von geschriebenen Texten – wie dieser Vortrag. Damit ein aufgeschriebener Text zu einem beliebigen Zeitpunkt von einem beliebigen Leser verstanden werden kann, muss er expliziter und präziser formuliert sein als ein mündlich geäußerter Text (� 3. Text): weil man als Leser das Gemeinte selbständig, ohne weitere Hilfsmittel allein aus dem Text gedanklich konstruieren können muss, da man den Schreiber meist nicht mehr befragen kann, wenn man etwas nicht versteht. Das Briefformat erfüllt diese Funktionen. Zum Glück kannte die Lehrerin bei dem Entschuldigungsschreiben die Umstände. Mit dem Erwerb von Literalität und mit dem Lesenlernen verändert das Kind durch Erfahrungen mit geschriebener Sprache zugleich sein Denken und Sprechen.

Petra Hüttis-Graff<br />

E<strong>in</strong>führungsvortrag<br />

11 Strobl/Österreich 9.5.2011<br />

unverständlich, im Text wird das Geme<strong>in</strong>te nämlich mit sprachlichen Mitteln nicht<br />

ausgedrückt.<br />

Konzeptionell entspricht <strong>der</strong> geschriebene Text <strong>der</strong> Mündlichkeit: Würde die Mutter vor<br />

Ihnen stehen <strong>und</strong> Ihnen sagen: „Ich hatte gestern ke<strong>in</strong> beim Kle<strong>in</strong>en.“ könnten Sie denselben<br />

Text sogleich verstehen Das Beispiel zeigt deutlich, dass geschriebene Sprache nicht die<br />

Verschriftung gesprochener Sprache ist. Die L<strong>in</strong>guisten Koch/Oesterreicher haben die<br />

unterschiedlichen Konzeptionen von Mündlichkeit <strong>und</strong> Schriftlichkeit als e<strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>uum<br />

beschrieben. Die jeweiligen sprachlichen Mittel s<strong>in</strong>d funktional für unterschiedliche<br />

Kommunikationssituationen: Die alltagssprachliche Kommunikation ist dialogisch angelegt<br />

<strong>und</strong> oft <strong>in</strong> den außersprachlichen Kontext e<strong>in</strong>gebettet, die Verständigung durch diese Situation<br />

<strong>der</strong> Nähe erleichtert. Konzeptionell schriftliche Sprache eröffnet zugleich neue Möglichkeiten<br />

<strong>der</strong> Kommunikation, nämlich die Kommunikation auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation <strong>der</strong> Distanz von<br />

Sprachproduzent <strong>und</strong> –rezipient sowie <strong>der</strong> Distanz von begleitenden Handlungen <strong>und</strong><br />

Umgebungen.<br />

Konzeptionell schriftliche Sprache aber stellt komplexe Anfor<strong>der</strong>ungen – sowohl an die<br />

Sprachproduktion – das Schreiben <strong>und</strong> das Vortragen beispielsweise – als auch an die<br />

Rezeption – das Lesen <strong>und</strong> auch das Zuhören von geschriebenen Texten – wie dieser Vortrag.<br />

Damit e<strong>in</strong> aufgeschriebener Text zu e<strong>in</strong>em beliebigen Zeitpunkt von e<strong>in</strong>em beliebigen Leser<br />

verstanden werden kann, muss er expliziter <strong>und</strong> präziser formuliert se<strong>in</strong> als e<strong>in</strong> mündlich<br />

geäußerter Text (� 3. Text): weil man als Leser das Geme<strong>in</strong>te selbständig, ohne weitere<br />

Hilfsmittel alle<strong>in</strong> aus dem Text gedanklich konstruieren können muss, da man den Schreiber<br />

meist nicht mehr befragen kann, wenn man etwas nicht versteht. Das Briefformat erfüllt diese<br />

Funktionen. Zum Glück kannte die Lehrer<strong>in</strong> bei dem Entschuldigungsschreiben die<br />

Umstände.<br />

Mit dem Erwerb von Literalität <strong>und</strong> mit dem Lesenlernen verän<strong>der</strong>t das K<strong>in</strong>d durch<br />

Erfahrungen mit geschriebener Sprache zugleich se<strong>in</strong> Denken <strong>und</strong> Sprechen.

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