15.05.2020 Aufrufe

CRESCENDO 5/19 September-Oktober 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen.

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Unerhörtes & neu Entdecktes<br />

von Christoph Schlüren<br />

SOWJETISCHE MEISTER UND<br />

EINE GANZ GROSSE ENTDECKUNG<br />

Historisches von Northern Flowers, Melodiya und Doremi.<br />

Über all der Propaganda von allen Seiten, die Leitsymptom<br />

des neuen Kalten Kriegs ist, wird leicht übersehen,<br />

wie viel freier und demokratischer Russland heute ist<br />

als zu Sowjetzeiten. Zugleich ist, wie überall, leider die<br />

gegenwärtige Gegenläufigkeit zu beobachten, dass mit<br />

zunehmend besserem Leben zunehmende kulturelle Dekadenz einhergeht.<br />

Große Komponisten sind in West und Ost mehr denn je<br />

Mangelware. So verwundert es nicht, wenn die beiden wichtigsten<br />

Labels des heutigen Russland, die in Moskau beheimatete Melodiya<br />

und die in Petersburg ansässigen Northern Flowers, ganz besonders<br />

mit historischen Veröffentlichungen glänzen.<br />

Northern Flowers hat nun erstmals sämtliche 13 Streichquartette<br />

von Nikolai Miaskowsky in einer Fünf-CD-Box veröffentlicht,<br />

die zudem mit sehr informativen Einführungen versehen ist. Das<br />

Taneyev-Quartett spielt die vielseitig herausfordernden Werke technisch<br />

brillant, doch waren insbesondere die akustischen Voraussetzungen<br />

Mitte der <strong>19</strong>80er-Jahre sehr trocken. Miaskowsky ist mit<br />

27 Gattungsbeiträgen weltbekannt als einer der fruchtbarsten Sinfoniker,<br />

wird jedoch fast nie außerhalb Russlands gespielt – was<br />

teils sehr zu bedauern ist, denn einige seiner Sinfonien zählen zum<br />

Wertvollsten im Sowjetbestand. Seine Quartette<br />

bezeugen kein geringeres Niveau und bestechen mit<br />

großartiger kontrapunktischer Verzahnung und<br />

Finesse, kühner Auslotung der traditionellen Tonalität,<br />

rhythmischer Mannigfaltigkeit, Eleganz und<br />

Wucht und untrüglichem Sinn für die große<br />

Form. Einige, wie etwa die Nummern 9 oder 11<br />

bis 13, sind von zeitlosem Karat, und schon mit<br />

den <strong>19</strong>30 als Opus 31 zusammengefassten ersten<br />

drei, die die seelischen Schrecken der Stalin-Ära<br />

seismografisch ausagieren, eroberte Miaskowsky<br />

das Königsgenre der Kammermusik im Sturm.<br />

Herrlich die unendlichen Facetten, die er Walzercharakteren<br />

abgewinnt, tiefe Abgründe tun sich in langsamen<br />

Sätzen auf, auch die klangliche Palette ist<br />

unerschöpflich.<br />

Höchst empfehlenswert ist auch eine Serie<br />

von Northern Flowers, die das sowjetische Petersburg<br />

zelebriert: Leningrad Symphonies, Leningrad<br />

Violin Concertos, Leningrad String Quartets. Jedes<br />

Mal ist hier der noch lebende Sergey Slonimsky dabei, einer der<br />

interessantesten Komponisten unserer Zeit, der in jedem Werk mit<br />

unvorhersehbarer Originalität und absoluter Meisterschaft fesselt,<br />

aber auch der Schostakowitsch-Schüler Venjamin Basner mit seinem<br />

melancholischen Ersten Quartett, der bedeutende Sinfoniker<br />

Orest Yevlakhov (Schüler von Schostakowitsch und Lehrer der<br />

gesamten Leningrader Komponistenprominenz), Yuri Falik am<br />

Scheideweg von Expressionismus und Dodekafonie (Sinfonien und<br />

Quartette), Vladislav Uspensky mit dem fantasiereichen Violindoppelkonzert<br />

Phantasmagoria oder German Okunev mit seinem<br />

hochexpressiven Zweiten Quartett bieten grandiose Einblicke in die<br />

vielschichtige Leningrader Szene, die hierzulande so gut wie unbekannt<br />

ist.<br />

Melodiya hat uns in letzter Zeit mit einem herrlichen Drei-<br />

CD-Album von Mieczysław Weinberg beglückt, dessen 100.<br />

Geburtstag am 8. Dezember ansteht. Schon jetzt kann man sagen,<br />

dass seine Entdeckung seit ungefähr zehn Jahren ein voller Erfolg<br />

ist. Hier ist er selbst als vortrefflicher Pianist mit Alla Vasilieva in<br />

seinen zwei Cellosonaten zu hören, dazu kommen Violin- und<br />

Bratschenwerke auf hohem Niveau, das Trompetenkonzert mit<br />

Timofei Dokschitzer und vor allem das großartige Siebte Quartett<br />

mit dem Borodin-Quartett.<br />

Herausragend unter den russischen Dirigenten<br />

war Alexander Gauk, der Liszts Faust-Sinfonie,<br />

Dukas’ Zauberlehrling und Strauss’ Till Eulenspiegel<br />

mit einer beherrschten Wildheit entstehen lässt, die<br />

kaum ihresgleichen kennt (Melodiya). Er war einer<br />

der ganz Großen, und man müsste viel mehr von<br />

ihm kennen. Doch die größte Überraschung ist<br />

die griechische Pianistin Vasso Devetzi (<strong>19</strong>27–<br />

<strong>19</strong>87), engste Freundin Maria Callas’, die fast nur<br />

in der Sowjetunion auftrat. Sie spielt auf einem<br />

bei Doremi erschienenen Album sämtliche Konzerte<br />

Johann Sebastian Bachs mit dem exzellenten<br />

Moskauer Kammerorchester unter Rudolf Barschai.<br />

Dass sie die meines Erachtens phänomenalste<br />

Bach-Spielerin der ganzen Epoche war, hört man<br />

am deutlichsten in der Chromatischen Fantasie und<br />

Fuge, die ich noch nie so zusammenhängend und<br />

fantasievoll gespielt vernommen habe. n<br />

39

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!