CRESCENDO 5/19 September-Oktober 2019
CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen.
CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen.
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H Ö R E N & S E H E N<br />
OPER<br />
ALTE<br />
MUSIK<br />
Leo Nucci<br />
Zwischen Pflicht und Liebe<br />
Venezianische Intrigen: Zu seiner sechsten Oper I due Foscari (1844)<br />
ließ sich Giuseppe Verdi von der tragischen Geschichte des letzten<br />
Dogen inspirieren. Das gleichnamige Versdrama des englischen Dichters<br />
Lord Byron über Francesco Foscari und seinen unschuldig wegen<br />
Mordes verurteilten Sohn diente ihm als Vorlage. Für die Opernbühne<br />
sei das Stück jedoch nicht wirkungsvoll genug, fand der junge Komponist.<br />
Gleich im ersten Akt müsse es „krachen“ („un po’ di fracasso“).<br />
Librettist Francesco Maria Piave straffte die Handlung, Verdi setzte<br />
neue musikalische Akzente. Das Münchner Rundfunkorchester unter<br />
seinem Chefdirigenten Ivan Repušić hat die Oper vorzüglich für das<br />
Eigenlabel des Bayerischen Rundfunks eingespielt. Mit starkem Ausdruck<br />
singt der sizilianische Tenor Ivan Magrì die Partie des verzweifelten<br />
Jacopo Foscari, an seiner Seite überzeugt die chinesische Sopranistin<br />
Guanqun Yu als Ehefrau Lucrezia Contarini. Den zwischen Amtspflichten<br />
und der Liebe zur Familie zerrissenen Dogen verkörpert der<br />
legendäre italienische Bariton Leo Nucci. CK<br />
Giuseppe Verdi: „I due Foscari“, Leo Nucci, Guanqun Yu,<br />
Ivan Magrì u. a., Chor des Bayerischen Rundfunks,<br />
Münchner Rundfunkorchester, Ivan Repušić (BR Klassik)<br />
Track 2 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />
Eccomi solo alfine – O vecchio cor, che batti<br />
Leo van Doeselaar und Erwin Wiersinga<br />
Orgelgemäßes Licht auf Bach<br />
Bach-Bearbeitungen gibt es wie Sand am Meer: unzählige. Und scheinbar<br />
gibt es noch nicht genug. Jedenfalls haben sich die niederländischen Organisten<br />
Leo van Doeselaar und Erwin Wiersinga noch mal an die Arbeit<br />
gemacht und das getan, was unzählige Komponisten und auch Bach selbst<br />
schon vor ihnen getan haben: Werke des Thomaskantors für Orgel eingerichtet.<br />
Bach soll hier „aus einem neuen Blickwinkel“ präsentiert werden.<br />
Das funktioniert verblüffend gut. Zum einen weil beide Interpreten die<br />
historischen Instrumente der Groninger Martinikerk wunderbar vielseitig<br />
ausnutzen und mit einer geradezu überwältigenden Spielfreude ans Werk<br />
gehen. Zum anderen werfen auch die eigens angefertigten Bearbeitungen<br />
ein neues, orgelgemäßes Licht auf Bach. So ist es<br />
insgesamt nicht zu viel versprochen, dass man<br />
Bach hier tatsächlich völlig neu hört – und erfrischend<br />
wie am ersten Tag. GK<br />
Johann Sebastian Bach: „A New Angle“, Leo van Doeselaar,<br />
Erwin Wiersinga (MDG)<br />
Ragna Schirmer<br />
Seelenverwandt<br />
Dass Ragna Schirmer sich nicht des großen Jubiläums wegen mit Clara<br />
Schumann auseinandergesetzt hat, ist in jeder Note zu hören. Die tiefe<br />
Verbundenheit zum Leben und Werk dieser außergewöhnlichen Musikerin<br />
pflegt Schirmer seit ihrer Kindheit, und davon zeugt jeder Augenblick ihres<br />
seelenverwandten Spiels. Ragna Schirmer ist die Expertin des Clara Schumann-Jahrs.<br />
Ihre Interpretation pendelt zwischen einfühlsam erhabener<br />
Behutsamkeit und kraftvoll treibender Präsenz, man glaubt, die 16-jährige<br />
Clara säße wie bei der Uraufführung am Klavier und Mendelssohn leite das<br />
Orchester. Bravourös spielt sie die pianistischen Höhenflüge im Dritten<br />
Satz, als seien sie ihr geradezu in die Finger geschrieben. Das folgende Klaviertrio,<br />
Claras einziges Kammermusikwerk, gilt es hier neu zu entdecken,<br />
es ist atemberaubend schön, nicht „weibisch<br />
sentimental”, wie die Komponistin in vorauseilender<br />
Zurücknahme ins Tagebuch<br />
