Leseprobe_Glüxam_Aus der Seele muß man spielen
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Dagmar <strong>Glüxam</strong><br />
„<strong>Aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Seele</strong><br />
<strong>muß</strong> <strong>man</strong> <strong>spielen</strong> …“<br />
Über die Affekttheorie in <strong>der</strong> Musik<br />
des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
und ihre <strong>Aus</strong>wirkung auf die Interpretation
„<strong>Aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Seele</strong> <strong>muß</strong> <strong>man</strong> <strong>spielen</strong> …“<br />
Über die Affekttheorie in <strong>der</strong> Musik<br />
des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
und ihre <strong>Aus</strong>wirkung<br />
auf die Interpretation
Dagmar <strong>Glüxam</strong><br />
„<strong>Aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Seele</strong> <strong>muß</strong> <strong>man</strong> <strong>spielen</strong> …“<br />
Über die Affekttheorie in <strong>der</strong> Musik<br />
des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
und ihre <strong>Aus</strong>wirkung<br />
auf die Interpretation
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:<br />
MA 7 – Kulturabteilung <strong>der</strong> Stadt Wien,<br />
Wissenschafts- und Forschungsför<strong>der</strong>ung<br />
Dagmar <strong>Glüxam</strong>: „<strong>Aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Seele</strong> <strong>muß</strong> <strong>man</strong> <strong>spielen</strong> …“ Über die Affekttheorie<br />
in <strong>der</strong> Musik des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts und ihre <strong>Aus</strong>wirkung auf die Interpretation<br />
© HOLLITZER Verlag, Wien 2020<br />
Abbildung auf dem Umschlag:<br />
„Der Lebensbaum“, © Dagmar <strong>Glüxam</strong> (2019)<br />
Foto: Christian Schörg<br />
Lektorat: Marion Linhardt<br />
Umschlaggestaltung: Daniela Seiler<br />
Satz: Nikola Stevanović<br />
Hergestellt in <strong>der</strong> EU<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
© HOLLITZER Verlag, Wien 2020<br />
www.hollitzer.at<br />
ISBN 978-3-99012-624-0
In Liebe und unendlicher Dankbarkeit<br />
meinem Vater<br />
Ctibor Valeš (1930–2019)<br />
gewidmet.
Einführung<br />
Inhalt<br />
Einführung. ....................................................... 15<br />
„<strong>Aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Seele</strong> <strong>muß</strong> <strong>man</strong> <strong>spielen</strong>,<br />
und nicht wie ein abgerichteter Vogel …“ ............................. 15<br />
Der Komponist steht im Vor<strong>der</strong>grund ............................... 16<br />
Die vermittelnde Rolle des Interpreten .............................. 18<br />
Der Notentext und seine symbolische (Affekt-)botschaft ................. 19<br />
Die zentrale Rolle <strong>der</strong> Nachahmung nach dem Prinzip <strong>der</strong> Analogie ........ 20<br />
Die etwas an<strong>der</strong>e Art des „richtigen“ Notenlesens ...................... 20<br />
Wie arbeitet <strong>man</strong> mit diesem Buch? ................................ 22<br />
Woher bekommen wir die Information? ............................. 24<br />
Musiktheoretische Werke – Musiklexika – Lehrwerke – Sekundärliteratur<br />
Teil I<br />
Historische Grundlagen <strong>der</strong> Affektdarstellung in <strong>der</strong> Musik. ................ 35<br />
Zu den Begriffen Affekt, Leidenschaft, Gemütsbewegung,<br />
Empfindung, Gefühl, Charakter. .................................... 37<br />
Affect / Affekt / Leidenschaft ..................................... 37<br />
Empfindung, Gefühl ........................................... 41<br />
Character / Charakter .......................................... 48<br />
Die Musik und ihre Wirkung: ein kurzer geschichtlicher Überblick. ........ 51<br />
Antike ...................................................... 51<br />
Redekunst und Affekt<br />
Mittelalter ................................................... 57<br />
Renaissance .................................................. 61<br />
Die Musik des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts. .............................. 67<br />
Die „wun<strong>der</strong>baren“ Wirkungen <strong>der</strong> Musik ........................... 76<br />
Wie wirkt Musik? .............................................. 80<br />
Musik als Nachahmung <strong>der</strong> „Natur“. .................................87<br />
Nachahmung nach dem Prinzip <strong>der</strong> Analogie. ..........................97<br />
Nachahmung versus <strong>Aus</strong>druck? .................................. 104<br />
„<strong>Aus</strong>druck“ nach dem Prinzip <strong>der</strong> analogen Nachahmung .............. 107<br />
Musik als Nachahmung <strong>der</strong> Sprache. ................................ 111<br />
Über die beson<strong>der</strong>s starke affekterregende<br />
Wirkung <strong>der</strong> textgebundenen Musik ............................... 114<br />
Instrumentalmusik und Affekt. .................................... 125<br />
Instrumentalmusik als Nachahmung des Gesangs ..................... 128<br />
Der Text als treibende Kraft des <strong>Aus</strong>drucks in <strong>der</strong> Instrumentalmusik ..... 133<br />
Musik und Rhetorik ............................................. 139<br />
Rhetorik und musikalischer Vortrag ............................... 144<br />
6
Einführung<br />
Musikalische Darstellung <strong>der</strong> Affekte nach dem Prinzip <strong>der</strong> Analogie. ..... 153<br />
Haupt- und Nebenaffekte ....................................... 155<br />
Übersicht <strong>der</strong> Affekte. ............................................ 161<br />
Liebe – Verlangen – Zärtlichkeit – Die Empfindungen des Anmutigen und Lieblichen – Das<br />
„Niedliche“ – Ruhe, Zufriedenheit, das „Angenehme“ – Unschuld – Wollust – Schmerz, Trauer,<br />
Melancholie – Missvergnügen – Verzweiflung – Freude – Fröhlichkeit – Lachen / Weinen –<br />
Furcht – Zweifel, Wankelmut – Mitleid, Erbarmen – Trost – Hoffnung – Stolz und Hochmut –<br />
Demut, Geduld – Ungeduld – Mut – Feigheit – Zorn, Rache, Gewalt – Wut und Raserei –<br />
Hass, Kaltsinn – Eifersucht – Neid – Reue – Das Pathetische, Erhabene, Prächtige – Das<br />
„Große“ – „Ehrbegierde“, „Liebe zum Ruhm“ (Ehrliebe, Ehrgeiz) – Schamhaftigkeit – Sorglosigkeit<br />
– Verspottung und Ironie<br />
Teil II<br />
Das Erkennen von Affekten. ......................................... 195<br />
Wie lassen sich Affekte erkennen?. .................................. 197<br />
Kurzer historischer Überblick über <strong>Aus</strong>sagen zur Affekterkennung ........ 198<br />
Stil. ..........................................................209<br />
Allgemeines ................................................. 209<br />
Drei wichtige Kategorien: <strong>der</strong> Kirchen-, <strong>der</strong> Theater- und <strong>der</strong> Kammerstil ... 213<br />
Kirchenstil .................................................. 218<br />
Theaterstil .................................................. 224<br />
Kammerstil ................................................. 226<br />
Die <strong>Aus</strong>wirkung des Stils auf die Interpretation ...................... 230<br />
Nationalstil ................................................. 232<br />
Hohe, mittlere, niedrige Schreibart ................................ 235<br />
Die <strong>Aus</strong>wirkung <strong>der</strong> hohen, <strong>der</strong> mittleren und<br />
<strong>der</strong> niedrigen Schreibart auf Affekterkennung und Vortrag .............. 239<br />
Gattungen, Formen. ............................................. 241<br />
Allgemeines ................................................. 241<br />
Vokalinstrumentale Musik ...................................... 241<br />
Oper – Pastorale – Oratorium – Kantate – Arie – (Arien-)Ritornell – Arioso – Rezitativ –<br />
Chor – Lied – Choral<br />
Instrumentalmusik ............................................. 263<br />
Ouverture – Sinfonia, Sinfonie, Symphonie – Intrada – Concerto grosso / Concerto / Konzert –<br />
Divertimento – Marche – Rondeau – Saltarella – Serenata, Serenada – Solo – Sonata, Sonate –<br />
Fantasie – Fuga – Lamento, Lamentatione – Ro<strong>man</strong>ze – Orgelvor- und -zwischenspiele<br />
Instrumentalmusik – Tanzsätze .................................. 283<br />
Übersicht <strong>der</strong> Tänze (alphabetisch) ............................... 284<br />
Alle<strong>man</strong>da, Alle<strong>man</strong>de – Bourrée – Bransle / Branle – Canarie – Chaconne, Ciacona – Courante –<br />
Entrée – Folie d’Espagne – Forlane – Furie – Galliarda, Galliarde – Gavotte – Gigue – Ländler –<br />
Loure – Menuett – Musette – Passacaille, Passacaglia – Passamezzo – Passepied – Pastorale –<br />
Pavane / Paduana – Polonaise – Rigaudon – Sarabande – Siciliano – Tambourin – Villanella<br />
7
Einführung<br />
