15.05.2020 Aufrufe

CRESCENDO 5/19 September-Oktober 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen.

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

20 JAHRE<br />

AUSGABE 05/20<strong>19</strong> SEPTEMBER – OKTOBER 20<strong>19</strong><br />

WWW.<strong>CRESCENDO</strong>.DE 7,90 EURO (D/A)<br />

mit CD im Heft<br />

SCHWERPUNKT<br />

Klavier: 88 Tasten Leidenschaft<br />

CHRISTOPH<br />

ESCHENBACH<br />

„Aus der Macht der<br />

Musik schafft man alles“<br />

DANAE DÖRKEN<br />

KATHARINA THALBACH<br />

RAPHAËL PICHON<br />

MARLIS PETERSEN<br />

Anne-Sophie Mutter<br />

Ein Gespräch über die inspirierende Zusammenarbeit<br />

mit John Williams und die Guillotine der Gefälligkeit<br />

B47837 Jahrgang 22 / 05_20<strong>19</strong><br />

Mit Beihefter CLASS: aktuell


DRAMATIK PUR<br />

Der ältestes erhaltene<br />

biblische Bilderzyklus<br />

Erstpräsentation und feierliche Übergabe<br />

der Faksimile-Edition am 25. <strong>September</strong> 20<strong>19</strong><br />

um 18:00 Uhr in der Österreichischen<br />

Nationalbibliothek.<br />

www.quaternio.ch/veranstaltungen<br />

Lebendige Darstellung<br />

der Sintflut aus der<br />

Mitte des 6. Jahrhunderts<br />

Die Wiener Genesis ist der älteste und umfangreichste<br />

Bilder zyklus der christlichen Malerei.<br />

Im 6. Jahrhundert haben die Künstler im syrisch-antiochenischen<br />

Raum diese Handschrift geschaffen, die<br />

an Pracht kaum zu über bieten war: purpur gefärbte<br />

Blätter, reicher Bilderschmuck auf allen Seiten, durchgehend<br />

mit Silbertinte geschrieben – kein Wunder ist<br />

die Wiener Genesis heute eine der kostbarsten, aber<br />

auch fragilsten Schätze in den Tresoren der Österreichischen<br />

Nationalbibliothek.<br />

Die Faksimile-Edition bringt Ihnen die unglaubliche<br />

Bilderpracht aus dem 6. Jahrhundert<br />

nach Hause. Die Leuchtkraft der Farben nach<br />

über 1500 Jahren verblüfft, die von der Antike inspirierte<br />

Natürlichkeit und Lebendigkeit der Darstellung<br />

fas ziniert und die Authentizität der Faksimile-Edition<br />

begeistert – ein ästhetisches Erlebnis, das seines-<br />

gleichen sucht.<br />

Die Faksimile-Edition der Wiener Genesis ist<br />

weltweit auf 480 Exemplare limitiert. Originaltreue<br />

ist dabei das höchste Gebot: das gilt für die Wiedergabe<br />

der unterschied lichen Braun- und Purpurtöne<br />

des Pergaments genauso wie für die leuchtenden Farben<br />

und den zarten Schimmer der Goldpartien.<br />

Die limitierte Faksimile-Edition<br />

erscheint exklusiv im<br />

In Zusammenarbeit<br />

mit der Österreichischen<br />

Nationalbibliothek<br />

Quaternio Verlag Luzern<br />

www.quaternio.ch • Quaternio Verlag Luzern • Obergrundstrasse 98 • 6005 Luzern • Schweiz • Telefon +41 (0)41 318 40 20 • Fax +41 (0)41 318 40 25 • info@quaternio.ch


P R O L O G<br />

LIEBE LESER,<br />

WINFRIED HANUSCHIK<br />

Herausgeber<br />

mit unserer neuen <strong>CRESCENDO</strong> Ausgabe melden wir uns zurück aus der Sommerpause.<br />

Und hoffen, Sie hatten eine schöne, aufregende und inspirierende Festspielzeit. Vielleicht<br />

waren Sie ja dabei bei einer der spektakulären Inszenierungen und Vorstellungen:<br />

Rigoletto in Bregenz, Orphée in Salzburg, Agrippina in München, Tannhäuser in Bayreuth<br />

mit der wunderbaren Lise Davidsen. Oder waren Sie an den kleineren Häusern unterwegs?<br />

Mich hat beispielsweise die Turandot-Premiere in Gut Immling im oberbayerischen<br />

Chiemgau begeistert. Spannend waren – wie in jedem Jahr – natürlich auch die<br />

kontroversen Berichterstattungen darüber. Sehr unterhaltsam auch zu erfahren, was sich<br />

so alles hinter den Kulissen und im Publikum abgespielt hat. Unser Kolumnist AXEL<br />

BRÜGGEMANN hielt Sie und uns auf dem Laufenden mit unserem wöchentlichen<br />

Newsletter, auf den wir immer viel Feedback bekommen. Auch wenn die Leser offensichtlich<br />

nicht immer einer Meinung mit ihm sind – es ist uns eine Freude zu sehen, wie viel<br />

Lust am Debattieren seine News jedes Mal wieder auslösen. Schließlich geht es auch in<br />

der Kultur immer um die Kommunikation.<br />

Apropos Kommunikation: Besuchen Sie uns doch in unserer Redaktion am Münchner<br />

Marienplatz – der Künstler RAFAEL SCHÖLERMANN, der auch das Cover der<br />

aktuellen Premium-CD gestaltet hat, stellt persönlich einige seiner Werke vor (s. S. 73).<br />

Wenn Sie Lust haben, sich mit ihm über seine sensationellen Fotografien zu unterhalten<br />

oder vielleicht auch nur sehen wollen, wo <strong>CRESCENDO</strong> gemacht wird, melden Sie sich<br />

bitte unter www.crescendo.de/vernissage an.<br />

Zu unseren Inhalten: Den Schwerpunkt dieser Ausgabe haben wir dem Klavier gewidmet.<br />

Und naturgegeben den Menschen, die damit zu tun haben. Unter dem Arbeitstitel<br />

„Treffen der Giganten“ haben wir die Marktführer Steinway, Bechstein und Bösendorfer<br />

einander gegenübergestellt. Thematisch in die Hände gespielt hat uns dabei der regelrechte<br />

Shitstorm, der um ANDRÁS SCHIFF und die Schubertiade losbrach. Lesen Sie<br />

dazu den Beitrag unseres Kolumnisten Axel Brüggemann, der sich nicht einfach einreiht<br />

in die Aufregung, sondern Für und Wider abwägt.<br />

Dann lassen wir natürlich die Künstler selbst zu Wort kommen: Ist der Beruf des<br />

Pianisten einsam? War früher alles einfacher? Neben SOPHIE PACINI und ihrer<br />

Mentorin MARTHA ARGERICH haben wir dazu bei CÉDRIC TIBERGHIEN, IGOR<br />

LEVIT, ANNA GOURARI, JOSEPH MOOG und anderen Pianisten nachgefragt.<br />

Daneben wollten wir aber auch unbedingt einen Blick in die Zukunft richten und haben<br />

uns die Frage gestellt, wie das Klavier den Sprung ins 21. Jahrhundert schafft. Dass hier<br />

Technik ins Spiel kommt, versteht sich fast von selbst. Wer nun fürchtet, dass damit dem<br />

Klavier Klang und Brillanz zugunsten kühler Sounds abhandenkommt, dem sei das<br />

Interview mit RALF SCHMID ans Herz gelegt. Mit seinem Projekt „Pyanook“ liefert der<br />

Professor und Jazzmusiker den Beweis, wie viel Poesie in der Digitalisierung liegen kann.<br />

FOTOS TITEL: STEFAN HÖDERATH / DG<br />

Exklusiv für Käufer und Abonnenten:<br />

die <strong>CRESCENDO</strong> Premium-CD<br />

Viel Inhalt in besonders hochwertiger Ausstattung finden<br />

Sie in dieser Premium- Ausgabe: Reportagen, Porträts,<br />

Interviews, Aspekte und Hintergrundwissen aus der Welt<br />

der Klassik. Außerdem für alle Käufer und Abonnenten<br />

der Premium-Ausgabe:<br />

sechs Mal pro Jahr die <strong>CRESCENDO</strong> CD,<br />

ein exklusives Album mit Werken einiger in der<br />

aktuellen Ausgabe vorgestellter Künstler.<br />

In diesem Heft: die 79. CD der<br />

<strong>CRESCENDO</strong> Premium-Edition.<br />

Fehlt die CD? Dann rufen Sie uns an: 089/85 85 35 48.<br />

Worauf Sie sich noch freuen können? Wir haben CHRISTOPH ESCHENBACH, den<br />

neuen Leiter des Konzerthausorchesters in Berlin, getroffen, haben ANNE-SOPHIE<br />

MUTTER über ihr erstes Open-Air-Konzert befragt und MARLIS PETERSEN bei den<br />

Aufnahmen zu ihrem neuen Album besucht. Schließlich leisten sich KATHARINA<br />

THALBACH und das FEININGER TRIO einen kleinen Battle und lassen Berliner<br />

Kartoffelpuffer gegen Schweizer Rösti antreten.<br />

In diesem Sinne: Guten Appetit und viel Spaß beim Lesen, vielleicht sehen wir uns ja bei<br />

der <strong>CRESCENDO</strong> Vernissage,<br />

Ihr Winfried Hanuschik<br />

w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – Okktober 20<strong>19</strong> 3


P R O G R A M M<br />

Wir.Leben.Klassik!<br />

Top Neuheiten<br />

150 JAHRE WIENER STAATSOPER<br />

06<br />

PIANO VERTIKAL<br />

Der Schweizer Pianist<br />

Alain Roche tourt mit<br />

einem spektakulären Projekt<br />

durch Europa<br />

14<br />

CHRISTOPH<br />

ESCHENBACH<br />

Der neue Leiter des<br />

Konzerthausorchesters Berlin<br />

in seiner ersten Saison<br />

35<br />

MADDALENA<br />

DEL GOBBO<br />

Die Musikerin verzaubert<br />

mit dem Baryton<br />

ihr Publikum<br />

STANDARDS<br />

KÜNSTLER<br />

HÖREN & SEHEN<br />

D E U T S C H E O P E R B E R L I N<br />

KORNGOLD<br />

Das Wunder der Heliane<br />

1. Album SWR Symphonieorchester<br />

HENZE Das Floß der Medusa<br />

03 PROLOG<br />

Der Herausgeber stellt<br />

die Ausgabe vor<br />

06 BLICKFANG<br />

Sakrale Hängepartie<br />

08 OUVERTÜRE<br />

Klassik in Zahlen<br />

Was hören ...<br />

Manz und Studnitzky?<br />

Ein Anruf bei ...<br />

Otto Hott,<br />

Banker, Geiger, Golfer<br />

35 IMPRESSUM<br />

64 KOMMENTAR<br />

Axel Brüggemann über<br />

András Schiff und den<br />

„Flügel-Streit“<br />

40 RÄTSEL<br />

82 HOPE TRIFFT …<br />

Lise de la Salle<br />

12 EIN KAFFEE MIT …<br />

Jürgen Tarrach<br />

14 CHRISTOPH<br />

ESCHENBACH<br />

„Ich will keine graue Maus<br />

als Orchester ...“<br />

18 ANNE-SOPHIE<br />

MUTTER<br />

über ihre Freundschaft<br />

mit John Williams<br />

21 DANAE DÖRKEN<br />

„Musik ist ein Ausdruck<br />

von Philosophie“<br />

22 MARLIS PETERSEN<br />

über die Vollendung ihrer<br />

„Dimensionen-Trilogie“<br />

24 GÜLRU ENSARI &<br />

HERBERT SCHUCH<br />

Zwei Pianisten: Partner im<br />

Leben und am Klavier<br />

26 RAPHAËL PICHON<br />

„... alles transformiert sich“<br />

EXKLUSIV<br />

FÜR ABONNENTEN<br />

Hören Sie die Musik zu<br />

unseren Texten auf der<br />

<strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD –<br />

exklusiv für Abonnenten.<br />

Infos auf den Seiten 3 & 70<br />

29 DIE WICHTIGSTEN<br />

EMPFEHLUNGEN DER<br />

REDAKTION<br />

30 MICHAEL FABIANO<br />

Verdi und Donizetti:<br />

eine Symbiose ihrer Arien<br />

32 VLADIMIR<br />

HOROWITZ<br />

<strong>19</strong>65: großes Comeback<br />

in der Carnegie Hall<br />

33 WIENER STAATSOPER<br />

24 Stunden Oper zwischen<br />

Mozart und Schostakowitsch<br />

36 CLAIRE MARTIN<br />

Die Sängerin jongliert<br />

einfühlsam und lässig<br />

zwischen Jazz und Pop<br />

39 UNERHÖRTES &<br />

NEU ENTDECKTES<br />

Christoph Schlüren<br />

über unbekannte<br />

sowjetische Meister<br />

FOTOS: OLIVIER CARREL; MARCO BORGGREVE; NIKOLAJ LUND<br />

www.naxos.de · www.naxos-direkt.de<br />

Im Vertrieb der NAXOS DEUTSCHLAND GmbH<br />

4 www.crescendo.de — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


48<br />

TIROLER<br />

FESTSPIELE ERL<br />

Ein Fest zu Erntedank:<br />

Hommage an Frédéric Chopin<br />

– vier Konzerte an einem Tag<br />

ERLEBEN<br />

42 DIE WICHTIGSTEN<br />

TERMINE UND<br />

VERANSTALTUNGEN<br />

25 JAHRE FESTIVAL<br />

DER NATIONEN<br />

„Russische Nacht“ mit<br />

Nemanja Radulović<br />

44 SCHIRN<br />

KUNSTHALLE<br />

Tapisserien von<br />

Hannah Ryggen<br />

46 KOMISCHE OPER<br />

BERLIN<br />

The Bassarids von<br />

Hans Werner Henze<br />

47 IOAN HOLENDER<br />

Ticketseller und künstlerische<br />

Gewissensbisse<br />

48 TIROLER<br />

FESTSPIELE ERL<br />

Romantische Musik an<br />

der Schwelle zur Moderne<br />

52<br />

KLAVIER<br />

Piano oder Forte?<br />

Gedanken und Geschichten<br />

rund um das<br />

Schwergewicht der Musik<br />

SCHWERPUNKT<br />

51 TABELLE<br />

Ein Spiel mit 88 Tasten<br />

52 PLAY ME,<br />

I’M YOURS<br />

Eine Erfolgsgeschichte<br />

aus Birmingham<br />

54 TREFFEN DER<br />

GIGANTEN<br />

Steinway, Bösendorfer<br />

oder Bechstein?<br />

56 FLÜGEL MIT<br />

FANTASIE<br />

Ungewöhnliche Wünsche<br />

57 UNTER STROM<br />

E-Pianos und Synthesizer<br />

58 KLAVIER IN FILM,<br />

LITERATUR, COMIC<br />

60 ARGERICH & PACINI<br />

Eine fruchtbare Verbindung<br />

62 SAGEN SIE MAL ...<br />

Bei Pianisten nachgefragt<br />

78<br />

BUDAPEST<br />

Ein Spaziergang mit<br />

der Pianistin<br />

Mariam Batsashvili<br />

durch ihre Stadt der Liebe<br />

LEBENSART<br />

73 KUNST AM COVER<br />

„Waterworks“ von<br />

Rafael Schölermann<br />

74 LIEBLINGSESSEN<br />

Katharina Thalbach und<br />

das Feininger Trio:<br />

Kartoffelpuffer vs. Rösti<br />

76 PAULA BOSCHS<br />

WEINKOLUMNE<br />

Die neuen fabelhaften<br />

Weine aus Österreich<br />

78 BUDAPEST<br />

Mariam Batsashvilis Tipps<br />

für einen Besuch in der<br />

ungarischen Hauptstadt<br />

81 GLOBETROTTER<br />

Termine an der<br />

Ostküste der USA<br />

Übernachten in der Galerie:<br />

Hotel Blaue Gans, Salzburg<br />

Mozart<br />

PIANO CONCERTOS<br />

NOS. 20 & 26<br />

FRIEDRICH GULDA<br />

Mozart<br />

PIANO CONCERTOS<br />

NOS. 20 & 26<br />

FRIEDRICH GULDA<br />

FOTOS: JOSEF FISCHNALLER; LUKE JERRAM<br />

50 DEUTSCHE KAMMER-<br />

AKADEMIE NEUSS<br />

AM RHEIN<br />

Die neue Saison<br />

unter Chefdirigent<br />

Christoph Koncz und<br />

Isabelle van Keulen als<br />

künstlerischer Leiterin<br />

66 DIGITALE POESIE<br />

Das Projekt „Pyanook“<br />

69 WER OHREN HAT ...<br />

Von der Kunst des<br />

Klavierstimmens<br />

71 DIE CARL BECH-<br />

STEIN STIFTUNG<br />

72 WOHER KOMMT<br />

EIGENTLICH<br />

... das Klavier?<br />

Aus dem Archiv<br />

des Orchesters –<br />

jetzt als Album<br />

erhältlich!<br />

In Zusammenarbeit mit LOFT Music<br />

5<br />

mphil.de/label


O U V E R T Ü R E<br />

Sakrale Hängepartie<br />

Nach einem ersten erstaunten Luftholen stellen<br />

sich die Assoziationen ein. Und irgendwann<br />

vielleicht auch das eine oder andere<br />

Wortspiel. Ein Pianist, der in den Seilen hängt.<br />

Der Künstler mit hängenden Flügeln. Nun,<br />

ganz von der Hand zu weisen ist das nicht.<br />

Denn der Schweizer Komponist und Pianist<br />

Alain Roche liebt verrückte Herausforderungen.<br />

Seit 2013 geht er mit einem im wahrsten<br />

Sinne des Wortes hängenden Flügel auf<br />

Tournee. Der – extra für ihn vom Pianisten<br />

Fernand Kummer umgebaut – ihm erlaubt,<br />

im Freien und vertikal zu spielen. „Piano Vertical“<br />

nennt er folgerichtig dieses aufwendige<br />

Projekt, bei dem er am Baukran vor einem<br />

Alpenpanorama oder in Kirchenschiffen eine<br />

Hängepartie gibt – ein in jedem Fall unvergessliches<br />

und spektakuläres Musikerlebnis!<br />

www.pianovertical.com<br />

6 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


7<br />

FOTO: OLIVIER CARREL


O U V E R T Ü R E<br />

Was hören …?<br />

Manz und Studnitzky<br />

Der Klarinettist und der Pianist<br />

verraten uns ihre Lieblingsaufnahmen.<br />

Film ab! (1)<br />

Regisseur Ron Howard widmet sich einer weiteren Musikikone:<br />

Luciano Pavarotti eroberte mit Stimme und Ausstrahlung die<br />

Bühnen der Welt. Anhand nie veröffentlichter Aufnahmen zeichnet<br />

Howard das intime Porträt eines faszinierenden Mannes und<br />

unvergesslichen Ausnahmekünstlers. Ab 26. Dezember im Kino.<br />

Sebastian Manz und<br />

Sebastian Studnitzky widmen<br />

sich dem großen Leonard<br />

Bernstein: „A Bernstein Story“<br />

ist ein Album zwischen Jazz und<br />

Klassik (Berlin Classics)<br />

Track 12 auf der <strong>CRESCENDO</strong><br />

Abo-CD: Prelude, Loops & Riffs.<br />

IV. Jam Session<br />

Film ab! (2)<br />

Sebastian Manz<br />

1<br />

Parov Stelar Trio: Ménage à trois aus „The Invisible Girl“<br />

Für mich unangefochten seit Langem schon einer meiner Top Tracks:<br />

E-Swing at its best. Geile Mischung aus Electro Beats und echten Saxofonund<br />