schrieb. SELL<br />
Clara Schumann: „Trio & Concerto“, Ragna<br />
Schirmer, Staatskapelle Halle, Ariane Matiakh<br />
(Berlin Classics)<br />
Nelson Goerner<br />
Eine Offenbarung<br />
VINYL<br />
SOLO<br />
Der argentinische Pianist Nelson Goerner widmet sein Album zwei polnischen<br />
Klavierlegenden: Ignacy Jan Paderewski (1860-<strong>19</strong>41) und Leopold<br />
Godowski (1870-<strong>19</strong>38). Beide waren Virtuosen am Klavier in einer Zeit,<br />
in der es durchaus üblich war, dass Künstler in ihren Konzerten auch<br />
eigene, technisch anspruchsvolle Werke präsentierten. Dementsprechend<br />
schwer sind diese Kompositionen. Paderewski schrieb selbst über seine<br />
Variationen und Fuge über ein Originalthema op. 23: „Ich denke dieses Werk<br />
ist meine beste Klavierkomposition. Es ist extrem schwer und vielleicht<br />
zu lang, aber es enthält einige Dinge die in ihrem Charakter und ihrer<br />
Neuartigkeit beinahe eine Offenbarung sind.“ Zu lang wird dieses Werk,<br />
das das Herzstück der CD darstellt, in Goerners Händen keinesfalls. Er<br />
spielt detailverliebt mit einer Eleganz und Feinheit, die man so nicht oft<br />
hört. Sowohl in Paderewskis Variationen, als auch in Godowskis nicht<br />
weniger komplexen Symphonischen Metamorphosen über Johann Strauß<br />
Künstlerleben. Eine besondere Offenbarung ist<br />
Paderewskis beinahe schmerzhaft schönes<br />
Nocturne in B-Dur. SK<br />
Ignacy Jan Paderewski: „Variations et fugue” und Leopold<br />
Godowski: „Symphonische Metamorphosen”, Nelson Goerner<br />
(Narodowy Institut Fryderyka Chopina)<br />
Thomas Girst<br />
Lob der Langsamkeit<br />
Zunächst habe er für sich allein Halt gesucht. „Halt in einer Welt, in<br />
der sich das Hässliche immer schneller auszubreiten und das Schöne<br />
umso schützenswerter erscheint“, beginnt Thomas Girst sein Buch. Im<br />
wirklichen Leben ist er Leiter des Kulturengagements der BMW Group.<br />
Dafür wurde er 2016 als „Europäischer Kulturmanager des Jahres“ ausgezeichnet.<br />
Nachts findet er Zeit für seine zweite große Leidenschaft:<br />
das Schreiben. In einem Zeitalter, in dem alles schnell und<br />
effizient sein muss, setzt er einen Kontrapunkt<br />
und adelt die Langsamkeit in 28 Geschichten von<br />
Künstlern und Wissenschaftlern mit langem Atem.<br />
Natürlich darf auch das längste Musikstück der<br />
Welt nicht fehlen: John Cages Orgelwerk As Slow<br />
As Possible, das in Halberstadt aufgeführt wird –<br />
und im <strong>September</strong> des Jahres 2639 endet. Girst<br />
hat den Nerv der Zeit getroffen: Inzwischen geht<br />
sein Buch in die dritte Auflage. BS<br />
Thomas Girst: „Alle Zeit der Welt“ (Hanser Verlag)<br />
BUCH<br />
Erika Pluhar<br />
Mut zum Widerspruch<br />
„Die Gelassenheit braucht kein Trotzdem. Aber man braucht viel<br />
Trotzdem, um gelassen zu werden.“ Immer wieder: das Trotzdem. Ein<br />
Wort, das ihr „lebensnotwendig“ geworden ist: „Trotzdem kämpfen<br />
wir. Trotzdem glauben wir. Trotzdem lieben wir ...“ Ja, sie kämpft, sie<br />
glaubt, und sie liebt. Und sagt vielleicht gerade wegen dieses „Trotzdems“,<br />
schön sei immer das, was stimmt. Erika Pluhar,<br />
inzwischen 80-jährig, zeigt in ihren so klugen wie kurzweiligen<br />
und kontroversen Schriften, Reden und Essays, dass<br />
sie sowohl einen Sinn für das „Ja, aber ...“ im Leben hat, als<br />
auch für ein Ja zum Hier und Jetzt. Sie nimmt Stellung zu<br />
Themen wie Frau-Sein, Obdachlosigkeit, Rassismus,<br />
Männerschnupfen, Gier und Zeitgeist; sie ehrt Menschen,<br />
klagt an, verabschiedet sich. Pluhar schaut hin, hält nicht<br />
still. Aber in jedem Gedanken, in jeder Zeile spürt man,<br />
dass sie das Leben liebt. Und die Menschen. Trotzdem ... BS<br />
Erika Pluhar: „Die Stimme erheben. Über Kultur, Politik und Leben“<br />
(erscheint am 24.9. im Residenz Verlag)<br />
38 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>