Tonart ........................................................309<br />
Allgemeines ................................................. 309<br />
Kirchentonarten .............................................. 310<br />
Charakteristiken <strong>der</strong> einzelnen Kirchentonarten ...................... 312<br />
Dur-Moll-Tonarten ........................................... 323<br />
Drei Aspekte <strong>der</strong> Tonartencharakteristik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323<br />
Charakteristiken <strong>der</strong> einzelnen Dur- und Moll-Tonarten ............... 327<br />
C-Dur – G-Dur – D-Dur – A-Dur – E-Dur – H-Dur – Gis-Dur – a-Moll – e-Moll – h-Moll –<br />
fis-Moll – as-Moll / gis-Moll – cis-Moll – F-Dur – B-Dur – Es-Dur – As-Dur – Des-Dur /<br />
Cis-Dur – Ges-Dur / Fis-Dur – d-Moll – g-Moll – c-Moll – f-Moll – b-Moll – es-Moll<br />
Das Prinzip <strong>der</strong> „Reinheit“ als Hilfe zur Bestimmung<br />
des (Affekt-)Charakters einer Tonart ............................... 344<br />
Melodie .......................................................347<br />
Allgemeines ................................................. 347<br />
Melodie als Nachahmung: das Analogieprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348<br />
Tonlage .................................................... 348<br />
Höhe <strong>der</strong> Stimmung<br />
Intervalle ................................................... 355<br />
Intervallschritt, Intervallsprung / Gradus, saltus ...................... 358<br />
Terminologischer Exkurs<br />
Intervallsymbolik ............................................. 369<br />
Übersicht <strong>der</strong> einzelnen Intervalle ................................ 374<br />
Kleine Sekund – Die Position <strong>der</strong> kleinen Sekund als bestimmend für den affektiven Charakter<br />
verschiedener Tonfolgen – Chromatische Fortschreitungen – Große Sekund – Vermin<strong>der</strong>te<br />
Terz, kleine Terz – Große Terz – Quarte – Übermäßige Quarte – Quinte – Kleine Sexte –<br />
Große Sexte – Septime – Oktav<br />
Melodierichtung ............................................... 389<br />
Anabasis – catabasis – Circulatio<br />
Melodieumfang ............................................... 395<br />
Hyperbole – hypobole<br />
Regelmäßigkeit / Unregelmäßigkeit des melodischen Verlaufs ............. 398<br />
Rhythmus .....................................................403<br />
Allgemeines ................................................. 403<br />
Der symbolische Wert <strong>der</strong> Notenwerte ............................. 404<br />
Verbindung von Melodie und Rhythmus ........................... 407<br />
Verschiedene Formen von Tonrepetitionen .......................... 407<br />
Repetierte Sechzehntelnoten – genere (stile) concitato – Repetierte Achtelnoten<br />
Rhythmische Bewegung in Kombination mit melodischer Bewegung ...... 415<br />
Sekundwie<strong>der</strong>holungen, Triller – Die sog. „wesentlichen“ Manieren – Verschiedene Intervalle<br />
in Verbindung mit kurzen Notenwerten als <strong>Aus</strong>druck von heftigen o<strong>der</strong> flüchtigen Affekten –<br />
Exclamatio – Tirata – Passagien – Fuga – Gebrochene Akkorde – Passagen bzw. gebrochene<br />
Akkorde mit Bindebögen – Akkordzerlegungen<br />
8
Einführung<br />
Punktierter Rhythmus ......................................... 438<br />
Punktierte Rhythmen in Kombination mit Bindebögen – Der unterschiedliche Vortrag <strong>der</strong><br />
punktierten Rhythmen – Der sog. „lombardische“ Rhythmus und sein Vortrag<br />
Versfüße .................................................... 447<br />
Die Charakteristik <strong>der</strong> einzelnen Versfüße . ......................... 448<br />
Zweisilbige Versfüße – Spondäus – Pyrrhichius – Jambus –Trochäus<br />
Dreisilbige Versfüße – Anapäst – Daktylus – Tribrachys – Molossus – Bacchius – Amphimacer –<br />
Amphibrachys – Palymbacchius<br />
Viersilbige Versfüße – Pæon – Epitritus – Jonicus, a majori; Jonicus, a minori<br />
Pausen ..................................................... 460<br />
Suspiratio, stenasmos – Tmesis – Pausa generalis, aposiopesis – Fermata – Dubitatio – Abruptio –<br />
Ellipsis<br />
Rhythmische Regelmäßigkeit – Unregelmäßigkeit .................... 470<br />
Zum Vortrag <strong>der</strong> unterschiedlichen Notenwerte ...................... 473<br />
Tempo, Bewegung. .............................................. 475<br />
Allgemeines ................................................. 475<br />
Tempo (Bewegung) und Affekt ................................... 476<br />
Tempo (Bewegung) und das Prinzip <strong>der</strong> analogen Nachahmung .......... 477<br />
Kompositionen ohne Tempoangaben .............................. 480<br />
Tempo giusto<br />
Kompositionen mit Tempo- / Charakterangaben ..................... 483<br />
Tempoangaben als Verdeutlichung o<strong>der</strong> Abweichung von <strong>der</strong> „Norm“ – Tempoangaben<br />
als Charakterangaben – Adagio, presto und tardo als Tempoangaben – Allegro, vivace als<br />
Charakterangaben – Verwandlung <strong>der</strong> Charakterangaben in Tempoangaben<br />
Zwei grundlegende Bewegungstypen – adagio und allegro ............... 496<br />
Adagio – Allegro<br />
Plötzlicher Tempowechsel als <strong>Aus</strong>druck von<br />
Gefühlsschwankungen o<strong>der</strong> Eifersucht ............................. 502<br />
Die beschränkte <strong>Aus</strong>sagekraft von Tempoangaben .................... 502<br />
Das richtige „Gefühl“ als unverzichtbare<br />
Voraussetzung für die richtige Tempowahl .......................... 503<br />
J. G. Port<strong>man</strong>n und seine Anleitung zum Empfinden verschiedener Affekte<br />
Die Rolle <strong>der</strong> „Deutlichkeit“ und „Verständlichkeit“<br />
bei <strong>der</strong> Tempobestimmung ...................................... 507<br />
Stimmen gegen zu schnelles Tempo bzw. Tempoextreme – Extremes Tempo als <strong>Aus</strong>druck von<br />
extremen Gefühlen<br />
Agogik, Tempo rubato ......................................... 512<br />
Affekte, die nach Temposchwankungen verlangen – Konkrete Hinweise zur Anwendung<br />
affektbedingter Temposchwankungen – Ad 1) Charakter des musikalischen Satzes, Stil, Gattung –<br />
Ad 2) Melodische und rhythmische Kontraste – Ad 3) Verzierungen – Ad 4) Wie<strong>der</strong>holungen –<br />
Ad 5) Crescendo – decrescendo – D. G. Türk über das „Eilen“ und das „Zögern“ – Tempo rubato<br />
9
Takt. ......................................................... 529<br />
Allgemeines ................................................. 529<br />
Der Takt als wichtiger Hinweis auf den Affekt ....................... 530<br />
Ad 1) Der gerade / ungerade Takt ................................. 532<br />
Ad 2) Die einzelnen Taktarten als Hinweise auf die Art <strong>der</strong> Bewegung ..... 534<br />
Ad 3) Takt und vorherrschende Notenwerte <strong>der</strong> Komposition ............ 542<br />
Modifikation <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Taktart durch Tempoangabe ........... 545<br />
Übersicht <strong>der</strong> Taktarten ........................................ 546<br />
Der gerade Takt – 2/1-Takt – 2-Takt, -Takt, -Takt, 2/2-Takt – 4/2-Takt, -Takt, 4-Takt –<br />
2/4-Takt, -Takt - -Takt, 4/4-Takt – Alla breve-Takt () – 8/4-Takt – 2/8-Takt – 4/8-Takt –<br />
4/16-Takt – 8/8-Takt – 8/16-Takt<br />
6/1-Takt – 6/2-Takt – 6/4-Takt – 6/8-Takt – 6/16-Takt<br />
12/1-Takt – 12/2-Takt – 12/4-Takt – 12/8-Takt – 12/16-Takt – 18/16-Takt – 24/16-Takt<br />
Der ungerade Takt – 3-Takt – 3/1-Takt – 3/2-Takt – 3/4-Takt – 3/8-Takt – 3/16-Takt<br />
9/1-Takt – 9/2-Takt -9/4-Takt – 9/8-Takt – 9/16-Takt<br />
Taktordnung. Die Bedeutung <strong>der</strong> Synkope .......................... 586<br />
Harmonie. .....................................................589<br />
Allgemeines ................................................. 589<br />
Die beson<strong>der</strong>s affekterregende Kraft von Dissonanzen ................. 591<br />
Pathopoiea – Parrhesia, relatio non harmonica – Catachresis, fauxbordon – Verschiedene<br />
Dissonanzen als Hinweis auf den Affekt <strong>der</strong> Komposition – Häufigkeit von Dissonanzen als<br />
Hinweis auf den Affekt<br />
Modulation ................................................. 605<br />
Modulation und Affekt – Dubitatio – Modulation im Rezitativ<br />
Son<strong>der</strong>fall Unisono ............................................ 611<br />
Dynamik. ..................................................... 613<br />
Allgemeines ................................................. 613<br />
Dynamik und Affekt .......................................... 614<br />
Dynamische Nuancen als Folge nuancierter Affektdarstellung<br />
Die Dynamik und das Prinzip <strong>der</strong> analogen Nachahmung .............. 620<br />
Con sordino<br />
Kompositionen ohne dynamische Angaben .......................... 625<br />
