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CRESCENDO 4/18 Juni-Juli-August 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit John Neumeier, Sophie Pacini, Hans Sigl und David Aaron Carpenter.

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seinem aktuellen Projekt Nijinsky oder dem gerade im Entstehen begriffenen Beethoven-Projekt (hier bei der Probenarbeit)<br />

FOTOS: KIRAN WEST<br />

Instrument zugleich. Man kann mit diesem Instrument balancieren<br />

oder lange auf einem Bein stehen oder hochspringen und so<br />

fort. Das entspricht der Sehnsucht des Publikums. In Mahler steckt<br />

für mich etwas davon.<br />

Er benutzt auch oft Tanzformen.<br />

Ja, Ländler oder Walzer oder Märsche. Diese Musik hat Fleisch<br />

und Blut. Ihre einfachen musikalischen Formen sind wie Klangbrücken<br />

in das Sublime, Tiefe oder auch überirdisch Reiche.<br />

Bei jungen Leuten ist Mahlers Musik gerade wegen ihrer<br />

emotionalen Grenzzustände beliebt. Sie haben oft das Gefühl,<br />

von ihm verstanden zu werden.<br />

Wenn man mit jungen Tänzern oder auch Schülern arbeitet, ist es<br />

faszinierend zu sehen, wie sie auf Mahler reagieren, wie sie die<br />

Musik ohne Hemmungen annehmen. Es gibt ja ein Vorurteil, die<br />

Jugend heute sei gefühllos. Ich glaube das Gegenteil. Die digitalen<br />

Möglichkeiten suggerieren ihnen, dass sie überhaupt nicht mehr zu<br />

kommunizieren brauchen. Aber der Hunger nach einem emotionalen<br />

Erlebnis ist immer noch da.<br />

Im <strong>Juni</strong> bringen Sie in Hamburg Ihr Beethoven-Projekt heraus.<br />

Beethoven ist neu für Sie. Was hat Sie an ihm entzündet?<br />

Praktisch gedacht: 2020 kommt das Beethoven-Jahr. Aber es hat<br />

bei mir schon früher angefangen. Ich habe im Urlaub alle Sinfonien<br />

angehört und dachte, es ist an der Zeit, dass ich Beethoven<br />

choreografiere. Außer für das Beethoven-Projekt benutze ich seine<br />

Musik für ein Schulprojekt: Zufällig hatte ich ein Album mit<br />

47 Beethoven-Tänzen: deutsche Tänze, Contredanses, Menuette<br />

und so weiter. Jedes dieser Stücke hat einen ganz besonderen Geist.<br />

Ich dachte, es sei reizvoll, sie zum 40. Jubiläum unserer Ballettschule<br />

tanzen zu lassen. Das war der Anfang.<br />

Beethoven gilt als Rebell, als hochpolitisch. Löst das etwas in<br />

Ihnen aus?<br />

Das Humane eher als das Politische. Politik ist kurz, Humanität ist<br />

lang. Ich glaube, ihn haben eher menschliche Werte interessiert.<br />

Wie kann man das hören in der Musik?<br />

Indem man nicht versucht, es hineinzuhören. Er hat sich öfters<br />

Dinge vorgestellt, um Musik zu schreiben. Geschichten oder<br />

Situationen, das sagt er selbst in Briefen. Er erzählt aber nichts<br />

Genaues darüber. Das finde ich faszinierend. So wird auch dieses<br />

Projekt sein. Ich werde nicht sagen, was es bedeutet.<br />

Das haben Sie ja bei den Mahler-Sinfonien auch nicht gemacht.<br />

Lesen Sie Partituren?<br />

Nicht beim Choreografieren. Wenn ich die Partitur mit einem<br />

Musiker studiere, dann weiß ich, wo die Flöte einsetzt oder die<br />

Violine. Aber am Anfang steht das Hören.<br />

Die Musik wirkt auf Sie. Wie muss ich mir den kreativen Prozess<br />

vorstellen?<br />

Der kreative Prozess beginnt mit einem „Ja.“ Das heißt, ich kann<br />

mir vorstellen, das zu choreografieren. Bei einem so großen Werk<br />

wie der Dritten Sinfonie von Gustav Mahler oder der Matthäuspassion<br />

von Bach hat dieses „Ja“ schon einen ziemlichen Widerhall.<br />

Dann kommt eine Zeit der Zweifel an diesem „Ja“, in der man<br />

studiert und versucht, das Werk in seiner Form, aus seiner Zeit<br />

heraus und in seiner Bedeutung zu verstehen.<br />

Das ist die kognitive Phase.<br />

Genau. Und wenn dann die Premiere naht und wir in den<br />

Ballettsaal gehen und beginnen, dann muss ich diese zweite Phase<br />

abschließen und versuchen, zu der ersten zurückzukommen.<br />

Sie vergessen alles, was Sie sich angeeignet haben?<br />

So gut es geht. Ich versuche, die Musik zu hören, als wäre es das erste<br />

Mal, und improvisiere. Ich deute die Bewegungen an, sodass die<br />

Tänzer, die natürlich jünger sind und physisch viel besser, sie in<br />

spezifische Bewegungen umsetzen können. Manchmal inspiriert sie<br />

das auch, noch weiterzugehen, wo ich dann sage: Ja, das war toll, das<br />

war gut. Oder auch, so habe ich es nicht gemeint. Es ist ein Dialog.<br />

Was auch bedeutet, dass auch Sie sich diesen jungen Menschen,<br />

mit denen Sie arbeiten, ganz ausliefern?<br />

So ist es.<br />

Das muss eine starke Bindung geben.<br />

Das gibt eine sehr starke Bindung. Deswegen habe ich die meisten<br />

Kreationen mit meiner eigenen Compagnie gemacht. Man muss<br />

viel Vertrauen aufbringen in so einer Situation, das macht auch<br />

manchmal Angst.<br />

Wenn Sie so viel mit jungen Leuten arbeiten: Wo sehen Sie die<br />

Zukunft des Genres Ballett?<br />

Dazu müsste ich Wissenschaftler oder Philosoph sein. Ich bin aber<br />

jeden Tag zwölf Stunden im Ballettzentrum. Da bleibt nicht sehr<br />

viel Zeit, um zu reisen und zu sehen, was andere machen. Ich<br />

versuche mich natürlich so gut es geht zu informieren.<br />

Aber in erster Linie bin ich Arbeiter. Ich<br />

bin im Ballettsaal und schwitze.<br />

■<br />

„Nijinsky“, John Neumeier, Hamburg Ballet (C Major)<br />

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