CRESCENDO 5/19 September-Oktober 2019
CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen.
CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen.
E R L E B E N INSPIRIERENDE OFFENHEIT Chefdirigent Christoph Koncz lenkt gemeinsam mit Isabelle van Keulen als künstlerischer Leiterin die musikalischen Geschicke der Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein. Orchestermanager Martin Jakubeit verspricht eine ereignisreiche Saison. VON RUTH RENÉE REIF Christoph Koncz Deutsche Kammerakademie Neuss Isabelle van Keulen Mit einer besonderen Uraufführung eröffnet die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein ihre neue Saison. Der mehrfach preisgekrönte Komponist Bernd Franke schreibt ARKA, drei Rituale für Pipa, Oboe, Streicher, Pauke und Schlagzeug. Seit den 1990er-Jahren unternimmt Franke ausgedehnte Reisen durch Südostasien und sammelt Eindrücke alternativer Musizierstrukturen, die er in seinen Werken zur Anwendung bringt. Die eigentümliche Klangfarbe der chinesischen Laute Pipa, die über einen kräftigen, mitunter scharfen Ton verfügt, vermittelt in Verbindung mit den Streichern ein außergewöhnliches Klangerlebnis. Für solche sorgt desgleichen die Geigerin Isabelle van Keulen, die vor zwei Jahren als Artist in Residence die künstlerische Leitung der Kammerakademie übernahm und nach der Bestätigung in ihrem Amt auch während der nächsten drei Jahre zumeist die Streicherkonzerte leiten und jenen wunderbar transparenten Streicherklang pflegen wird, dem das Orchester sein hervorragendes Renommee verdankt und der es zu einer der führenden Kammermusikformationen werden ließ. Umrahmt wird van Keulens Eröffnungsabend vom Einleitungssextett zur Oper Capriccio und der Streicherstudie Metamorphosen von Richard Strauss. Durch die Deutsche Kammerakademie fördert die Stadt Neuss junge hochbegabte Musiker, die kurz vor dem Abschluss ihres Musikstudiums stehen. Sie musizieren gemeinsam mit erfahrenen Kollegen, und dieses Zusammenwirken mit immer neu hinzukommenden jungen Musikern bringt Anregungen, schafft inspirierende Offenheit und Freimut sowie die Bereitschaft, sich mit Begeisterung neuen Kompositionen zuzuwenden. Im Laufe ihres über 40-jährigen Bestehens hat die Kammerakademie eine Reihe von vergessenen Werken wieder zum Klingen gebracht sowie zahlreiche neue Kompositionen DEUTSCHE KAMMERAKADEMIE NEUSS AM RHEIN Saison 2019/2020 Informationen und Kartenservice: www.deutsche-kammerkadademie.de uraufgeführt. Das breitgefächerte Repertoire erstreckt sich auf den Podien der Welt und im Tonstudio vom Barock bis zur Avantgarde. Ab dieser Saison hat das Orchester nun auch einen neuen Chefdirigenten. Christoph Koncz, der Stimmführer der zweiten Geigen bei den Wiener Philharmonikern, wurde mit diesen Aufgaben betraut. Er übernimmt die großen sinfonischen Projekte, da runter die sommerliche Klassiknacht im Rosengarten und das Neujahrskonzert, das den Neusser Auftakt zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven bildet. Darüber hinaus sorgen international tätige Dirigenten für musikalische Abwechslung. So kehrt Lavard Skou Larsen, der langjährige Chefdirigent des Orchesters, an seine einstige Wirkungsstätte zurück. Im Gepäck hat er Werke von Mozart, Chopin, Guillaume Lekeu sowie den Zyklus Die Torten von Hukváldy, Diego Contis Hommage an den Geburtsort von Leoš Janáček. Der Cellist Marc Coppey leitet ein klassisch-romantisches Gipfeltreffen mit Étienne-Nicolas Méhuls Ouvertüre zu seiner Oper Die Amazonen oder die Gründung Thebens sowie Werken von Beethoven und Schumann. Isabelle van Keulen huldigt mit der Pianistin Ulrike Payer, dem Bandoneonspieler Christian Gerber und dem Kontrabassisten Rüdiger Ludwig der Tango-Leidenschaft. Und zum Abschluss der Saison gibt der Geiger, Dirigent und Komponist Henning Kraggerud mit Musik aus dem Norden ein Gastspiel. Auf seinem Programm stehen Werke von Kurt Atterberg, Johan Halvorsen und Edvard Grieg sowie eine eigene Komposition. Mit ihr erinnert er an den Dichter Zacharias Topelius und setzt sich mit Ragnarök auseinander, jener Sage aus der nordischen Mythologie, die vom Untergang der alten Welt erzählt und vom Auferstehen einer neuen kündet. ■ FOTO: DEUTSCHE KAMMERKAKADEMIE NEUSS; NIKOLAJ LUND; BENJAMIN MORRISON 50 w w w . c r e s c e n d o . d e — September – Oktober 2019