Brass-Lines. Super Mix vom E-Swing-Guru Parov Stelar. Habe schon öfters<br />

auf Swing-Partys live dazu improvisiert.<br />

2<br />

Archive: Controlling Crowds aus dem gleichnamigen Album<br />

Sehr archaischer Track, der zu Beginn fast schon ins Meditative geht und<br />

dabei kompromisslos direkte Gefühle in mir hervorruft. Seit Langem<br />

schon auf meiner All-time-Playlist.<br />

3<br />

Gabin: Doo Uap, Doo Uap, Doo Uap aus „The First Ten Years“<br />

Ein weiterer Electro-Swing-Meilenstein für mich, bei dem der Saxofonist<br />

Stefano di Battisti am Ende über den Remix improvisiert. Auf der Basis<br />

von It don’t mean a thing, if it ain’t got that swing entsteht ein chillig- fließender<br />

Beat, den ich gerne auch zur Entspannung zwischendurch höre.<br />

4<br />

AC/DC: Shoot to Thrill aus dem Album „Back In Black“<br />

Über den Inhalt so mancher Songtexte dieser Band lässt sich sicher<br />

streiten, aber die Musik hat für mich nie an Power verloren. Der Sound<br />

von AC/DC ist bis heute einmalig, und die Songs sind musikalisch einfach toll<br />

komponiert. Dieser Song ist für mich einer der Highlights des legendären<br />

Albums „Back in Black“.<br />

Sebastian Studnitzky<br />

1<br />

Miles<br />

Davis: Shhh/Peaceful aus dem Album „In a silent way“<br />

(Etwas lang, kann man aber gut ausblenden ...) Mein absolutes Lieblingsalbum.<br />

Miles’ Trompetensound ist so fokussiert und rau gleichzeitig.<br />

Die Art der Kollektivimprovisation ... Das Voodoohafte der Grooves. Unser<br />

zweiter Remix im ersten Satz ist ein bisschen von diesem Vibe inspiriert.<br />

2<br />

Ahmad Jamal: The Awakening aus dem gleichnamigen Album<br />

Ebenso ein All-time-Favourite. Das interaktive, kollektive Konzept des<br />

Trios gefällt mir sehr. Der Bandsound und der Vibe stehen über der<br />

solistischen Virtuosität. Außerdem mag ich Ahmad Jamals Klaviersound.<br />

3<br />

Arvo Pärt: Fratres<br />

Ich bin ein großer Fan von Pärts emotionalem, vielschichtigem Minimalismus.<br />

Schlicht und spirituell zugleich.<br />

4<br />

Christian Löffler: slowlight aus dem Album „A forest“<br />

Tolle Kombination von urbanem Beat und emotionaler Weite.<br />

Beruhend auf wahren Ereignissen erzählt Regisseur und Darsteller<br />

Ralph Fiennes (Der englische Patient) in Nurejew – The White<br />

Crow die Geschichte der sowjetischen Ballettlegende Rudolf Nurejew.<br />

Gedreht auf 16 mm leben in atmosphärischen Bildern die<br />

bewegten 60er-Jahre wieder auf. Die Rolle Nurejews interpretiert<br />

eindrucksvoll der ukrainische Weltklasse-Balletttänzer Oleg<br />

Ivenko. Im Kino läuft der Streifen ab 26. <strong>September</strong>.<br />

Markante Klangfarbe<br />

Für ihre „unfassbar markante Klangfarbe, berauschende, makellose<br />

Technik und unglaubliche Natürlichkeit“, so der Intendant<br />

Christian Kuhnt bei der Preisverleihung, erhielt die Mezzosopranistin<br />

Emily D’Angelo den Leonard Bernstein Award des<br />

Schleswig-Holstein Musik Festivals. Der mit 10.000 Euro dotierte<br />

Preis wurde erstmals an ein Gesangstalent vergeben.<br />

Oper preiswert<br />

In keinem Land der Welt gibt es so viele Opernhäuser wie in<br />

Deutschland. Höchste Zeit also für einen Preis, der ausschließlich<br />

der Oper gewidmet ist. Am 21. <strong>September</strong> werden im Konzerthaus<br />

Berlin die ersten OPER! AWARDS für die besten nationalen und<br />

internationalen Akteure auf und hinter der Bühne verliehen. Die Jury<br />

besteht aus acht prominenten Journalisten. www.oper-awards.com<br />

FOTOS: ALAMODE FILM; DARIO ACOSTA<br />

8 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


5,8<br />

Millionen<br />

KLASSIK<br />

IN ZAHLEN<br />

US-Dollar Schadenersatz wollte der Dirigent James Levine von<br />

der Metropolitan Opera in New York bekommen. Nach Vorwürfen des<br />

sexuellen Missbrauchs war der 76-Jährige entlassen worden. Nun hat man<br />

sich außergerichtlich geeinigt.<br />

83.674<br />

Tickets für 80 Veranstaltungen hat<br />

die Bayerische Staatsoper für die<br />

Münchner Opernfestspiele verkauft.<br />

Damit beschließen sie ihre elfte<br />

Saison mit einer Auslastung von<br />

97,77 Prozent.<br />

FOTOS: AJAY SURESH FROM NEW YORK, NY, USA - MET OPERA, CC BY 2.0;<br />

590<br />

Anmeldungen aus 50 Ländern<br />

und vier Kontinenten konnte<br />

der 68. Musikwettbewerb der<br />

ARD in den Kategorien<br />

Klarinette, Cello, Fagott und<br />

Schlagzeug verzeichnen.<br />

Davon wurden 212 Musiker<br />

nach München eingeladen.<br />

An der Spitze der Herkunftsländer<br />

steht Südkorea.<br />

27.000<br />

Menschen besuchten im Jahr des<br />

20. Jubiläums das Berliner Festival<br />

„Young Euro Classic“. Das bedeutet<br />

einen Besucherrekord.<br />

30<br />

Dirigentinnen und Dirigenten waren<br />

für Findungsverfahren zum künstle-<br />

115 rischen Leiter und Chefdirigenten<br />

des Südwestdeutschen Kammerorchesters Pforzheim<br />

infrage gekommen. Das Rennen machte nun Douglas<br />

Bostock, der zur Konzertsaison 20<strong>19</strong>/20 übernimmt.<br />

Milliarden schwer ist geschätzt die Universal Music<br />

Group, zu der seit <strong>19</strong>98 auch die Deutsche Grammophon<br />

gehört. Der chinesische Internetkonzern Tencent<br />

hat sein Interesse an Anteilen des Konzerns bekundet.<br />

Es gehe zunächst um einen zehnprozentigen Anteil.<br />

9


O U V E R T Ü R E<br />

„Gefühl beim Berühren der Taste“<br />

Anruf bei Otto Hott, Banker, Geiger, Golfer – und stets dabei, die Firma Sauter, den ältesten<br />

Klavierhersteller der Welt, unablässig zu nachhaltigem Erfolg zu führen.<br />

Herr Hott, wobei störe ich Sie gerade?<br />

Sie stören nicht, wir haben gerade den Erfolg unseres jüngsten<br />

Coups teamintern besprochen und sind mit den ersten Reaktionen<br />

von Seiten einiger Pianisten und von Teilen der Öffentlichkeit<br />

zufrieden. Wir haben eine besondere Innovation herausgebracht,<br />

die eigentlich auf einer sehr alten Tradition beruht.<br />

Was kann man sich unter einer Innovation,<br />

die auf einer alten Tradition beruht, im<br />

Klavierbau vorstellen?<br />

Eine der Traditionen bedeutet, dass der<br />

Tastenbelag in früheren Jahrhunderten aus<br />

Elfenbein bestand, was begreiflicherweise heute<br />

verboten ist. Pianisten, die aber auf älteren<br />

Instrumenten gespielt haben, schwärmen von<br />

dem unvergleichlichen Spielgefühl des echten<br />

Elfenbeins. Und hier hat unsere neueste<br />

Innovation eingesetzt, von der wir uns viel<br />

versprechen.<br />

Und was für eine Innovation haben Sie jetzt<br />

auf den Markt gebracht?<br />

Otto Hott und die<br />

Die Pianofortemanufaktur Sauter feiert Pianistin Annique Göttler<br />

dieses Jahr ihr 200-jähriges Bestehen und<br />

das Max-Planck-Institut für Festkörperphysik in Stuttgart sein<br />

50-jähriges. Anlässlich eines Besuches einiger Wissenschaftler und<br />

Professoren des Instituts in unserer Produktion in Spaichingen<br />

wurde mir die überraschende Frage gestellt, ob ich Wünsche für die<br />

Verbesserung beim Klavierbau habe. Und ohne zu überlegen habe<br />

ich geant wortet: synthetisches Elfenbein.<br />

Was ist denn der Unterschied zu den heutigen Kunststoffbelägen<br />

auf den Tasten?<br />

Alle Klavierhersteller dieser Welt, besonders im Premiumbereich,<br />

haben an diesem Problem gearbeitet, denn der Kunststoffbelag<br />

vermittelt ein anderes Gefühl beim Berühren und Drücken der<br />

Taste. Der Kontakt mit Elfenbein ist ganz anders. Elfenbein ist etwas<br />

weicher, etwas unebener und kann die natürliche Feuchtigkeit, die<br />

sich auf unserer Haut bei Betätigung bildet, unauffällig aufsaugen.<br />

Hier ist man mit Kunststoffbelägen weniger erfolgreich gewesen.<br />

Das Max-Planck-Institut hat in mehrjähriger Entwicklung jetzt<br />

synthetisches Elfenbein hergestellt: Es besteht aus einer Hightech-<br />

Mischung aus Gelatine und Mineralien und fühlt sich an wie<br />

Elfenbein. Es ist darüber hinaus auch bei der späteren Entsorgung<br />

keine Belastung für die Umwelt. Die ersten Pianistinnen und<br />

Pianisten, die unsere Instrumente jetzt gespielt haben, äußerten sich<br />

positiv über die Spieleigenschaften dieses synthetischen Elfenbeins,<br />

das wir als Patent angemeldet haben. Man<br />

rutscht weniger.<br />

Welche Erfindungen haben Sie denn noch in<br />

Ihrer Firmengeschichte hervorgebracht, die<br />

das Spielen auf einem Klavier angenehmer<br />

oder ausdrucksvoller machen?<br />

Da muss man ein paar geschichtliche<br />

Fakten nennen. Der Gründer der<br />

Firma Sauter hieß Grimm und der<br />

lernte von 1813 bis 18<strong>19</strong> bei einem der<br />

damals führenden Instrumentenhersteller<br />

in Wien, dem gebürtigen<br />

Schwaben Andreas Streicher. Streicher,<br />

der eine Tochter aus der Augsburger<br />

Klavierbauerfamilie Stein, Nanette,<br />

geheiratet hatte, stieg durch Fleiß und<br />

Innovationskraft schnell zu einem der führenden Klavierbauer<br />

seiner Zeit auf. So zählten zu seinen Kunden unter anderem<br />

Beethoven, Goethe, Hummel. Dieser Tradition zur Modernität fühlt<br />

man sich bei Sauter bis heute verpflichtet, ein Teil dieser Innovationen<br />

wurden auch als Patente angemeldet.<br />

Können Sie ein paar Beispiele nennen?<br />

Sauter steht immer für einen großen Klang, vor allem unsere<br />

Klaviere verfügen, gemessen an der Gehäusegröße, immer über eine<br />

besonders große Resonanzbodenfläche. Bei den Spitzenklavieren<br />

und -flügeln verwenden wir extrem abgelagertes Holz aus jener<br />

Alpenregion, aus der der Geigenbauer Stradivari seine Hölzer bezog.<br />

Außerdem werden die Resonanzböden über eine Druckpresse mit<br />

präzise berechneten Verläufen in eine leicht sphärische Rundung<br />

gepresst, sodass sie unter leichter Spannung auf den Rahmen<br />

geschraubt werden, was zu einer leichteren Schwingungserregbarkeit<br />

führt und sich positiv auf das Klangvolumen auswirkt. <br />

■<br />

Wie das Geige- und Klavierspielen<br />

erfordert das Denken<br />

eine tägliche Praxis.<br />

Charlie Chaplin<br />

HINTER DER BÜHNE<br />

Als ausgebildeter Puppenspieler ist der Schweizer<br />

Olivier Carrel Bildern und Inszenierungen gegenüber<br />

sehr aufgeschlossen – so auch denen von Alain<br />

Roche und seinem „Piano Vertical“ (siehe S. 6). Die<br />

Fotografie sei auf „wilde, instinktive Weise“ in sein<br />

Leben getreten, weil er das Bedürfnis verspürt habe,<br />

auch außerhalb der Theater einen Raum für seine<br />

Kreationen zu finden. Während er zu Beginn seiner<br />

Fotografenkarriere vor allem Bilder von Shows<br />

machte, versuchte er parallel dazu, Momente einzufangen: Geschichten,<br />

Sensationen, Emotionen. Carrels Bilder halten tatsächlich die<br />

Zeit an. Der Fotograf vergleicht seine Bilder mit „in Zucker eingelegten<br />

Früchten, die man später genießen kann – und die dann immer<br />

noch ihren Geschmack behalten“. www.photographyoliviercarrel.com<br />

FOTOS: SAUTER PIANOS; P.D JANKENS - FRED CHESS, GEMEINFREI<br />

10 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


NEUHEITEN<br />

Herausragende<br />

bei Sony Music<br />

Jonas Kaufmann<br />

Wiener Philharmoniker<br />

Wien<br />

Das neue Album mit den<br />

Wiener Philharmonikern<br />

ist eine Hommage an<br />

die Traumstadt Wien mit<br />

Musik von Johann Strauss,<br />

Kálmán, Benatzky,<br />

Weinberger, Stolz u.a.<br />

Erhältlich ab 11.10.<br />

www.jonaskaufmann.com<br />

www.igor-levit.de<br />

Igor Levit<br />

Beethoven<br />

Sämtliche Klaviersonaten<br />

Igor Levits sensationelle<br />

neue Gesamteinspielung<br />

aller 32 Beethoven Sonaten.<br />

Limitierte Deluxe Edition<br />

mit persönlichen Texten zu<br />

allen Sonaten und Faksimilie-Druck<br />

einer Beethoven<br />

Notenhandschrift.<br />

Erhältlich ab 13.09.<br />

Lucas Debargue<br />

Scarlatti<br />

52 Sonaten<br />

„Authentisch, erfrischend<br />

wie spannend“ (Piano News)<br />

spielt Debargue diese<br />

Scarlatti Sonaten auf einem<br />

modernen Steinway.<br />

4 CDs zum Sonderpreis,<br />

erhältlich ab 04.10.<br />

www.lucas-debargue.com<br />

www.tal-groethuysen.de<br />

Yaara Tal<br />

Hommage an<br />

Clara Schumann<br />

Werke von Clara<br />

Schumann und ihren<br />

Weggefährten Theodor<br />

Kirchner, Johannes<br />

Brahms und Julie von<br />

Webenau. Mit zwei<br />

Weltersteinspielungen.<br />

Capella de la Torre<br />

Air Music<br />

Nach den erfolgreichen Alben<br />

zu „Wasser“ und „Feuer“<br />

präsentiert die Capella de<br />

la Torre unter Katharina<br />

Bäuml reizvolle Werke mit<br />

Bezug zum Thema „Luft“,<br />

von Monteverdi, Ravenscroft,<br />

Holborne, Praetorius u.a.<br />

Erhältlich ab 13.9.<br />

www.capella-de-la-torre.de<br />

www.wavequartet.com<br />

The Wave Quartet<br />

Carmen<br />

Das Wave Quartet lässt<br />

Bekanntes völlig neu<br />

und mitreißend erklingen:<br />

Die Carmen-Suite mit<br />

den Highlights aus Bizets<br />

Oper, arrangiert für vier<br />

Marimbas, aber auch Musik<br />

von Sting, Suzanne Vega,<br />

Avner Dorman u.a.<br />

Erhältlich ab 13.9.<br />

KLASSIK-NEWSLETTER<br />

WWW.SONYCLASSICAL.DE<br />

Melden Sie sich jetzt an für den Sony Classical Newsletter<br />

auf www.sonyclassical.de und erhalten Sie exklusiv<br />

aktuelle Nachrichten über unsere Künstler und Aufnahmen<br />

sowie Interessantes aus der Klassikwelt.


