CRESCENDO 1/19 Januar-März 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Diana Damrau, Max Richter und Wilfried Hiller. Mit Special zum Bauhaus-Jubiläum. CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Diana Damrau, Max Richter und Wilfried Hiller. Mit Special zum Bauhaus-Jubiläum.

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K Ü N S T L E R Momo und die Schildkröte Kassiopeia im Reich der Zeit, bei Meister Hora FOTOS: CHRISTIAN POGO ZACH EINFACH NUR ZUHÖREN Im Dezember fand am Münchner Gärtnerplatztheater die Uraufführung der neuen Oper von Wilfried Hiller statt: Michael Endes Klassiker Momo. Ein Gespräch mit dem Komponisten und Freund des Autors über das Thema Zeit, das heute aktueller ist denn je. VON BARBARA SCHULZ CRESCENDO: Sieht man die Menschen heute durch die Straßen hetzen, denkt man unwillkürlich an Michael Endes Momo ... Wilfried Hiller: Ja, es ist geradezu beängstigend, wie aktuell das Buch war, als es 1973 erschien. Das haben wir damals nicht gesehen. Der Ende übertreibt mal wieder, hat man gesagt. Wie kann man das Thema auf die Bühne bringen? Tatsächlich konnte ich viel aus den Fehlern anderer lernen. Also zum Beispiel den Geschichtenerzähler Gigi nicht wegzulassen oder den Straßenkehrer Beppo. Von Anfang an war aber klar: Momo darf nicht singen. Zum Glück war der Intendant des Gärtnerplatztheaters, Josef Köpplinger, einverstanden. als ich ihm gesagt habe, dass die Titelrolle nicht singt. Momo singt nicht, um zuhören zu können? Genau! Denn sie entlockt durch ihre Art, einfach zuzuhören, still zu sein, den Menschen ihre Probleme. In einer Szene singt Gigi davon. Und im Hintergrund sieht man Leute zu Momo kommen: den Friseur, den Maurer, die Ehefrauen – und was passiert? Plötzlich geben sich die Menschen wieder die Hand. Oder als Momo den 24 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – März 2019

