CRESCENDO 5/19 September-Oktober 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen. CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen.

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15.05.2020 Aufrufe

H Ö R E N & S E H E N DAS COMEBACK Vladimir Horowitz in der Carnegie Hall – Proben, Privatkonzert und der Auftritt nach zwölf Jahren Konzertabstinenz. VON KLAUS KALCHSCHMID FOTO: DON HUNSTEIN / SONY MUSIC ENTERTAINMENT Vladimir Horowitz am 9. Mai 1965 in der New Yorker Carnegie Hall Vor zwei Jahren hat Sony auf fünf CDs (+ Interview + die fertige Einspielung auf CD + LP) alle Aufnahmesitzungen für die 1955er-Einspielung Glenn Goulds der Goldberg-Variationen Bachs veröffentlicht: ein spannendes, erhellendes und vorzüglich durch üppiges Material in Bild, Verschriftung und Notenform begleitetes Projekt. Nun gibt es Ähnliches, etwas schlanker in der Ausstattung, auf elf CDs (+ vier CDs mit den beiden Konzerten und anderthalb Stunden Interview mit Abram Chasins), wieder mit zahlreichen Fotos für Vladimir Horowitz’ Comeback in den Konzertsaal nach zwölf Jahren Abstinenz. Der damals 61-Jährige hat es akribisch unter Live-Bedingungen vorbereitet und für die Konzerte in der Carnegie Hall vor Ort Probedurchläufe ohne Publikum absolviert. Sie wurden technisch exzellent mitgeschnitten und klingen, brillant digital restauriert, teilweise noch poetischer, intimer und bezaubernder als die entsprechenden Werke im Live-Konzert vor großem Publikum. Das betrifft vor allem Mozarts A-Dur-Sonate KV 331, die bei der Probe am 5. April 1966 schlicht vollendet klingt in jeder Hinsicht, oder feine Scarlatti-Mirakel. Mit Blick auf den großen Saal und die Entfernung zum Hörer werden sie später klanglich und in den dynamischen Kontrasten größer dimensioniert und verlieren so den Zauber des Unmittelbaren und Privaten. Domenico Scarlattis E-Dur-Sonate K 380 (L 23) etwa spielt Horowitz als mögliche Zugabe in der Probe am 7. April 1965, Tage vor dem ersten, und am 5. April 1966, Tage vor dem zweiten Konzert. Beim ersten Mal kündigt er auf Englisch an: „Okay, jetzt werde ich nur kleine Stücke spielen!“ und lässt dem überwältigend zarten Scarlatti jeweils gut zweiminütigen Rachmaninow, Chopin, Moszkowski und Liszt folgen; eine Petitesse berückender als die andere, ohne Applaus dazwischen wie sonst bei Zugaben. Skrjabins op. 70 klingt dagegen ein halbes Jahr nach einem privaten beim öffentlichen Konzert 1966 im Pianissimo oftmals noch luzider und filigraner, in den Ausbrüchen und den wilden Triller-Ketten dagegen nervös flirrender, exzentrischer und farbiger. Man kann diese CDs mit ungemein plastischer, technisch wie musikalisch ausgefeilt und inspiriert gespielter (Klavier-)Musik und launigen, manchmal fast beschwipst klingenden Kommentaren von Horowitz (sowie seiner Tontechniker und der grauen Eminenz im Hintergrund, Gattin Wanda Toscanini Horowitz) chronologisch hören; man kann aber auch einzelne Stücke direkt vergleichen. Zur Auswahl stehen im Vorfeld der beiden Konzerte Bach/Busoni (Toccata, Adagio und Fuge C-Dur BWV 564), Schumanns Fantasie op. 17, Beethoven (32 Variationen über ein eigenes Thema), Skrjabins Neunte (Schwarze Messe) und Zehnte Sonate, aber auch Chopin (u. a. Erstes Scherzo oder die Erste Ballade), besagter Mozart und diverse Scarlatti-Sonaten oder andere kleine Stücke. So minutiös der Blick hinter die Kulissen ist und etwa auch virtuose Improvisationen zum Einspielen dokumentiert, so rätselhaft bleibt anderes, etwa der Mitschnitt eines Privatkonzerts, bei dem es plötzlich einen Stromausfall gab, der weite Teile Kanadas und der USA umfasste, weshalb der Nachmittag des 9. November 1965 als „The Northeast Blackout Concert“ in die Geschichte einging. Nach der hier nur einmal dokumentierten und bei keinem der Konzerte 1965/66 gespielten, ungemein spannend dargebotenen frühen Beethoven-Sonate (D-Dur op. 10/3) und Skrjabins Zehnter Sonate sowie dem darauf folgenden Applaus endet der Mitschnitt ganz konventionell. Von der Chopin’schen Polonaise-fantaisie, die Horowitz laut Zeitungsbericht bravourös im Dunkeln beendete, aber ist keine Spur auf den Bändern erhalten, offenbar wurde das aus technischen Gründen unvermittelt abbrechende Chopin-Fragment gelöscht. n „The Great Comeback. Horowitz at Carnegie Hall. The unreleased private recitals preceding his return in 1965“ (Sony) 32 w w w . c r e s c e n d o . d e — SeptemberOktober 2019