K Ü N S T L E R<br />

Auf einen Kaffee mit …<br />

JÜRGEN TARRACH<br />

VON SINA KLEINEDLER<br />

FOTO: DOMINIK BECKMANN<br />

12 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


Als Rechtsanwalt Eduardo Silva ermittelt Jürgen Tarrach in Lissabon für<br />

seine Mandanten. Wie die Portugiesen selbst konnte sich der Schauspieler<br />

dabei dem Zauber den traurig-sehnsuchtsvollen Melodien des Fado nicht<br />

entziehen. Jetzt hat er sogar eine deutschsprachige Hommage an diese Musik<br />

aufgenommen: das Album „Zum Glück traurig“.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Tarrach, jetzt haben wir gerade leider<br />

keine Musik hier. Welches Stück würden Sie gerne zum<br />

Kaffeetrinken hören?<br />

Jürgen Tarrach: La Javanaise, eigentlich von Serge Gainsbourg,<br />

aber es gibt eine Version der Chansonnière Madeleine Peyroux, die<br />

noch sehnsuchtsvoller und schöner ist. Die würde ich gern hören.<br />

Welche Rolle spielt Musik in Ihrem Leben?<br />

Sie ist eine kleine Flucht aus dem Alltag. Musizieren macht mir<br />

unglaublich viel Spaß. Und da ich leider kein Instrument spiele,<br />

singe ich. Hab ich mal schlechte Laune und geh zum Gesangsunterricht<br />

gehe, komme ich immer<br />

fröhlich wieder raus. Musikmachen<br />

bewegt den ganzen Körper und<br />

wahrscheinlich auch den Geist. Eine<br />

kleine Katharsis, wenn man so will.<br />

Woher kam diese Lust zum Singen?<br />

Und wann?<br />

Auf der Schauspielschule ist Singen ja<br />

nichts Ungewöhnliches. Und damals<br />

am Nürnberger Stadttheater inszenierte ein Gastregisseur Gogols<br />

Revisor. Er war auch Musiker, und ich freundete mich schnell mit<br />

ihm an. Eines Tages – er hatte während der Probenzeit Geburtstag<br />

– kochte er groß auf für uns: Ente mit Rotkohl, Klößen und<br />

viel Rotwein. Irgendwann hat er die Klampfe ausgepackt und<br />

Musik gemacht. Ich habe gesungen. Dabei haben wir das „Lied<br />

auf Zuruf“ erfunden, damals war es zum Beispiel Das Lied der<br />

Kaffeetassen … (lacht)<br />

Wie passend!<br />

Ja! Oder Das Lied vom Wasser – immer in verschiedenen Stilrichtungen.<br />

Mal als Udo Jürgens, mal als Brecht … Ein beschwipster<br />

Jux, aber mir hat das Singen wahnsinnig Spaß gemacht.<br />

Schauspiel und Gesang, das hat ja sowieso einige Parallelen …<br />

Auf jeden Fall! Musikalität ist absolut notwendig für einen<br />

Schauspieler. Dialoge haben eine eigene „Musik“. Jedes Stück,<br />

jeder Film hat einen Rhythmus. Timing ist ganz wichtig.<br />

Nutzen Sie Musik auch bewusst in der Rollenvorbereitung?<br />

Nein, aber wenn ich Text lernen muss, mache ich manchmal Musik<br />

an. Meine Frau ist immer ganz empört: „Da kannst du dich doch<br />

gar nicht konzentrieren!“ Aber ich mag das, denn es ist ja zunächst<br />

ein fremder Text. Es braucht eine Weile, bis der einem zu eigen<br />

wird. Anfangs komme ich mir oft doof vor, aber um Text zu lernen,<br />

muss man ihn laut sprechen. Da ist es manchmal ganz gut, wenn<br />

man sich selbst nicht so genau hört. Also höre ich Musik.<br />

Welche Art von Musik?<br />

Lange Zeit war Tom Waits mein Favorit. Und eigentlich wäre es<br />

ein schöner Gedanke, für verschiedene Rollen jeweils eine eigene<br />

Musik zu haben. Es gibt auch Kollegen, die kaufen sich ein<br />

Parfüm, von dem sie denken, es könnte zu ihrer Rolle passen.<br />

Alles schöne Gedanken. Aber ich gehe da pragmatischer ran.<br />

Jetzt drehen Sie den Spieß um: Der Anwalt aus dem Lissabon-<br />

Krimi singt typisch portugiesische Musik: Fado.<br />

Ja, das war eigentlich eine spontane Eingebung. Ingvo Clauder,<br />

unser Komponist, Arrangeur und Produzent, und ich haben<br />

zuletzt einen französischen Chansonabend gemacht. Was vor<br />

JE ÄLTER ICH WERDE, UMSO MEHR<br />

MERKE ICH: ALLES IST ENDLICH<br />

allem deshalb lustig war, weil Ingvo gar kein Französisch kann.<br />

Das lief dann in den Proben so: „Ähm, diese eine Stelle, wo du da<br />

singst ‚cra …eh creu …‘“ (lacht) Wir sind damit sogar beim<br />

Bundespräsidenten aufgetreten. Das französische Chanson ist<br />

allerdings in Deutschland ein bisschen aus der Mode geraten,<br />

deshalb war es ziemlich schwer, Auftritte zu bekommen. Also<br />

wollte ich auf Deutsch singen.<br />

Dafür ist portugiesischer Fado ja vielleicht nicht die erste<br />

Eingebung …<br />

Fado wollte ich machen, weil ich Melancholie ein tolles Thema für<br />

Musik finde. Von den Themen und der<br />

Sehnsucht her sind Fado und Chanson<br />

sogar eng verwandt. Unseren Textdichter<br />

Antek Krönung habe ich dann<br />

zufällig in Köln auf der lit.Cologne<br />

kennengelernt. Ich habe ihm auf dem<br />

Handy etwas aus unserem Chanson-<br />

Programm vorgespielt und ihm gesagt:<br />

„Eigentlich würde ich gerne mal auf<br />

Deutsch singen.“ Ich finde singbare deutsche Texte zu schreiben<br />

generell nicht einfach – das könnte ich gar nicht. Als wir bei einem<br />

Wein zusammensaßen, hab ich ihn einfach gefragt, was er denn<br />

eigentlich von deutschem Fado halte – er wusste sofort, was ich<br />

meine. „Okay“, sagte er, „nächste Woche bin ich in Berlin, da<br />

bringe ich dir mal zwei, drei Texte mit.“<br />

Die Lieder sind alle speziell für Sie geschrieben und von Ingvo<br />

Clauder komponiert worden, quasi maßgeschneidert. Wie viel<br />

Anteil hatten Sie selbst an den Stücken?<br />

Ich bin wirklich nur Interpret. Als Antek mir seine Texte<br />

geschickt hat, war es, als hätte ich sie selbst geschrieben – dabei<br />

kann ich es ja gar nicht! Da sind Situationen, Themen und<br />

Gefühlslagen drin, die genau zu mir passen.<br />

Ihr Album heißt – ein bisschen widersprüchlich – „Zum Glück<br />

traurig“. Was ist denn das Schöne am Traurigsein?<br />

Ein Beispiel: Wenn man sich von den Kindern alte Fotos anguckt,<br />

als sie noch klein waren, ist das einerseits eine schöne Sache.<br />

Andererseits rührt es sehr an. Man weiß: Diese Zeit ist vorbei. Und<br />

sie war wahnsinnig schön. Diesen bittersüßen Zustand wollten wir<br />

ausdrücken: Mit einem Lächeln auf den Lippen könnte man<br />

heulen. Sich da reinzubegeben ist Tradition in Portugal und<br />

Frankreich. Weil man danach oft befreiter ist. Das ist sozusagen der<br />

„therapeutische“ Sinn der Musik.<br />

Fado widmet sich ja der „Saudade“, also dem Weltschmerz.<br />

Kennen Sie das auch?<br />

„Weltschmerz“ ist ja recht pauschal, ich würde sagen, es ist die<br />

Vergänglichkeit. Je älter ich werde, umso mehr merke ich, dass<br />

alles endlich ist. Das kann schon schmerzlich sein.<br />

Was hilft gegen dagegen?<br />

Singen, malen – das sind Dinge, die einen eine<br />

Zeit lang von der Welt entheben. Es ist ungemein<br />

schön und tröstlich, sich in so etwas<br />

verlieren zu können.<br />

„Zum Glück traurig“, Jürgen Tarrach (OKeh)<br />

■<br />

13


K Ü N S T L E R<br />

EINE TRAUMATISCHE KINDHEIT LIESS CHRISTOPH ESCHENBACH<br />

VERSTUMMEN. ERST MIT DER MUSIK FAND ER DIE SPRACHE WIEDER<br />

„WIR MACHEN<br />

SCHWARZE<br />

PUNKTE<br />

LEBENDIG“<br />

Herbert von Karajan nannte ihn einen Orchester-Architekten unter<br />

den Dirigenten. Jetzt übernimmt Christoph Eschenbach das<br />

Konzerthausorchester in Berlin. Und baut dabei auf sein bewährtes<br />

Fundament: eine gute Zusammenarbeit mit den Musikern.<br />

VON VERENA FISCHER-ZERNIN<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Eschenbach, Sie sind in Breslau geboren. Jeder anständige<br />

Berliner kommt aus Breslau, sagt Tucholsky ...<br />

Christoph Eschenbach: ... ach! (lacht)<br />

Kommen Sie also nach Hause, wenn Sie in der neuen Saison die Leitung des<br />

Konzerthausorchesters Berlin übernehmen?<br />

Das hat etwas. Die Breslauer sagen, Berlin sei ein Vorort von Breslau. Durch die<br />

ganze Historie hat sich das alles sehr verändert, aber etwas daran gilt noch. Mein<br />

Vater war Universitätsprofessor in Breslau und zugleich Dirigent. Er hat den<br />

größten gesamtschlesischen Chor geleitet und viele, viele Konzerte gegeben. Er<br />

starb <strong>19</strong>45 in der letzten Schlacht um Berlin. Das ist mein persönlicher<br />

Zusammenhang.<br />

Sie sind in Norddeutschland aufgewachsen. Sie haben als Kind in Schleswig-Holstein<br />

Orgeldienste versehen, haben in Hamburg bei Eliza Hansen studiert, das<br />

Schleswig-Holstein Musik Festival mitgeprägt und waren Chefdirigent des<br />

heutigen NDR Elbphilharmonie Orchesters. Und nun machen Sie in Ihrer ersten<br />