„Komponierte Dynamik“ – Mehrstimmige Klänge als Form <strong>der</strong> Akzentuierung – Der melodische<br />
Verlauf als Hinweis auf dynamische Schattierungen – Anabasis – catabasis – Circulatio –<br />
Saltus, saltus duriusculus – Exclamatio – Interrogatio – Arpeggien<br />
Dynamische Extreme als <strong>Aus</strong>druck extremer Empfindungen ............. 640<br />
Nachdruck als dynamische Kategorie .............................. 642<br />
Akzente – Vortragsangaben und Nachdruck<br />
Wie lassen sich wichtige Töne (Figuren) erkennen? .................... 649<br />
a) Harmonische Hervorhebung ................................... 650<br />
Harmoniefremde Töne – Verzierungen – Modulationen<br />
b) Rhythmische Hervorhebung ................................... 657
Lange Töne innerhalb schneller Passagen – Kurze Töne innerhalb langsamer Passagen – Synkopen,<br />
Ligaturen<br />
c) Melodische Hervorhebung .................................... 661<br />
d) „Verweilen“ als weitere Verstärkung <strong>der</strong> dynamischen Akzentuierung .... 663<br />
Suspensio<br />
e) Wie<strong>der</strong>holungsfiguren ........................................ 664<br />
Anaphora, repetitio – Wie<strong>der</strong>holung als Echo – Epizeuxis – Anadiplosis – Paronomasia – Climax<br />
(griech.) bzw. gradatio (lat.) – Hyperbaton – Epistrophe<br />
f) Antithesis, antitheton ........................................ 673<br />
g) Noema .................................................. 675<br />
Dynamische Angaben als Hilfe zur Affekterkennung .................. 675<br />
Aufführungsort, Anlass und Dynamik ............................. 678<br />
Artikulation. ................................................... 679<br />
Allgemeines ................................................. 679<br />
Artikulation und Affekt ........................................ 680<br />
Sprache als Vorbild – Eine „vernünftige“ – dem Affekt entsprechende – Wahl <strong>der</strong> Artikulation<br />
Die Artikulation und das Prinzip <strong>der</strong> analogen Nachahmung ............ 686<br />
Die An- und <strong>Aus</strong>sprache <strong>der</strong> Töne ................................ 686<br />
Tongebung, Tongestaltung ...................................... 689<br />
Der Vortrag <strong>der</strong> Auftakte – Der „leichte“ und <strong>der</strong> „schwere“ Vortrag<br />
Kompositionen o<strong>der</strong> Abschnitte ohne Artikulationszeichen .............. 716<br />
Die Melodie als Affektträger: die Artikulation<br />
von „Schritten“ und „Sprüngen“ .................................. 716<br />
Drei Möglichkeiten <strong>der</strong> Artikulation: gezogen, geschleift, gestoßen. . . . . . . . 725<br />
Schritte und Sprünge und musikalisch-rhetorische Figuren bzw. Verzierungen – Sprünge als<br />
Hinweise auf eine innere Glie<strong>der</strong>ung – Schritte und Sprünge als Hinweise auf Affektwechsel<br />
Das Binden und Trennen <strong>der</strong> Töne – Strich, Punkt, Bindebogen ......... 745<br />
Artikulation und Verzierungen<br />
Der Bindebogen .............................................. 750<br />
Die mil<strong>der</strong>nde Wirkung des Bindebogens – Seufzerfiguren – Intensivierte Seufzerfiguren –<br />
Viererbindungen als Nachahmung von Meereswellen – Bindebogen über dem Taktstrich – Unregelmäßige<br />
Länge <strong>der</strong> Bindebögen / unregelmäßige Artikulation<br />
Das Trennen <strong>der</strong> Töne ......................................... 760<br />
Strich und Punkt – Unterschiede zwischen den Instrumenten – Unterschiedliche Arten <strong>der</strong><br />
getrennten / gestoßenen Artikulation und <strong>der</strong> Affekt<br />
Scharfe Stimmen gegen den willkürlichen Umgang mit <strong>der</strong> Artikulation ... 771<br />
Ergänzungen von Artikulationsangaben – (Unangebrachtes) Ergänzen von Bindebögen –<br />
Punktierte Rhythmen – (Unangebrachtes) Ergänzen von Punkten und Strichen bzw. „hüpfende“,<br />
„springende“ Spielweise<br />
Verzierungen. .................................................. 783<br />
Allgemeines ................................................. 783<br />
Verzierung und Affekt ......................................... 784
Verzierungen und das Prinzip <strong>der</strong> analogen Nachahmung ............... 793<br />
Anmerkungen zum Vibrato, Triller und mordent – Vibrato und Affekt<br />
Kritische Stimmen gegen zu viele Verzierungen ...................... 824<br />
Verzierungen im Adagio<br />
Wo sind keine Verzierungen angebracht? ........................... 830<br />
(Keine!) Verzierungen im Rezitativ<br />
Kadenzen und Fermaten ........................................ 840<br />
Besetzung, Instrumentation. ......................................847<br />
Allgemeines ................................................. 847<br />
Die Besetzungsgröße und das Prinzip <strong>der</strong> analogen Nachahmung ......... 849<br />
Bassetto-Technik<br />
Die Instrumentenwahl und das Prinzip <strong>der</strong> analogen Nachahmung ....... 853<br />
Saiteninstrumente ............................................ 856<br />
Laute – Viola da gamba – Viola d’amore, Baryton – Violine – Viola da braccio – Violoncello –<br />
Violone / Kontrabass<br />
Blasinstrumente .............................................. 866<br />
Flöte, Traversflöte – Flageolet, Pfeifen, Pfiffari – Oboe – Chalumeau – Klarinette – Zink –<br />
Fagott – Horn – Trompete – Pauken, Trommel – Posaunen<br />
Tasteninstrumente ............................................ 879<br />
Cembalo – Orgel – Orgelregister<br />
Über den sog. „guten Vortrag“ ..................................... 885<br />
Die Wichtigkeit des „Sich-Hineinversetzens“ in den Affekt .............. 894<br />
Stimmen gegen Virtuosität als Selbstzweck .......................... 900<br />
Zusammenfassung. ..............................................907<br />
Die Feststellung des Affekts als erster Schritt <strong>der</strong> Interpretation .......... 908<br />
Analyse des Notentextes nach den Prinzipien <strong>der</strong> analogen Nachahmung ... 909<br />
Vortrag .................................................... 910<br />
Bibliographie ..................................................... 915<br />
<strong>Aus</strong>gaben ................................................... 915<br />
Quellen .................................................... 917<br />
Sekundärliteratur ............................................. 928<br />
Personenregister ................................................... 943<br />
Dank ........................................................... 949<br />
Biographie <strong>der</strong> Autorin .............................................. 951
„Obgleich <strong>der</strong> Weg zur Rührung des Herzens lang, beschwerlich,<br />
und wenigen bekannt ist;<br />
so sind doch nichts desto weniger die Schwierigkeiten,<br />
welche sich uns auf demselben entgegen stellen,<br />
für denjenigen nicht unüberwindlich,<br />
<strong>der</strong> nicht müde wird zu studieren.“<br />
P. Fr. Tosi / J. Fr. Agricola,<br />
Anleitung zur Singkunst (Berlin 1757)
Einführung<br />
Einführung<br />
„<strong>Aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Seele</strong> <strong>muß</strong> <strong>man</strong> <strong>spielen</strong>,<br />
und nicht wie ein abgerichteter Vogel …“,<br />
schreibt <strong>der</strong> deutsche Komponist und Musikpädagoge Carl Philipp E<strong>man</strong>uel Bach<br />
(1714–1788) anno 1753 im Kapitel Vom Vortrage in seiner Klavierschule. 1 Warum habe<br />
ich gerade diesen Satz als Titel dieses Buchs gewählt? Schlicht deshalb, weil diese <strong>Aus</strong>sage<br />
den wichtigsten Aspekt <strong>der</strong> Interpretation <strong>der</strong> Musik des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
trifft: Nicht spiel- o<strong>der</strong> gesangstechnische Virtuosität, son<strong>der</strong>n die musikalische Darstellung<br />
menschlicher Leidenschaften und die Erregung dieser Leidenschaften in den<br />
Zuhörern bildete die Basis und zugleich das wichtigste Erfor<strong>der</strong>nis <strong>der</strong> musikalischen<br />
Komposition und Interpretation jener Zeit. Es ging also nicht darum, Menschen mit<br />
Musik durch gesangs- o<strong>der</strong> spieltechnisches Können zu beeindrucken, son<strong>der</strong>n sie emotional<br />
zu berühren.<br />
Dahinter verbirgt sich die seit dem klassischen Altertum tradierte Überzeugung, nach<br />
<strong>der</strong> Musik auf Menschen eine geradezu magische – heilende, erzieherische wie ethische –<br />
Wirkung hat. In Anlehnung an diese antiken Theorien wurde <strong>der</strong> Musik im Laufe <strong>der</strong><br />
Jahrhun<strong>der</strong>te die Fähigkeit zugesprochen, menschliche Leidenschaften – Affekte – darstellen<br />
und dadurch gezielt auf Menschen einwirken zu können. Seit <strong>der</strong> Spätrenaissance<br />
und insbeson<strong>der</strong>e im 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>t entwickelte sich diese Auffassung zunächst<br />