SCHWERPUNKT KLAVIER! Nicht nur eine Frage des Geschmacks: die Giganten Steinway, Bösendorfer und Bechstein (Seite 54) Martha Argerich und Sophie Pacini sind mehr als nur Kolleginnen (Seite 60) Jazzpianist Ralf Schmid und sein ungewöhnliches Projekt zwischen zwei Flügeln: „Pyanook“ (Seite 66) Die 88-Tasten-Tabelle VON STEFAN SELL Rohe Kräfte Rekordverdächtig Kurios Klavier Zerhacken, verbrennen, in Milch tränken, „es gibt viele verschiedene Arten ein Klavier zu zerstören“, sagt die Künstlerin Andrea Büttner mit ihrer Videoinstallation Piano Destructions und hinterfragt Geschlechterrollen. Man sieht simultan Männer, die Klaviere kaputt machen, und Frauen, die Klaviere spielen. Der Sphinx-Flügel aus dem Hause Bechstein gilt mit einem derzeitigen Kaufpreis von einer Million Euro als der wohl teuerste Flügel der Welt. Sphinxleuchter aus 24-karätigem Gold flankieren die Tasten des teuren Klangkastens aus europäischem Tonholz im Mahagonikleid. Der „Quattrochord-Super- Flügel“ aus der Werkstatt des Klavierbauers August Förster hat die Besonderheit, mit einer Taste statt drei, vier Saiten anschlagen zu können. Kurios, dass die Nazis in ihrem Größenwahn dachten, mit diesem 700 Kilogramm schweren Instrument Steinway ausstechen zu können. Klavierspiel Clara Wieck erlebte in Wien 1838 Liszt im Konzert. Drei Flügel hat der Virtuose verschlissen: „Alle drei zerschlagen. Aber alles genial.“ Heine: „... daß Franz Liszt kein stiller Klavierspieler für ruhige Staatsbürger und gemüthliche Schlafmützen seyn kann, das versteht sich von selbst.“ Ist der Ungar Peter Bence mit 765 Anschlägen pro Minute der schnellste? Oder der Kroate Maksim Mrvica mit 16 Tönen pro Sekunde, also 960 Anschlägen pro Minute? Oder der ukrainische Jazzpianist Lubomir Melnik, der 19,5 Töne pro Sekunde spielt? Das wären, wenn er nicht schummelt 1.150 Anschläge pro Minute. Extravagant und luxuriös – der schrillste Klavierspieler war Liberace aka „GlitterMan“. Die Hände voller Ringe und unter Chinchilla-Pelz diamantglitzernd gekleidet, tobte er in Las Vegas über die Tasten. Seine Geschichte kam 2013 unter dem deutschen Titel „Zu viel des Guten ist wundervoll“ in die Kinos. Klavierbau Was waren das für Kräfte, als am 30. Dezember 2010 im polnischen Szymbark ein Flügel auf die Bühne gewuchtet wurde, der fast zwei Tonnen wog. Der polnische Klavierbauer Daniel Czapiewski hat mit dem Stolëmowi Klawér das schwerste Klavier der Welt gebaut. Ob ihm noch Kraft blieb, als es fertig war? Die größten Klaviere der Welt baut David Klavins. War sein Modell 370 mit 3,70 Meter schon hoch, hat er das mit seinem Modell 450i nochmals um 2,30 Meter in die Höhe getrieben. Zu hören und sehen ist es in Lettland, im Konzerthaus von Ventspils. Um es spielen zu können, muss man auf eine Treppe steigen. Kurios ist, wenn ein Flügel aus Eis gebaut ist. Wie spielt man den? Mit Handschuhen wie Glenn Gould? Was macht man, wenn er unter schmachtenden Klängen einfach so dahinschmilzt? In der chinesischen Stadt Harbin in der Provinz Heilongjiang war er bei -40 Grad 2004 auf dem Eisskulpturenfestival zu sehen. FOTOS: ALLAN WARREN; BECHSTEIN; AGENTUR 51
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SCHWERPUNKT<br />
KLAVIER!<br />