OPER Wiener Staatsoper Alte und neue Juwelen aus dem Archiv Eine Jubiläums-Box mit neun teilweise erstmals veröffentlichten Live-Mitschnitten sowie einer Doppel-CD mit Arien und Szenen: Das ergibt insgesamt knapp 24 Stunden Oper zwischen Mozart und Schostakowitsch mit illustren Besetzungen und den Wiener Philharmonikern in ihrem Hauptberuf als Mitglieder des Staatsopernorchesters. Etliches ist Sammlern zwar vertraut, etwa der Wozzeck (1955) sowie, ebenfalls unter Böhm, die im besten Sinne haarsträubende Elektra (1965). Gleichfalls schon offiziell zu haben war ein Karajan-Fidelio (1962) mit dem expressiven Paar Ludwig/Vickers, neu hingegen ist sein Live-Figaro (1977), der im Vergleich zur nahezu identisch besetzten, aber etwas anämischen Studioproduktion eine quirlige Aufführung aus Fleisch und Blut darstellt. Wahrlich übersprudelnd vor Witz und Spielfreude ist Abbados Viaggio a Reims mit All-Star-Cast (1988). Aus der Ära Meyer ist zu hören, wie sich in Tristan und Isolde unter Welser-Möst Stemme am Beginn und Seiffert gegen Ende ihrer jeweils besten Zeit eindrucksvoll treffen oder wie in Eugen Onegin Hvorostovsky und Netrebko (in einer ihrer besten Partien) tragisch aneinander vorbeilieben (beides 2013). In Thielemanns schwelgerischer Ariadne entzückt inmitten eines starken Ensembles die jugendlich schimmernde Isokoski in der Titelpartie (2014); neben Stoyanowas Perlmuttsopran und erneut Hvorostovsky liefert Beczala in Un ballo in maschera eine weiträumiger phrasierte Alternative zu seinem Rollendebüt in München kurz davor (2016). Schade, dass das Booklet nur Inhaltsangaben anstatt Würdigungen der Aufführungen enthält. WW „150 Years Wiener Staatsoper – The Anniversary Edition“: „Wozzeck“ (Böhm), „Fidelio“ (Karajan), „Elektra“ (Böhm), „Le nozze di Figaro“ (Karajan), „Il viaggio a Reims“ (Abbado), „Eugen Onegin“ (Nelsons), „Tristan und Isolde“ (Welser-Möst), „Ariadne auf Naxos“ (Thielemann), „Un ballo in maschera“ (López Cobos); „Legendary Voices of the Wiener Staatsoper“ (Orfeo) Deutsche Oper Berlin Zweite Auferstehung Schon einmal wurde Das Wunder der Heliane wiederentdeckt – und geriet doch wieder in Vergessenheit. Dabei hielt Erich Wolfgang Korngold die opulente, 1927 in Hamburg uraufgeführte Oper mit ihrem rauschhaften Pathos, den schillernden Orchesterfarben und ihrer hochexpressiven Harmonik für seine beste Komposition. Mit der frenetisch umjubelten Neuproduktion an der Deutschen Oper Berlin in einer Inszenierung von Christof Loy und unter der musikalischen Leitung von Marc Albrecht feierte die Oper ihre zweite Auferstehung. Die in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt als Wiederentdeckung des Jahres 2018 ausgezeichnete Produktion ist nun auf DVD und Blu-ray Disc erschienen. Sara Jakubiak, Brian Jagde und Josef Wagner in den Hauptpartien garantieren zusammen mit einem kinotauglichen Filmschnitt einen packenden Opernabend zu Hause. FA Erich Wolfgang Korngold: „Das Wunder der Heliane“, Deutsche Oper Berlin, Sara Jakubiak, Brian Jagde, Josef Wagner, Orchester und Chor der Deutschen Oper Berlin, Marc Albrecht, Christof Loy (Naxos) HK Gruber 100. Geburtstag von Gottfried von Einem In der letzten Spielzeit wurde erneut deutlich, welch starke Stücke von Einems Literaturopern Dantons Tod und Der Besuch der alten Dame sind. Das gilt auch für den konzertanten Mitschnitt von Der Prozess bei den Salzburger Festspielen 2018 – „neun Bilder in zwei Teilen“, wie sie 1953 unter Karl Böhm zur Uraufführung gelangten. Die Hommage dirigierte HK Gruber, der in seinen eigenen Opern eine vergleichbare kompositorische Wendigkeit zeigt. Man hört in dieser Kafka-Vertonung deutlich, wie von Einem Kurt Weills Patchwork von Stilen und musikalischen Mustern sinnfällig weitertreibt. Die meist tonale Partitur macht den Weg des Herrn K. von der Verhaftung bis zur drohenden Hinrichtung zu einem motorisch aufheizenden statt düsteren Spiel. Von Einem griff hier Mittel der Zeitopern vor 1933 kurzweilig auf. Die Neueinspielung glänzt mit einem Ensemble auf hohem Niveau. DIP Gottfried von Einem: „Der Prozess“, Michael Laurenz, Jochen Schmeckenbecher, Matthäus Schmidlechner u. a., Radio-Symphonieorchester Wien, HK Gruber (Capriccio) PTC 5186781 PTC 5186 764 PTC 5186737 Felix & Fanny Mendelssohn Johannes Moser, Alasdair Beatson Ebenfalls erschienen: www.pentatonemusic.com Neues Album Neues Album Neues Album 33 Im Vertrieb von NAXOS Deutschland