in Italien und danach in ganz Europa zur treibenden Kraft <strong>der</strong> barocken Kompositionslehre,<br />
kurzum zum „Richtpunkt musikalischen Denkens“. 2 Beson<strong>der</strong>s nachdrücklich wurde<br />
die alles beherrschende Rolle des Affektes von Johann Mattheson (1681–1764) formuliert,<br />
einem <strong>der</strong> wichtigsten Musiktheoretiker des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts: „Summa, alles<br />
was ohne löbliche Affecten geschiehet, heißt nichts, thut nichts, gilt nichts: es sey wo, wie,<br />
und wenn es wolle.“ 3 In <strong>der</strong> nicht min<strong>der</strong> einflussreichen Allgemeinen Theorie <strong>der</strong> Schönen<br />
Künste (1771) von Johann Georg Sulzer (1720–1779) wird wie<strong>der</strong>um festgehalten, dass<br />
<strong>der</strong> Komponist „nie“ [!] vergessen dürfe, dass ein Tonstück, in dem sich nicht „irgend<br />
eine Leidenschaft, o<strong>der</strong> Empfindung“ in einer „verständlichen“ Sprache äußere, nichts als<br />
ein „bloßes Geräusch“ [!] sei. 4<br />
Wie diese zwei Zitate bereits erahnen lassen, handelt es sich bei <strong>der</strong> Darstellung bzw.<br />
dem <strong>Aus</strong>druck von Affekten / Leidenschaften / Empfindungen o<strong>der</strong> kurz gesagt bei <strong>der</strong><br />
„Affekttheorie“ nicht um eine musikästhetische Theorie neben vielen an<strong>der</strong>en, son<strong>der</strong>n<br />
um das allumfassende Bestreben <strong>der</strong> Musik des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts, menschliche<br />
Affekte in all ihren Nuancen kompositorisch und interpretatorisch adäquat darzustellen,<br />
eine Haltung, die „kompositorische Praxis und Fragen <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gabe und Wirkung von<br />
1 C. Ph. E. Bach, Versuch, I. Teil (1753), S. 119.<br />
2 R. Dam<strong>man</strong>n, Der Musikbegriff, S. 217.<br />
3 J. Mattheson, Der Vollkommene Capellmeister (1739), S. 146.<br />
4 J. G. Sulzer, Allgemeine Theorie <strong>der</strong> Schönen Künste (1771), Erster Theil, Art. „Instrumentalmusik“, S. 560.<br />
Vgl. auch die spätere <strong>Aus</strong>gabe Allgemeine Theorie <strong>der</strong> Schönen Künste (1792), Art. „Instrumentalmusik“, Bd. II,<br />
S. 678.<br />
15
Einführung<br />
Musik umspannte und bestimmend durchdrang“. 5 Doch es ist eines <strong>der</strong> vielen Paradoxa <strong>der</strong><br />
Musikgeschichte, dass das Verständnis für diesen früher so prägenden Aspekt <strong>der</strong> musikalischen<br />
Praxis im Laufe <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>te fast vollständig verloren ging. Dies bedeutet<br />
zwar keineswegs, dass <strong>der</strong> „Affekt“ nicht in heutigen musikhistorischen Abhandlungen<br />
vertreten wäre, ganz im Gegenteil. Das Problem liegt vielmehr darin, dass musikhistorische<br />
Beiträge in <strong>der</strong> Regel sozusagen von Musikforschern für Musikforscher verfasst<br />
wurden und werden. Dementsprechend liegt <strong>der</strong> Schwerpunkt dieser Arbeiten vor allem<br />
auf philosophischen o<strong>der</strong> musikästhetischen Betrachtungen, während die interpretatorischen<br />
Aspekte kaum o<strong>der</strong> zumindest nicht in ihrer Gesamtheit beachtet wurden. Die<br />
so wichtige „Brücke“ von <strong>der</strong> Komposition zur Interpretation, die die Brauchbarkeit und<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Affektdarstellung für die Interpretation verdeutlichen würde, fehlt. Das<br />
vorliegende Buch will diese Lücke schließen. Mit Hilfe zahlreicher musikhistorischer<br />
Lehrwerke und Musiklexika wird hier gezeigt, wie die vorherrschende Stellung des Affekts<br />
die künstlerische Wie<strong>der</strong>gabe <strong>der</strong> Werke direkt beeinflusste, denn so wie die Komposition<br />
als musikalisches Abbild menschlicher Emotionen verstanden wurde, war <strong>der</strong><br />
Interpret wie<strong>der</strong>um sozusagen „verpflichtet“, diese im Notentext enthaltenen Affekte zu<br />
erkennen und sie verständlich an den Zuhörer weiter zu vermitteln.<br />
Der Komponist steht im Vor<strong>der</strong>grund<br />
Hier steht <strong>der</strong> heutige Musiker vor einer großen Herausfor<strong>der</strong>ung, wobei das Hauptproblem<br />
<strong>der</strong> aktuellen Aufführungspraxis die zeittypische Diskrepanz zwischen dem kaum<br />
bezeichneten Notentext (<strong>man</strong>che Kompositionen des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts lassen<br />
Tempo-, Dynamik- o<strong>der</strong> Artikulationsangaben sogar zur Gänze missen) und dem allgegenwärtigen<br />
Anspruch auf differenzierten <strong>Aus</strong>druck und leidenschaftliche Aufführung<br />
darstellt. Bedeutet dies, dass <strong>der</strong> Interpret die Komposition zwar ausdrucksstark, aber<br />
letztendlich doch nach seinem freien Willen wie<strong>der</strong>geben darf?<br />
Dieser Annahme wi<strong>der</strong>spricht die immer wie<strong>der</strong> aufs Neue formulierte For<strong>der</strong>ung nach<br />
einer genauen musikalischen Nachahmung <strong>der</strong> Affekte: Ähnlich wie <strong>der</strong> Komponist<br />
einen bestimmten Affekt o<strong>der</strong> bestimmte Affekte so naturgetreu wie möglich darstellen<br />
sollte, sollte <strong>der</strong> Interpret ebendiese[n] Affekt[e] zum <strong>Aus</strong>druck bringen. Obwohl es<br />
also auf den ersten Blick so scheint, dass <strong>der</strong> Notentext ohne Tempo-, Dynamik- und<br />
Artikulationsangaben dem Interpreten eine ganze Vielfalt an interpretatorischen Möglichkeiten<br />
eröffnet und dass <strong>der</strong> Vortrag in puncto Tempo, Dynamik, Artikulation o<strong>der</strong><br />
Ornamentik seiner freien Entscheidung (um nicht zu sagen Willkür) unterliegt, zeigen<br />
zahlreiche zeitgenössische <strong>Aus</strong>sagen, dass das Gegenteil zutrifft: Nicht <strong>der</strong> Interpret,<br />
son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Komponist und seine „Absicht“ o<strong>der</strong> die „Wahrheit <strong>der</strong> Komposition“, also<br />
letztendlich die in <strong>der</strong> Komposition festgehaltenen Affekte waren entscheidend und<br />
müssen auch heute im Vor<strong>der</strong>grund stehen.<br />
Wurde ein Musikstück hingegen nicht gewissenhaft auf seinen Affektgehalt untersucht<br />
o<strong>der</strong> aber wurden die in <strong>der</strong> Komposition abgebildeten Affekte aufgrund fehlen<strong>der</strong><br />
Kenntnisse o<strong>der</strong> emotionalen Unvermögens falsch dargestellt, führte dies automatisch<br />
zu einem „schlechten“ Vortrag. Da dieser „schlechte“ Vortrag eine Komposition bis zur<br />
Unkenntlichkeit verän<strong>der</strong>n konnte, handelte es sich hier in den Augen <strong>der</strong> Musikgelehr-<br />
5 U. Thieme, Die Affektenlehre, S. 3.<br />
16
Einführung<br />
ten jener Zeit um eine künstlerische Todsünde. Nach Johann Joachim Quantz ist <strong>der</strong><br />
Vortrag nicht nur dann „schlecht“, wenn <strong>der</strong> <strong>Aus</strong>führende falsch o<strong>der</strong> undeutlich spiele,<br />
son<strong>der</strong>n auch dann, wenn er den „auszudrückenden Leidenschaften zuwi<strong>der</strong> handelt; und<br />
überhaupt wenn <strong>man</strong> alles ohne Empfindung, ohne Affect, und ohne selbst gerühret zu werden,<br />
vorträgt …“. 6<br />
Die For<strong>der</strong>ung nach adäquater Affektdarstellung im Sinne des Komponisten findet<br />
sich schon bei dem italienischen Musiktheoretiker und Komponisten Gioseffo Zarlino<br />
(1517–1590), 7 später verlangt etwa <strong>der</strong> deutsch-dänische Komponist und Musikschriftsteller<br />
Johann Adolph Scheibe (1708–1776), dass alle ausführenden Musiker („praktische<br />
Musikanten“) darauf „sehen“ sollten, dem „Sinne des Componisten gemäß“ [!] zu singen<br />
und zu <strong>spielen</strong>. 8 In <strong>der</strong> Musikzeitschrift Der Critische Musicus an <strong>der</strong> Spree des deutschen<br />
Musiktheoretikers Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795) sind Erläuterungen über<br />
den Vortrag durch den Leitsatz „Die Musick enthält die Sprache <strong>der</strong> Empfindungen und<br />
<strong>der</strong> Leidenschaften“ geprägt. 9 Da Kompositionen nur selten von denjenigen gesetzt seien,<br />
die sie aufführten, sei es <strong>der</strong> Vortrag, durch den sich die ausführenden Tonkünstler<br />
profilieren könnten. Deshalb sei es sehr wichtig, dass die Interpreten das, was sie vortragen,<br />
auch „selbst fühlen, und verstehen [!].“ 10 Dadurch, dass Marpurg später den willkürlichen<br />
Umgang mit <strong>der</strong> Komposition kritisiert, wird offenkundig, dass mit diesem<br />
„Verstehen“ das richtige „Entziffern“ <strong>der</strong> Botschaft des Komponisten gemeint ist. Musik<br />
eines an<strong>der</strong>en zu „verfälschen, hinzuzuthun, wegzulassen“ wird von ihm als eine „Art von<br />
Untreu“ bezeichnet, die ein „gelehrtes“ Ohr nicht verzeihen könne [!]. 11 Während eine<br />