14 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


Blick nach vorn:<br />

Christoph<br />

Eschenbach im<br />

Parkett seiner neuen<br />

Wirkungsstätte<br />

FOTO: MARCO BORGGREVE<br />

15


K Ü N S T L E R<br />

FOTO: MARCO BORGGREVE<br />

Saison beim Konzerthausorchester einen Brahms-<br />

Schwerpunkt. Von Brahms heißt es ja oft, der hätte so was<br />

norddeutsch Schweres.<br />

Brahms kam aus Norddeutschland, aber er liebte Ungarn! Er hat in<br />

Wien gelebt, hatte in seiner Wohnung aus Stroh gemachte ungarische<br />

Puppen stehen, hat in seiner Jugend mit einem ungarischen<br />

Geiger Ungarn bereist. Er war insgesamt sehr frei und offen. Auch<br />

im Ersten Klavierkonzert gibt es ja nicht nur das Schwere. Es gibt<br />

auch den ungarisch angehauchten letzten Satz und den unglaublich<br />

lyrischen Mittelsatz, der das Landschaftliche übersteigt.<br />

Kann eine Landschaft das musikalische Denken prägen?<br />

Ich liebe die norddeutsche Landschaft – sie hat mein Denken in<br />

der Kindheit geprägt. Was aber das Musikalische angeht, gab es<br />

sicher andere Prägungen, die wichtiger waren. Dass es mich<br />

dorthin verschlagen hat, wie man so schön oder so unzutreffend<br />

sagt, das war einfach Schicksal. Meine Mutter ist bei meiner<br />

Geburt gestorben. Ich bin nach dem Krieg bei einer Cousine<br />

meiner Mutter aufgewachsen. Die beiden waren gut befreundet<br />

gewesen, beide waren ausgebildete Pianistinnen.<br />

Bei Kriegsende ist Ihre Großmutter mit Ihnen nach Mecklenburg<br />

geflohen. Sie starb in einem Flüchtlingslager an Typhus.<br />

Das gerade fünfjährige Kind, das Sie waren, blieb zurück,<br />

ebenfalls todkrank.<br />

Meine zweite Mutter hat mich wirklich gerettet.<br />

Sie müssen durch die Ereignisse schwer traumatisiert gewesen<br />

sein, jedenfalls haben Sie damals für Monate die Sprache<br />

verloren. Wie haben Sie sie denn wiedergewonnen?<br />

Durch die Musik. Ich hörte – krank wie ich war – meine zweite<br />

Mutter jeden Abend stundenlang Klavier spielen. Die Musik hat<br />

mir Kraft gegeben und mir Mut gemacht, mich auszudrücken. Und<br />

als meine Mutter mich fragte, willst du auch Klavier spielen, sagte<br />

ich: „Ja!“ Das war das erste Wort. (lacht, als wäre er selbst erstaunt)<br />

Und dann konnten Sie plötzlich sprechen?<br />

Es hat ein bisschen gedauert. Ich musste mir selber Worte formen.<br />

Das war sehr schwierig. Aber der eigentliche Bruch war nicht in<br />

der Sprache. Er war in der Seele.<br />

Sie sind als Einzelkind aufgewachsen. Wie kamen Sie denn mit<br />

anderen Kindern zurecht?<br />

Erst war es nicht so einfach. Ich konnte nicht teilen, was ich<br />

wusste. Ich wusste, dass es nicht verstanden würde. Es war ein<br />

Tabu in mir, das ich behielt. Eigentlich sehr, sehr lange. Bis vor<br />

wenigen Jahren. Natürlich habe ich im Lauf der Jahre einzelne<br />

Geschichten erzählt, aber es war kein wirkliches Gesprächsthema,<br />

das wollte ich nicht.<br />

Wenn Sie proben, wie viel sprechen Sie da? Musiker wollen ja<br />

lieber spielen, als Ansprachen zu lauschen.<br />

Man sagt präzise Worte, wo man sie notwendig findet – nicht<br />

mehr. Es gibt eine schöne Geschichte von dem Pianisten Edwin<br />

Fischer. Es ging um das zweite Brahms-Konzert. Das fängt so<br />

an ... (singt den Anfang), und Otto Klemperer dirigierte ... (singt<br />

das Gleiche, ein wenig verwaschener). Fischer unterbricht und<br />

sagt zu Klemperer: „Maestro, es muss so klingen wie im Wald.“<br />

Und Klemperer erwidert (Eschenbach nuschelt, als hätte er eine<br />

heiße Kartoffel im Mund): „Es muss so klingen wie im Wald.“<br />

16 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


Sie proben weiter, Fischer unterbricht wieder: „Etwas Sonne ...“<br />

und Klemperer (nuschelnd): „Etwas Sonne!“ Ging auch nicht gut.<br />

Dann machen sie weiter, und Fischer ist glücklich. Und Klemperer<br />

nuschelt nur: „Also im Tempo!“ (lacht)<br />

So etwas will ein Orchester nicht.<br />

Ein Orchester will präzise Angaben. Wenn junge Dirigenten mich<br />

fragen, wie werde ich Dirigent, dann sage ich denen: Hör zu, wie<br />

Dirigenten proben. Dann kannst du lernen, was schlecht ist –<br />

wenn sie zu viel reden. Und was gut ist – wenn sie präzis sind.<br />

Wie sie ein Resultat erreichen im Orchester. Einen Erfolg im<br />

Klangempfinden. Oder nicht im Empfinden, sondern im Wissen.<br />

Wie sehr glauben Sie an rein manuelle Dirigiertechniken, etwa<br />

einen bestimmten Winkel des Handgelenks?<br />

Man muss bestimmte Dirigiertechniken beherrschen. Das lernt<br />

man aus seinem eigenen Körper. Es ist sehr wichtig, dass jeder<br />

Dirigent früh sein eigenes Körpergefühl lernt, auslotet und dann<br />

weitergeben kann.<br />

Das ist etwas sehr Persönliches. Kann man das überhaupt<br />

weitergeben?<br />

Jedenfalls kann man es nicht kopieren. Ich habe sehr viel von<br />

Karajan gelernt und von meinem großen Mentor George Szell.<br />

Kopiert habe ich sie nie.<br />

Wenn Sie ein Stück einstudieren, was ist Ihr oberstes Ziel?<br />

Zuerst, wenn ich die Partitur lerne, lerne ich die Struktur des<br />

Stückes kennen, die Farbgebung des Stückes, die Zusammenhänge<br />

der einzelnen Teile und Details. Wenn ich es dann weitergebe,<br />

muss ich das alles schon im Kopf haben. Und im Geist.<br />

Gibt es Momente, in denen Sie über einer Partitur grübeln und<br />

sich fragen, wie mach ich’s? Was hat der Komponist gewollt?<br />

Es gibt sehr komplizierte Partituren, bei denen man nicht gleich<br />

weiß, wie man’s macht. Aber es kommt schon. Nur wenn ich es<br />

gar nicht zustande bekomme, dann lasse ich es lieber sein. Ich<br />

habe nie ein Stück dirigiert, mit dem ich mich nicht hundertprozentig<br />

identifizieren konnte. Wenn 99 Prozent schon da sind,<br />

kann das eine Prozent noch kommen. Meist ist es aber so, dass<br />

mich Stücke anspringen – und ich dann auf sie springe.<br />

Das heißt, eigentlich wählt das Stück Sie.<br />

So soll es doch sein. Wir sind die Lebendigmacher dieser schwarzen<br />

Punkte auf weißem Papier.<br />

Ich habe mal gelesen: „Ganz ohne Selbstinszenierung kommen<br />

Dirigenten kaum aus.“<br />

Das ist ein gefährliches Wort. Davon bin ich weit entfernt. Wir<br />

sollen wir selbst sein. Aber uns dann noch zu inszenieren, das<br />

finde ich ein bisschen viel. Wenn wir eine Persönlichkeit darstellen<br />

– vor dem Orchester und vor dem Publikum –, ist das genug.<br />

Wie viel hat Dirigieren mit Machtausübung zu tun?<br />

Nichts. Die Macht ist die Musik. Nicht die Persönlichkeit<br />

derjenigen, die sie ausführen. Aus der Macht der Musik schafft<br />

man alles.<br />

Kommt es vor, dass Sie sagen, so, wir gehen jetzt in diese<br />

Richtung, und Sie dann merken, dass da vielleicht jemand nicht<br />

unbedingt d’accord ist? 90 Leute müssen oder können ja nicht<br />

immer alle einer Meinung sein.<br />

Ich baue sehr auf Geben und Nehmen. Ich will die Meinung der<br />

Musiker hören. Wenn ich in der Partitur arbeite und probe, ist<br />

mein Horizont so weit, dass ich andere Auffassungen mit<br />

aufnehmen kann. Wenn sie mir gefallen, nehme ich sie sehr gerne<br />

auf. Meist ist es bei hervorragenden Orchestern so, dass es mir<br />

gefällt. Ich will keine graue Maus als Orchester, sondern ich will<br />

eine Versammlung von Persönlichkeiten, die etwas bieten<br />

können. Und bei großartigen Orchestern ist das halt so. Das hat<br />

mich auch beim Konzerthausorchester von Anfang an fasziniert.<br />

Wie sind Dirigenten vom alten Schlag mit den Musikern<br />

umgegangen? Wenn man mit Berliner Philharmonikern<br />

spricht, die Karajan noch als junge Leute erlebt haben, das<br />

klingt ganz schrecklich.<br />

Eine schreckliche Geschichte kenne ich nicht von ihm. Er war<br />

sehr für die Musiker da. Das einzige Mal, dass er in Diskrepanz<br />

geriet mit dem Orchester, war das Engagement von Sabine Meyer.<br />

Das Orchester wollte keine Frau! Das war’s!<br />

Und George Szell?<br />

Der Szell! (klingt amüsiert)<br />

„SELBSTINSZENIERUNG IST EIN<br />

GEFÄHRLICHES WORT.<br />

PERSÖNLICHKEIT DARZUSTELLEN,<br />

IST GENUG“<br />

War der ein autoritärer Dirigent?<br />

Ja! Bei all seiner Größe und seiner großartigen Musikalität und<br />

all den Dingen, die er für mich getan hat – Szell war mit dem<br />

Orchester ... streng.<br />

Das mögen Orchester aber doch eigentlich ganz gern.<br />

Diese Art von Strenge nicht. Wenn Sie jemandem am fünften Pult<br />

der ersten Geige sagen: „Jetzt setzen Sie sich mal zehn Zentimeter<br />

mehr in die Gruppe“, und der dann ein Gesicht zieht ... Und wenn<br />

der Dirigent dann sagt: „Kommen Sie in der Pause mal bitte zu<br />

mir ins Zimmer ...“<br />

Hui. Hat der Geiger seine Stelle behalten?<br />

Er hat sie dann doch behalten, weil er gut war. Aber es war ein<br />

kritischer Moment. Oder wenn Sie an Toscanini denken, wie er<br />

die Leute anbrüllte und seine Uhr hinschmiss und drauftrat. Ich<br />

weiß nicht, ob die Geschichten alle stimmen. Aber so kann man<br />

mit Leuten, mit denen man Musik machen will, nicht umgehen.<br />

Auf den Aufnahmen von Toscanini hört man das auch, finde ich.<br />

Manches ist so eckig, so strikt.<br />

Was hat sich verändert?<br />

Die Autorität eines Dirigenten ist natürlich. Sie brauchen<br />

Autorität, wenn Sie vor 100 Leuten stehen und ihnen den Weg<br />

weisen. Auf ihnen herumzuhacken, ist unmöglich.<br />

Und früher war der Dirigent ...<br />

... na ja, wie eine höhere Gewalt! (lacht unvermittelt laut los) Was<br />

nicht gut ist.<br />

Sie haben ja schon sehr viele Chefposten gehabt. Sie gehen<br />

intensive künstlerische Beziehungen ein. Wie ist denn das,<br />

wenn man nach langer Zeit zu einem Orchester zurückkommt?<br />

Das ist schön, weil sich die Musiker an die Spezialitäten erinnern,<br />

die man hat, die Nuancen, die man von ihnen möchte, und die<br />

Farben, mit denen man malt.<br />

Wenn Sie nach Jahren zurückkommen, hat sich sicherlich ein<br />

Teil des Orchesters verändert, und trotzdem ist das noch im<br />

kollektiven Gedächtnis?<br />

Absolut. Die Jungen haben von den Älteren gelernt und sind Teil<br />

eines unausgesprochenen Einverständnisses.<br />

Gibt es ein Orchester, bei dem Sie noch nie waren und das Sie<br />

gerne einmal dirigieren würden?<br />

Ich war eigentlich bei allen. (lacht)<br />

Würden Sie mehrere Chefposten gleichzeitig bekleiden?<br />

Ich habe das mal gemacht, ich hatte sogar drei. Aber es ist einfach<br />

zu viel. Nicht terminmäßig. Sondern um sich um die „Familie“ zu<br />

kümmern. Wenn man drei Familien hat, ist das ein bisschen<br />

schwierig. Ich hab jetzt eine. Und das genügt mir völlig. n<br />

17


K Ü N S T L E R<br />

FOTO: STEFAN HÖDERATH / DG<br />

18 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


RASTLOSE<br />

LEIDENSCHAFT<br />

Unter dem Motto „Across the Stars“ beschreitet<br />

Anne-Sophie Mutter neues Terrain: Auf ihrem Album<br />

interpretiert sie eigens für sie komponierte Arrangements<br />

der bekanntesten Filmtitel von John Williams.<br />

Am 14. <strong>September</strong> gibt sie mit diesem Repertoire<br />

ihr erstes Open-Air-Konzert überhaupt.<br />

Ein Gespräch über die Guillotine der Gefälligkeit,<br />

den Charme des Breitwandgefühls<br />

und das Gute im Menschen.<br />

VON DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Sie sind ein leidenschaftlicher Film-Fan. Wann<br />

haben Sie zum ersten Mal den Zauber des Films erlebt?<br />

Anne-Sophie Mutter: In meiner Kindheit hat das Fernsehen nur eine sehr<br />

periphere Rolle gespielt. Deshalb war der cineastische Eindruck Ende der<br />

70er-Jahre, als ich in diesem kleinen Kino im Schwarzwald Star Wars sah,<br />

besonders eindrucksvoll. Dabei ist mir ganz besonders die Musik in Erinnerung<br />

geblieben. Schon dieses erste große Thema, wenn der Film beginnt:<br />

Das ist episch, das ist Wagner, das ist große Oper und große Musik.<br />

Was macht die Musik von John Williams für Sie so besonders?<br />

John Williams versteht wie kein anderer, in den Körper der Handlungsgeschichte<br />

zu schlüpfen und sie in eine Emotionstiefe zu bringen, die das Auge<br />

höchstwahrscheinlich so nicht erreicht. Tatsache ist, dass John Williams’<br />

Musik für sich allein steht und ohne den Film sehr gut lebt. Das ist das<br />

Faszinierende daran – ich brauche die Bilder nicht. Dabei besitzt Williams’<br />

Musik derart viel Persönlichkeit und nimmt so viel Raum ein, dass sie den<br />

Film nicht überschattet, aber ein Eigenleben hat, das gleichberechtigt neben<br />

dem Filmepos steht. Es ist ja phänomenal, was man durch akustische Bilder<br />

machen kann. Denken Sie an einen spannenden Thriller. Wenn ich die<br />

<strong>19</strong>


K Ü N S T L E R<br />

Spannung gar nicht mehr aushalte,<br />

stelle ich oft einfach die Musik aus.<br />

Und dann? Ist alles ganz easy. (lacht)<br />

Sie verbindet mittlerweile eine<br />

langjährige Freundschaft mit<br />

Williams. Wie haben Sie sich<br />

kennengelernt?<br />

Das ist witzigerweise auf André<br />

Previn zurückzuführen, denn die<br />

beiden waren fast gleich alt und<br />

haben sich mit 18 oder <strong>19</strong> kennengelernt,<br />

als sie begonnen haben, in<br />

Hollywood zu arbeiten. So sind die<br />

beiden engste und beste Freunde<br />

geworden. Ich selbst habe John in<br />

Tanglewood kennengelernt. Nach<br />

einem Konzert bin ich ihm zum<br />

ersten Mal begegnet, da war auch<br />

mein Sohn Richard dabei, der ein<br />

extremer John-Williams-Fan ist und<br />

einfach alles über seine Musik weiß.<br />

Damals hat sich dann ein Gespräch<br />

entsponnen und bald darauf hat<br />

Williams das großartige Stück Markings für mich komponiert.<br />

Später kam dann die Idee auf, neue Arrangements seiner größten<br />

Filmwerke für mich zu schreiben. Dann hatte ich eine Liste mit<br />

Stücken, dann er … Und bis heute wächst und wächst das. (lacht)<br />

Ich glaube nicht, dass dies das letzte Wort sein wird in dieser<br />

Zusammenarbeit.<br />

Wie haben Sie die gemeinsame Arbeit bisher erlebt?<br />

Es ist schon auffallend, mit welch unglaublichem Wissen Williams<br />

das Instrumentarium einsetzt. Man fühlt sich als Interpret<br />

total verstanden. Seine Musik ist technisch teilweise extrem<br />

anspruchsvoll, aber immer absolut machbar. Dabei geht er bis ins<br />

akribischste Detail, zum Beispiel was die Bogenstriche anbelangt.<br />

Ich habe wirklich Bauklötze gestaunt, was er alles weiß und wie<br />

penibel er selbst um die Länge der Abschlussnoten gerungen hat.<br />

Auch jetzt ist es noch so, dass er die Arrangements umschreibt. Es<br />

arbeitet pausenlos in ihm. Am Anfang hat mich das etwas nervös<br />

gemacht, denn gerade, wenn ich die Materie verinnerlicht hatte,<br />

hieß es: Ach, übrigens, ich hab jetzt da noch eine Idee. (lacht)<br />

Diesen work in progress zu erleben und zu merken, wie sehr er<br />

um Details ringt, finde ich zutiefst inspirierend und aufregend<br />

und eigentlich nie dagewesen in meinem Leben.<br />

Ist John Williams ein Besessener?<br />

Oh ja, ohne Frage. Das macht das Projekt für mich auch zu etwas<br />

ganz Außergewöhnlichem, weil es mit so viel Leidenschaft und<br />

Rastlosigkeit verbunden ist. Das sind zwei Komponenten in<br />

meinem Leben, die mich immer fasziniert haben und die auch<br />

mich selbst ausmachen. In der Musik gibt es ja dieses Vorurteil<br />

gegenüber der Filmmusik im Gegensatz zur ernsten Musik. Diese<br />

sogenannte ernste Musik ist manchmal aber auch totaler Bullshit.<br />

Ich glaube alles, was irgendwo einem menschlichen ästhetischen<br />

Empfinden folgt, fällt unter die Guillotine der Gefälligkeit.<br />

Letztlich gibt es gute Musik und es gibt Musik, die ist halt nicht so<br />

gelungen. John hat bei der Arbeit immer gesagt: „Let’s not forget<br />

the t-word: taste.“ Ich würde das übersetzen mit Reinheit des<br />

musikalischen Ausdrucks, und es war großartig zu sehen, mit<br />

welcher Akribie und mit welch ungeheurem Respekt für die<br />

WIE SEHR JOHN WILLIAMS UM<br />

DETAILS RINGT, FINDE ICH ZUTIEFST<br />

INSPIRIEREND UND AUFREGEND<br />

FOTO: STEFAN HÖDERATH / DG<br />

Interpreten diese Aufnahme ablief.<br />

Das ist nicht so das business as usual,<br />

wie es leider heutzutage oft gehandhabt<br />

wird aus finanziellen Gründen.<br />

Da war diese Aufnahme echt ein<br />

Lichtblick. Zurück in die goldenen<br />

Jahre mit Karajan. Da hat man die<br />

Sachen aufgenommen, bis es saß, und<br />

einen anderen Parameter gab es nicht.<br />

Ist Karajan für Sie denn heute<br />

noch präsent?<br />

Absolut. Ich bin bis heute fasziniert<br />

von der Leidenschaft, mit der er<br />

musizierte, und der Ruhelosigkeit<br />

und Rastlosigkeit, mit der er die Ziele<br />

musikalisch immer wieder neu<br />

definiert hat. Natürlich würde man<br />

Mozart heute nicht mehr so interpretieren,<br />

wie er das gemacht hat. Aber<br />

die Summe seiner musikalischen<br />

Visionen und diese Fähigkeit, uns<br />

das Zuhören zu lehren und diese<br />

großen musikalischen Gedankenbögen<br />

zu verfolgen, statt eine schöne Note an die andere zu<br />

reihen: Das war bei ihm einfach singulär.<br />

Am 14. <strong>September</strong> treten Sie mit den Stücken von Williams<br />

erstmals bei einem Open-Air-Konzert am Münchner Königsplatz<br />

auf. Bislang hatten Sie das vermieden …<br />

Ja, denn ich finde, das Repertoire muss sich eignen für diskrete<br />

Unterstützung durch die Technik. Bei John Williams macht das<br />

für mich absolut Sinn. Seine Musik wurde nicht für den Konzertsaal<br />

komponiert, sondern für eine Surround-Sound-Anlage und<br />

ist so dicht in der Orchestration, dass ich nicht weiß, ob sich<br />

dieses Breitwandgefühl in einem Konzertsaal überhaupt einstellen<br />

und die Geige als Soloinstrument überleben würde. Sehr<br />

wahrscheinlich nicht, dazu ist sie einfach zu fragil. Bei Mozart<br />

weiß ich nicht, ob das funktionieren würde. Aber: learning by<br />

doing. (lacht)<br />

Sie haben einmal E. T. A. Hoffmann zitiert und seinen Satz,<br />

„Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an“. Erleben Sie diese<br />

Kraft und Wirkung der Musik bei Ihren Auftritten?<br />

Ja, durchaus. Man kann mit Musik natürlich keine Wunder<br />

bewirken, aber man kann mit der Kraft eines Konzertes etwas<br />

verändern. Kürzlich habe ich in der Elbphilharmonie für den<br />

Jemen gespielt, für „Save the children“. Bevor wir am Ende des<br />

Konzerts ein musikalisches Gebet gespielt haben für die 85.000<br />

unter fünfjährigen Kinder, die gestorben sind in den letzten vier<br />

Jahren, entweder dahingerafft von der Seuche oder von den<br />

Bomben zerfetzt oder einfach nur verhungert, habe ich dem<br />

Publikum gesagt: „Stellen sie sich vor, das ist 40-mal die vollbesetzte<br />

Elphi! Wie wäre es, wenn jeder von uns jetzt zehn Euro<br />

spendet?“ Und dann bekam ich ein paar Tage später eine E-Mail<br />

von einem Ehepaar, das mir schrieb, sie hätten jetzt beschlossen,<br />

dass sie 21.000 Euro überweisen. Da habe ich<br />

fast geweint. Denn der Mensch ist im Grunde<br />

genommen ja gut. Man muss ihn nur dran<br />

erinnern.<br />

John Williams: „Across the Stars“, Anne-Sophie Mutter (DG)<br />

n<br />

20 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


„VIELFALT IST STÄRKE“<br />

Die Pianistin Danae Dörken hat eine so beflügelnde wie einfache Philosophie:<br />

