20 Aufbruch Lernen und ArbeitenVöllig neuePerspektiven»Durch die Brille erleben Sie die Inszenierung in 3-D«,sagt Intendant André Bücker. »Der Schauspieler sprichtSie ganz direkt an, er kommt auf Sie zu oder steht auchmal neben Ihnen.«TEXT: CATALINA SCHRÖDERFOTOS: CONSTANTIN MIRBACHIn der Kulturszene entsteht in diesen Monaten eine neue Sparte:das Digitale. Im Augsburger Staatstheater erhoffen sich die Macherdadurch ein neues, internationales Publikum
Kultur21Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen: André Bücker hatdie Krise kommen sehen. Bücker ist Intendant des Augsburger Staatstheaters.Als wegen der Corona-Pandemie sämtliche Vorstellungen vonBallett über Theater bis zu Konzerten in allen Kulturstätten der Republikabgesagt wurden, hatte André Bücker eine Idee: Er wollte die Kultur zu denMenschen nach Hause bringen. Aber nicht in Form einer »Konserve«, wieBücker ins Netz gestellte Streams vergangener Aufführungen nennt,sondern als »eigene künstlerische und ästhetische Leistung«. Praktisch,dass im Keller seines Theaters seit Kurzem 500 Virtual-Reality-Brillen lagern.Was Bücker, die Schauspieler, Musiker und Tänzer des Staatstheaterszusammen mit der Augsburger Filmproduktionsfirma »Heimspiel« dannbinnen zwei Wochen auf den Weg brachten, ist deutschlandweit einmalig:Sie inszenierten Theater- und Ballettaufführungen, die ihre AugsburgerZuschauer nun auf dem heimischen Sofa über eine Virtual-Reality-Brilleanschauen können. Nach Hause gebracht und auch wieder abgeholtwerden die Brillen von den Mitarbeitern des Theaters. Ein Lieferserviceist seit Beginn der Krise schließlich auch dort selbstverständlich, wo erfrüher völlig absurd schien.Die Kulturbranche dürfte zu den großen Verlierern der Corona-Pandemiegehören. Tausende Künstler hangeln sich auch in guten Zeiten von einemAuftrag zum nächsten, leben von kleinen Honoraren und haben kaumRücklagen. Kleine Theater können mit ihren Einnahmen oft gerade ihreKosten decken. Die Krise hat viele sofort in Existenznot gestürzt, denn diestaatliche Unterstützung reicht längst nicht in jedem Fall aus. Und trotzdembieten diese Zeiten auch Chancen. Wenn das gewohnte Umfeldaus Bühnen und Konzertsälen, Drehorten und Clubs plötzlich zur Sperrzonewird, ent stehen neue Ideen. Ganz besonders im Netz, aber auch mitanderen digitalen Hilfsmitteln. So wie am Augsburger Staatstheater.Intendant André Bücker wollte im Frühjahr ohnehin ein Stück inszenieren,das Virtual Reality integriert: Mit Orfeo ed Euridice (Orpheus und Eurydikevon Christoph Willibald Gluck) stand eine Oper im Spielplan, deren Protagonistenzeitweise in die Unterwelt abtauchen. »Eine perfekte Gelegenheitfür den Einsatz von Virtual Reality (VR), weil die klassische Bühne hier anihre Grenzen stößt«, sagt Bücker. Als er das Stück wegen der Pandemieabsagen musste, kam ihm die Idee zur VR-Inszenierung samt Lieferservice.Die erste Aufnahme, die das Augsburger Publikum zu sich nach Hausebestellen konnte, war Judas, ein Ein-Personen-Stück über den Mann, derlaut Bibel Jesus verriet. Bücker ließ es von Regisseur Magz Barrawasser inder Goldschmiedekapelle der St.-Anna-Kirche in Augsburg inszenieren.Das Besondere: Der Zuschauer hat dank VR-Brille das Gefühl, alleine mitJudas in der Kapelle zu sein. »Durch die Brille erleben Sie die Inszenierungin 3-D. Der Schauspieler spricht Sie ganz direkt an, er kommt auf Sie zuoder steht auch mal neben Ihnen«, erklärt Bücker. »Das ist eine neue Formvon Theater, und Sie tauchen fast noch direkter in die Handlung ein, alswürden Sie im Theatersaal vor der Bühne sitzen.