CRESCENDO 5/19 September-Oktober 2019
CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen.
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Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen.
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Unerhörtes & neu Entdecktes<br />
von Christoph Schlüren<br />
SOWJETISCHE MEISTER UND<br />
EINE GANZ GROSSE ENTDECKUNG<br />
Historisches von Northern Flowers, Melodiya und Doremi.<br />
Über all der Propaganda von allen Seiten, die Leitsymptom<br />
des neuen Kalten Kriegs ist, wird leicht übersehen,<br />
wie viel freier und demokratischer Russland heute ist<br />
als zu Sowjetzeiten. Zugleich ist, wie überall, leider die<br />
gegenwärtige Gegenläufigkeit zu beobachten, dass mit<br />
zunehmend besserem Leben zunehmende kulturelle Dekadenz einhergeht.<br />
Große Komponisten sind in West und Ost mehr denn je<br />
Mangelware. So verwundert es nicht, wenn die beiden wichtigsten<br />
Labels des heutigen Russland, die in Moskau beheimatete Melodiya<br />
und die in Petersburg ansässigen Northern Flowers, ganz besonders<br />
mit historischen Veröffentlichungen glänzen.<br />
Northern Flowers hat nun erstmals sämtliche 13 Streichquartette<br />
von Nikolai Miaskowsky in einer Fünf-CD-Box veröffentlicht,<br />
die zudem mit sehr informativen Einführungen versehen ist. Das<br />
Taneyev-Quartett spielt die vielseitig herausfordernden Werke technisch<br />
brillant, doch waren insbesondere die akustischen Voraussetzungen<br />
Mitte der <strong>19</strong>80er-Jahre sehr trocken. Miaskowsky ist mit<br />
27 Gattungsbeiträgen weltbekannt als einer der fruchtbarsten Sinfoniker,<br />
wird jedoch fast nie außerhalb Russlands gespielt – was<br />
teils sehr zu bedauern ist, denn einige seiner Sinfonien zählen zum<br />
Wertvollsten im Sowjetbestand. Seine Quartette<br />
bezeugen kein geringeres Niveau und bestechen mit<br />
großartiger kontrapunktischer Verzahnung und<br />
Finesse, kühner Auslotung der traditionellen Tonalität,<br />
rhythmischer Mannigfaltigkeit, Eleganz und<br />
Wucht und untrüglichem Sinn für die große<br />
Form. Einige, wie etwa die Nummern 9 oder 11<br />
bis 13, sind von zeitlosem Karat, und schon mit<br />
den <strong>19</strong>30 als Opus 31 zusammengefassten ersten<br />
drei, die die seelischen Schrecken der Stalin-Ära<br />
seismografisch ausagieren, eroberte Miaskowsky<br />
das Königsgenre der Kammermusik im Sturm.<br />
Herrlich die unendlichen Facetten, die er Walzercharakteren<br />
abgewinnt, tiefe Abgründe tun sich in langsamen<br />
Sätzen auf, auch die klangliche Palette ist<br />
unerschöpflich.<br />
Höchst empfehlenswert ist auch eine Serie<br />
von Northern Flowers, die das sowjetische Petersburg<br />
zelebriert: Leningrad Symphonies, Leningrad<br />
Violin Concertos, Leningrad String Quartets. Jedes<br />
Mal ist hier der noch lebende Sergey Slonimsky dabei, einer der<br />
interessantesten Komponisten unserer Zeit, der in jedem Werk mit<br />
unvorhersehbarer Originalität und absoluter Meisterschaft fesselt,<br />
aber auch der Schostakowitsch-Schüler Venjamin Basner mit seinem<br />
melancholischen Ersten Quartett, der bedeutende Sinfoniker<br />
Orest Yevlakhov (Schüler von Schostakowitsch und Lehrer der<br />
gesamten Leningrader Komponistenprominenz), Yuri Falik am<br />
Scheideweg von Expressionismus und Dodekafonie (Sinfonien und<br />
Quartette), Vladislav Uspensky mit dem fantasiereichen Violindoppelkonzert<br />
Phantasmagoria oder German Okunev mit seinem<br />
hochexpressiven Zweiten Quartett bieten grandiose Einblicke in die<br />
vielschichtige Leningrader Szene, die hierzulande so gut wie unbekannt<br />
ist.<br />
Melodiya hat uns in letzter Zeit mit einem herrlichen Drei-<br />
CD-Album von Mieczysław Weinberg beglückt, dessen 100.<br />
Geburtstag am 8. Dezember ansteht. Schon jetzt kann man sagen,<br />
dass seine Entdeckung seit ungefähr zehn Jahren ein voller Erfolg<br />
ist. Hier ist er selbst als vortrefflicher Pianist mit Alla Vasilieva in<br />
seinen zwei Cellosonaten zu hören, dazu kommen Violin- und<br />
Bratschenwerke auf hohem Niveau, das Trompetenkonzert mit<br />
Timofei Dokschitzer und vor allem das großartige Siebte Quartett<br />
mit dem Borodin-Quartett.<br />
Herausragend unter den russischen Dirigenten<br />
war Alexander Gauk, der Liszts Faust-Sinfonie,<br />
Dukas’ Zauberlehrling und Strauss’ Till Eulenspiegel<br />
mit einer beherrschten Wildheit entstehen lässt, die<br />
kaum ihresgleichen kennt (Melodiya). Er war einer<br />
der ganz Großen, und man müsste viel mehr von<br />
ihm kennen. Doch die größte Überraschung ist<br />
die griechische Pianistin Vasso Devetzi (<strong>19</strong>27–<br />
<strong>19</strong>87), engste Freundin Maria Callas’, die fast nur<br />
in der Sowjetunion auftrat. Sie spielt auf einem<br />
bei Doremi erschienenen Album sämtliche Konzerte<br />
Johann Sebastian Bachs mit dem exzellenten<br />
Moskauer Kammerorchester unter Rudolf Barschai.<br />
Dass sie die meines Erachtens phänomenalste<br />
Bach-Spielerin der ganzen Epoche war, hört man<br />
am deutlichsten in der Chromatischen Fantasie und<br />
Fuge, die ich noch nie so zusammenhängend und<br />
fantasievoll gespielt vernommen habe. n<br />
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