„Verbinden, was zusammengehört!“ VON STEFAN SELL<br />

Sechs Jahre ist es nun her, sie war gerade mal 21, da stellte<br />

<strong>CRESCENDO</strong> sie als Newcomerin vor. Sie war gerade von<br />

einer großen Konzerttournee aus China zurück und hatte mit ihrem<br />

bahnbrechenden Debüt, Leoš Janáčeks Pianoworks, für Furore<br />

gesorgt. Die Frage, die sich heute stellt: Gibt es eine Steigerung des<br />

Superlativs? Danae Dörken ist in ihrer erdverbundenen Souveränität<br />

zur Spitzenpianistin avanciert. Sie schürt ihr Spielfeuer, dass selbst<br />

der zartglimmendste Funken Glut nicht verlöscht. Virtuosität ist für<br />

sie selbstverständlich, denn ihr geht es um die Musik und das, was<br />

sie bewirkt. „Ich finde, wenn man schon eine Stimme hat und einem<br />

eine Bühne gegeben wird, sollte man diese auch nutzen und seine<br />

Message rüberbringen. Alles andere wäre für mich wie nicht wählen<br />

zu gehen – da hat man seine Stimme einfach vergeudet.“<br />

Dörkens Mutter ist Griechin, ihr Vater Deutscher. Dass sie zwei<br />

so sehr unterschiedliche Kulturen in sich vereint, empfindet sie „als<br />

Privileg: Vielfalt ist etwas, was uns näher zusammenbringt und<br />

enorme Stärke gibt“. Klassische Musik ist für Dörken keine elitäre<br />

Klangkapsel, die man wie eine Pille einfach schluckt, um der Sinnlosigkeit<br />

des Alltags zu entfliehen. Die Emotionalität dieser Musik<br />

soll die Herzen aller berühren können. Dafür spielt sie.<br />

Als Mutter zweier Kinder wagt sie den Spagat zwischen Karriere<br />

und Familie und weiß, dass auch das zusammengehört. Dabei orientiert<br />

sie sich – zu Recht – an einer Größe wie Clara Schumann. „Ich<br />

sehe zu, wie meine beiden Jungs die Welt entdecken. Alles ist so<br />

abenteuerlich, auch dann, wenn etwas hundert Mal passiert. Lässt<br />

man hundert Mal den Stift runterfallen, ist das für sie jedesmal etwas<br />

ganz Tolles und Interessantes. Davon kann ich mir viel abschauen<br />

und in die Musik einbringen. Alles ist frisch und immer eine große<br />

Freude, ein großes Spiel.“ Ja, und genau so ist ihre Musik.<br />

Ihr neues Soloalbum heißt „East and West“ und verbindet westliche<br />

wie östliche Strömungen. Dörken näht zusammen, was zusammengehört.<br />

„Der Kerngedanke dieser CD – und das sehe ich nicht<br />

nur musikalisch – enthält eine Botschaft, die in der heutigen Zeit<br />

wichtig ist: Wenn man die Einzigartigkeit von Lebensweise und<br />

Lebensausdruck bewahrt und sich öffnet, kann man zu einer Verbindung<br />

zwischen den Menschen und Völkern finden.“<br />

Die Einspielung beginnt mit den 5 Preludes von Manolis Kalomiris<br />

(1883–<strong>19</strong>62). Kalomiris wurde im damaligen Smyrna geboren<br />

und gilt als Vater der modernen griechischen Musik, fühlte sich zu<br />

Chopin und Liszt ebenso hingezogen wie zum griechischen Volkslied.<br />

Hört man dann Dörkens Interpretation des dritten rumänischen<br />

Volkstanzes von Bartók, glaubt man, plötzlich Rembetiko zu hören,<br />

genauer das Lied Kegome (Καίγομαι/„ich verbrenne“) von Stavros<br />

Xarhakos, das den brennenden Untergang der Stadt Smyrna, dem<br />

heutigen Izmir, beklagt. Alles ist mit allem verbunden. „Bartók finde<br />

ich ein super Beispiel dafür. Gerade die östlichen Melodien sind auf<br />

irgendeine Weise alle miteinander verbunden. Ist es auch keine griechische,<br />

sondern eine rumänisch-ungarische Melodie, fühle ich mich<br />

dem Charakter, den Farben und allem, was da mit einfließt, sehr<br />

nahe. Und das ist natürlich in der griechischen Rembetiko-Musik<br />

verankert. Die leicht orientalischen Melodien, die Volkslieder, sie<br />

sind prägend für das Land und die Kultur, gleichzeitig zeigen sie aber<br />

auch die Verbindungen und Vernetzungen untereinander und dass<br />

alles ein und denselben Ursprung hat.“<br />

Das Verbindende in der Musikgeschichte gleicht einem Staffellauf,<br />

wobei der Stab – ein musikalischer Einfall, eine Kompositionsidee<br />

–, von Musiker zu Musiker weitergereicht, immer etwas Neues,<br />

Einzigartiges erscheinen lässt. So sind auf „East and West“ Schubert,<br />

Chopin, Grieg, de Falla, Bartók, Kalomiris und Poulenc als Stafette<br />

zu hören, verbunden durch ihre Nähe zur Volksmusik: „Das finde<br />

ich ein zutreffendes Bild. Was man in der Hand hält, bleibt – das ist die<br />

Essenz. Alles andere ändert sich, auch im Verhältnis von Komponist<br />

und Interpret. Ich als Interpretin verändere die Idee des Komponisten.<br />

Musik ist letztlich ein Ausdruck von Philosophie.“ n<br />

Chopin, Grieg, Kalomiris u. a.: „East and West“, Danae Dörken (Ars)<br />

Track 11 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Polonaise op. 26 Nr. 1.<br />

Allegro appassionato von Frédéric Chopin<br />

FOTO: ERVIS ZIKA<br />

21


K Ü N S T L E R<br />

VOM GLÜCK IM<br />

HIER UND JETZT<br />

FOTO: CONSTANTIN MIRBACH<br />

22 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


Mit ihrem Album „Innenwelt“ schließt die Sopranistin Marlis Petersen eine dreiteilige<br />

musikalische Reise durch die Dimensionen des Menschseins ab. <strong>CRESCENDO</strong> hat sie am<br />

Ende der Aufnahmesession im niederbayerischen Blaibach getroffen.<br />

E<br />

inst war Blaibach nichts weiter als ein kleines, ein wenig<br />

verschlafenes Örtchen im Niederbayerischen. Seit dort aber<br />

ein futuristisches Konzerthaus gebaut wurde, pocht die Musik im<br />

Herzen des Ortes, umgeben von Stille, Natur und Bodenständigkeit<br />

– der ideale Ort für einen geerdeten Weltstar wie Marlis Petersen. Die<br />

Koloratursopranistin hat hier bereits die zwei ersten Alben ihrer dreiteiligen<br />

„Dimensionen-Trilogie“ aufgenommen, in der sie singend<br />

verschiedene Gefühls- und Erlebniswelten des Menschseins erkundet.<br />

Erst widmete sie sich der „Welt“ im Hier und Jetzt, dann der „Anderswelt“,<br />

jenem verwunschenen Reich der Feen, Elfen und Trolle. Nun<br />

ist sie ein weiteres Mal vor Ort, um fernab des urbanen Trubels die<br />

„Innenwelt“ zu erforschen. Mit dabei: Michael J. Müller, der die Produktion<br />

mit der Kamera begleitet.<br />

Marlis Petersen sitzt auf der Terrasse des Dorfrestaurants, legt<br />

den Kopf in den Nacken und schließt kurz die Augen. „Ich kann gar<br />

nicht genug Sonne bekommen“, lacht die Sängerin, die <strong>19</strong>68 in Sindelfingen<br />

zur Welt kam und im Kirchenchor ihre Stimme entdeckte.<br />

Um die Eltern zu beruhigen, studierte sie neben Gesang auch Schulmusik,<br />

außerdem absolvierte sie eine<br />

Jazz- und Steptanzausbildung. Indes:<br />

Vor der Klasse stand sie nie. Dafür auf<br />

den großen Bühne: Mal als Lulu an der<br />

Met, als Susanna bei den Salzburger<br />

Festspielen oder als Manon an der Wiener<br />

Staatsoper. Im Herbst wird sie die<br />

Salome an der Bayerischen Staatsoper<br />

in München geben, außerdem ist sie<br />

Artist in Residence bei den Berliner<br />

Philharmonikern. Eine beeindruckende<br />

Karriere. Gleichwohl: Müsste man eine<br />

Absage an das Diventum skizzieren, es<br />

käme eine Künstlerin wie Marlis Petersen<br />

heraus – unprätentiös, herzlich und<br />

geerdet hat sie sich einen bodenständigen<br />

Charme erhalten, einen Hauch<br />

schwäbischen Dialekts obendrein.<br />

Technisch überlegen und mit<br />

einer ungemein wandlungsfähigen und<br />

strahlend klaren Stimme ausgestattet,<br />

hat sich Marlis Petersen nie auf nur ein<br />

Fach beschränkt. „Bei mir ist immer<br />

alles bunt, selbst die Haare“, sagt Petersen<br />

und fährt sich lachend durch die farbigen Strähnen. „Es gibt so<br />

einen Reichtum, eine solche Vielfalt an Musik. Ich würde wahnsinnig<br />

werden, müsste ich als Koloratursopran immer nur die gleichen<br />

vier Rollen singen.“<br />

Die Dimensionen-Trilogie ist für die Sängerin ein „Herzensund<br />

Lebensprojekt“. Umgeben von unzähligen Notenblättern, hat<br />

sie sich zu Beginn des Projekts in ihrem Haus in Griechenland ans<br />

Keyboard gesetzt und Lieder zusammengetragen, die die Dimensionen<br />

des Menschseins assoziativ erfahrbar machen. Wie ein immer<br />

weiter wachsendes Puzzle haben die einzelnen Stücke schließlich<br />

VON DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />

Sinn für Gin<br />

„Das Schönste, was wir Menschen bekommen<br />

haben, sind doch unsere Sinne“, findet Marlis Petersen.<br />

Dieser Meinung ist auch Michael J. Müller, der<br />

Petersens Trilogie als Filmemacher begleitet hat.<br />

Seit <strong>Oktober</strong> widmet sich Müller nicht nur dem<br />

Film, sondern auch dem Gin. Zusammen mit drei<br />

Kollegen hat er unter Anleitung von Destiller<br />

Sebastian Rauscher von Cosmic Spirits den<br />

„Sleepy4Gin“ erschaffen, einen exquisiten London<br />

Dry Gin aus Höhenrain, der im Direktvertrieb an<br />

den Kunden geht. „Unser Gin sollte nach Heimat<br />

schmecken“, sagt Müller. Kräftig und pur soll er<br />

sein, mit einer satten Wacholder-Basis und einer<br />

besonderen Note Fichtennadeln im Bouquet. Laut<br />

Gin-Fan Marlis Petersen ist das gelungen. „Sleepy-<br />

4Gin ist für mich Erdung pur, ein sinnliches Erlebnis<br />

mit Urgeschmack“, sagt die Sängerin. Dabei sei es<br />

wie immer im Leben: „Wenn man mit dem Herzen<br />

etwas angeht, dann kommen die Dinge“ – ob in<br />

der Musik oder beim Gin.<br />

www.weckediejungfrau.de<br />

ein farbenreiches Bild „mit musikalisch und geistig-seelischer Dramaturgie“<br />

ergeben, wie Petersen sagt. Die daraus entstandenen Alben<br />

gleichen aufregenden und berührenden Reisen durch existenzielle<br />

Dimensionen und Gefühlszustände, die von der Künstlerin sinnlich<br />

und ausgesprochen feinsinnig und intensiv ausgestaltet werden. In<br />

Blaibach hat sie sich zusammen mit ihrem Pianisten Matthias Lademann<br />

nun der menschlichen Innenwelt zugewandt und ist tief eingetaucht<br />

in jenes Reich der Emotionen, Visionen und Träume, in<br />

dem sich das Unterbewusstsein offenbart und tief Verborgenes zutage<br />

tritt. Da findet sich etwa das Lied Seele von Karl Weigl, Après un rêve<br />

von Gabriel Fauré, Die Nacht von Richard Strauss, Hohe Liebe von<br />

Franz Liszt oder das Gebet von Hugo Wolf bis hin zu einer besonderen<br />

Bearbeitung von Strauss’ Beim Schlafengehen von und mit dem<br />

Jazzgeiger und Komponisten Gregor Hübner.<br />

Das Lied ist für Marlis Petersen der musikalische Ursprung.<br />

So sei schließlich alles losgegangen: mit einer Stimme, die anfängt,<br />

zu singen. „Das Lied ist eine Essenz, ein Kleinod, eine Oper im<br />

Inneren“, sagt Petersen. Um es richtig zu interpretieren, müsse man<br />

die ganze Szene in sich tragen, und Text<br />

und Musik würden dabei nicht 50 und<br />

50 Prozent ausmachen, sondern jeweils<br />

100 Prozent. „Beides muss vollständig<br />

da sein, damit es funktioniert.“ Marlis<br />

Petersen gibt gern 200 Prozent. „Wir<br />

tanzen nicht, wir eskalieren“ prangt auf<br />

ihrem Oberteil – humorvolles Statement<br />

einer Vollblutmusikerin und<br />

Lebenskünstlerin, die fahle Kompromisse<br />

ebenso scheut wie das durchgetaktete<br />

Businessleben. „In unserer verrückten<br />

Welt hasten wir so oft an allem<br />

vorbei und nehmen die Umwelt kaum<br />

mehr wahr“, sagt Petersen und zeigt auf<br />

die zarten Pflanzen, die zwischen den<br />

Steinplatten am Boden emporwachsen.<br />

„Dabei verbindet uns alle doch die<br />

Sehnsucht danach, dass unser Leben<br />

Sinn macht. Ich wollte uns Menschen<br />

mit der Form des Lieds auffordern, das<br />

Glück im Hier und Jetzt zu suchen.“<br />

Marlis Petersen hat ihr Glück gefunden:<br />

in Griechenland. Seit neun Jahren lebt<br />

sie in Athen, seit zwei Jahren auf dem Peloponnes. Und wann immer<br />

es ihr möglich ist, kehrt sie dorthin zurück. Dann produziert sie ihr<br />

eigenes Olivenöl, tankt Sonne und erdet sich. „Meine Heimat ist die<br />

Musik und Griechenland. Dort kann ich auch mal Fünfe grade sein<br />

lassen und spüre die Elemente ganz stark. Wenn<br />

ich in meinem Haus sitze und das Meer aufsaugen<br />

kann, bin ich tief glücklich.“<br />

n<br />

„Innenwelt“, Marlis Petersen, Stephan Matthias Lademann<br />

(Solo Musica)<br />

23


K Ü N S T L E R<br />

DER KICK<br />

AM KLAVIER<br />

Bei einem Konzert in der Düsseldorfer Tonhalle wurden sie kürzlich als<br />

Clara und Robert Schumann bezeichnet. Gülru Ensari und Herbert Schuch<br />

verbindet die Liebe füreinander – und für ihr Instrument.<br />

VON KATHERINA KNEES<br />

24 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


FOTO: MAGNUS CONTZEN<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Kann man die persönliche<br />

Beziehung als Paar auf der Bühne<br />

überhaupt mal abschütteln?<br />

Gülru Ensari: Nein, gar nicht, das Gefühl ist eigentlich immer da.<br />

Aber es ist auch so, dass man sich auf den anderen auch ganz<br />

anders verlassen kann als auf andere Kollegen, mit denen man<br />

spielt. Ganz egal, wie viel man davor gestritten hat über diese<br />

oder jede Stelle. (lacht)<br />

Sind Sie gegenseitig Ihre schärfsten Kritiker?<br />

Herbert Schuch: Das ist das Schwierige an dieser direkten<br />

Arbeitsweise miteinander. Wir sind uns ja immer in jeder<br />

Hinsicht sehr nah und man bekommt alles voneinander mit. Es<br />

hilft dann vermutlich, einfach am eigenen Ego zu arbeiten. Ich<br />

habe gelernt, dass es wichtig ist, Verschiedenheit auch als etwas<br />

Schönes zu akzeptieren.<br />

Gülru Ensari: Wenn ich Geigerin wäre und er Pianist, dann<br />

hätten wir vielleicht auch musikalische Auseinandersetzungen,<br />

aber man würde nicht über einzelne Fingersätze oder so etwas<br />

reden. Dadurch, dass wir uns sogar ein Instrument teilen, wenn<br />

wir vierhändig spielen, kommt man quasi automatisch immer in<br />

die Sphäre des anderen. Und dann hat jeder auch noch eine<br />

Vorstellung von dem Instrument, wie es klingen soll. Darum<br />

mischt man sich immer viel ein, wie der andere spielen soll. Das<br />

würde man mit unterschiedlichen Instrumenten sicherlich nicht<br />

so stark machen.<br />

Wie proben Sie denn im Alltag miteinander?<br />

Gülru Ensari: Meistens lesen wir die Stücke zusammen, dann übt<br />

jeder für sich selbst, und dann kommen wir wieder zusammen.<br />

Ich empfinde es oft als großen Luxus, dass wir die Stücke<br />

gemeinsam kennenlernen. Ansonsten ergibt es sich meist<br />

irgendwie, wann wir hier zu Hause proben. Einer hängt noch die<br />

Wäsche auf, und dann geht es los. Es gibt keinen festen Plan.<br />

Ist Ihr Anspruch an das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit<br />

