CRESCENDO 5/19 September-Oktober 2019

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K Ü N S T L E R CRESCENDO: „Libertà!“ haben Sie Ihre neue CD mit Werken von Mozart und Zeitgenossen genannt. Warum? Raphaël Pichon: Ich wollte Mozarts musikalischen Reifungsprozess zeigen in seinen Werken zwischen 1782 und 1786 – eine Zeit, in der er sehr experimentierfreudig war. Er hatte sich von der strengen Kontrolle durch den Salzburger Erzbischof Colloredo und der Bevormundung seines Vaters befreit und ist nach Wien umgezogen. Mit Joseph II. hatte er einen liberalen Regenten, der die Oper liebte, soziale Reformen anschob, die Folter fast abschaffte und sogar politische Satire zuließ. Was fördert die Kreativität im Künstler mehr: die Demokratie oder die Diktatur? Das ist eine wirklich sehr interessante Frage, die schwer zu beantworten ist. In demokratischen Zeiten kann der Künstler all seine Werke ohne Zensur aufführen. Aber wirklich inspirierend für seine musikalische Fantasie dürften doch wohl eher die subversiven Gedanken sein, die in Zeiten der Unterdrückung aufkommen? Ja, da gebe ich Ihnen recht. Das war ja in Mozarts Hochzeit des Figaro so, wo sich die Kammerzofe in die Herrin verwandelt. Andererseits sind gesellschaftlich politische Tabus an ihre Zeit gebunden. Sie verlieren ihre Wirkung in freien Zeiten. Weshalb bedeuten uns Mozarts Opern heute aber immer noch so viel? Weil es ihm um Emotionen geht, um den Menschen schlechthin mit all seinen Abgründen. Seine Musik wird uns immer berühren, egal wie die politischen Zeitläufe sind. Oskar Kokoschka nannte „die Freiheit“ einen Kaugummibegriff. An jedem Schlagbaum verstünde man etwas anderes darunter. Was bedeutet Freiheit für Sie persönlich? Freiheit bedeutet für mich, das zu machen und durchzusetzen, was mir wichtig ist. Wie etwa als Kind, als Sie sich als Linkshänder weigerten, sich umschulen zu lassen? Ja. Es gab natürlich Lehrer, die mich zwingen wollten umzulernen. Heute ist man da wesentlich toleranter. Als Countertenor, der Sie mal waren, spielte das ja keine Rolle. Aber vielleicht, als Sie mit der Geige anfingen. Auch die habe ich sozusagen mit links gespielt. Als junger Student in der Dirigierklasse am Konservatorium forderten mich die Professoren auf, die Klasse zu verlassen, sollte ich nicht umlernen. Stolz wie ich war, habe ich nicht darauf geachtet. Mehr noch: Vielleicht habe ich auch deshalb 2006 mein Ensemble Pygmalion gegründet. Einem Dirigenten, der Linkshänder ist, begegnet man nicht alle Tage. Gibt es Irritationen bei den Orchestermusikern? Die Musiker in meinem Ensemble haben das von Anfang an akzeptiert. Selbstverständlich gibt es Erwartungen, besonders wenn ich andere Orchester dirigiere. Schritt für Schritt passen wir uns an. Hinzu kommt, dass ich ohnehin nicht unbedingt in der traditionellen Technik dirigiere. Ich versuche eher, ich selbst zu sein. Sie wuchsen in Versailles auf, einem Ort, an dem man im Schlosspark über Lautsprecher mit Musik aus der Zeit des Sonnenkönigs Ludwigs XIV. beschallt wird: Lully, Rameau … … mich aber interessierte zunächst nur die Musik von Johann Sebastian Bach. Meine Eltern waren keine Musiker, aber mein Vater spielte klassische Gitarre und liebte leidenschaftlich die spanischen Komponisten. Meine Mutter war eine Amateurpianistin. Wir hatten ein wunderbares Schulsystem. Morgens „POLYFONIE IST EINE TIEFGREIFENDE TRANSZENDENTE ERFAHRUNG. MAN WÄCHST MIT DEM STÜCK, ALLES TRANSFORMIERT SICH“ ging ich in die normale Schule, nachmittags dann in eine Art Konservatorium, wo wir in den Genuss einer fantastischen Musikerziehung kamen. Wie kam es zu Ihrer Leidenschaft für den Thomaskantor aus der entfernten deutschen Provinz? Nach dem Geigenunterricht wurde ich Mitglied der Maîtrise des Petits Chanteurs de Versailles, eines Knabenchors. Ein Projekt war Bachs Johannes-Passion. Als ich sie zum ersten Mal hörte, war das wie ein Schock, wie eine Explosion in meinem Kopf. Terrific! Ich hatte nie vorher eine solche emotionale Kraft erlebt! Die Polyfonie in der Kirchen-Akustik, diese chemische Reaktion zwischen