solche Willkürlichkeit dem „wahren“ Geschmack wi<strong>der</strong>spreche, erfor<strong>der</strong>e <strong>der</strong> „wahre“<br />
Geschmack, dass <strong>der</strong> <strong>Aus</strong>führende die Absicht des Komponisten respektiere („<strong>der</strong> Absicht<br />
des Setzers auf dem Fusse nachfolge“) und dass er durch seinen Vortrag „den Sinn des<br />
Stückes entwerfe.“ 12 Marpurgs Kritik richtet sich insbeson<strong>der</strong>e gegen Instrumentalisten:<br />
„Diese sündigen insgemein durch die übertrieb[e]ne Höhe des Tones, durch die übertrieb[e]ne<br />
Geschwindigkeit <strong>der</strong> Bewegung und weil sie den eigentlichen Character eines ieden Instruments<br />
unnatürlich machen.“ 13 Nicht min<strong>der</strong> bezeichnend ist in diesem Zusammenhang<br />
die <strong>Aus</strong>sage des französischen Violinisten, Komponisten und Musiktheoretikers Michel<br />
Paul Guy de Chabanon (1730–1792), <strong>der</strong> auf die Frage, ob ein und dasselbe Musikstück<br />
6 J. J. Quantz, Versuch (1752), S. 110.<br />
7 G. Zarlino, Le Istitutioni Harmoniche (1558), Terza Parte, Cap. 45, S. 204 („Debbeno adunque li Cantori<br />
avertire, di cantar correttamente quelle cose, che sono scritte secondo la mente del Compositore …“.).<br />
8 J. A. Scheibe, Critischer Musikus (1745), 12. Stück, S. 120.<br />
9 Fr. W. Marpurg, Der Critische Musicus an <strong>der</strong> Spree (1749), 26. Stück, S. 209.<br />
10 Ebd., S. 207.<br />
11 Ebd., 41. Stück, S. 332.<br />
12 Ebd.<br />
13 Ebd. Nicht min<strong>der</strong> nachdrücklich verlangt Ch. Avison nach einem Vortrag, <strong>der</strong> genau <strong>der</strong> Intention des<br />
Komponisten entspricht und die in <strong>der</strong> Komposition abgebildeten Affekte zum <strong>Aus</strong>druck bringt: „For, as<br />
Musical Expression in the Composer, is succeeding in the Attempt to express some particular Passion; so in the<br />
Performer, it is to do a Composition Justice, by playing it in a Taste and Stile so exactly corresponding with the<br />
Intention of the Composer, as to preserve and illustrate all the Beauties of his Work.“ / „Denn so, wie sich <strong>der</strong><br />
musikalische <strong>Aus</strong>druck bey dem Komponisten findet, wenn er irgend eine Leidenschaft … auf eine glückliche<br />
Art auszudrücken weiß; so besteht er bey dem <strong>Aus</strong>führer darinn, daß er einer Komposition Gerechtigkeit wie<strong>der</strong>fahren<br />
läßt, und sie in einem Geschmacke, und mit einem Vortrage spielt, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Absicht des Komponisten<br />
so genau übereinstimmt, daß alle Schönheiten seines Werks dadurch beybehalten und ins Licht gesetzt werden.“<br />
Ch. Avison, An Essay On Musical Expression (1753), S. 107–108; deutsche Übersetzung s. Karl Avison’s Versuch<br />
über den musikalischen <strong>Aus</strong>druck (1775), S. 75–76.<br />
17
Einführung<br />
verschiedene Arten des Vortrags vertrage, kompromisslos antwortet: „Unter allen ist immer<br />
eine die schicklichste; diese Art sollte <strong>man</strong> auch für die einzige halten, weil sie die wahrste<br />
ist.“ 14 Überhaupt sei es ein Zeichen <strong>man</strong>gelnden Talents, wenn <strong>der</strong> Interpret nicht fähig<br />
sei, den „Geist“ eines Komponisten einzusehen. 15 Derjenige Interpret, <strong>der</strong> am wenigsten<br />
den Geist <strong>der</strong> Komposition erfasse („<strong>der</strong> sich am wenigsten darein zu versetzen wüßte“),<br />
verfügt nach Chabanon über das geringste („eingeschränkteste“) Talent. 16<br />
Die vermittelnde Rolle des Interpreten<br />
Daraus geht klar hervor, dass die Affektdarstellung im Sinne <strong>der</strong> barocken und klassischen<br />
Musikästhetik für den Interpreten keineswegs bedeutet, irgendwelche beliebigen<br />
Affekte nach eigenem Gutdünken darzustellen, son<strong>der</strong>n dass seine Aufgabe darin besteht,<br />
bestimmte, im Notentext verschlüsselte Affekte zu erkennen und wie<strong>der</strong>zugeben.<br />
In Übereinstimmung damit ist es die vermittelnde Rolle des Interpreten, die in den<br />
zeitgenössischen Gesangs- und Instrumentalschulen regelmäßig hervorgehoben wurde.<br />
„Worinn aber besteht <strong>der</strong> gute Vortrag?“, fragt C. Ph. E. Bach und antwortet sogleich: „in<br />
nichts an<strong>der</strong>m als <strong>der</strong> Fertigkeit, musikalische Gedancken nach ihrem wahren [!] Inhalte<br />
und Affect [!] singend o<strong>der</strong> <strong>spielen</strong>d dem Gehöre empfindlich zu machen.“ 17<br />
Der Violinpädagoge Leopold Mozart (1719–1787) verlangt, dass <strong>der</strong> Musiker sich<br />
bei <strong>der</strong> Aufführung „alle Mühe“ geben müsse, den vom Komponisten dargestellten Affekt<br />
zu „finden“ und „richtig“ vorzutragen. Weil sich die Affekte in <strong>der</strong> Komposition oft<br />
verän<strong>der</strong>ten („da oft das Traurige mit dem Fröhlichen abwechselt“), müsse <strong>der</strong> Interpret<br />
außerdem in <strong>der</strong> Lage sein, zwischen diesen Affekten zu wechseln: „so <strong>muß</strong> <strong>man</strong> jedes<br />
nach seiner Art vorzutragen beflissen seyn.“ 18 Er müsse dabei nicht nur alle Einzelheiten<br />
des Notentextes respektieren („alles angemerkte und vorgeschriebene genau beobachten,<br />
und nicht an<strong>der</strong>s, als wie es hingesetzet ist ab<strong>spielen</strong> …“), son<strong>der</strong>n auch den dargestellten<br />
Affekt wie<strong>der</strong>geben: „ … son<strong>der</strong>n <strong>man</strong> <strong>muß</strong> auch mit einer gewissen Empfindlichkeit <strong>spielen</strong>;<br />
<strong>man</strong> <strong>muß</strong> sich in den Affect setzen, <strong>der</strong> auszudrücken ist ….“ 19<br />
Der anonyme Autor <strong>der</strong> Anmerkungen über den musikalischen Vortrag (1767) betont<br />
wie<strong>der</strong>um, dass es nicht ausreichend sei, die Töne lediglich rein o<strong>der</strong> genau zu <strong>spielen</strong>,<br />
son<strong>der</strong>n dass <strong>der</strong> Interpret „den völligen [!] Sinn“ des Komponisten erkennen müsse:<br />
„ … <strong>man</strong> <strong>muß</strong> nicht nur die Töne rein, und nach Beschaffenheit <strong>der</strong> Umstände, voll o<strong>der</strong><br />
dünne, stark o<strong>der</strong> schwach, u. s. w. und nach <strong>der</strong> genauesten Strenge des Zeitmaaßes herausbringen;<br />
son<strong>der</strong>n selbst diese mechanische Erfor<strong>der</strong>nisse <strong>der</strong> Execution, werden nicht mit<br />
Reiz und zum Einnehmen des Herzens beobachtet, wenn <strong>man</strong> nicht den völligen Sinn des<br />
Componisten einsiehet, und bis in den Geist desselben bringet.“ 20<br />
Auch <strong>der</strong> italienische Jurist und Musiktheoretiker Antonio Lorenzoni (1755–1840)<br />
bezeichnet als eine „gute“ <strong>Aus</strong>drucksweise jene Art zu <strong>spielen</strong>, die <strong>der</strong> Absicht des Komponisten<br />
entspreche: „Per buona espressione intendo la <strong>man</strong>iera di sonare conforme alla<br />
14 M. P. G. de Chabanon / J. A. Hiller, Ueber die Musik und <strong>der</strong>en Wirkungen (1779/81), S. 177.<br />
15 Unterscheiden sich die erstklassigen Musiker am meisten durch ihre eigenen Kompositionen, wird die <strong>Aus</strong>führung<br />
dort, wenn sie ein und dasselbe Stück aufführen, sehr ähnlich sein: „Alle aber werden auf eins hinaus<br />
kommen, wenn sie den Geist eines Componisten eingesehen, und den Sinn eines Stücks gefaßt haben.“ Ebd., S. 178.<br />
16 Ebd.<br />
17 C. Ph. E. Bach, Versuch, I. Teil (1753), S. 117.<br />
18 L. Mozart, Versuch (1756), S. 255–256.<br />
19 Ebd., S. 253.<br />
20 Anonymus, Fortsetzung <strong>der</strong> Anmerkungen über den musikalischen Vortrag. In: Wöchentliche Nachrichten und<br />
Anmerkungen die Musik betreffend, 12. October 1767, S. 115–116.<br />
18
Einführung<br />
intenzione del Compositore“. 21 Mit geradezu poetischen Worten wurde diese vermittelnde<br />
Aufgabe vom deutschen Flötisten, Komponisten und Flötenbauer Johann Georg Tromlitz<br />
(1725–1805) beschrieben: „ … Man rede durch seine Töne; <strong>man</strong> bringe durch sie sein<br />
eigen Gefühl in das Gefühl des Zuhörers; <strong>man</strong> mache ihn traurig, <strong>man</strong> mache ihn fröhlich;<br />
<strong>man</strong> rede aus dem Herzen und aus <strong>der</strong> <strong>Seele</strong> mit ihm, und lege ihm alles an das Herz, was<br />
<strong>man</strong> fühlet, mit dem stärksten Nachdrucke.“ 22 Und wie schließlich in Sulzers Allgemeiner<br />
Theorie <strong>der</strong> Schönen Künste zusammengefasst wird, beziehe sich <strong>der</strong> Anspruch <strong>der</strong> komponistengetreuen<br />
Interpretation sowohl auf die einzelnen Teile als auch auf die ganze<br />
Komposition: „Sowol das Ganze als je<strong>der</strong> Theil desselben, <strong>muß</strong> gerade in dem Ton, in dem<br />
Geist, dem Affect und in demselben Schatten und Licht, worin <strong>der</strong> Tonsetzer [!] es gedacht<br />