besonders hoch?<br />

Herbert Schuch: Ja, vielleicht schon, aber wir sind mittlerweile<br />

ein bisschen gelassener, weil wir merken, dass wir vor allem in<br />

den Konzerten ganz genau herausfinden, was klappt und was<br />

nicht. Die Konzerte sind sozusagen immer Zwischenergebnisse<br />

von dem gemeinsamen künstlerischen Prozess, den wir durchlaufen<br />

und niemals Endergebnisse. Auf der Bühne sieht man immer<br />

nur eine Momentaufnahme.<br />

Gülru Ensari: Das ist ja auch das Spannende. Dass wir uns<br />

entwickeln können und von jedem Konzert etwas lernen und<br />

dann weiterarbeiten. Sonst würde es auch gar keinen Spaß<br />

machen. Wenn wir nach jedem Konzert fertig wären und ein für<br />

immer gültiges Endergebnis hätten. Dann müssten wir in jedem<br />

Konzert ein neues Repertoire spielen.<br />

Auf der Bühne müssen Sie immer zwei Persönlichkeiten und<br />

zwei Tagesformen unter einen Hut bekommen. Müssen Sie sich<br />

manchmal gegenseitig etwas kicken?<br />

Herbert Schuch: Du kickst gerne. (beide lachen) Ich bin nicht so<br />

der Kicker. Ich werde eher gekickt. Aber du versuchst oft beim<br />

Spielen Signale zu senden, wenn dir etwas nicht passt.<br />

Gülru Ensari: Haha, aber meine Signale kommen ja nicht immer<br />

an. (lacht) Aber es stimmt. Ich stupse ihn oft mit meinem Bein an,<br />

weil wir ja so dicht nebeneinander sitzen. Aber er weiß dann<br />

nicht, was das heißen soll. Ist das zu viel Pedal oder zu wenig<br />

Pedal? Bin ich zu laut oder zu leise? Das stresst ihn eigentlich<br />

mehr, als es hilft. (lacht)<br />

MOZART IST EINFACH GENIAL,<br />

WEIL ER DIE IDEE DES DIALOGS<br />

PERFEKT AUSGELEBT HAT<br />

Haben Sie ein ähnliches Klangideal?<br />

Herbert Schuch: Ich glaube, dass wir<br />

eigentlich ein unterschiedliches Klangideal haben, aber dass<br />

unser tatsächlicher Klang sich ganz gut mischt. Es ist ja auch so,<br />

dass man eine bestimmte Idee vom Klang im Kopf hat, die man<br />

gar nicht realisieren kann, sondern man ist quasi nur auf dem<br />

Weg dorthin, das darzustellen, wie es sein soll.<br />

Gülru Ensari: Aber wenn wir spielen, ist das Empfinden meistens<br />

gleich.<br />

Wie entscheiden Sie denn, wer oben oder unten spielt?<br />

Herbert Schuch: Demokratische Prinzipen. (lacht)<br />

Gülru Ensari: Meist gucken wir uns das Programm für ein<br />

Konzert in der Saison an, das uns wichtig ist, und schauen dann,<br />

dass die Verteilung ungefähr halb, halb ist. Man kann auch gar<br />

nicht sagen, dass es attraktiver ist, oben zu spielen. Ich bin zum<br />

Beispiel total glücklich, dass ich die Bearbeitung vom Schumann<br />

Klavierquintett unten spiele. Ich hätte zuerst gedacht, dass ich<br />

vermutlich die Streicherstimmen spiele und Herbert den Klavierpart.<br />

Aber es ist so toll verteilt. Ich finde meine untere Stimme<br />

total spannend.<br />

Herbert Schuch: Man lernt auch immer ein bisschen etwas über<br />

Instrumente und ihre Rolle im Orchester. Wenn man unten sitzt,<br />

ist man ja eher Kontrabass und Cello oder Fagott. Man kann sich<br />

dann überlegen, wie man das klanglich gestalten kann.<br />

Was macht eine Komposition für Klavier zu vier Händen zu<br />

einem guten Stück?<br />

Gülru Ensari: Ich finde, wenn der Gesamtklang zur Geltung<br />

kommt, aber es trotzdem transparent bleibt. Wenn vier Hände<br />

gleich viel zu spielen haben, funktioniert es natürlich nicht.<br />

Herbert Schuch: Es gibt nur wenige Komponisten, die das<br />

überhaupt gut konnten. Mozart ist einfach genial, weil er die Idee<br />

des Dialogs perfekt ausgelebt hat. Bei Schubert ist es tatsächlich<br />

so, dass man immer denkt, das müsste doch eigentlich von einem<br />

Orchester gespielt werden. Hört man dann aber eine Orchesterversion,<br />

merkt man, dass in der Fassung für Klavier vierhändig<br />

gar nichts fehlt.<br />

Gülru Ensari: Ja, Mozart und Schubert konnten diese musikalischen<br />

Dialoge wirklich wahnsinnig toll in Töne fassen. Und das<br />

macht dann auch sehr viel Spaß beim Spielen.<br />

Was schätzen Sie an Ihrer Frau als Pianistin?<br />

Herbert Schuch: Ich versuche immer, mich frühzeitig ganz<br />

sorgfältig vorzubereiten, und bei ihr geht das alles immer<br />

wahnsinnig schnell. Wenn ich schon denke „Um Gottes Willen“<br />

und auf den Kalender schaue, weil das Konzert bald ist, hat sie da<br />

eine ganz andere Lernkurve. Darauf bin ich dann manchmal auch<br />

sehr neidisch, weil das bei ihr so schnell geht.<br />

Und worum beneiden Sie Ihren Mann?<br />

Herbert Schuch: Um meine Fingersätze … (beide lachen)<br />

Gülru Ensari: Aber im Ernst: Ich beneide ihn vor allem für sein<br />

riesiges Repertoire. Ja, wenn man mehr übt, hat das schon auch<br />

Vorteile.<br />

Herbert Schuch: Irgendeinen Vorteil muss es ja haben.<br />

Gülru Ensari: Er hat ein tolles Repertoire, das auch wirklich gut<br />

zu ihm passt. Es hätte ja auch sein können, dass er wahnsinnig<br />

viele Stücke gelernt hat, doch dass sie gar nicht zu ihm passen.<br />

Aber Beethoven und Schubert stehen ihm einfach gut. Und Bach.<br />

Du spielst auch toll Bach!<br />

Herbert Schuch: Spiele ich doch kaum.<br />

Gülru Ensari: Das ist sehr schade, finde ich. <br />

n<br />

25


K Ü N S T L E R<br />

26 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


EXPLOSION<br />

IM KOPF<br />

Geiger, Countertenor, Dirigent – und alles<br />

buchstäblich mit links! Mit erst 34 Jahren hat<br />

Raphaël Pichon bereits eine erstaunliche<br />

musikalische Laufbahn hinter sich.<br />

Ein Gespräch über sein neues Album,<br />

Vorbilder, Freiheit und: die chemische Reaktion<br />

von Polyfonie in der Kirche.<br />

VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL<br />

27<br />

FOTO: PIERRE GAB


K Ü N S T L E R<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: „Libertà!“ haben Sie Ihre<br />

neue CD mit Werken von Mozart und<br />

Zeitgenossen genannt. Warum?<br />

Raphaël Pichon: Ich wollte Mozarts<br />

musikalischen Reifungsprozess zeigen in<br />

seinen Werken zwischen 1782 und 1786<br />

– eine Zeit, in der er sehr experimentierfreudig<br />

war. Er hatte sich von der strengen<br />

Kontrolle durch den Salzburger Erzbischof Colloredo und der<br />

Bevormundung seines Vaters befreit und ist nach Wien umgezogen.<br />

Mit Joseph II. hatte er einen liberalen Regenten, der die Oper<br />

liebte, soziale Reformen anschob, die Folter fast abschaffte und<br />

sogar politische Satire zuließ.<br />

Was fördert die Kreativität im Künstler mehr: die Demokratie<br />

oder die Diktatur?<br />

Das ist eine wirklich sehr interessante Frage, die schwer zu<br />

beantworten ist. In demokratischen Zeiten kann der Künstler all<br />

seine Werke ohne Zensur aufführen.<br />

Aber wirklich inspirierend für seine musikalische Fantasie<br />

dürften doch wohl eher die subversiven Gedanken sein, die in<br />

Zeiten der Unterdrückung aufkommen?<br />

Ja, da gebe ich Ihnen recht. Das war ja in Mozarts Hochzeit des<br />

Figaro so, wo sich die Kammerzofe in die Herrin verwandelt.<br />

Andererseits sind gesellschaftlich politische Tabus an ihre Zeit<br />

gebunden. Sie verlieren ihre Wirkung in freien Zeiten. Weshalb<br />

bedeuten uns Mozarts Opern heute aber immer noch so viel?<br />

Weil es ihm um Emotionen geht, um den Menschen schlechthin<br />

mit all seinen Abgründen. Seine Musik wird uns immer berühren,<br />

egal wie die politischen Zeitläufe sind.<br />

Oskar Kokoschka nannte „die Freiheit“ einen Kaugummibegriff.<br />

An jedem Schlagbaum verstünde man etwas anderes<br />

darunter. Was bedeutet Freiheit für Sie persönlich?<br />

Freiheit bedeutet für mich, das zu machen und durchzusetzen,<br />

was mir wichtig ist.<br />

Wie etwa als Kind, als Sie sich als Linkshänder weigerten, sich<br />

umschulen zu lassen?<br />

Ja. Es gab natürlich Lehrer, die mich zwingen wollten umzulernen.<br />

Heute ist man da wesentlich toleranter.<br />

Als Countertenor, der Sie mal waren, spielte das ja keine Rolle.<br />

Aber vielleicht, als Sie mit der Geige anfingen.<br />

Auch die habe ich sozusagen mit links gespielt. Als junger Student<br />

in der Dirigierklasse am Konservatorium forderten mich die<br />

Professoren auf, die Klasse zu verlassen, sollte ich nicht umlernen.<br />

Stolz wie ich war, habe ich nicht darauf geachtet. Mehr noch:<br />

Vielleicht habe ich auch deshalb 2006 mein Ensemble Pygmalion<br />

gegründet.<br />

Einem Dirigenten, der Linkshänder ist, begegnet man nicht<br />

alle Tage. Gibt es Irritationen bei den Orchestermusikern?<br />

Die Musiker in meinem Ensemble haben das von Anfang an<br />

akzeptiert. Selbstverständlich gibt es Erwartungen, besonders<br />

wenn ich andere Orchester dirigiere. Schritt für Schritt passen wir<br />

uns an. Hinzu kommt, dass ich ohnehin nicht unbedingt in der<br />

traditionellen Technik dirigiere. Ich versuche eher, ich selbst zu sein.<br />

Sie wuchsen in Versailles auf, einem Ort, an dem man im<br />

Schlosspark über Lautsprecher mit Musik aus der Zeit des<br />

Sonnenkönigs Ludwigs XIV. beschallt wird: Lully, Rameau …<br />

… mich aber interessierte zunächst nur die Musik von Johann<br />

Sebastian Bach. Meine Eltern waren keine Musiker, aber mein<br />

Vater spielte klassische Gitarre und liebte leidenschaftlich die<br />

spanischen Komponisten. Meine Mutter war eine Amateurpianistin.<br />

Wir hatten ein wunderbares Schulsystem. Morgens<br />

„POLYFONIE IST EINE<br />

TIEFGREIFENDE<br />

TRANSZENDENTE<br />

ERFAHRUNG. MAN WÄCHST<br />

MIT DEM STÜCK, ALLES<br />

TRANSFORMIERT SICH“<br />

ging ich in die normale Schule, nachmittags<br />

dann in eine Art Konservatorium, wo<br />

wir in den Genuss einer fantastischen<br />

Musikerziehung kamen.<br />

Wie kam es zu Ihrer Leidenschaft für<br />

den Thomaskantor aus der entfernten<br />

deutschen Provinz?<br />

Nach dem Geigenunterricht wurde ich<br />

Mitglied der Maîtrise des Petits Chanteurs de Versailles, eines<br />

Knabenchors. Ein Projekt war Bachs Johannes-Passion. Als ich sie<br />

zum ersten Mal hörte, war das wie ein Schock, wie eine Explosion<br />

in meinem Kopf. Terrific! Ich hatte nie vorher eine solche<br />

emotionale Kraft erlebt! Die Polyfonie in der Kirchen-Akustik,<br />

diese chemische Reaktion zwischen Klang und Stein, dieser<br />

Nachhall! Ich war einfach überwältigt. Ich bin immer noch<br />

fasziniert. Polyfonie ist eine tiefgreifende transzendente Erfahrung.<br />

Man wächst mit dem Stück, alles transformiert sich. Man<br />

ist ein anderer Mensch nach einer solchen Musik. Irgendwann<br />

wollte ich selbst diese chemische Reaktion erreichen …<br />

Indem Sie selbst Dirigent wurden …<br />

Ja. Ich sah mich allerdings nie als Dirigent eines Sinfonieorchesters,<br />

sondern eher als Leiter einer Gruppe. Mit 15 Jahren<br />

fing ich an, bei den Proben zu dirigieren – vor allem die Chorpartien.<br />

Der Chor gilt bei uns in Frankreich oft wenig. Wenn man<br />

einen braucht, bestellt man sich zwei Dutzend Sänger, die sich<br />

nicht kennen, und lässt sie singen. Es ist nicht wie in Deutschland,<br />

Holland oder England, wo es eine Oratorium-Tradition gibt.<br />

Ich saugte damals alles auf, was ich fand: alle Aufnahmen von<br />

Nikolaus Harnoncourt, von Gustav Leonhardt, von Philippe<br />

Herreweghe, Ton Koopman und anderen.<br />

Können Sie Ihre Faszination beschreiben?<br />

Ich war begeistert von Harnoncourt wegen der Art und Weise,<br />

wie er die Musik mit Philosophie und dem Humanismus unserer<br />

Tage verband. Er kämpfte für den wahren Ort der Musik in<br />

unserem Leben. An Herreweghe liebte ich seine Klarheit und<br />

Transparenz. Leonhardt war von dogmatischer Natur. Unter<br />

seiner Führung hatte ich auch als Countertenor gesungen auf<br />

einer seiner letzten Aufnahmen. Ich habe ihn sehr bewundert,<br />

aber er war sehr streng. Besonders, wenn es um den Applaus ging.<br />

Er gab uns genaue Anweisungen, damit keiner länger auf der<br />

Bühne stand als nötig. Den großen Schlussapplaus verbat er sich<br />

mit einem energischen Zeichen.<br />

Die Reaktion eines strengen Protestanten.<br />

Ja, in jedem Fall.<br />

Mit Ihrem Instrumentalensemble kehrten Sie für einen<br />

Moment zurück nach Versailles.<br />

Ja, wir haben die Oper Dardanus von Jean-Philippe Rameau<br />

eingespielt, der am Versailler Hof wirkte. Und sein Castor et<br />

Pollux. Doch eigentlich spielen wir die Musik, die zu Bach<br />

hinführt und die sich von ihm ableitet: Schütz, Mozart, Brahms,<br />

Mendelssohn.<br />

Zurück zur „Libertá!“. Sie steht ja oft im Widerspruch zu der<br />

ökonomischen Sicherheit. Die Freiheit sei ein Luxus, den sich<br />

nicht jedermann gestatten kann, sagte Otto von Bismarck.<br />

Das stimmt und stimmt wiederum nicht. Man muss einfach an<br />

das glauben, was man tut. Auch als Freelancer.<br />

Und das tue ich. <br />

n<br />

„Liberta!“, Raphaël Pichon, Pygmalion (Harmonia mundi)<br />

Track 1 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />

Ouvertüre. Aus: Der Schauspieldirektor KV 486<br />

28 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


HÖREN & SEHEN<br />

Die besten CDs, DVDs & Vinylplatten des Monats von Oper über Jazz bis Tanz<br />

Vladimir Horowitz ist zurück. Das Comeback des Pianisten in der Carnegie Hall auf 11 CDs (Seite 32)<br />

<strong>CRESCENDO</strong> Empfehlungen lesen und direkt kostenlos dabei anhören?<br />

Kein Problem: Auf www.crescendo.de finden Sie unsere Rezensionen mit direktem Link zum Anhören!<br />

Asmik Grigorian<br />

Sog & Sinnlichkeit<br />

Was für eine streitbare, verrätselte und bildgewaltige Inszenierung,<br />

die Romeo Castellucci für die Salzburger Festspiele<br />

2018 in die Felsenreitschule gestellt hat! So verweigert er<br />

seiner Salome effektvoll das Haupt des Jochanaan und den –<br />

sonst oft zwischen Peinlichkeit und Voyeurismus changierenden<br />

– Tanz der sieben Schleier. Doch wie Dirigent Franz<br />

Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker dessen musikalische<br />