H Ö R E N & S E H E N<br />

DAS COMEBACK<br />

Vladimir Horowitz in der Carnegie Hall – Proben, Privatkonzert und<br />

der Auftritt nach zwölf Jahren Konzertabstinenz.<br />

VON KLAUS KALCHSCHMID<br />

FOTO: DON HUNSTEIN / SONY MUSIC ENTERTAINMENT<br />

Vladimir<br />

Horowitz am<br />

9. Mai <strong>19</strong>65 in<br />

der New Yorker<br />

Carnegie Hall<br />

Vor zwei Jahren hat Sony auf fünf CDs (+ Interview +<br />

die fertige Einspielung auf CD + LP) alle Aufnahmesitzungen<br />

für die <strong>19</strong>55er-Einspielung Glenn Goulds der<br />

Goldberg-Variationen Bachs veröffentlicht: ein spannendes,<br />

erhellendes und vorzüglich durch üppiges<br />

Material in Bild, Verschriftung und Notenform begleitetes Projekt.<br />

Nun gibt es Ähnliches, etwas schlanker in der Ausstattung, auf elf<br />

CDs (+ vier CDs mit den beiden Konzerten und anderthalb Stunden<br />

Interview mit Abram Chasins), wieder mit zahlreichen Fotos für<br />

Vladimir Horowitz’ Comeback in den Konzertsaal nach zwölf Jahren<br />

Abstinenz. Der damals 61-Jährige hat es akribisch unter Live-Bedingungen<br />

vorbereitet und für die Konzerte in der Carnegie Hall<br />

vor Ort Probedurchläufe ohne Publikum absolviert. Sie wurden<br />

technisch exzellent mitgeschnitten und klingen, brillant digital<br />

restauriert, teilweise noch poetischer, intimer und bezaubernder<br />

als die entsprechenden Werke im Live-Konzert vor großem Publikum.<br />

Das betrifft vor allem Mozarts A-Dur-Sonate KV 331, die bei<br />

der Probe am 5. April <strong>19</strong>66 schlicht vollendet klingt in jeder Hinsicht,<br />

