Von Bäumen, Brüdern und Maschinen Wenn Tanja Rinsland nicht gerade durch ihren geliebten Wald wandert, arbeitet sie als Projektredakteurin bei <strong>ERF</strong> Me<strong>die</strong>n und stu<strong>die</strong>rt Organisationsentwicklung. Die Zukunft liegt außerhalb unserer Reichweite. Wir wissen nicht, ob weitere Viren unser Leben beeinträchtigen oder Roboter unsere Arbeit übernehmen. Und doch: Mitten in der Vergänglichkeit liegt etwas Himmlisches verborgen. Ein Gedankenspaziergang <strong>von</strong> Tanja Rinsland.
<strong>ERF</strong> THEMA „Rein theoretisch könnte es sein, dass mein Job zu meinem Renteneintritt <strong>von</strong> einer Maschine übernommen wird“, sagt mein Bruder, während wir an einem sonnigen Samstagnachmittag durch den Wald spazieren. „Eine Maschinenbauer-Maschine?“, frage ich erstaunt. Er nickt. „Noch sind wir <strong>die</strong> besseren Ingenieure. Aber vieles, was ich tue, könnte irgendwann durch digitale neuronale Netze übernommen werden.“ Wenn ich meinen Bruder besuche, führen wir oft leidenschaftliche Diskussionen über spekulative Zukunftsszenarien, <strong>von</strong> der Besiedlung des Mars bis hin zur menschlosen Fabrik. Und während der KI-Maschinenbauer wohl noch ein Fall für <strong>die</strong> Zukunftsforschung ist, zeichnet sich in anderen Branchen schon jetzt ein Trend zur umfassenden Digitalisierung ab: in der Fertigungsindustrie, im Bergbau oder in der Logistik. Stichwort Industrie 4.0. Kunibert der Robo-Pfleger Wir stapfen weiter über einen schmalen Waldpfad und versuchen, nicht in <strong>die</strong> Pfützen zu treten. Wir stellen uns eine <strong>Welt</strong> vor, in der Maschinen unsere Jobs wegnehmen. Selbst im Bereich der Medizin ist ja vieles denkbar. Ich habe vor kurzem <strong>von</strong> sogenannten Pflegerobotern gelesen, <strong>die</strong> durch ständiges Messen <strong>von</strong> Herzfrequenz und Blutwerten <strong>die</strong> Gesundheit eines Seniors überwachen und je nach Bedarf Medikamente verbreichen oder den Krankenwagen rufen. Ich male mir aus, wie meine ältere Nachbarin in Zukunft statt mit ihrem Hund mit dem Roboter spricht, wenn sie einsam ist. Ob er <strong>von</strong> ihr auch einen Namen bekommt? Kunibert, der freundliche Robo-Pfleger? Während wir weiter über mögliche Zukunftsszenarien spekulieren, steigt mir der typische Geruch des Waldes nach einer regnerischen Nacht in <strong>die</strong> Nase. Ein bisschen modrig, erdig, vielschichtig – und irgendwie lebendig. Viele der Bäume, an denen wir vorbeiziehen, stehen schon seit Jahrzehnten hier. Wahrscheinlich gab es noch keine PCs, als sie kleine Setzlinge waren. Keine Smartphones, keine Industrie 4.0. Ich mag Bäume. Sie scheinen mir so gelassen, wie sie an Ort und Stelle verharren, während sich <strong>die</strong> menschliche <strong>Welt</strong> im immer wilderen Reigentanz um sich selbst dreht. Ein deprimierendes Buch der Bibel Als wir weiterlaufen, reden wir immer noch über <strong>die</strong> Zukunft – aber nicht mehr über KI und intelligente Maschinen, sondern über unsere persönlichen Gedanken und Träume. Ich erzähle <strong>von</strong> dem, worüber ich mir gerade Sorgen mache. Meine Gedanken drehen sich im Kreis, ausgerichtet auf eine Zukunft, <strong>die</strong> ich mir genau vorstelle – und doch nicht kenne. Ich kann mir heute kaum vorstellen, dass all das, was mir gerade wichtig ist, irgendwann seine Bedeutung verliert. Dabei hat mir <strong>die</strong> Corona-Krise doch unlängst bewiesen, wie schnell sich Prioritäten ändern können. Ein kleiner, unsichtbarer Virus – und plötzlich streiten sich Menschen um Klopapier, anstatt Urlaub auf den Malediven zu machen. Seitdem denke ich immer wieder an das Buch „Prediger“ aus der Bibel. Früher gehörte es zu den Abschnitten, <strong>die</strong> ich schnell überblätterte. Ich fand das Buch vor allem eins: deprimierend. Zwölf Kapitel, <strong>die</strong> sich damit beschäftigen, dass das Leben vergänglich sei. Um einen Vers zu zitieren: „Doch als ich alles prüfend betrachtete, was ich mir mit meinen Händen erworben hatte, und <strong>die</strong> Mühe dagegen hielt, <strong>die</strong> ich darauf verwendet hatte, merkte ich, dass alles sinnlos war. Es war so unnütz wie der Versuch, den Wind einzufangen.