Wilfried Hiller bei den Proben zu Momo Vogel, der seit Langem stumm war, wieder zum Singen bringt. „Man muss ihm zuhören, auch wenn er nicht singt“, erklärt Momo ihr Geheimnis. Aber irgendwann wendet sich das Blatt. Ja, bereits zu Beginn des zweiten Aktes ist diese kleine heile Welt fest in Händen der grauen Herren von der Zeitsparkasse. Die Menschen können nicht mehr zuhören. Sie sind getrieben: schneller, schneller, weiter, weiter. Sie schauen auf die Uhr, rennen über die Bühne, kreuz und quer. Dazu die Melodie – übrigens von Michael Ende –, die immer schneller wird, bis sie Purzelbäume schlägt. Und bis Momo sagt: „Wir müssen etwas dagegen tun.“ Sie geht zu Meister Hora, der ihr die Stundenblume gibt. Damit schafft sie, dass die Menschen wieder zu sich kommen. Die grauen Herren von heute sind meist digital … Absolut. Und sie verhindern die direkte Kommunikation. Ich sehe das oft in Restaurants: Ehepaare, die während des Essens beide mit ihren Handys hantieren, aber nicht miteinander reden. Manchmal glaube ich schon, sie schreiben sich gegenseitig. Es ist verrückt. Was ist Ihre persönliche Erfahrung mit Zeit? Ich habe irgendwann mein Handy beiseitegelegt und es nie wieder hervorgeholt. Es hat mich nervös gemacht, auch wegen meines Herzschrittmachers. Aber es gab in meinem Leben eine Begegnung, die an Momo erinnert: Für mich war mein Lehrer Carl Orff so etwas wie der Meister Hora. Er hatte eine so ruhige Ausstrahlung – bei ihm blieb die Zeit stehen. Es war eine besondere Beziehung: Mein Vater war ja im Krieg gefallen, und Orff hatte nur eine Tochter. Seine Frau meinte einmal, ich sei der Sohn, den er nie bekommen habe. Sie haben viel von ihm übernommen … Ja, seine Ruhe und Leichtigkeit hatten durchaus auch Auswirkungen auf mich und meine Musik. Was an Momo hat Sie thematisch gereizt – die Zeit? Mich als Musiker hat noch viel mehr das Thema Zuhören und Zuhörenkönnen gereizt. Und dass es uns heute verloren gegangen ist. Wie aber kann man Zuhören hörbar machen? Die Zeitdauer spielt eine Rolle. Viele Menschen macht langsame Musik nervös. Dabei ist dieses Sichausbreiten doch das Schönste. Ich wollte auch Intervalle komponieren, die Ruhe ausstrahlen, Naturtöne, also die Töne, die mitklingen, wenn man einen Ton anschlägt, ich wollte Klangschalen benutzen. Tatsächlich ist es ja so, dass man die Leute, die ins Theater kommen, ins Zuhören bringen muss. Sie sind außer Atem, aufgeregt – und dann geht das Licht aus. Also muss ich sie erst mal runterholen. Und so beginnt die Musik erst mal ganz, ganz leise. Die ersten Takte klingen fast japanisch … Richtig! Ich bin fasziniert vom japanischen No-Theater. Das beginnt immer mit einer Nokan – eine Flöte, die das Theater eröffnet. Und so hab ich den ersten Satz, die erste Szene genannt. Die ersten drei Zeilen: Man hört fast nichts. Nur im Hintergrund die Besenstriche von Beppo. Bei Olivier Messiaen gibt es eine Fermate über eine ganze Seite. So hätte ich das auch gern, denn der Dirigent dirigiert das ja auch ganz anders als eine normale Fermate. Wie klingen die grauen Herren? Da ist richtig was los. Genau das Gegenteil von Momos Ausstrahlung – ständige Dissonanz. Immer Hochspannung, die nicht aufgelöst wird. Für die grauen Herren hab ich die großen japanischen Trommeln, die Schamanentrommeln, die staccatoartig gespielt werden. Es wird heftiger und intensiver. Die Leute bekommen Angst. Da merkt man, welchen Einfluss Musik auf die Psyche hat. Begreifen die Kinder, worum es geht? Ich glaube schon, dass die Musik das vermittelt, aber natürlich bin ich befangen. Das kriegen die Leute unbewusst mit. Giora Feidman hat einmal gesagt, als er in einer meiner Opern die Hauptrolle gespielt hat: „Das Wichtigste bei Hiller ist nicht nur die Musik, sondern der Raum zwischen den Tönen.“ So ist das wohl. n Als Gioachino Rossini in seiner Oper Il Signor Bruschino die zweiten Violinen mit ihren Geigenbögen an die Notenpulte klopfen ließ, war das ein waschechter Skandal – heute ein Schmunzelgarant. Dr. Goeths Kuriosa SINFONIE FÜR STABMIXER UND SELLERIE Ein paar exklusive Beispiele ausgewählt absonderlicher Geräuschkompositionen. Wer im 18. Jahrhundert die berühmte Kindersinfonie schrieb, wissen wir bis heute nicht. Sicher hingegen ist, dass die Besetzung Instrumente aus der Spielzeugkiste verlangt: Kuckuck, Wachtel, Ratsche, Orgelhenne (eine Art Wasserpfeife) und Cymbelstern. Im 20. Jahrhundert entwarf der Italiener Luigi Russolo um 1913 raumfüllende Lärm- und Geräuschinstrumente, die „Intonarumori“. George Gershwin ließ in An American in Paris Autohupen quäken, György Ligeti im Vorspiel zu Le Grand Macabre. John Cages CREDO IN US braucht eine Türklingel und Konservenbüchsen. Und Leroy Anderson verpasste 1950 in The Typewriter einer Schreibmaschine die Hauptrolle – inklusive Zeilenende-Pling. Karlheinz Stockhausens Helikopter-Streichquartett erfordert neben der herkömmlichen Streicherbesetzung vier Hubschrauber, deren Rotorengeräusche sich mit dem gewohnten Klang mischen. Das 1. Deutsche Stromorchester musiziert ausschließlich auf Elektrogeräten wie Laubsaugern, Toastern und Mixern, während sich The Vegetable Orchestra der Musik auf Gemüse verschrieben hat – vom Gurkophon bis zur Sellerie-Percussion. Und wer bei der Verleihung des Ernst von Siemens Komponistenpreises 2018 an Clara Iannotta ganz genau hinsah, konnte einen Schlagzeuger dabei beobachten, wie er seinen Brummtopf zur Klangerzeugung mit einem außergewöhnlichen Hilfsmittel traktierte: Es war ein Dildo! 25