und gesetzt hat, vorgetragen werden.“ 23<br />
Zugleich machten die Musikgelehrten darauf aufmerksam, dass <strong>der</strong> Vortrag bei ein<br />
und <strong>der</strong>selben Komposition zu völlig konträren Klangergebnissen führen könne:<br />
C. Ph. E. Bach warnt davor, dass <strong>man</strong> „einerley Gedancken“ durch unterschiedlichen<br />
Vortrag „dem Ohre so verän<strong>der</strong>lich“ machen könne, dass <strong>man</strong> „kaum mehr empfindet,<br />
daß es einerley Gedancken“ gewesen seien; 24 <strong>der</strong> deutsche Klavierpädagoge Daniel Gottlob<br />
Türk (1750–1813) vergleicht die musikalische Interpretation mit dem gesprochenen<br />
Wort und erläutert, wie ein bestimmter Satz o<strong>der</strong> musikalischer Gedanke durch verschiedenen<br />
Vortrag einen völlig an<strong>der</strong>en Sinn bekommen könnten: „Die Worte: Wird er<br />
bald kommen? können blos durch den Ton des Sprechenden einen ganz verschiedenen Sinn<br />
erhalten. Es kann dadurch ein sehnliches Verlangen, eine heftige Ungeduld, eine zärtliche<br />
Bitte, ein trotziger Befehl, eine Ironie u. s. w. ausgedruckt werden. Das einzige Wort: Gott!<br />
kann den <strong>Aus</strong>ruf <strong>der</strong> Freude, des Schmerzes, <strong>der</strong> Verzweiflung, <strong>der</strong> größten Angst, des Mitleids,<br />
<strong>der</strong> Bewun<strong>der</strong>ung etc. in verschiedenen Graden bezeichnen. Eben so können auch<br />
Töne, durch verän<strong>der</strong>ten Vortrag, eine sehr verschiedene Wirkung hervor bringen.“ 25<br />
Daraus folgt, dass <strong>der</strong> Interpret, will er die einzelnen musikalischen Gedanken wie<br />
die ganze Komposition adäquat – im Sinne des Komponisten – vortragen, die affektive<br />
Botschaft des Werkes bis ins letzte Detail verstehen muss. Deshalb sei es, wie auch Türk<br />
betont, „äußerst nötig“, den <strong>Aus</strong>druck „je<strong>der</strong> Empfindung und Leidenschaft auf das sorgfältigste<br />
zu studieren, sich denselben eigen zu machen, und richtig [!] anwenden zu lernen.“ 26<br />
Der Notentext und seine symbolische (Affekt-)botschaft<br />
Die zentrale Frage lautet nun: Wie lassen sich die im Notentext enthaltenen Affekte erkennen?<br />
Scheint es dort, wo Musik mit Text verbunden ist, gewissermaßen einfacher zu<br />
sein, zumindest den Grundaffekt <strong>der</strong> Komposition zu entschlüsseln, 27 stellt reine Instrumentalmusik<br />
die Interpreten vor eine ungleich schwierigere Aufgabe, die Wissen – o<strong>der</strong>,<br />
21 A. Lorenzoni, Saggio Per Ben Sonare Il Flautotraverso (1779), S. 70.<br />
22 J. G. Tromlitz, <strong>Aus</strong>führlicher und gründlicher Unterricht die Flöte zu <strong>spielen</strong> (1791), S. 373. Mehr dazu ebd.<br />
23 J. G. Sulzer, Allgemeine Theorie <strong>der</strong> Schönen Künste (1774), Zweyter Theil, Art. „Vortrag“, S. 1252. Vgl. auch<br />
die <strong>Aus</strong>gabe Allgemeine Theorie <strong>der</strong> Schönen Künste (1794), Art. „Vortrag“, Bd. IV, S. 706.<br />
24 C. Ph. E. Bach, Versuch, I. Teil (1753), S. 117.<br />
25 D. G. Türk, Klavierschule (1789), S. 348.<br />
26 Ebd.<br />
27 Die grundlegende Rolle des Textes in Bezug auf die Affekterkennung zeigt sich darin, dass die Informationen<br />
dazu, wie Affekte erkannt werden können, erst später, und zwar gerade in den Instrumentalschulen,<br />
behandelt wurden, wie etwa in J. J. Quantz’ Versuch (1752), A. Lorenzonis Saggio Per Ben Sonare Il Flautotraverso<br />
(1779) o<strong>der</strong> in J. Fröhlichs Vollständiger Theoretisch-pracktischer Musikschule [1810/11] (s. u.).<br />
19
Einführung<br />
wie es oft ausgedrückt wurde, „Verstand“ – erfor<strong>der</strong>t. Daraus ergab sich eine Überlegung,<br />
die zur Entstehung dieses Buchs führte: Können wir uns aufgrund <strong>der</strong> alles beherrschenden<br />
Rolle des Affektes in <strong>der</strong> Musik des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>t sozusagen darauf verlassen,<br />
dass eine jede Komposition ein Abbild einer bestimmten „Affektlandschaft“ darstellt,<br />
bedeutet dies freilich umgekehrt, dass <strong>der</strong> Notentext als symbolisches Abbild dieser<br />
Affekte zu verstehen ist. Und ähnlich wie diese Affekte mit Hilfe von musikalischen<br />
Mitteln wie Stil, Gattung, Tonart, Melodie, Rhythmus, Takt, Tempo, Dynamik, Artikulation,<br />
Ornamentik sowie Instrumentation abgebildet wurden, bedeutet dies in logischer<br />
Konsequenz, dass ebendiese musikalischen Mittel dem Interpreten <strong>Aus</strong>kunft über die<br />
konkrete Affektdarstellung geben. Es geht dabei keineswegs um subjektive Hermeneutik,<br />
also um subjektive Deutungsversuche mit dem Ziel, den Notentext mit beliebigen, subjektiven<br />
Inhalten zu füllen, sozusagen nach dem Motto „auf mich wirkt dieses Werk, als<br />
ob …“, son<strong>der</strong>n darum, sich mit den Grundprinzipien <strong>der</strong> musikalischen Sprache jener<br />
Zeit auseinan<strong>der</strong>zusetzen, zu lernen und zu verstehen, wie die musikalische Umsetzung<br />
außermusikalischer Inhalte in <strong>der</strong> Musik jener Zeit funktionierte.<br />
Die zentrale Rolle <strong>der</strong> Nachahmung<br />
nach dem Prinzip <strong>der</strong> Analogie<br />
Eine entscheidende – und heutzutage zumindest auf dem Gebiet <strong>der</strong> Interpretation kaum<br />
beachtete – Rolle spielt in diesem System das (ebenfalls aus <strong>der</strong> Antike übernommene)<br />
Prinzip <strong>der</strong> analogen Nachahmung (mimesis), das besagt, dass <strong>der</strong> Komponist solche Mittel<br />
und ihre Kombinationen wählen soll, die möglichst genau dem abzubildenden Affekt<br />
entsprechen. Um das Ziel <strong>der</strong> naturgetreuen Affektdarstellung zu erreichen, entwickelten<br />
die Komponisten im Laufe <strong>der</strong> Zeit einen bestimmten, stets auf dem Prinzip <strong>der</strong> analogen<br />
Nachahmung basierenden „Umgang“ mit den einzelnen kompositorischen Aspekten<br />
und Hand in Hand damit eine Art „<strong>Aus</strong>drucksvokabular“. Damit sind melodische und<br />
rhythmische Figuren o<strong>der</strong> harmonische Wendungen etc. gemeint, die stets in bestimmten<br />
Kontexten und auf bestimmte Weise eingesetzt wurden, um bestimmte Inhalte auszudrücken.<br />
Beson<strong>der</strong>s wichtig ist in diesem Zusammenhang <strong>der</strong> Text, <strong>der</strong> sowohl in Hinsicht<br />
auf vokale als auch vokalinstrumentale Musik die Entstehung von zahlreichen Figuren<br />
provozierte. Dies ist zugleich <strong>der</strong> Grund dafür, warum diese Figuren später auch in reiner<br />
Instrumentalmusik stets mit einer konkreten Bedeutung verknüpft wurden. Eine prominente<br />
Rolle kommt in diesem Zusammenhang den sog. musikalisch-rhetorischen Figuren<br />
zu, die von J. A. Scheibe sogar explizit als „Sprache <strong>der</strong> Affekte“ bezeichnet wurden. 28<br />
Manche dieser <strong>Aus</strong>drucksmittel bzw. Figuren sind noch heute geläufig, wie etwa die Bedeutung<br />
<strong>der</strong> Moll-Tonarten als <strong>Aus</strong>druck von traurigen Inhalten o<strong>der</strong> aber die absteigende<br />
chromatische Reihe (passus duriusculus) als Hinweis auf beson<strong>der</strong>s tragische Inhalte;<br />
die meisten von ihnen sowie das Prinzip <strong>der</strong> analogen Nachahmung und seine Bedeutung<br />
für das Verständnis <strong>der</strong> Musiksprache jener Zeit gerieten aber – zumindest im Hinblick<br />
auf die Interpretation – vollkommen in Vergessenheit.<br />
Die etwas an<strong>der</strong>e Art des „richtigen“ Notenlesens<br />
Deshalb ist es für den Interpreten von essenzieller Wichtigkeit, sich sowohl mit diesem<br />
Nachahmungsprinzip als auch mit dem zeittypischen „<strong>Aus</strong>drucksvokabular“ und <strong>der</strong> mu-<br />
28 J. A. Scheibe, Critischer Musikus (1745), 75. Stück, S. 683.<br />
20
Einführung<br />
sikalischen Rhetorik im Detail vertraut zu machen, denn nur dann ist es möglich, Kompositionen<br />
entsprechend zu „lesen“ und zu verstehen. Und umgekehrt: Besitzt <strong>der</strong> Interpret<br />
keine ausreichende Kenntnis des musikästhetischen Hintergrunds des besprochenen<br />
Zeitraums, wird es ihm wohl ähnlich ergehen wie einem Vortragenden, <strong>der</strong> einen Text<br />
vortragen soll, dessen Sprache er nicht beherrscht. Auch wenn die <strong>Aus</strong>sprache des vorzutragenden<br />
Textes phonetisch richtig wäre, wäre ein solcher Redner sowohl im Hinblick auf<br />
die einzelnen Worte als auch auf den gesamten Text wohl kaum in <strong>der</strong> Lage, die richtige<br />
Tongebung, Dynamik, Geschwindigkeit, Akzentsetzung, sprich den richtigen <strong>Aus</strong>druck<br />
zu wählen. Dasselbe gilt für die Musik. Dies mag radikal klingen, entspricht aber den<br />
musikästhetischen Prinzipien <strong>der</strong> Musik von <strong>der</strong> Spätrenaissance bis ins 19. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />
