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CRESCENDO 4/18 Juni-Juli-August 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit John Neumeier, Sophie Pacini, Hans Sigl und David Aaron Carpenter.

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des Jazz, bei neun „seriösen“ Komponisten von Gottschalk,<br />

Gershwin, über Copland, Barber, Carter und Ives bis zu den<br />

postmodernen Zeitgenossen Albright und Bolcom nachspürt.<br />

Im Mittelpunkt stehen zwölf Evergreens aus dem legendären<br />

Songbook George Gershwins, die Lively in den lakonisch-kurzen<br />

Originalversionen und mit einer für die Roaring Twenties<br />

typischen marionettenhaft-eckigen Ragtime-Attacke dem Hörer<br />

so aufreizend und trocken-prägnant um die Ohren schlägt, dass<br />

man wie von Taranteln gestochen unweigerlich mittanzen<br />

möchte. Das ist das Gegenteil von zuckersüßer Nostalgie, vielmehr<br />

eine elektrisierende, rigoros klare, lustvoll sprühende<br />

Wiederbelebung der subversiven Energien dieser niemals alternden<br />

Musik: simply irresistible!<br />

TOLDRÀ, RESPIGHI, KOMITAS, ROTA:<br />

SOUTHERN TUNES<br />

Ensemble Esperanza (Ars Produktion)<br />

Das Ensemble Esperanza ist ein international<br />

besetztes junges Streichorchester, das erst<br />

Ende 2015 in Liechtenstein gegründet wurde<br />

und das schon ein Jahr später mit seinem<br />

Debütalbum „Nordic Suites“ weltweit für Furore sorgte. Die mit<br />

15 Damen und vier Herren im Alter von 17 bis 29 Jahren besetzte<br />

Formation unter der Leitung der französischen Top-Geigerin<br />

Chouchane Siranossian hat jetzt seine zweite SACD veröffentlicht.<br />

Und wieder verzaubert sie auf Anhieb durch ihre Präzision,<br />

ihre warme sinnliche Klangkultur und ein jugendliches Feuer,<br />

das geballte positive Energie verströmt. Diesmal wendet das<br />

Ensemble den Blick nach Süden und hat die erst vor Kurzem entdeckte<br />

Suite per archi Respighis und das 1966 komponierte Concerto<br />

per archi von Nino Rota mit kaum bekannten Werken der<br />

Katalanen Eduard Toldrà (<strong>18</strong>95–1962) und des armenischen<br />

Komponisten Komitas (<strong>18</strong>69–1935) kombiniert. Beide Funde<br />

beschwören mit klassizistischer Eleganz die musikalischen Traditionen<br />

ihrer Regionen, wobei die magischen Miniaturen des<br />

vergessenen Armeniers intime Einblicke geben in eine fast ausgelöschte<br />

Kultur. Ein weiteres Top-Album einer mehr als hoffnungsvollen<br />

Formation.<br />

ACTITUD TANGUERA<br />

Luis Bacalov (Urania Records)<br />

Im November 2017 starb in Rom der große<br />

argentinische Filmkomponist Luis Bacalov.<br />

Er schrieb die Musik zu zahlreichen Italo-<br />

Western, aber auch zu Fellinis Stadt der<br />

Frauen, zu Pasolinis Matthäus-Passion und<br />

zu Radfords The Postman. Seine besondere Liebe galt dem argentinischen<br />

Tango, dem er diverse großformatige Werke widmete.<br />

Zwei Jahre vor seinem Tod spielte Bacalov im Alter von acht Jahren<br />

bei einem kleinen italienischen Musikfestival ein Klavierrecital<br />

mit einer Auswahl seiner liebsten Tangos und spannte<br />

einen Bogen von den „Klassikern“ wie Ignacio Cervantes und<br />

Isaac Albéniz über Carlos Gardel und Angel Villoldo bis zu den<br />

Reformern Astor Piazzolla, Ennio Morricone und ihm selbst. Es<br />

ist eines der schönsten, bewegendsten, musikalisch und pianistisch<br />

herausragendsten Tango-Alben, die ich je gehört habe, eine<br />