Klang und Stein, dieser Nachhall! Ich war einfach überwältigt. Ich bin immer noch fasziniert. Polyfonie ist eine tiefgreifende transzendente Erfahrung. Man wächst mit dem Stück, alles transformiert sich. Man ist ein anderer Mensch nach einer solchen Musik. Irgendwann wollte ich selbst diese chemische Reaktion erreichen … Indem Sie selbst Dirigent wurden … Ja. Ich sah mich allerdings nie als Dirigent eines Sinfonieorchesters, sondern eher als Leiter einer Gruppe. Mit 15 Jahren fing ich an, bei den Proben zu dirigieren – vor allem die Chorpartien. Der Chor gilt bei uns in Frankreich oft wenig. Wenn man einen braucht, bestellt man sich zwei Dutzend Sänger, die sich nicht kennen, und lässt sie singen. Es ist nicht wie in Deutschland, Holland oder England, wo es eine Oratorium-Tradition gibt. Ich saugte damals alles auf, was ich fand: alle Aufnahmen von Nikolaus Harnoncourt, von Gustav Leonhardt, von Philippe Herreweghe, Ton Koopman und anderen. Können Sie Ihre Faszination beschreiben? Ich war begeistert von Harnoncourt wegen der Art und Weise, wie er die Musik mit Philosophie und dem Humanismus unserer Tage verband. Er kämpfte für den wahren Ort der Musik in unserem Leben. An Herreweghe liebte ich seine Klarheit und Transparenz. Leonhardt war von dogmatischer Natur. Unter seiner Führung hatte ich auch als Countertenor gesungen auf einer seiner letzten Aufnahmen. Ich habe ihn sehr bewundert, aber er war sehr streng. Besonders, wenn es um den Applaus ging. Er gab uns genaue Anweisungen, damit keiner länger auf der Bühne stand als nötig. Den großen Schlussapplaus verbat er sich mit einem energischen Zeichen. Die Reaktion eines strengen Protestanten. Ja, in jedem Fall. Mit Ihrem Instrumentalensemble kehrten Sie für einen Moment zurück nach Versailles. Ja, wir haben die Oper Dardanus von Jean-Philippe Rameau eingespielt, der am Versailler Hof wirkte. Und sein Castor et Pollux. Doch eigentlich spielen wir die Musik, die zu Bach hinführt und die sich von ihm ableitet: Schütz, Mozart, Brahms, Mendelssohn. Zurück zur „Libertá!“. Sie steht ja oft im Widerspruch zu der ökonomischen Sicherheit. Die Freiheit sei ein Luxus, den sich nicht jedermann gestatten kann, sagte Otto von Bismarck. Das stimmt und stimmt wiederum nicht. Man muss einfach an das glauben, was man tut. Auch als Freelancer. Und das tue ich. n „Liberta!“, Raphaël Pichon, Pygmalion (Harmonia mundi) Track 1 auf der CRESCENDO Abo-CD: Ouvertüre. Aus: Der Schauspieldirektor KV 486 28 w w w . c r e s c e n d o . d e — September – Oktober 2019
HÖREN & SEHEN Die besten CDs, DVDs & Vinylplatten des Monats von Oper über Jazz bis Tanz Vladimir Horowitz ist zurück. Das Comeback des Pianisten in der Carnegie Hall auf 11 CDs (Seite 32) CRESCENDO Empfehlungen lesen und direkt kostenlos dabei anhören? Kein Problem: Auf www.crescendo.de finden Sie unsere Rezensionen mit direktem Link zum Anhören! Asmik Grigorian Sog & Sinnlichkeit Was für eine streitbare, verrätselte und bildgewaltige Inszenierung, die Romeo Castellucci für die Salzburger Festspiele 2018 in die Felsenreitschule gestellt hat! So verweigert er seiner Salome effektvoll das Haupt des Jochanaan und den – sonst oft zwischen Peinlichkeit und Voyeurismus changierenden – Tanz der sieben Schleier. Doch wie Dirigent Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker dessen musikalische Raffinessen farbenreich auskosten, hat ohnehin mehr Sinnlichkeit und Sogwirkung als jede Darstellung. Im Zentrum leuchtet Asmik Grigorian als ideale Salome mit überragender Gestaltungskraft, darstellerisch ebenso wie stimmlich. Ihr warm flutender Sopran, ihre staunenswerte Technik und die intensive Bühnenpräsenz berühren unmittelbar. Ein sensationelles Rollendebüt und ein Mitschnitt, der alle Zutaten einer Referenzaufnahme besitzt. AR OPER Richard Strauss: „Salome“, Asmik Grigorian, John Daszak, Anna Maria Chiuri u. a., Wiener Philharmoniker, Franz Welser-Möst, Romeo Castellucci, Salzburger Festspiele 2018 (DVD) (Cmajor) FOTO: SALZBURGER FESTSPIELE / RUTH WALZ 29
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