Wilfried Hiller bei<br />

den Proben zu Momo<br />

Vogel, der seit Langem stumm war, wieder<br />

zum Singen bringt. „Man muss ihm zuhören,<br />

auch wenn er nicht singt“, erklärt Momo ihr<br />

Geheimnis.<br />

Aber irgendwann wendet sich das Blatt.<br />

Ja, bereits zu Beginn des zweiten Aktes ist diese<br />

kleine heile Welt fest in Händen der grauen<br />

Herren von der Zeitsparkasse. Die Menschen<br />

können nicht mehr zuhören. Sie sind getrieben: schneller, schneller,<br />

weiter, weiter. Sie schauen auf die Uhr, rennen über die Bühne, kreuz<br />

und quer. Dazu die Melodie – übrigens von Michael Ende –, die<br />

immer schneller wird, bis sie Purzelbäume schlägt. Und bis Momo<br />

sagt: „Wir müssen etwas dagegen tun.“ Sie geht zu Meister Hora, der<br />

ihr die Stundenblume gibt. Damit schafft sie, dass die Menschen<br />

wieder zu sich kommen.<br />

Die grauen Herren von heute sind meist digital …<br />

Absolut. Und sie verhindern die direkte Kommunikation. Ich sehe<br />

das oft in Restaurants: Ehepaare, die während des Essens beide mit<br />

ihren Handys hantieren, aber nicht miteinander reden. Manchmal<br />

glaube ich schon, sie schreiben sich gegenseitig. Es ist verrückt.<br />

Was ist Ihre persönliche Erfahrung mit Zeit?<br />

Ich habe irgendwann mein Handy beiseitegelegt und es nie wieder<br />

hervorgeholt. Es hat mich nervös gemacht, auch wegen meines Herzschrittmachers.<br />