Hier zeigt sich aber auch die absolute Notwendigkeit eines an<strong>der</strong>en Zugangs zum Notentext<br />
– eine an<strong>der</strong>e Art des Lesens dieses Musiktextes –, denn es sind nicht „abstrakte“<br />
Noten, die mit beliebigem <strong>Aus</strong>druck „gefüllt“ werden können, son<strong>der</strong>n es ist die verborgene<br />
symbolische Botschaft <strong>der</strong> Komposition, die es zu entschlüsseln gilt und die <strong>der</strong><br />
Interpret ihrem „wahren“ Inhalt entsprechend an den Zuhörer weiter vermitteln soll.<br />
Ansonsten werde, wie <strong>der</strong> französische Philosoph und Komponist Jean-Jacques Rousseau<br />
(1712–1778) es ausdrückt, ein Sänger, <strong>der</strong> in seiner Stimme nur die „Noten“ sieht,<br />
„we<strong>der</strong> imstande sein, den vom Komponisten gewünschten <strong>Aus</strong>druck zu erfassen, noch seinem<br />
Gesang <strong>Aus</strong>druck zu geben, sofern er dessen Sinn nicht begriffen hat.“ 29 G. S. Löhlein<br />
wie<strong>der</strong>um wollte in seiner Violinschule den Schüler zum „guten Noten=Leser“ machen,<br />
wobei er den Notentext bezeichnen<strong>der</strong>weise mit einer Sprache verglich, die <strong>man</strong> verstehen<br />
müsse, weil „die Erfahrung lehret, daß <strong>man</strong> vorher <strong>der</strong> Sprache mächtig seyn <strong>muß</strong>, ehe<br />
<strong>man</strong> sich zierlich und beredt darinnen ausdrücken kann.“ 30<br />
Dementsprechend wurde die genaue <strong>Aus</strong>einan<strong>der</strong>setzung mit den in <strong>der</strong> Komposition<br />
enthaltenen Affekten und <strong>der</strong>en entsprechende Wie<strong>der</strong>gabe als vordringliche Aufgabe<br />
jedes Musikers betrachtet, die weit mehr als spieltechnische Fertigkeit geschätzt wurde.<br />
„Die Tonkünstler müssen also, wenn sie ein Stück recht <strong>spielen</strong> wollen, und es studiren, mehr<br />
darauf denken, was für Empfindungen darinn herrschen, und wie von einer zur an<strong>der</strong>n<br />
übergegangen wird, als darauf, wie sie das Stück mit viel Künstlichkeit ausstaffiren wollen“,<br />
heißt es etwa in den anonymen Anmerkungen über den musikalischen Vortrag (1767). 31<br />
Wie wichtig diese Art des Zugangs zur musikalischen Komposition und Interpretation<br />
in <strong>der</strong> Musik jener Zeit war, zeigt die Tatsache, dass <strong>der</strong> Autor diese For<strong>der</strong>ung wenig<br />
später nochmals und mit Nachdruck wie<strong>der</strong>holte: „Ich habe zwar oben schon gesagt, daß<br />
<strong>man</strong> das Innere eines musikalischen Stückes recht studieren müsse, wenn <strong>man</strong> es mit gutem<br />
Erfolge <strong>spielen</strong> und singen will. Aber <strong>man</strong> kann davon nicht zu viel sagen.“ 32<br />
Das vorliegende Buch soll dem interessierten Leser und vor allem allen ausführenden<br />
Musikern helfen, die faszinierende Welt <strong>der</strong> Barockmusik in ihrer Gesamtheit wie<strong>der</strong>-<br />
29 „Le Chanteur qui ne voit que des Notes dans sa Partie, n’est point pas en état de saisir l’Expression du Compositeur,<br />
ni d’en donner une à ce q’il chante s’il n’en a bien saisi le sens.“ J.-J. Rousseau, Dictionnaire De Musique<br />
(1768), Art. „EXPRESSION“, S. 215. Deutsche Übersetzung nach D. und P. Gülke, J. J. Rousseau. Musik<br />
und Sprache, S. 265.<br />
30 G. S. Löhlein, Anweisung zum Violin<strong>spielen</strong> (1774), S. 2–3.<br />
31 Anonymus, Fortsetzung <strong>der</strong> Anmerkungen über den Vortrag. In: Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen<br />
die Musik betreffend, 21. September 1767, S. 91.<br />
32 Anonymus, Anmerkungen über den musikalischen Vortrag. In: Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen<br />
die Musik betreffend, 12. October 1767, S. 115.<br />
21
Einführung<br />
zuentdecken, zu begreifen und die hier gewonnenen Informationen in <strong>der</strong> musikalischen<br />
Praxis anzuwenden. Die einzelnen Aspekte <strong>der</strong> kompositorischen Umsetzung<br />
des Nachahmungsprinzips sind ausführlich im II. Teil dieses Buchs erklärt und betreffen<br />
ohne <strong>Aus</strong>nahme alle Bereiche <strong>der</strong> Komposition wie Stil, Gattung, Tonart, Takt,<br />
Melodie, Rhythmus, Harmonie, Dynamik, Artikulation, Ornamentik, Besetzung und<br />
Instrumentation sowie des Vortrags. Beson<strong>der</strong>s hervorzuheben sind in diesem Kontext<br />
die außerordentlich wichtige Rolle <strong>der</strong> Melodie und des Rhythmus, insbeson<strong>der</strong>e<br />
die symbolische Bedeutung <strong>der</strong> Intervalle wie die Aufteilung auf Schritte (gradus)<br />
und Sprünge (saltus) und ihre Konsequenzen für die Artikulation, ähnlich wie die<br />
symbolische Bedeutung <strong>der</strong> verschiedenen Notenwerte. Weitere bedeutsame Bereiche<br />
bilden das Tempo als eine direkt aus dem Affekt resultierende Kategorie, die Harmonie<br />
(dort vor allem die Differenzierung zwischen Konsonanzen und Dissonanzen und<br />
ihre Bedeutung bei <strong>der</strong> Affektdarstellung), die Dynamik (Prinzipien <strong>der</strong> dynamischen<br />
Gestaltung in ungezeichneten Kompositionen sowie Bedeutung von forte und piano),<br />
die Artikulation in Bezug auf den kompetenten Umgang mit den Artikulationszeichen<br />
Punkt, Strick und Bindebogen wie <strong>der</strong> gesamten Tongebung sowie <strong>der</strong> adäquate<br />
Umgang mit Ornamentik. Erst dann, wenn <strong>der</strong> Interpret anhand einer detaillierten<br />
Untersuchung <strong>der</strong> Komposition ihre affektive Botschaft verstanden hat, kann er die –<br />
dem dargestellten Affekt adäquate – Vortragsart wählen. Hier ist wie<strong>der</strong>um eine gefühlvolle<br />
<strong>Seele</strong> erfor<strong>der</strong>lich, denn erst das Zusammenwirken von Wissen und Gefühl<br />
kann zum Ziel – zur emotionalen Berührung des Zuhörers – führen. Die Rolle des<br />
„wissenden“ und zugleich „fühlenden“ Interpreten lässt sich dabei mit jener eines<br />
Schauspielers vergleichen, <strong>der</strong> selbstverständlich die Sprache seiner Rolle verstehen<br />
und fühlen muss, um den Inhalt seines Textes überzeugend darstellen zu können.<br />
Wie arbeitet <strong>man</strong> mit diesem Buch?<br />
Das vorliegende Buch basiert auf einem intensiven jahrelangen Studium zahlreicher historischer<br />
Quellen. Obwohl <strong>der</strong> Versuch unternommen wurde, die Prinzipien <strong>der</strong> Affektdarstellung<br />
möglichst breit zu dokumentieren, besteht angesichts <strong>der</strong> enormen Materialfülle<br />
kein Anspruch auf Vollständigkeit. Um die Orientierung zu erleichtern, beginnen<br />
die einzelnen Kapitel meist mit einer Zusammenfassung <strong>der</strong> wichtigsten Grundsätze,<br />
danach folgt ein Überblick <strong>der</strong> Zitate verschiedener Autoritäten aus den wichtigsten musikbezogenen<br />
Abhandlungen etwa ab <strong>der</strong> Mitte des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts bis zum Beginn des<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Diese Zitate sollen einerseits das eben Gesagte belegen, an<strong>der</strong>erseits<br />
aber auch die Verbreitung dieser Ideen in ganz Europa dokumentieren. Der Schwerpunkt<br />
liegt dabei auf jenen Kommentaren, die für die musikalische Interpretation von Bedeutung<br />
sind. Da die Autoren unseres Darstellungszeitraums jedoch meist nicht systematisch<br />
vorgingen und außerdem verschiedene Akzente setzten, ist die Qualität <strong>der</strong> Informationen<br />
sehr unterschiedlich. So wurden gewisse Themen, wie z. B. Fragen in Bezug auf<br />
die richtigen (= dem Affekt adäquaten!) Verzierungen, von vielen Autoren abgehandelt,<br />
an<strong>der</strong>e kleine, aber überaus interessante Details dagegen nur selten und punktuell angesprochen.<br />
Dennoch helfen gerade diese Details (wie z. B. die Anmerkungen über den<br />
adäquaten <strong>Aus</strong>druck <strong>der</strong> Augen o<strong>der</strong> aber die richtige Registerwahl bei <strong>der</strong> Orgel) erheblich,<br />
das System <strong>der</strong> musikalischen Affektdarstellung in seiner Gesamtheit zu verstehen.<br />
Das Buch ist in zwei Hauptteile geglie<strong>der</strong>t: Der erste Teil beginnt mit terminologischen<br />
Erläuterungen zu den Begriffen Affekt, Leidenschaft, Gemütsbewegung, Empfindung, Ge<br />
22
Einführung<br />
fühl und Charakter, danach folgen Kapitel über die Entwicklung <strong>der</strong> musikalischen Affektdarstellung<br />
von <strong>der</strong> Antike bis ins beginnende 19. Jahrhun<strong>der</strong>t, mit Schwerpunkt auf<br />
<strong>der</strong> Musik des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Dieser Überblick soll helfen, die musikalische<br />
Affektdarstellung als ein gewachsenes und auf antiken Vorbil<strong>der</strong>n basierendes System zu<br />
begreifen, das in <strong>der</strong> Spätrenaissance wie<strong>der</strong> aufgegriffen und sukzessive weiter ausgearbeitet<br />