«würden die Tänzer auf ihn zu oder um ihn herumtanzen. Das Digitale isthier kein Ersatz zum analogen Kulturerlebnis, sondern eine eigene Form.Rund zehn Euro kostet das Ausleihen der Theater-VR-Brille inklusiveLieferservice. Das ist weniger als eine Theaterkarte, aber André Bückerwollte die finanzielle Hürde nicht zu hoch setzen und sehen, wie dieIdee angenommen wird. Das Ergebnis? »Uns haben sogar Menschen ausanderen Städten angeschrieben und gefragt, ob wir die Brillen auch zuihnen liefern können«, erzählt Bücker.» Diese Kostenlos-Kultur solltesich gar nicht erst etablieren «André Bücker, Intendant des Augsburger StaatstheatersZu den wenigen Künstlern, die in diesen Wochen Umsätze generieren,gehört auch Miss Allie. Die Singer-Songwriterin aus Hamburg musste ihreFrühjahrstournee Mitte März abbrechen und viele Konzerte verschieben.Doch sie nutzte die gewonnene Zeit für ein neues Projekt: »Ich wollte mirschon immer ein Konzept für Live-Konzerte im Netz überlegen.« Einmal proWoche singt sie nun im Internet, unterstützt von einem Team aus Technikernund Kameraleuten. Für deren Gage sammelt sie Geld per Crowdfunding.Während der Konzerte können ihre Fans außerdem über einen Linkim Stream Geld spenden. »Eine Art digitales Eintrittsticket«, sagt Miss Allie.Ähnlich gehen zahlreiche Festivals mit den neuen Gegebenheiten um.Eines von ihnen ist »United We Stream«. Es wurde in Berlin erdacht, umden Clubs der Hauptstadt durch die Krise zu helfen. Mittlerweile findet esin zahlreichen Gegenden Deutschlands Nachahmer, so auch im Rhein-Neckar-Gebiet. Auch dort können die »Gäste« über einen Link Geldspenden. »Wir wünschen uns, dass sie genauso viel zahlen wie für einennormalen Clubbesuch«, sagt Matthias Rauch. Er leitet die kulturelle Stadtentwicklungin Mannheim und gehört zu den Festival-Organisatoren imRhein-Neckar-Raum. Rauch begrüßt es, dass so viele neue Ideen ausdem Netz kommen. Er sieht aber auch Gefahren, wenn Künstler gratisstreamen: »Diese Kostenlos-Kultur sollte sich gar nicht erst etablieren.«Singer-Songwriterin Miss Allie und Intendant André Bücker wollen dieErfahrungen aus der Krise auch später nutzen. Miss Allie kann sich vorstellen,neben den analogen Konzerten zukünftig ein eigenes, regelmäßigesOnline-Format zu etablieren. André Bücker will die Menschen weiterhin mitVR-Inszenierungen für zu Hause überraschen: Eines der nächsten Stückewird er sowohl auf Deutsch, als auch auf Englisch inszenieren lassen. Essoll im Netz gegen Bezahlung bereitstehen, als Download auf die eigeneVR-Brille. »Im besten Fall machen wir auf diese Weise ein interna tionalesPublikum auf unser Haus in Augsburg aufmerksam«, hofft Bücker.Ganz ähnlich funktioniert auch die zweite Inszenierung: ein Ballettmit 14 Tänzern. Weil sie sich nicht gemeinsam in einem Raum aufhaltendurften, filmte Bücker jeden von ihnen einzeln aus insgesamt drei Perspektivenbeim Tanzen. »Im Schnitt haben wir dann alles zusammen anderenStellen haben wir einen Tänzer in zwei verschiedenen Perspektiven imBild, und es sieht so aus, als würde derjenige mit sich selbst tanzen. Undmanchmal haben wir die Inszenierung so geschnitten, dass mehrereTänzer gleichzeitig zu sehen sind.« Auch hier scheint der Zuschauer mitdem Stück zu verschmelzen, weil es durch die VR-Technik so wirkt, alsDigitale WerkzeugeMit »Google Arts & Culture« durch den Louvre in Paris oder dasMunch-Museum in Oslo spazieren: → artsandculture.google.comAuf → boilerroom.tv streamen DJs live aus ihren Wohnzimmern.Das Kompetenz zentrum Kultur- und Kreativwirtschaft desBundes versammelt hilfreiche Informationen für Künstler:→ kreativ-bund.de/die-gute-idee