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CRESCENDO 1/19 Januar-März 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Diana Damrau, Max Richter und Wilfried Hiller. Mit Special zum Bauhaus-Jubiläum.

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Interviews unter anderem mit Diana Damrau, Max Richter und Wilfried Hiller. Mit Special zum Bauhaus-Jubiläum.

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K Ü N S T L E R<br />

C<br />

RESCENDO: Sie haben dem Leben in der Großstadt<br />

den Rücken gekehrt und sind aufs Land gezogen. Beeinflusst<br />

das auch Ihre Musik?<br />

Max Richter: Ich glaube, dass sich alles gegenseitig beeinflusst, und die<br />

Umgebung hat natürlich auch Einfluss auf das Gehirn. Trotzdem finde<br />

ich, jedes musikalische Werk hat irgendwie sein eigenes Ökosystem, in<br />

dem es sich entwickelt und aufblüht. Darum glaube ich nicht, dass<br />

Äußerlichkeiten so eine große Rolle spielen. Aber ich genieße zum Beispiel<br />

die Jahreszeiten sehr und nehme sie ganz bewusst wahr. Ich lebe<br />

nun mitten im Nirgendwo auf dem Land, und da bekommt man das<br />

sehr deutlich mit. Und es ist sehr schön,<br />

JEDES MEINER PROJEKTE IST<br />

EIN EXPERIMENT, MIT DEM ICH<br />

ETWAS HERAUSFINDEN ODER ZUM<br />

AUSDRUCK BRINGEN MÖCHTE<br />

dieses gemächliche Tempo zu beobachten,<br />

in dem sich alles verändert. Ich mag<br />

diese Langsamkeit um mich herum.<br />

Wenn man im Inneren und in der Fantasie<br />

viel beschäftigt ist – und das bringt<br />

das Komponieren ja mit sich –, braucht<br />

man viel Zeit für sich, damit sich die<br />

Ideen auch entwickeln können.<br />

Welche Ideen stecken denn in Ihrer preisgekrönten Filmmusik<br />

zu „Mary Queen of Scots“?<br />

Die beiden Frauen, um die es in diesem Film geht, die beiden Königinnen<br />

Maria Stuart und Elisabeth I., leben eigentlich in einer Welt, die<br />

den Männern gehört und in denen ihre Macht sehr eingeschränkt ist.<br />

Deshalb wollte ich mit den Stimmen der Frauen anfangen. Sie bilden<br />

quasi den Hintergrund, vor dem alles passiert. Man kann sich die Partitur<br />

wie ein Renaissancegemälde vorstellen, in dem die Farbe Schicht<br />

für Schicht auf den Untergrund aufgetragen wird, auf dem dann nach<br />

und nach immer mehr Elemente und Figuren im Vordergrund hinzugefügt<br />

werden.<br />

Welche Elemente sind das in diesem Fall?<br />

Es gibt sozusagen ein königliches Thema, das sich die Königinnen<br />

teilen und das vom Englischhorn gespielt wird. Außerdem haben<br />

wir viel Chormusik aufgenommen, die sozusagen die musikalische<br />

Landschaft gestaltet. Und es gibt Musik für die Antagonisten – in<br />

diesem Fall eigentlich alle Männer, die in dem Film vorkommen<br />

(schmunzelt). Diese Ebene wird vor allem durch orchestrale Musik<br />

gestaltet, die allerdings weniger kultiviert ist. Im Vordergrund<br />

erscheinen dann nach und nach weitere Themen und auch zeitgenössische<br />

klangliche Elemente. Außerdem gibt es viele Trommeln,<br />

die in der Musik inhaltlich eine wesentliche Rolle spielen. Sie deuten<br />

quasi an, wo es mit Mary hingehen wird. Sie begleiten ihre Exekution<br />

und die Beerdigung. Aber sie tauchen auch in Form von<br />

Marschmusik auf, im Thema, das für die Ehe steht, oder als königliche<br />

Paukenklänge.<br />

Haben Sie die Musik auf den fertig geschnittenen Film komponiert<br />

oder war er noch in der Entstehung?<br />

Ich habe nur einige Schnipsel gesehen, sodass ich einen Eindruck<br />

von der Atmosphäre und den Personen bekommen konnte. Dann<br />

habe ich mit dem Schreiben angefangen, und der Film hat parallel<br />

Gestalt angenommen. Es war ein sehr organischer Prozess. Es gibt<br />

immer einen eigenen Rhythmus und einen Workflow, und ich habe<br />

immer Interesse daran, den natürlichsten Weg zu finden. Manchmal<br />

muss man sich die ganze Zeit die Bilder anschauen, und manchmal<br />

kann die Musik einfach Musik sein und man nimmt sich dann,<br />

was man braucht. Ich glaube, das ist in jedem Projekt anders.<br />

Lernt man denn über die Filmmusik einen anderen Max Richter<br />

kennen als über eines Ihrer Soloprojekte?<br />