faszinierende Traumreise in den Seelenkern des Tango, dargeboten<br />

mit einer Zärtlichkeit, einer schneidigen Eleganz, einer<br />

schlackenlosen Prägnanz und einer inneren Glut, die einen vom<br />

ersten Akkord an fesselt, elektrisiert und fast zu Tränen rührt.<br />

Es ist unfassbar, welche humanen Lebensenergien der exzellente<br />

Pianist Bacalov diesen Miniaturen abtrotzt, wie er ohne jegliche<br />

Attitüde, ganz geradlinig und punktgenau die Leidenschaft, das<br />

Drama und den Schmerz des Tango auf seinem Steinway choreografiert<br />

und dabei immer nobel, präzis und gespannt bleibt: eine<br />

Sternstunde, ohne jeden Zweifel.<br />

STÄNDCHEN DER DINGE.<br />

„GEHT ES IMMER SO WEITER?“<br />

Franui (col legno)<br />

Mit herkömmlicher, seicht dröhnender<br />

Volksmusik hat Franui nichts zu tun. Die<br />

1993 in einem Osttiroler Bergdorf gegründete<br />

„Musicbanda“ adaptiert mit Vorliebe klassisches<br />

Liedgut von Schubert und Mahler und befreit sie mit der<br />

rustikalen Besetzung von sieben Bläsern, Zither, Hackbrett und<br />

Geige von allem zivilisatorischen Müll, von allem Konzertsaal-<br />

Mief. Zum 25. Jubiläum ziehen die zehn Bergvirtuosen eine Art<br />

Bilanz: Es ist eine aufregende Nabelschau mit rezitierenden Gästen,<br />

Erfolgstiteln und unveröffentlichten Raritäten – kurzum,<br />

der ganze Horizont ihres himmelblauen Alpenpanoramas. Trauermarsch<br />

und Polka bilden den Lebensrahmen dieser glasklaren,<br />

hart konturierten Musikkultur – „denn wenn man einen Trauermarsch<br />

viermal so schnell spielt, wird er zu einer Polka“. Bald<br />

merkt man, dass der bäuerliche Sound den wahren subversiven<br />

Kern der Truppe nur schützt und wie eine Tracht ihre ungezügelte<br />

Fantasie bemäntelt. So entsteht bei Franui aus der Asche<br />

der längst verbrannten „Volksmusik“ eine völlig neue Art von<br />

artifizieller Archaik, die auf raffinierte Weise Authentisches aus<br />

den unterschiedlichsten Quellen zusammenbraut: Dieser Zaubertrank<br />

berauscht und elektrisiert und verpasst dem geschundenen<br />

Genre einen unglaublichen Qualitätsschub.<br />

J. S. BACH: DIE KUNST DER FUGE<br />

Austrian Art Gang (Gramola)<br />

Von Bachs spätem Gipfelwerk Die Kunst der<br />

Fuge gibt es eine Unzahl von Adaptionen,<br />

aber eine Jazzversion war mir bisher nicht<br />

bekannt: Fünf klassisch ausgebildete österreichische<br />

Topmusiker, The Austrian Art<br />

Gang, haben nach langer Vorbereitung das Experiment gewagt,<br />

Bachs kunstvollsten Kontrapunkt-Zyklus in eine intim anmutende<br />

Kammermusiksphäre von Gitarre, Fagott, Cello, Kontrabass<br />

und wechselnden Vertretern der Saxofon- und Klarinettenfamilie<br />

zu versetzen und dabei diese Exempel der Strenge und<br />

Komplexität ganz zärtlich und respektvoll mit Leben zu füllen.<br />

Durch feine, behutsam eingearbeitete Improvisationslinien<br />

lockern sie in acht ausgewählten Fugen die engen Fesseln des<br />

strengen Kontrapunkts und verleihen den nunmehr frei atmenden<br />

Einzelstimmen menschliche Züge, ohne aber die strukturelle<br />

Logik von Bachs Architekturen anzutasten. So entsteht ein<br />

neues, sehr intimes und innerlich pulsierendes Spannungsfeld<br />

von Form und Freiheit, von Struktur und Impuls und eine Art<br />

menschlich durchlebter, atmender Kontrapunkt: Man spürt so<br />

in besonderer Weise die spirituelle Tiefe und die humane Kraft<br />

dieser Musik.<br />

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