CRESCENDO 1/19 Januar-März 2019
CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Diana Damrau, Max Richter und Wilfried Hiller. Mit Special zum Bauhaus-Jubiläum.
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Interviews unter anderem mit Diana Damrau, Max Richter und Wilfried Hiller. Mit Special zum Bauhaus-Jubiläum.
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H Ö R E N & S E H E N<br />
Unerhörtes & neu Entdecktes<br />
von Christoph Schlüren<br />
HERRLICH RAU UND WILD<br />
Kammermusik von Albert Roussel, Florent Schmitt, Hans Weisse und anderen.<br />
Im April steht der 150. Geburtstag von Albert Roussel (1869–<strong>19</strong>37)<br />
an, jenes ganz großen französischen Meisters im Schatten seiner<br />
Zeitgenossen Debussy und Ravel. Und immer noch mangelt es an<br />
wirklich herausragenden Aufnahmen seiner Musik, insbesondere<br />
auch seiner Kammermusik, die an Originalität und Meisterschaft<br />
unübertroffen ist. Sicher liegt das ein wenig daran, dass Roussel bis<br />
auf sein Frühwerk nicht ins impressionistische Klischee passt und<br />
überhaupt herrlich ungefällig rau und wild ist.<br />
Ein Glücksfall ist daher die neue Duo-CD der Geigerin Hélène<br />
Collerette und der Pianistin Anne Le Bozec bei Signature, die neben<br />
der mit architektonischer Präzision und geradezu klassischer Clarté<br />
bestechenden Zweiten Sonate Roussels noch die gigantisch angelegte,<br />
rauschhaft ornamentierende Sonate libre in zwei Sätzen vom ebenfalls<br />
maßlos unterschätzten Florent Schmitt (1870–<strong>19</strong>58) enthält.<br />
Dieses gut halbstündige Werk ist eine Enescu oder Szymanowski<br />
vergleichbare Herausforderung und dürfte bei Konzerten sensationell<br />
ankommen. Doch bei Schmitt, der in späteren Jahren eine unglückliche<br />
Zuneigung zum Vichy-Vasallenregime gepflegt hatte, kann man<br />
ähnlich wie bei Hans Pfitzner zumindest verstehen, dass es außermusikalische<br />
Gründe für die Vernachlässigung gab.<br />
Das Programm wird abgerundet durch die horrend virtuose<br />
Sonate von <strong>19</strong>61 des Franko-Kanadiers André Prévost (<strong>19</strong>34–2001),<br />
die musikalisch nicht auf derselben Höhe<br />
steht, uns jedoch mit einem weiteren entdeckenswerten<br />
und eigentümlichen Meister<br />
bekannt macht. Hélène Collerette frappiert<br />
nicht nur mit staunenswerter technischer<br />
Makellosigkeit, sie verzaubert mit äußerst<br />
farbenreichem Klang und vielschichtigem,<br />
unendlich nuancenreichem Ausdruck, ohne<br />
in die Niederungen billiger Effekthascherei abzugleiten.<br />
Und Anne Le Bozec mit ihrem groovigen Zugriff<br />
und empathischen Selbstverständnis ist ihr eine grandiose<br />
Partnerin. So wunderbar kann ein<br />
Album für diese Standardbesetzung sein,<br />
wenn nicht nur das Können, sondern auch der<br />
Mut und die Liebe groß genug sind.<br />
Einige weitere aktuelle Kammermusikempfehlungen<br />
seien dem angefügt. Darunter<br />
ragt insbesondere die schöpferische Größe des<br />
Wiener jüdischen Schenker-Schülers Hans<br />
Weisse (1892–<strong>19</strong>40) heraus, dessen dreiviertelstündiges Klarinettenquintett<br />
in vollendeter Weise zeitlos auf Bahnen „junger Klassizität“<br />
(um Busoni zu zitieren) schreitet, die man in ihrer Haltung zu Brahms<br />
zurückverfolgen kann – auch in der introvertiert-dramatischen<br />
Atmosphäre, kontrapunktischen Raffinesse und modulatorischen<br />
Meisterschaft (MDG). Hochinteressant sind drei Streichquartette des<br />
Briten Leonard Salzedo (<strong>19</strong>21–2000), der als Ballett- und Filmkomponist<br />
sehr angesehen war.<br />
Stilistisch könnte man meinen, er sei Spanier – und zugleich liegt<br />
in all dem zündenden Esprit eine Abgeklärtheit, die den Wunsch<br />
nährt, noch viel weitere Musik seines so umfangreichen wie unbekannten<br />
Schaffens kennenzulernen (darunter ein großes rein instrumentales<br />
Requiem für großes Orchester). Arnold Cooke (<strong>19</strong>06–2005)<br />
hingegen ist in England immer wieder aufgenommen worden, und<br />
wer wie ich findet, dass Hindemith auch wertvolle Stilverwandte haben<br />
darf, wird an Cookes kunstreichen Werken für Violine (allein, mit<br />
Klavier, mit Bratsche) große Freude haben (beide CDs bei MPR).<br />
Der gleichen Generation entstammt der Schwede Dag Wirén<br />
(<strong>19</strong>05–<strong>19</strong>86), dessen komplette verfügbare Quartette das Wirén Quartet<br />
für Naxos vorbildlich eingespielt hat: kurzweilige, äußerst vitale<br />
Musik, die zugleich die Reduktion aufs absolut Wesentliche betreibt.<br />
Ein gänzlich Unbekannter tritt uns, wie so oft bei Toccata<br />
Classics, mit Hans Winterberg (<strong>19</strong>01–<strong>19</strong>91) entgegen, einem tschechischen<br />
Juden, der Theresienstadt überlebte und danach in München<br />
wohnte. Eigentlich hätte seine fast minimalistisch<br />
expressive Bläser-Kammermusik, die<br />
ehestens an den Janáček des Concertino<br />
anknüpft, dort ja von Orff und Killmayer als<br />
geistesverwandt erkannt werden müssen. Nun<br />
wird sie erst postum entdeckt.<br />
■<br />
Florent Schmitt, Albert Roussel, André Prévost:<br />
„Sonates“, Hélène Collerette, Anne Le Bozec<br />
(Signature)<br />
Weisse: „Chamber Music“, Berolina Ensemble (MDG)<br />
Leonard Salzedo: „String Quartets 1, 5 and 10“,<br />
Archaeus Quartet (MPR)<br />
Arnold Cooke: „The Complete Violin Sonatas“,<br />
The Pleyel Ensemble (MPR)<br />
Dag Wirén: „String Quartets Nos. 2-5“, Wirén Quartet (Naxos)<br />
Hans Winterberg: „Chamber Music“, Volume One, Arizona Wind<br />
Quintet (Toccata Classics)<br />
38 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>19</strong>