Raffinessen farbenreich auskosten, hat ohnehin<br />

mehr Sinnlichkeit und Sogwirkung als jede Darstellung. Im<br />

Zentrum leuchtet Asmik Grigorian als ideale Salome mit<br />

überragender Gestaltungskraft, darstellerisch ebenso wie<br />

stimmlich. Ihr warm flutender Sopran, ihre staunenswerte<br />

Technik und die intensive Bühnenpräsenz berühren unmittelbar.<br />

Ein sensationelles Rollendebüt und ein Mitschnitt,<br />

der alle Zutaten einer Referenzaufnahme besitzt. AR<br />

OPER<br />

Richard Strauss: „Salome“,<br />

Asmik Grigorian, John<br />

Daszak, Anna Maria Chiuri<br />

u. a., Wiener Philharmoniker,<br />

Franz Welser-Möst,<br />

Romeo Castellucci,<br />

Salzburger Festspiele 2018<br />

(DVD) (Cmajor)<br />

FOTO: SALZBURGER FESTSPIELE / RUTH WALZ<br />

29


H Ö R E N & S E H E N<br />

Michael Fabiano<br />

Mut zum Pathos<br />

In unseren hochspezialisierten Zeiten ist es für einen<br />

Tenor geradezu mutig, ein Rezital aus späten Arien<br />

Donizettis und teils raren frühen bis mittleren von<br />

Verdi zusammenzustellen. Oder sind es nur unsere<br />

Hörgewohnheiten, die einen trennenden Taktstrich<br />

zwischen den beiden Komponisten ziehen? Der<br />

35-jährige US-Amerikaner Michael Fabiano will diesen<br />

jedenfalls ausradieren: mit einer deutlichen Prise<br />

Corelli und auch Shicoff, sowohl in der Diktion, als<br />

auch im charaktervollen, heldischen Timbre, mit Mut<br />

zum Pathos alter Schule sowie der Fähigkeit zum<br />

Decrescendo am Phrasenende. Seine Höhe mag nicht<br />

immer sofort frei strömen. Die – allerdings enorm<br />

schwierige – Forza-Erstfassungsarie singt er transponiert.<br />

Aber Fabianos Vortrag hakt sich im Ohr fest.<br />

Musikalisch untadelig, philologisch allerdings etwas<br />

sorglos (etwa mit kleinen Strichen nach Gutdünken),<br />

assistiert Enrique Mazzola am Pult des London<br />

Philharmonic Orchestra. WW<br />

Giuseppe Verdi, Gaetano Donizetti: „Arien aus Opern“,<br />

Michael Fabiano, London Voices, London Philharmonic<br />

Orchestra, Enrique Mazzola (Pentatone)<br />

Track 4 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Qual sangue<br />

sparsi ... S’affronti la morte. Aus: La Forza del Destino<br />

Adolfo Gutiérrez Arenas<br />

Ungewohnt expressiv<br />

„Ein Cello ist ein Instrument, das oben<br />

kreischt und unten brummt“, soll Antonín<br />

Dvořák einmal ganz uncharmant geurteilt<br />

haben. Trotzdem hat er dem Instrument eines<br />

der schönsten Solokonzerte überhaupt<br />

geschenkt: sein Cellokonzert in h-Moll, op. 104.<br />

Kreischen und brummen hört man zum Glück<br />

nichts, wenn Adolfo Gutiérrez Arenas spielt.<br />

Seine neue CD umfasst alle Werke, die Dvořák<br />

seinem Instrument auf den Leib geschrieben<br />

hat. Neben dem monumentalen Konzert auch<br />

das berühmte Rondo und die wunderbar sentimentale<br />

Waldesruh. Arenas und die Magdeburgische<br />

Philharmonie unter der Leitung des taiwanesischen<br />

Dirigenten Kimbo Ishii gehen sehr<br />

individuell an diese Musik heran, den Kopfsatz<br />

des Konzertes spielen sie relativ breit, manch<br />

ein Lagenwechsel klingt ungewohnt expressiv.<br />

Eine schöne „Zugabe“ der CD: Dvořáks Lied<br />

Lasst mich allein in einem Arrangement für<br />

Cello und Klavier. Dabei handelte es sich um<br />

das Lieblingslied seiner verstorbenen Schwägerin,<br />

für die er heimlich schwärmte. Es ist<br />

sowohl im zweiten als auch im finalen dritten<br />

Satz des Konzertes zu hören. SK<br />

Antonín Dvořák: „Cello<br />

Works“, Adolfo Gutiérrez<br />

Arenas, Magdeburgische<br />

Philharmonie, Kimbo Ishii (Ibs<br />

Classical)<br />

Track 5 auf der <strong>CRESCENDO</strong><br />

Abo-CD: Klid (‚Waldesruhe‘)<br />

op. 68 Nr. 5 B 182<br />

ORCHES-<br />

TER<br />

GESANG<br />

Daniel Müller-Schott<br />

Brillanz und<br />

Schlagfertigkeit<br />

Er spielt mit filigranem Strich, aber auch mit breitem<br />

Pinsel: Der Cellist Daniel Müller-Schott<br />

beherrscht beides meisterlich. Mit pastosem Brio<br />

schwelgt er etwa im zarten Andante der Cellosonate<br />

von Richard Strauss oder spürt zartesten<br />

vokalen Verästelungen in zwei Liedtranskriptionen<br />

des Meisters nach, überaus brillant und sorgsam<br />

sekundiert von seinem musikalischen Partner,<br />

dem Pianisten Herbert Schuch. Auch in seinen<br />

Phantastischen Variationen über Don Quixote<br />

bedenkt Strauss das Cello mit einer dankbaren<br />

Aufgabe, die Müller-Schott mit der nötigen Brillanz<br />

und Schlagfertigkeit absolviert. Das trifft<br />

ebenso auf das Melbourne Symphony Orchestra<br />

als Hauptakteur bei diesem Werk zu. Dirigent<br />

Sir Andrew Davis entfaltet mit unerbittlicher<br />

Präzision und klanglicher Virtuosität ein in jeder<br />

Beziehung fantastisches Werk, das bis heute<br />

nichts von seinem visionären Charakter eingebüßt<br />

hat. GK<br />

Richard Strauss: „Don Quixote“<br />

u. a., Daniel Müller-Schott,<br />

Herbert Schuch, Melbourne<br />

Symphony Orchestra. Sir Andrew<br />

Davis (Orfeo)<br />

Track 3 auf der <strong>CRESCENDO</strong><br />

Abo-CD: Ich trage meine Minne<br />

op. 32 Nr. 1 TrV 174<br />

Michael Gielen<br />

In memoriam<br />

Über Jahrzehnte waren Michael Gielen und<br />

das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden<br />

und Freiburg eng miteinander verbunden.<br />

In Gedenken an ihn – Gielen starb im März<br />

dieses Jahres – ist ein Stück Zeitgeschichte<br />

auf CD erschienen: zweimal Gustav Mahlers<br />

Sechste Sinfonie, aufgenommen von<br />

Gielen und „seinem“ Orchester im<br />

Abstand von rund vier Jahrzehnten. Die<br />

Tragische war das Stück, mit dem sich<br />

Gielen am häufigsten auseinandergesetzt<br />

hatte. Und so liegt zwischen der ersten<br />

Einspielung von <strong>19</strong>71 und dem letzten Konzert<br />

2013 nicht nur die Jahrtausendwende,<br />

sondern ein ganzer Reifeprozess. Viel zu<br />

schnell hätten er und seine Kollegen Mahler<br />

früher dirigiert, meinte Gielen. Und<br />

dabei handelt es sich nicht um spitzfindige<br />

Nuancen, sondern um ganze 20 Minuten,<br />

die Gielen dieser Sinfonie am Schluss mehr<br />

Zeit lässt. Diese CD macht wunderbar<br />

klar: Das Tempo ist weder richtig noch<br />

falsch, aber entscheidend. UH<br />

FOTO: DIEGO BENDEZU<br />

Gustav Mahler:<br />

„Sinfonie Nr. 6“,<br />

SWR Sinfonieorchester<br />

Baden-Baden und<br />

Freiburg, Michael Gielen,<br />

(SWR Classics)<br />

30 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


Julian Steckel<br />

Musikalität und<br />

Ausdruckskraft<br />

Zoltán Kodály war der Erste, der das Cellorepertoire rund 200<br />

Jahre nach Johann Sebastian Bachs Suiten um ein Solowerk bereicherte<br />

– und was für eines! Seine Solosonate verlangt neben vielen<br />

technischen Herausforderungen eine Skordatur: Die beiden unteren<br />

Saiten werden einen Halbton tiefer gestimmt. Julian Steckel widmet<br />

diesem Werk seine neue CD. Ihm zur Seite stellt er die Sonatina für<br />

Cello und Klavier und das Duo für Cello und Geige. Dabei hat Steckel<br />

kongeniale Partner: Violinistin Antje Weithaas und Pianist Paul Rivinius.<br />

Selbst urteilte der Komponist, der sich (hörbar) sehr für die<br />

Volksmusik Ungarns einsetzte, über seine <strong>19</strong>15 entstandene Solosonate:<br />

„In 25 Jahren wird kein Cellist akzeptiert werden, der sie<br />

nicht gespielt hat.“ Julian Steckel ist natürlich schon längst „akzeptiert“.<br />

Aber er beweist hier einmal mehr seine wahnsinnige Musikalität<br />

und Ausdruckskraft. Sein Spiel ist technisch versiert, aber alles<br />

andere als glatt und langweilig. Er kann zupacken,<br />

ungestüm werden, wenn es nötig ist,<br />

vermag es aber genauso, sein Cello singen<br />

und flüstern zu lassen. SK<br />

Zoltán Kodály: „Sonatina für Cello und Piano“ u. a.,<br />

Julian Steckel, Paul Rivinius, Antje Weithaas (Avi)<br />

KAMMER-<br />

MUSIK<br />

Nicolas Altstaedt<br />

Wiederentdeckt<br />

Nicolas Altstaedt, Leiter des Kammermusikfestes Lockenhaus im<br />

österreichischen Burgenland, ruft zwei sträflich vernachlässigte<br />

Werke in Erinnerung. Mit seinem Streichtrio gelang Bartóks<br />

musikethnologischem Mitarbeiter Sándor Veress im Schweizer<br />

Exil <strong>19</strong>50 eine spannende Synthese aus Zwölftonstrukturen, klassischer<br />

Sonatensatzform und dem in der ungarischen Volksmusik<br />

formbildenden Wechsel von einem langsamen Beginn in einen<br />

beschwingten Schlussteil. Bartóks Pianoquintett von <strong>19</strong>03/04, dessen<br />

Autograf erst nach der Wiederentdeckung <strong>19</strong>70 gedruckt<br />

wurde, offenbart sich in dieser von rhapsodischer Beschwingtheit<br />

getragenen Einspielung als vitales Frühwerk mit spätromantischen<br />

Harmonien und einem prägnanten rhythmischen Eigenleben.<br />

Wenige Jahre später wird Bartók mit seinen Forschungen<br />

einen anderen musikalischen Weg einschlagen. Hier steht er<br />

noch im hypnotischen Bann des langen <strong>19</strong>. Jahrhunderts. DIP<br />

Sándor Veress: „String Trio“, Béla Bartók: „Piano<br />

Quintet“, Vilde Frang, Barnabás Kelemen, Katalin<br />

Kokas, Lawrence Power, Nicolas Altstaedt, Alexander<br />

Lonquich (Alpha)<br />

Track 10 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Klavierquintett<br />

C-Dur Sz 23. IV. Poco a poco più vivace von Béla Bartók<br />

Vocal Concert Dresden<br />

Sangesfreudige Freimaurer<br />

Freimaurermusik ist das Motto der neuen Einspielung vom Vocal Concert Dresden unter der Leitung von Peter Kopp.<br />

Was verbirgt sich dahinter? Keine geheime Musik, aber ein großer Fundus an Liedern von der Eröffnung bis zum Schluss<br />

der Loge. Die Freimaurer waren musikbegeistert und sangesfreudig. 27 Kostproben haben die Sänger (und Instrumentalisten)<br />

dokumentiert. Es ist Männerchorliteratur aus dem 18. Jahrhundert von überraschenderweise nicht ganz so unbekannten<br />

Komponisten wie Carl Philipp Emanuel Bach oder Wolfgang Amadeus Mozart, am häufigsten ist Johann Gottlieb<br />

Naumann vertreten. Die Musik erinnert an die Priesterchöre in der Zauberflöte, besitzt aber auch den Charme typischen<br />

Männergesangs. Das nimmt der Darbietung Würde, soll aber diese nicht schmälern. Wissenschaftlich scheint die Freimaurermusik<br />

reizvoller zu sein (ein ausführliches Booklet liegt bei) als musikalisch. UH<br />

„Freimaurermusik“,<br />

Vocal Concert<br />

Dresden, Peter Kopp<br />

(Berlin Classics)<br />

Track 9 auf der<br />

<strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />

Schlusslied von<br />

Johann Gottlieb<br />

Naumann<br />

FOTO: FRANK HÖHLER<br />

31


H Ö R E N & S E H E N<br />

DAS COMEBACK<br />

Vladimir Horowitz in der Carnegie Hall – Proben, Privatkonzert und<br />

der Auftritt nach zwölf Jahren Konzertabstinenz.<br />

VON KLAUS KALCHSCHMID<br />

FOTO: DON HUNSTEIN / SONY MUSIC ENTERTAINMENT<br />

Vladimir<br />

Horowitz am<br />

9. Mai <strong>19</strong>65 in<br />

der New Yorker<br />

Carnegie Hall<br />

Vor zwei Jahren hat Sony auf fünf CDs (+ Interview +<br />

die fertige Einspielung auf CD + LP) alle Aufnahmesitzungen<br />

für die <strong>19</strong>55er-Einspielung Glenn Goulds der<br />

Goldberg-Variationen Bachs veröffentlicht: ein spannendes,<br />

erhellendes und vorzüglich durch üppiges<br />

Material in Bild, Verschriftung und Notenform begleitetes Projekt.<br />

Nun gibt es Ähnliches, etwas schlanker in der Ausstattung, auf elf<br />

CDs (+ vier CDs mit den beiden Konzerten und anderthalb Stunden<br />

Interview mit Abram Chasins), wieder mit zahlreichen Fotos für<br />

Vladimir Horowitz’ Comeback in den Konzertsaal nach zwölf Jahren<br />

Abstinenz. Der damals 61-Jährige hat es akribisch unter Live-Bedingungen<br />

vorbereitet und für die Konzerte in der Carnegie Hall<br />

vor Ort Probedurchläufe ohne Publikum absolviert. Sie wurden<br />

technisch exzellent mitgeschnitten und klingen, brillant digital<br />

restauriert, teilweise noch poetischer, intimer und bezaubernder<br />

als die entsprechenden Werke im Live-Konzert vor großem Publikum.<br />

Das betrifft vor allem Mozarts A-Dur-Sonate KV 331, die bei<br />

der Probe am 5. April <strong>19</strong>66 schlicht vollendet klingt in jeder Hinsicht,<br />

oder feine Scarlatti-Mirakel. Mit Blick auf den großen Saal<br />

und die Entfernung zum Hörer werden sie später klanglich und in<br />

den dynamischen Kontrasten größer dimensioniert und verlieren<br />

so den Zauber des Unmittelbaren und Privaten.<br />

Domenico Scarlattis E-Dur-Sonate K 380 (L<br />

23) etwa spielt Horowitz als mögliche Zugabe in<br />

der Probe am 7. April <strong>19</strong>65, Tage vor dem ersten,<br />

und am 5. April <strong>19</strong>66, Tage vor dem zweiten Konzert.<br />

Beim ersten Mal kündigt er auf Englisch an:<br />

„Okay, jetzt werde ich nur kleine Stücke spielen!“<br />

und lässt dem überwältigend zarten Scarlatti<br />

jeweils gut zweiminütigen Rachmaninow, Chopin,<br />

Moszkowski und Liszt folgen; eine Petitesse<br />

berückender als die andere, ohne Applaus dazwischen<br />

wie sonst bei Zugaben. Skrjabins op. 70<br />

klingt dagegen ein halbes Jahr nach einem privaten<br />

beim öffentlichen Konzert <strong>19</strong>66 im Pianissimo<br />

oftmals noch luzider und filigraner, in den Ausbrüchen und den<br />

wilden Triller-Ketten dagegen nervös flirrender, exzentrischer und<br />

farbiger.<br />

Man kann diese CDs mit ungemein plastischer, technisch wie<br />

musikalisch ausgefeilt und inspiriert gespielter (Klavier-)Musik und<br />

launigen, manchmal fast beschwipst klingenden Kommentaren von<br />

Horowitz (sowie seiner Tontechniker und der grauen Eminenz im<br />

Hintergrund, Gattin Wanda Toscanini Horowitz) chronologisch<br />

hören; man kann aber auch einzelne Stücke direkt vergleichen. Zur<br />

Auswahl stehen im Vorfeld der beiden Konzerte Bach/Busoni (Toccata,<br />

Adagio und Fuge C-Dur BWV 564), Schumanns Fantasie op.<br />

17, Beethoven (32 Variationen über ein eigenes Thema), Skrjabins<br />

Neunte (Schwarze Messe) und Zehnte Sonate, aber auch Chopin (u. a.<br />

Erstes Scherzo oder die Erste Ballade), besagter Mozart und diverse<br />

Scarlatti-Sonaten oder andere kleine Stücke.<br />

So minutiös der Blick hinter die Kulissen ist und etwa auch<br />

virtuose Improvisationen zum Einspielen dokumentiert, so rätselhaft<br />

bleibt anderes, etwa der Mitschnitt eines Privatkonzerts, bei<br />

dem es plötzlich einen Stromausfall gab, der weite Teile Kanadas<br />

und der USA umfasste, weshalb der Nachmittag des 9. November<br />

<strong>19</strong>65 als „The Northeast Blackout Concert“ in die Geschichte einging.<br />

Nach der hier nur einmal dokumentierten und bei keinem der<br />

Konzerte <strong>19</strong>65/66 gespielten, ungemein spannend<br />

dargebotenen frühen Beethoven-Sonate (D-Dur<br />

op. 10/3) und Skrjabins Zehnter Sonate sowie dem<br />

darauf folgenden Applaus endet der Mitschnitt<br />

ganz konventionell. Von der Chopin’schen Polonaise-fantaisie,<br />

die Horowitz laut Zeitungsbericht<br />

bravourös im Dunkeln beendete, aber ist keine<br />

Spur auf den Bändern erhalten, offenbar wurde<br />

das aus technischen Gründen unvermittelt abbrechende<br />

Chopin-Fragment gelöscht. <br />

n<br />

„The Great Comeback. Horowitz at Carnegie Hall. The unreleased<br />

private recitals preceding his return in <strong>19</strong>65“ (Sony)<br />

32 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


OPER<br />

Wiener Staatsoper<br />

Alte und neue Juwelen aus dem Archiv<br />

Eine Jubiläums-Box mit neun teilweise erstmals veröffentlichten Live-Mitschnitten sowie<br />

einer Doppel-CD mit Arien und Szenen: Das ergibt insgesamt knapp 24 Stunden Oper zwischen<br />

Mozart und Schostakowitsch mit illustren Besetzungen und den Wiener Philharmonikern<br />

in ihrem Hauptberuf als Mitglieder des Staatsopernorchesters. Etliches ist Sammlern<br />

zwar vertraut, etwa der Wozzeck (<strong>19</strong>55) sowie, ebenfalls unter Böhm, die im besten Sinne<br />

haarsträubende Elektra (<strong>19</strong>65). Gleichfalls schon offiziell zu haben war ein Karajan-Fidelio<br />

(<strong>19</strong>62) mit dem expressiven Paar Ludwig/Vickers, neu hingegen ist sein Live-Figaro (<strong>19</strong>77),<br />

der im Vergleich zur nahezu identisch besetzten, aber etwas anämischen Studioproduktion<br />

eine quirlige Aufführung aus Fleisch und Blut darstellt. Wahrlich übersprudelnd vor Witz und<br />

Spielfreude ist Abbados Viaggio a Reims mit All-Star-Cast (<strong>19</strong>88). Aus der Ära Meyer ist zu<br />

hören, wie sich in Tristan und Isolde unter Welser-Möst Stemme am Beginn und Seiffert<br />

gegen Ende ihrer jeweils besten Zeit eindrucksvoll treffen oder wie in Eugen Onegin Hvorostovsky<br />

und Netrebko (in einer ihrer besten Partien) tragisch aneinander vorbeilieben (beides<br />

2013). In Thielemanns schwelgerischer Ariadne entzückt inmitten eines starken Ensembles<br />

die jugendlich schimmernde Isokoski in der Titelpartie (2014); neben Stoyanowas Perlmuttsopran<br />

und erneut Hvorostovsky liefert Beczala in Un ballo in maschera eine<br />

weiträumiger phrasierte Alternative zu seinem Rollendebüt in München kurz davor (2016).<br />

Schade, dass das Booklet nur Inhaltsangaben anstatt Würdigungen der<br />

Aufführungen enthält. WW<br />

„150 Years Wiener Staatsoper – The Anniversary Edition“: „Wozzeck“ (Böhm), „Fidelio“<br />

(Karajan), „Elektra“ (Böhm), „Le nozze di Figaro“ (Karajan), „Il viaggio a Reims“ (Abbado),<br />

„Eugen Onegin“ (Nelsons), „Tristan und Isolde“ (Welser-Möst), „Ariadne auf Naxos“<br />

(Thielemann), „Un ballo in maschera“ (López Cobos); „Legendary Voices of the Wiener<br />

Staatsoper“ (Orfeo)<br />

Deutsche Oper Berlin<br />

Zweite Auferstehung<br />

Schon einmal wurde Das Wunder der Heliane wiederentdeckt – und geriet doch wieder in Vergessenheit.<br />

Dabei hielt Erich Wolfgang Korngold die opulente, <strong>19</strong>27 in Hamburg uraufgeführte<br />

Oper mit ihrem rauschhaften Pathos, den schillernden Orchesterfarben und ihrer hochexpressiven<br />

Harmonik für seine beste Komposition. Mit der frenetisch umjubelten Neuproduktion<br />

an der Deutschen Oper Berlin in einer Inszenierung von Christof Loy und unter der musikalischen<br />

Leitung von Marc Albrecht feierte die Oper ihre zweite Auferstehung. Die in der<br />

Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt als Wiederentdeckung des Jahres<br />