oder feine Scarlatti-Mirakel. Mit Blick auf den großen Saal<br />

und die Entfernung zum Hörer werden sie später klanglich und in<br />

den dynamischen Kontrasten größer dimensioniert und verlieren<br />

so den Zauber des Unmittelbaren und Privaten.<br />

Domenico Scarlattis E-Dur-Sonate K 380 (L<br />

23) etwa spielt Horowitz als mögliche Zugabe in<br />

der Probe am 7. April <strong>19</strong>65, Tage vor dem ersten,<br />

und am 5. April <strong>19</strong>66, Tage vor dem zweiten Konzert.<br />

Beim ersten Mal kündigt er auf Englisch an:<br />

„Okay, jetzt werde ich nur kleine Stücke spielen!“<br />

und lässt dem überwältigend zarten Scarlatti<br />

jeweils gut zweiminütigen Rachmaninow, Chopin,<br />

Moszkowski und Liszt folgen; eine Petitesse<br />

berückender als die andere, ohne Applaus dazwischen<br />

wie sonst bei Zugaben. Skrjabins op. 70<br />

klingt dagegen ein halbes Jahr nach einem privaten<br />

beim öffentlichen Konzert <strong>19</strong>66 im Pianissimo<br />

oftmals noch luzider und filigraner, in den Ausbrüchen und den<br />

wilden Triller-Ketten dagegen nervös flirrender, exzentrischer und<br />

farbiger.<br />

Man kann diese CDs mit ungemein plastischer, technisch wie<br />

musikalisch ausgefeilt und inspiriert gespielter (Klavier-)Musik und<br />

launigen, manchmal fast beschwipst klingenden Kommentaren von<br />

Horowitz (sowie seiner Tontechniker und der grauen Eminenz im<br />

Hintergrund, Gattin Wanda Toscanini Horowitz) chronologisch<br />

hören; man kann aber auch einzelne Stücke direkt vergleichen. Zur<br />

Auswahl stehen im Vorfeld der beiden Konzerte Bach/Busoni (Toccata,<br />

Adagio und Fuge C-Dur BWV 564), Schumanns Fantasie op.<br />

17, Beethoven (32 Variationen über ein eigenes Thema), Skrjabins<br />

Neunte (Schwarze Messe) und Zehnte Sonate, aber auch Chopin (u. a.<br />

Erstes Scherzo oder die Erste Ballade), besagter Mozart und diverse<br />

Scarlatti-Sonaten oder andere kleine Stücke.<br />

So minutiös der Blick hinter die Kulissen ist und etwa auch<br />

virtuose Improvisationen zum Einspielen dokumentiert, so rätselhaft<br />

bleibt anderes, etwa der Mitschnitt eines Privatkonzerts, bei<br />

dem es plötzlich einen Stromausfall gab, der weite Teile Kanadas<br />

und der USA umfasste, weshalb der Nachmittag des 9. November<br />

<strong>19</strong>65 als „The Northeast Blackout Concert“ in die Geschichte einging.<br />

Nach der hier nur einmal dokumentierten und bei keinem der<br />

Konzerte <strong>19</strong>65/66 gespielten, ungemein spannend<br />

dargebotenen frühen Beethoven-Sonate (D-Dur<br />

op. 10/3) und Skrjabins Zehnter Sonate sowie dem<br />

darauf folgenden Applaus endet der Mitschnitt<br />

ganz konventionell. Von der Chopin’schen Polonaise-fantaisie,<br />

die Horowitz laut Zeitungsbericht<br />

bravourös im Dunkeln beendete, aber ist keine<br />

Spur auf den Bändern erhalten, offenbar wurde<br />

das aus technischen Gründen unvermittelt abbrechende<br />

Chopin-Fragment gelöscht. <br />

n<br />

„The Great Comeback. Horowitz at Carnegie Hall. The unreleased<br />

private recitals preceding his return in <strong>19</strong>65“ (Sony)<br />

32 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>

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