Ja, das sind für mich ganz unterschiedliche Dinge, aber ich könnte<br />

jetzt nicht sagen, dass mir das eine oder das andere mehr oder weniger<br />

Spaß macht. Die Arbeit an einem Kinofilm ist immer ein<br />

Gemeinschaftsprojekt. Es geht dabei grundsätzlich viel um Kommunikation<br />

und Zusammenarbeit. Und die Musik steht quasi im<br />

Dienst der Geschichte, die erzählt wird. Sie ist nur ein Element in<br />

einem großen Kontext, Filmmusik ist keine Sinfonie. Wohingegen<br />

ich bei einer Soloplatte oder in einem Orchesterstück alles genau so<br />

machen kann, wie ich es mir vorstelle, und ich mir dabei nur musikalische<br />

Fragen stellen muss.<br />

Sie haben nicht nur viele Soundtracks, sondern auch völlig unterschiedliche<br />

Soloprojekte realisiert. Was inspiriert Sie?<br />

In allen kreativen Konzepten stecken Fragen. Jede neue Idee von<br />

mir kann man als eine „Was-wäre-wenn-Frage“ verstehen, denn<br />

jedes meiner Projekte ist ein Experiment,<br />

mit dem ich etwas herausfinden<br />

oder zum Ausdruck bringen möchte.<br />

Eigentlich fühlt sich jedes Projekt<br />

unmöglich an, bevor ich loslege. John<br />

Cage hat mal gesagt: „Unsere Aufgabe<br />

als Künstler ist es, neugierig zu sein.“<br />

Das trifft es eigentlich ziemlich genau.<br />

Mit jeder Platte versuche ich herauszufinden,<br />

was es eigentlich ist, was ich da mache. Das klingt vielleicht<br />

paradox, aber das ist meine Vorgehensweise. Wenn ich dann am<br />

Ende zufrieden bin mit dem, was dabei herauskommt, dann ist das<br />

ein riesiger Erfolg, und ich bin sehr glücklich (lacht).<br />

Wie ist es dazu gekommen, dass Sie eine eigene Version von Vivaldis<br />

Die vier Jahreszeiten kreiert haben?<br />

Das Recomposing-Projekt zu den Jahreszeiten war mir ein ganz<br />

persönliches Bedürfnis (lacht). Als Kind habe ich mich in das Stück<br />

verliebt. Es ist ein wunderschönes virtuoses Stück voller Geschichten<br />

und Farben. Aber im Laufe der Jahre habe ich es dann eigentlich<br />

nur noch in der Werbung oder in einer Warteschleife oder im Aufzug<br />

gehört, und ich habe angefangen, das Stück zu hassen. Meine<br />

Bearbeitung war für mich dann sozusagen eine Rettungsmaßnahme<br />

und der Versuch wiederzuentdecken, was ich ursprünglich mal an<br />

dem Stück geliebt habe. Eine derartige Beziehung habe ich aber zu<br />

keinem anderen Stück.<br />

Für Ihr Projekt „Sleep“ haben Sie mal eine achtstündige Musik<br />

komponiert, die man schlafend auf sich wirken lassen soll. War<br />

das auch eine Selbsterfahrung?<br />

Schlaf hatte für mich immer schon eine große Bedeutung. Ich habe<br />

Schlafen immer als wichtigen Bestandteil in einem kreativen Prozess<br />

wahrgenommen, denn unser Geist ist dann ja nicht einfach<br />

ausgeknipst, er arbeitet nur anders. Als ich 2014 mit dem Projekt<br />

„Sleep“ begonnen habe, hatte ich das Gefühl, dass unser Leben im<br />

Alltag von Informationen regelrecht überflutet wird und dass das<br />

sehr anstrengend ist. Ich wollte einen kleinen Urlaub von all den<br />

Eindrücken und Informationen und Daten. Außerdem hat es mich<br />

interessiert, was die Musik aus neurologischer Sicht mit uns macht,<br />

wenn wir schlafen.<br />

Ihre Musik ist oft minimalistisch, die jüngste Filmmusik für<br />

„Mary Queen of Scots“ ist im Kontrast dazu sehr opulent. Gibt<br />

es etwas, das den Kern Ihrer musikalischen Sprache ausmacht?<br />

Sparsamkeit und Minimalismus sind mir sehr wichtig, aber es<br />

stimmt, „Mary Queen of Scots“ ist in gewisser Hinsicht tatsächlich<br />

regelrecht pompös. Das hängt in dem Fall wohl mit der Welt zusammen,<br />

die in dem Film dargestellt wird. Aber wenn man sich meine<br />

Soloplatten anschaut, dann steht im Mittelpunkt immer, dass man<br />

das Maximum aus dem Minimum herausholt. Ich<br />

bin an einer direkten Sprache interessiert, die sich<br />

ganz einfach anfühlt. Sie ist zwar nicht einfach,<br />

aber sie kommt so rüber (lacht).<br />

n<br />

„Mary Queen of Scots. Music by Max Richter“ (DG)<br />

16 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>19</strong>

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