wurde und das in <strong>der</strong> Musik des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts schließlich zum vorherrschenden<br />
Prinzip des gesamten musikalischen Denkens wurde. Zwei Hauptaspekte bilden<br />
dabei den roten Faden <strong>der</strong> Betrachtung: einerseits die seit <strong>der</strong> Antike tief verankerte Überzeugung<br />
von <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Fähigkeit <strong>der</strong> Musik, im Menschen „wun<strong>der</strong>bare“ Wirkungen<br />
erzielen und Emotionen musikalisch darstellen zu können, an<strong>der</strong>erseits das ebenfalls auf<br />
antiken Vorbil<strong>der</strong>n basierende Verständnis von Musik als einer nachahmenden Kunst.<br />
Die Verbindung dieser zwei Sichtweisen führte letztendlich zur Auffassung von Musik als<br />
einer Kunst, die nicht nur fähig ist, menschliche Affekte musikalisch nachzuahmen und<br />
dadurch gezielt den Menschen zu beeinflussen, son<strong>der</strong>n die dazu verpflichtet ist. Von essenzieller<br />
Bedeutung ist hier die enge Verbindung von Musik und Sprache, denn es war die<br />
Sprache, die als wichtigste Affektträgerin galt und die deshalb direkt mit musikalischen<br />
Mitteln nachgeahmt werden konnte und sollte. Daraus resultiert die zentrale Stellung <strong>der</strong><br />
textgebundenen Musik in <strong>der</strong> Musik des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts, ähnlich wie die zahlreichen<br />
Parallelen zwischen Musik und Redekunst (Rhetorik), die sowohl für die Komposition<br />
als auch für die Aufführung von entscheiden<strong>der</strong> Wichtigkeit sind.<br />
Die gedankliche Struktur, auf <strong>der</strong> das System <strong>der</strong> musikalischen Affektdarstellung basiert,<br />
lässt sich folgen<strong>der</strong>maßen umschreiben: „Musik als Nachahmung <strong>der</strong> Natur“ –<br />
„Nachahmung nach dem Prinzip <strong>der</strong> Analogie“ – „Musik als Nachahmung <strong>der</strong> Sprache“ –<br />
„Instrumentalmusik als Nachahmung des Gesangs“. Jedem dieser Stichworte ist in<br />
diesem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet. Im Kapitel „Musikalische Darstellung <strong>der</strong><br />
Affekte nach dem Prinzip <strong>der</strong> Analogie“ wird mithilfe historischer <strong>Aus</strong>sagen erklärt,<br />
wie die Affektdarstellung konkret vonstatten ging; das Kapitel „Übersicht <strong>der</strong> Affekte“<br />
bietet eine Übersicht über konkrete Affekte samt Beschreibungen <strong>der</strong> musikalischen<br />
Umsetzung aus musikbezogenen Abhandlungen <strong>der</strong> Zeit.<br />
Der II. Teil bringt zunächst zusammenfassende Erklärungen dazu, wie sich Affekte erkennen<br />
lassen, und stützt sich auf Autoren wie J. J. Quantz, A. Lorenzoni, J. J. Engel, J. Ph.<br />
Kirnberger, J. G. Sulzer (Allgemeine Theorie <strong>der</strong> Schönen Künste), J. N. Forkel, H. Chr. Koch<br />
und J. Fröhlich. Da die verschiedenen Autoren stets das Zusammenwirken aller kompositorischen<br />
Aspekte betonten (auch wenn sie nicht immer angeführt wurden), folgt nach<br />
den Hinweisen zur Affekterkennung eine Übersicht <strong>der</strong> einzelnen kompositorischen<br />
Aspekte wie Stil, Gattungen und Formen, Tonart, Melodie, Rhythmus, Tempo / Bewegung,<br />
Takt, Harmonie, Dynamik, Artikulation, Verzierungen, Besetzung und Instrumentation,<br />
wobei diese <strong>Aus</strong>führungen schließlich in das Kapitel über den sog. „guten“<br />
Vortrag münden. Als „gut“ wurde ein Vortrag nur dann empfunden, wenn <strong>der</strong> Interpret<br />
die in <strong>der</strong> Komposition enthaltenen Affekte erkannte und sie nach <strong>der</strong> Vorstellung des<br />
Komponisten verständlich an den Zuhörer weitergab.<br />
Obwohl es wünschenswert wäre, dass <strong>der</strong> Interessierte das gesamte Buch lesen würde,<br />
sind es in Teil I insbeson<strong>der</strong>e die Kapitel über das Prinzip <strong>der</strong> analogen Nachahmung<br />
sowie über Musik und Rhetorik, die enorm wichtig für das Verständnis <strong>der</strong> Materie<br />
sind. Die Kapitel aus Teil II können je nach Bedarf auch einzeln gelesen werden,<br />
wie z. B. das Kapitel über die Artikulation o<strong>der</strong> Ornamentik. Da sich in den Kapiteln<br />
23
Einführung<br />
Gattungen / Formen, Tonart, Melodie, Rhythmus, Takt und Besetzung / Instrumentation<br />
außerdem Übersichten über die Charakteristiken <strong>der</strong> verschiedenen Gattungen bzw.<br />
Autoren finden, besitzt dieses Buch den Charakter eines Nachschlagewerks. Wie <strong>man</strong><br />
jedoch insbeson<strong>der</strong>e in Bezug auf die Tonart o<strong>der</strong> den Takt sehen kann, weichen die<br />
Informationen gelegentlich voneinan<strong>der</strong> ab. Hier ist es wichtig, den historischen und<br />
regionalen Standort des Autors zu berücksichtigen und ihn mit dem jeweiligen Werk in<br />
Relation zu bringen. Außerdem sollten die einzelnen kompositorischen Aspekte stets in<br />
ihrer Gesamtheit beachtet werden, denn obwohl wir z. B. in Bezug auf eine bestimmte<br />
Tonart o<strong>der</strong> Taktart mit unterschiedlichen <strong>Aus</strong>sagen konfrontiert sind, geben an<strong>der</strong>e Aspekte<br />
wie Melodie, Rhythmus, Harmonie, Bewegung, Artikulation etc. meist genügend<br />
Hinweise auf den Affekt <strong>der</strong> Komposition. Außerdem wurden gewisse Einzelheiten erst<br />
später beschrieben, so etwa die Art, wie <strong>man</strong> einen Seufzer nachahmt, von L. Mozart.<br />
Aufgrund des stets geltenden Nachahmungsprinzips ist gleichwohl klar, dass <strong>der</strong>artige<br />
musikalische Darstellungen <strong>der</strong> Seufzer auch für frühere Kompositionen gelten.<br />
Woher bekommen wir die Information?<br />
Es ist gerade durch die Selbstverständlichkeit <strong>der</strong> Affektdarstellung in <strong>der</strong> Musik des<br />
17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts zu erklären, dass das musiktheoretische Schrifttum jener Zeit<br />
eine genau ausgearbeitete, systematische „Affektenlehre“ vermissen lässt. Sogar <strong>der</strong><br />
heutzutage oft verwendete Begriff „Affektenlehre“ wurde im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t lediglich<br />
im Sinne einer „Naturlehre“ über menschliche Emotionen verstanden und nicht als Bezeichnung<br />
für ein Lehrsystem zur Darstellung von Emotionen mit musikalischen Mitteln<br />
gebraucht. In dieser Bedeutung ist <strong>der</strong> Begriff „Affektenlehre“ ein Produkt des<br />
beginnenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, <strong>der</strong> sich so im Schrifttum des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
nicht nachweisen lässt. 33<br />
Wenn aus dem 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>t auch keine Schrift überliefert ist, die dieses Thema<br />
systematisch abhandelt, ist die Anzahl jener Werke, in denen die Affektdarstellung<br />
in <strong>der</strong> Musik in irgendeiner Weise berücksichtigt wird, geradezu unüberschaubar. Nach<br />
den antiken und mittelalterlichen Schriften lassen sich verschiedene Hinweise zu diesem<br />
Thema seit dem ausgehenden 16. Jahrhun<strong>der</strong>t in zunehmendem Maße in italienischen,<br />
französischen, deutschen wie englischen musiktheoretischen und musikästhetischen Abhandlungen,<br />
Kompositionsschulen und Lexika, Gesangs- bzw. Instrumentalschulen o<strong>der</strong><br />
Vorreden zu gedruckten Sammlungen finden. 34 Während in musiktheoretischen Schriften<br />
o<strong>der</strong> Kompositionsschulen Informationen darüber zu finden sind, mit welchen kompositorischen<br />
Mitteln die verschiedenen Affekte dargestellt werden sollen, beschäftigen<br />
sich Gesangs- o<strong>der</strong> Instrumentalschulen mit dem Erkennen bzw. <strong>der</strong> interpretatorischen<br />
Umsetzung <strong>der</strong> Affekte. Hier handelt es sich de facto um zwei Seiten einer Medaille,<br />
denn die Beschreibung <strong>der</strong> Möglichkeiten <strong>der</strong> Affektdarstellung in <strong>der</strong> Komposition stellt<br />
für den <strong>Aus</strong>führenden gleichzeitig den Schlüssel zu ihrer Erkennung dar. Wird etwa in<br />
Sulzers Allgemeiner Theorie <strong>der</strong> Schönen Künste erklärt, dass es bei <strong>der</strong> Melodie auf eine<br />
„genaue Kenntnis <strong>der</strong> Leidenschaften“ ankomme, wobei <strong>der</strong> Tonsetzer sich unter ande-<br />
33 <strong>Aus</strong>führlich dazu G. J. Buelow, Mattheson and the invention of the Affektenlehre, S. 397–404.<br />
34 Vgl. vor allem jene von G. Caccini (Le Nuove Musiche, 1601; Nuove Musiche e Nuova Maniera di Scriverle, 1614),<br />
J. Peri (L’Euridice, 1600), E. de’ Cavalieri (Rappresentatione di Anima, et di Corpo, 1600) und C. Monteverdi<br />
(Madrigali Guerrieri, et Amorosi, Libro Ottavo, 1638).<br />
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