Aber es gab in meinem Leben eine Begegnung, die<br />

an Momo erinnert: Für mich war mein Lehrer Carl Orff so etwas<br />

wie der Meister Hora. Er hatte eine so ruhige Ausstrahlung – bei<br />

ihm blieb die Zeit stehen. Es war eine besondere Beziehung: Mein<br />

Vater war ja im Krieg gefallen, und Orff hatte nur eine Tochter. Seine<br />

Frau meinte einmal, ich sei der Sohn, den er nie bekommen habe.<br />

Sie haben viel von ihm übernommen …<br />

Ja, seine Ruhe und Leichtigkeit hatten durchaus auch Auswirkungen<br />

auf mich und meine Musik.<br />

Was an Momo hat Sie thematisch gereizt – die Zeit?<br />

Mich als Musiker hat noch viel mehr das Thema Zuhören und Zuhörenkönnen<br />

gereizt. Und dass es uns heute verloren<br />

gegangen ist.<br />

Wie aber kann man Zuhören hörbar machen?<br />

Die Zeitdauer spielt eine Rolle. Viele Menschen<br />

macht langsame Musik nervös. Dabei ist dieses<br />

Sichausbreiten doch das Schönste. Ich wollte<br />

auch Intervalle komponieren, die Ruhe ausstrahlen,<br />

Naturtöne, also die Töne, die mitklingen,<br />

wenn man einen Ton anschlägt, ich wollte Klangschalen<br />

benutzen. Tatsächlich ist es ja so, dass man die Leute, die ins Theater<br />

kommen, ins Zuhören bringen muss. Sie sind außer Atem, aufgeregt<br />

– und dann geht das Licht aus. Also muss ich sie erst mal runterholen.<br />

Und so beginnt die Musik erst mal ganz, ganz leise.<br />

Die ersten Takte klingen fast japanisch …<br />

Richtig! Ich bin fasziniert vom japanischen No-Theater. Das beginnt<br />

immer mit einer Nokan – eine Flöte, die das Theater eröffnet. Und<br />

so hab ich den ersten Satz, die erste Szene genannt. Die ersten drei<br />

Zeilen: Man hört fast nichts. Nur im Hintergrund die Besenstriche<br />

von Beppo. Bei Olivier Messiaen gibt es eine Fermate über eine ganze<br />

Seite. So hätte ich das auch gern, denn der Dirigent dirigiert das ja<br />

auch ganz anders als eine normale Fermate.<br />

Wie klingen die grauen Herren?<br />

Da ist richtig was los. Genau das Gegenteil von Momos Ausstrahlung<br />

– ständige Dissonanz. Immer Hochspannung, die nicht aufgelöst<br />

wird. Für die grauen Herren hab ich die großen japanischen<br />

Trommeln, die Schamanentrommeln, die staccatoartig gespielt werden.<br />

Es wird heftiger und intensiver. Die Leute bekommen Angst.<br />

Da merkt man, welchen Einfluss Musik auf die Psyche hat.<br />

Begreifen die Kinder, worum es geht?<br />

Ich glaube schon, dass die Musik das vermittelt, aber natürlich bin<br />

ich befangen. Das kriegen die Leute unbewusst mit. Giora Feidman<br />

hat einmal gesagt, als er in einer meiner Opern die Hauptrolle<br />

gespielt hat: „Das Wichtigste bei Hiller ist nicht nur die Musik, sondern<br />

der Raum zwischen den Tönen.“ So ist das wohl. n<br />

Als Gioachino Rossini in seiner Oper Il Signor Bruschino die<br />

zweiten Violinen mit ihren Geigenbögen an die Notenpulte klopfen<br />

ließ, war das ein waschechter Skandal – heute ein Schmunzelgarant.<br />

Dr. Goeths Kuriosa<br />

SINFONIE FÜR<br />

STABMIXER UND SELLERIE<br />

Ein paar exklusive Beispiele ausgewählt<br />

absonderlicher Geräuschkompositionen.<br />

Wer im 18. Jahrhundert die berühmte Kindersinfonie<br />

schrieb, wissen wir bis heute nicht. Sicher hingegen<br />

ist, dass die Besetzung Instrumente aus der Spielzeugkiste<br />

verlangt: Kuckuck, Wachtel, Ratsche, Orgelhenne<br />

(eine Art Wasserpfeife) und Cymbelstern.<br />

Im 20. Jahrhundert entwarf der Italiener Luigi Russolo um <strong>19</strong>13<br />

raumfüllende Lärm- und Geräuschinstrumente, die „Intonarumori“.<br />

George Gershwin ließ in An American in Paris Autohupen quäken,<br />

György Ligeti im Vorspiel zu Le Grand Macabre. John Cages CREDO<br />

IN US braucht eine Türklingel und Konservenbüchsen. Und Leroy<br />

Anderson verpasste <strong>19</strong>50 in The Typewriter einer Schreibmaschine<br />

die Hauptrolle – inklusive Zeilenende-Pling.<br />

Karlheinz Stockhausens Helikopter-Streichquartett erfordert<br />

neben der herkömmlichen Streicherbesetzung vier Hubschrauber,<br />

deren Rotorengeräusche sich mit dem gewohnten Klang mischen.<br />

Das 1. Deutsche Stromorchester musiziert ausschließlich auf Elektrogeräten<br />

wie Laubsaugern, Toastern und Mixern, während sich The<br />

Vegetable Orchestra der Musik auf Gemüse verschrieben hat – vom<br />

Gurkophon bis zur Sellerie-Percussion.<br />

Und wer bei der Verleihung des Ernst von Siemens Komponistenpreises<br />

2018 an Clara Iannotta ganz genau hinsah, konnte einen<br />

Schlagzeuger dabei beobachten, wie er seinen Brummtopf zur Klangerzeugung<br />

mit einem außergewöhnlichen Hilfsmittel traktierte: Es<br />

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