Nicht nur eine Frage des Geschmacks: die Giganten Steinway, Bösendorfer und Bechstein (Seite 54)<br />
Martha Argerich und Sophie Pacini sind mehr als nur Kolleginnen (Seite 60)<br />
Jazzpianist Ralf Schmid und sein ungewöhnliches Projekt zwischen zwei Flügeln: „Pyanook“ (Seite 66)<br />
Die 88-Tasten-Tabelle<br />
VON STEFAN SELL<br />
Rohe Kräfte Rekordverdächtig Kurios<br />
Klavier<br />
Zerhacken, verbrennen, in Milch<br />
tränken, „es gibt viele verschiedene<br />
Arten ein Klavier zu<br />
zerstören“, sagt die Künstlerin<br />
Andrea Büttner mit ihrer Videoinstallation<br />
Piano Destructions<br />
und hinterfragt Geschlechterrollen.<br />
Man sieht simultan Männer,<br />
die Klaviere kaputt machen, und<br />
Frauen, die Klaviere spielen.<br />
Der Sphinx-Flügel<br />
aus dem<br />
Hause Bechstein<br />
gilt mit einem<br />
derzeitigen Kaufpreis<br />
von einer<br />
Million Euro als der wohl teuerste<br />
Flügel der Welt. Sphinxleuchter<br />
aus 24-karätigem Gold<br />
flankieren die Tasten des teuren<br />
Klangkastens aus europäischem<br />
Tonholz im Mahagonikleid.<br />
Der „Quattrochord-Super-<br />
Flügel“ aus der Werkstatt<br />
des Klavierbauers August<br />
Förster hat die Besonderheit,<br />
mit einer Taste statt drei, vier<br />
Saiten anschlagen zu können.<br />
Kurios, dass die Nazis in ihrem<br />
Größenwahn dachten, mit<br />
diesem 700 Kilogramm schweren<br />
Instrument Steinway ausstechen<br />
zu können.<br />
Klavierspiel<br />
Clara Wieck erlebte in Wien 1838<br />
Liszt im Konzert. Drei Flügel<br />
hat der Virtuose verschlissen:<br />
„Alle drei zerschlagen. Aber alles<br />
genial.“ Heine: „... daß Franz Liszt<br />
kein stiller Klavierspieler für<br />
ruhige Staatsbürger und gemüthliche<br />
Schlafmützen seyn kann,<br />
das versteht sich von selbst.“<br />
Ist der Ungar Peter Bence mit<br />
765 Anschlägen pro Minute<br />
der schnellste? Oder der Kroate<br />
Maksim Mrvica mit 16 Tönen pro<br />
Sekunde, also 960 Anschlägen pro<br />
Minute? Oder der ukrainische<br />
Jazzpianist Lubomir Melnik, der<br />
<strong>19</strong>,5 Töne pro Sekunde spielt? Das<br />
wären, wenn er nicht schummelt<br />
1.150 Anschläge pro Minute.<br />
Extravagant und<br />
luxuriös – der schrillste<br />
Klavierspieler war<br />
Liberace aka „GlitterMan“.<br />
Die Hände<br />
voller Ringe und unter<br />
Chinchilla-Pelz diamantglitzernd<br />
gekleidet, tobte er in Las<br />
Vegas über die Tasten. Seine<br />
Geschichte kam 2013 unter dem<br />
deutschen Titel „Zu viel des Guten<br />
ist wundervoll“ in die Kinos.<br />
Klavierbau<br />
Was waren das für Kräfte, als am<br />
30. Dezember 2010 im polnischen<br />
Szymbark ein Flügel auf die<br />
Bühne gewuchtet wurde, der fast<br />
zwei Tonnen wog. Der polnische<br />
Klavierbauer Daniel Czapiewski<br />
hat mit dem Stolëmowi Klawér<br />
das schwerste Klavier der Welt<br />
gebaut. Ob ihm noch Kraft blieb,<br />
als es fertig war?<br />
Die größten Klaviere der Welt<br />
baut David Klavins. War sein<br />
Modell 370 mit 3,70 Meter schon<br />
hoch, hat er das mit seinem<br />
Modell 450i nochmals um 2,30<br />
Meter in die Höhe getrieben.<br />
Zu hören und sehen ist es in<br />
Lettland, im Konzerthaus<br />
von Ventspils. Um es spielen<br />
zu können, muss man auf<br />
eine Treppe steigen.<br />
Kurios ist, wenn ein Flügel aus Eis<br />
gebaut ist. Wie spielt man den? Mit<br />
Handschuhen wie Glenn Gould?<br />
Was macht man, wenn er unter<br />
schmachtenden Klängen einfach<br />
so dahinschmilzt? In der chinesischen<br />
Stadt Harbin in<br />
der Provinz Heilongjiang<br />
war er bei -40<br />
Grad 2004 auf dem<br />
Eisskulpturenfestival<br />
zu sehen.<br />
FOTOS: ALLAN WARREN; BECHSTEIN; AGENTUR<br />
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