“ (Prediger 2,11) Sehen Sie, was ich meine? Deprimierend. Der Prediger erzählt da<strong>von</strong>, was er alles getan hat, um seiner Vergänglichkeit etwas entgegenzusetzen: Er errichtet Bauwerke, schafft ein Wald-Bewässerungs- System, investiert in Kunst und hatte ein Haufen Kinder. Und trotzdem: alles blieb flüchtig. Nicht gerade eine aufbauende Message. Die Ewigkeit im Herzen Mein Bruder und ich verlassen den Wald. Vor uns liegt ein Weinberg. In sauberen Reihen ranken sich <strong>die</strong> Weinstöcke empor. Wie schon zur Zeit der Bibel. Mir gefällt der Gedanke, dass es immer noch <strong>die</strong> gleiche Sonne ist, <strong>die</strong> sie reifen lässt. Ich habe inzwischen gelernt, <strong>die</strong> Weisheit des Predigers wertzuschätzen. Er ist kein Nihilist, der an der Flüchtigkeit der <strong>Welt</strong> verzweifelt, sondern er entdeckt darin Schönheit. Der Wind, der damals für Saat und Ernte gesorgt hat, weht heute noch und pflanzt Bäume, <strong>die</strong> länger leben als so manches menschliche Industrie-Imperium. Und <strong>die</strong> Zukunft, <strong>die</strong> der Prediger nicht vorhersagen konnte, entzieht sich immer noch meiner Kontrolle. Kein einziger Sorgengedanke, den ich mir heute mache, verlängert mein Leben auch nur um eine Stunde. Und mitten in den ernsten Betrachtungen, wie eitel alles Menschliche ist, findet sich einer der schönsten Verse der Bibel: „Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er <strong>die</strong> Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.“ (Prediger 3,11) Ein erstaunlicher Perspektivwechsel. Nicht alles ist vergänglich. Im Herzen der Menschen liegt Ewigkeit. Ich erahne sie, wenn ich in den Sternenhimmel schaue und mir bewusst mache, dass das Licht, das mich <strong>von</strong> den Sternen erreicht, schon tausende Jahre unterwegs ist. Doch selbst <strong>die</strong> 2,5 Millionen Jahre, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Strahlen der Andromeda-Galaxie brauchen, um <strong>die</strong> Erde zu erreichen, sind nur ein Bruchteil der Ewigkeit. Um sie zu begreifen, reicht kein Menschenleben aus. Vor allem keines, das zugeschüttet wird <strong>von</strong> Alltagssorgen. Wir treten den Rückweg an, schließlich wartet zuhause ein guter Kaffee. Ich weiß nicht, wie sich <strong>die</strong> <strong>Welt</strong> durch <strong>die</strong> Digitalisierung ändern wird, durch <strong>die</strong> Corona-Krise, durch den Klimawandel und all <strong>die</strong> anderen Dinge, <strong>die</strong> mir Angst machen. Aber ich will lernen, jeden einzelnen Tag als Geschenk zu verstehen und mit der Unsicherheit zu leben, dass ich das Morgen nicht kenne – und ich mich darauf verlassen kann, dass Gott sein Werk tut. So wie der Prediger es schon vor dreitausend Jahren gesagt hat. Wenn ich nochmals darüber nachdenke, finde ich, dass das doch ein bisschen kitschig klingt: „Das Leben ist ein Geschenk“ und so weiter. Hat was <strong>von</strong> Poesie-Album. Aber vielleicht ist es okay, an einem Samstagnachmittag rührselig zu werden, wenn ich Schlamm unter mir, Sonne über mir und meinen großen Bruder neben mir habe, den ich viel zu selten besuche. Und der für mich durch keine Maschine ersetzbar ist. Und sei sie noch so schlau. <strong>ERF</strong> ANTENNE 0708|20 11