2018 ausgezeichnete Produktion ist nun auf DVD und Blu-ray Disc<br />

erschienen. Sara Jakubiak, Brian Jagde und Josef Wagner in den Hauptpartien<br />

garantieren zusammen mit einem kinotauglichen Filmschnitt einen<br />

packenden Opernabend zu Hause. FA<br />

Erich Wolfgang Korngold: „Das Wunder der Heliane“, Deutsche Oper Berlin, Sara Jakubiak,<br />

Brian Jagde, Josef Wagner, Orchester und Chor der Deutschen Oper Berlin, Marc Albrecht,<br />

Christof Loy (Naxos)<br />

HK Gruber<br />

100. Geburtstag von Gottfried von Einem<br />

In der letzten Spielzeit wurde erneut deutlich, welch starke Stücke von Einems Literaturopern<br />

Dantons Tod und Der Besuch der alten Dame sind. Das gilt auch für den konzertanten Mitschnitt<br />

von Der Prozess bei den Salzburger Festspielen 2018 – „neun Bilder in zwei Teilen“, wie sie<br />

<strong>19</strong>53 unter Karl Böhm zur Uraufführung gelangten. Die Hommage dirigierte HK Gruber, der<br />

in seinen eigenen Opern eine vergleichbare kompositorische Wendigkeit zeigt. Man hört in<br />

dieser Kafka-Vertonung deutlich, wie von Einem Kurt Weills Patchwork von Stilen und musikalischen<br />

Mustern sinnfällig weitertreibt. Die meist tonale Partitur macht den Weg des Herrn<br />

K. von der Verhaftung bis zur drohenden Hinrichtung zu einem motorisch<br />

aufheizenden statt düsteren Spiel. Von Einem griff hier Mittel der<br />

Zeitopern vor <strong>19</strong>33 kurzweilig auf. Die Neueinspielung glänzt mit<br />

einem Ensemble auf hohem Niveau. DIP<br />

Gottfried von Einem: „Der Prozess“, Michael Laurenz, Jochen Schmeckenbecher, Matthäus<br />

Schmidlechner u. a., Radio-Symphonieorchester Wien, HK Gruber (Capriccio)<br />

PTC 5186781<br />

PTC 5186 764 PTC 5186737<br />

Felix & Fanny<br />

Mendelssohn<br />

Johannes Moser, Alasdair Beatson<br />

Ebenfalls erschienen:<br />

www.pentatonemusic.com<br />

Neues<br />

Album<br />

Neues<br />

Album<br />

Neues<br />

Album<br />

33<br />

Im Vertrieb von NAXOS Deutschland


H Ö R E N & S E H E N<br />

ALTE<br />

MUSIK<br />

Dominik Wörner<br />

Kontemplativ und verinnerlicht<br />

Bach ist der Größte, das steht für den Kirchenmusiker und Bassbariton<br />

Dominik Wörner außer Frage. Davon zeugt auch sein neues<br />

Album, für das Wörner mit dem Ensemble Zefiro unter Leitung des<br />

Oboisten Alfredo Bernardini verschiedene Bass-Kantaten aufgenommen<br />

hat. Mit Ich habe genug BWV 82, Der Friede sei mit dir BWV<br />

158 und Ich will den Kreuzstab gerne tragen BWV 56 sind drei Meisterwerke<br />

Bachs zu erleben, die von den Musikern gleich musikalischen<br />

Gebeten interpretiert werden. Hoch konzentriert und getragen<br />

im Vortrag, überzeugen die Musiker mit einem innigen, wenngleich<br />

relativ gleichförmigen und sehr direkt aufgenommenen<br />

Zusammenspiel. Demut, menschlicher Schmerz und gläubige Ergriffenheit<br />

stehen im Zentrum der kunstvoll<br />

vertonten Texte, die von Wörner hervorragend<br />

artikuliert dargeboten werden. Ein insgesamt<br />

zurückhaltendes Bach-Album, kontemplativ<br />

und verinnerlicht. DW<br />

GESANG<br />

Johann Sebastian Bach: „Cantatas and Arias for Bass“,<br />

Dominik Wörner, Zefiro, Alfredo Bernardini (Arcana)<br />

Ildar Abdrazakov<br />

Suggestive Gestaltung<br />

Von „des Basses Grundgewalt“ ist bereits in Goethes Faust die Rede und<br />

davon, dass diese das Gewölbe widerschallen lasse. Ein Phänomen, das<br />

auch dem neuen Verdi-Rezital des russischen Bassisten Ildar Abdrazakov<br />

innewohnt. Dieser gehört zu jenen Sängern, die ihre Karriere, stets ein<br />

wenig unter dem massenmedialen Radar fliegend, verfolgten und doch<br />

ohne Hype den Weg an die Weltspitze ihres Stimmfachs gefunden haben.<br />

Warum, das beweist der Sänger in jedem Takt dieser gut 70 Minuten:<br />

eine Bassstimme zum Schwärmen, herrlich dunkel und voll, aber immer<br />

sauber auf Linie gesungen und nie wabernd, individuell und attraktiv im<br />

Timbre und jeden der neun hier präsentierten Charaktere suggestiv<br />

gestaltend; auch wenn für die Hassprediger wie Silva oder Fiesco vielleicht<br />

noch das allerletzte Quäntchen kaltherziger<br />

Härte fehlen mag. Befeuert und getragen wird er<br />

vom Orchestre Métropolitain de Montréal unter<br />

keinem Geringeren als Yannick Nézet-Séguin. FS<br />

Ildar Abdrazakov: „Verdi“, Orchestre Métropolitain de<br />

Montréal, Yannick Nézet-Séguin (DG)<br />

FOTO: ILDAR ABDRAZAKOV<br />

Wiener Symphoniker<br />

Erregte Künstlerseele<br />

Pünktlich zum 150. Geburtstag von Hector Berlioz legen Philippe Jordan<br />

und die Wiener Symphoniker zwei Werke des notorischen Klangexzentrikers<br />

und Orchesterzauberers vor, die zwar innerhalb kurzer Zeit geschrieben<br />

wurden, stilistisch aber kaum unterschiedlicher hätten ausfallen können:<br />

die allseits bekannte Symphonie Fantastique und der nahezu vergessene<br />

Lélio. Die Kombination macht dramaturgisch und inhaltlich Sinn, in beiden<br />

Stücken geht es um die psychisch erregte Seele des Künstlers mit ihren<br />

bizarren Imaginationen und Selbstbespiegelungen, im Falle von Lélio auch<br />

mit einem dezent esoterischen Touch versehen. Als knapp einstündiger<br />

gesprochener Monolog mit einigen Lied- und Choreinschüben konzipiert,<br />

setzt Lélio stilistisch einen klaren Kontrast zu den überbordenden Klangfluten<br />

der Fantastique. Von den Solisten ist vor allem<br />

der Bassbariton Jean-Philippe Lafont in der Rolle<br />

des Erzählers hervorzuheben. FS<br />

Hector Berlioz: „Symphonie fantastique op. 14“, „Lélio ou Le<br />

retour à la vie“, Cyrille Dubois, Florian Sempey, Ingrid Marsoner<br />

u. a., Wiener Symphoniker, Philippe Jordan (Wiener Symphoniker)<br />

Ivo Pogorelich<br />

Kompromisslos eigenwillig<br />

Frische Höreindrücke von Ivo Pogorelich konnte man sich lange Zeit nur im<br />

Konzertsaal verschaffen. Nach mehr als 20 Jahren Pause ist nun wieder eine CD<br />

des Pianisten mit Sonaten von Beethoven und Rachmaninow herausgekommen.<br />

Der kroatische Virtuose gilt als einer der eigenwilligsten Musiker und wird diesem<br />

Ruf auch auf seinem neuen Studioalbum gerecht. Pogorelich nähert sich den<br />

Werken mit unverkennbarer Kompromisslosigkeit. Sein Spiel klingt stellenweise<br />

rau und kantig. Mit teils exzessiven Rubati setzt er Akzente, die manieriert wirken<br />

können. Auffällig langsam, mit Effekt suchenden Verzögerungen beginnt er<br />

beispielsweise das Allegro vivace in Beethovens Sonate Nr. 24 op. 78, die der<br />

ungarischen Gräfin Therese von Brunsvik gewidmet ist. Authentisch wirkt<br />

Pogorelich vor allem dann, wenn er perkussive Passagen angeht und einen kraftvollen,<br />

ausladenden Klang zelebriert. Insofern kann man<br />

Sergei Rachmaninows höchst anspruchsvolle Zweite<br />

Klaviersonate in der überarbeiteten Fassung von <strong>19</strong>31 als<br />

Pogorelichs eigentliches Paradestück auf diesem Album<br />

betrachten. CK<br />

Ludwig van Beethoven, Sergej Rachmaninoff: „Piano Sonatas“,<br />

Ivo Pogorelich (Sony)<br />

Vanessa<br />

Spiegelkabinett der Gefühle<br />

ORCHES-<br />

TER<br />

Mit Samuel Barbers Oper Vanessa hat die Glyndebourne Festival Opera ein<br />

Stück ins Programm genommen, das perfekt in das englische Landgut passt.<br />

Die Protagonistin Vanessa sitzt mit ihrer Nichte und ihrer Mutter in einem<br />

Geisterhaus und wartet seit 20 Jahren auf die Rückkehr ihres Geliebten<br />

Anatol. Als überraschend dessen Sohn gleichen Namens auftaucht, zerfällt<br />

die eingespielte Starrheit der Familie. Leere Liebesschwüre und tiefe Zweifel<br />

entfalten in der graubraunen Kulisse ihre volle beklemmende Wirkung.<br />

In Spiegeln und hinter Schirmen werden die Figuren mit der Vergangenheit<br />

und sich selbst konfrontiert. Emma Bell brilliert in der Titelrolle und verkörpert<br />

die an Wahnsinn grenzende Sehnsucht Vanessas gesanglich und<br />

schauspielerisch intensiv. Auch die Nebenrollen sind hervorragend besetzt<br />

und sorgen für eine dichte, ungebrochene Fiktion. Jakub Hrůša am Pult des<br />

London Philharmonic Orchestra nutzt das Potenzial der<br />

mal hochdramatischen, mal lyrisch verspielten Partitur<br />

und schlägt das Publikum in den Bann dieser psychologischen<br />

Achterbahnfahrt. LXR<br />

SOLO<br />

Samuel Barber: „Vanessa“, Glyndebourne, Emma Bell, Virginie Verrez,<br />

Edgaras Montvidas u. a., The Glyndeborne Chorus, London Philharmonic<br />

Orchestra, Jakub Hrůša, Keith Warner (Opus Arte)<br />

OPER<br />

34 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


IMPRESSUM<br />

ALTE<br />

MUSIK<br />

Maddalena del Gobbo<br />

Nobles für das Baryton<br />

Kubistischer Korpus, sechs Darmsaiten und zupfbare Resonanzsaiten<br />

aus Metall: Das Baryton (Viola di bardone) klingt ein wenig wie eine<br />

Gambe, aber auch obertonreich, als würde eine Glasharmonika mitklingen.<br />

Weil Fürst Nikolaus Esterházy das Instrument liebte, gibt es<br />

123 Trios für Baryton, Bratsche und Cello von seinem Kapellmeister<br />

Joseph Haydn. Maddalena del Gobbo spielt mit Robert Bauerstatter<br />

und David Pennetzdorfer virtuos Nr. 27 und 113, aber auch eine originelle<br />

Suite mit Fuge (Nr. 97), das Dritte Divertimento für die gleiche<br />

Besetzung von An dreas Lidl und ein C-Dur-Trio von Tomasini, beide<br />

Mitglieder der Esterházyschen Hofkapelle. Das jeweils eröffnende<br />

Adagio bringt den eigentümlichen Klang des Instruments besonders<br />

zur Geltung; einen spannenden Vergleich erlaubt Franz Xaver Hammers<br />

musikantische A-Dur-Sonate für Gambe<br />

und Cembalo. Jetzt fehlte eigentlich nur noch<br />

ein Stück für Arpeggione! KLK<br />

„Maddalena and the Prince“, Maddalena del Gobbo, Robert<br />

Bauerstatter, David Pennetzdorfer, Ewald Donhoffer (DG)<br />

Track 6 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Trio für Baryton, Viola und<br />

Cello D-Dur Hob. XI:97. I. Adagio cantabile von Joseph Haydn<br />

Stéphanie de Failly und Brice Sailly<br />

Venezianische Barockmusik<br />

Aus dem überraschend großen Repertoire für vier Violinen wählten<br />

Jérôme Lejeune und das Ensemble Clematis 14 Stücke aus dem venezianischen<br />

Barock. Die Besetzung würdigten Telemann und Vivaldi einige Jahre<br />

später in ihren Konzerten. Doch bis dahin experimentierten die italienischen<br />

Virtuosen in diversen Sammlungen mit den Möglichkeiten. Chorische<br />

Sätze, sprachnahe Spielereien und polyfone Gebilde machen die<br />

Auswahl dieser Aufnahme unterhaltsam und abwechslungsreich. Da gibt<br />

es Salamone Rossis doppelchörige Sonata a quattro Violini e doi Chitarroni<br />

mit ihren Frage-Antwort-Dialogen in Piano und Forte und einem gravitätischen<br />

Finale. Um Echoeffekte ganz unterschiedlicher Art sind Biagio<br />

Marinis lyrisch leichte Sonata in ecco con tre Violini und Dario Castellos introvertierte<br />

Sonata decima settima in ecco gebaut. So vorsichtig und akademisch<br />

wie das umfangreiche Booklet ist auch die Interpretation. Wenig<br />

aufgeregt, dafür mit großer Klarheit und Präzision leiten Stéphanie de<br />

Failly und Brice Sailly das Ensemble durch diese<br />

Bereicherung für jede Barocksammlung. LXR<br />

Gabrieli, Marini, Fontana u. a.: „Quattro Violini a Venezia“,<br />

Clematis, Stéphane de Failly, Brice Sailly (Ricercar)<br />

Track 8 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Sonata in ecco con tre<br />

violini von Biagio Marini<br />

FOTO: NIKOLAJ LUND<br />

VERLAG<br />

Port Media GmbH, Rindermarkt 6, 80331 München<br />

Telefon: +49-(0)89-74 15 09-0, Fax: -11, info@crescendo.de, www.crescendo.de<br />

Port Media ist Mitglied im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger<br />

und im AKS Arbeitskreis Kultursponsoring<br />

HERAUSGEBER<br />

Winfried Hanuschik | hanuschik@crescendo.de<br />

VERLAGSLEITUNG<br />

Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de<br />

ART DIRECTOR<br />

Stefan Steitz | steitz@crescendo.de<br />

LEITENDE REDAKTEURIN<br />

Barbara Schulz | schulz@crescendo.de<br />

RESSORTS „HÖREN & SEHEN“ UND „ERLEBEN“<br />

Ruth Renée Reif | reif@crescendo.de<br />

RESSORTS „STANDARDS” UND „SCHWERPUNKT“<br />

Klaus Härtel | haertel@crescendo.de<br />

RESSORTS „KÜNSTLER“ UND „LEBENSART“<br />

Barbara Schulz | schulz@crescendo.de<br />

SCHLUSSREDAKTION<br />

Maike Zürcher<br />

KOLUMNISTEN<br />

Axel Brüggemann, Paula Bosch, Ioan Holender,<br />

Daniel Hope, Christoph Schlüren (CS), Stefan Sell (SELL)<br />

MITARBEITER DIESER AUSGABE<br />

Florian Amort (FA), Roland H. Dippel (DIP), Verena Fischer-Zernin,<br />

Ute Hamm (UH), Klaus Kalchschmid (KLK), Sina Kleinedler (SK), Katherina Knees (KK),<br />

Corina Kolbe (CK), Guido Krawinkel (GK), Anna Mareis (AM),<br />

Teresa Pieschacón Raphael (TPR), Angelika Rahm (AR), Alexander Rapp (LXR),<br />

Antoinette Schmelter-Kaiser (ASK), Fabian Stallknecht (FS), Dorothea Walchshäusl (DW),<br />

Walter Weidringer (WW),<br />

VERLAGSREPRÄSENTANTEN<br />

Tonträger: Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de<br />

Kulturbetriebe: Dr. Cornelia Engelhard | engelhard@crescendo.de<br />

Touristik & Marke: Heinz Mannsdorff | mannsdorff@crescendo.de<br />

Verlage: Hanspeter Reiter | reiter@crescendo.de<br />

AUFTRAGSMANAGEMENT<br />

Michaela Bendomir | bendomir@portmedia.de<br />

GÜLTIGE ANZEIGENPREISLISTE<br />

Nr. 23 vom 01.09.20<strong>19</strong><br />

DRUCK<br />

Westermann Druck, Georg-Westermann-Allee 66, 38104 Braunschweig<br />

VERTRIEB<br />

PressUp GmbH, Wandsbeker Allee 1, 22041 Hamburg, www.pressup.de<br />

ERSCHEINUNGSWEISE<br />

<strong>CRESCENDO</strong> ist im Zeitschriftenhandel, bei Opern- und Konzert häusern, im<br />

Kartenvorkauf und im Hifi- und Tonträgerhandel erhältlich. Copyright für alle Bei träge<br />

bei Port Media GmbH. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des<br />

Verfassers, nicht unbedingt die der Redaktion wieder. Nachdruck und Vervielfältigung,<br />

auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Für unverlangt<br />

eingesandte Manuskripte und Fotos wird keine Gewähr übernommen.<br />

ABONNEMENT<br />

Das <strong>CRESCENDO</strong> Premium-Abo umfasst sechs Ausgaben inklusive „<strong>CRESCENDO</strong><br />

Festspiel-Guide“ und kostet EUR 55,- pro Jahr inkl. MwSt. und Versand bei Zahlung per<br />

Einzugsermächtigung. Zahlung per Rechnung: zzgl. EUR 4,90 Bearbeitungsgebühr. Versand<br />

ins europ. Ausland: zzgl. EUR 3,- je Ausgabe Bank-/Portospesen. (Stand: 01.01.20<strong>19</strong>).<br />

Kündigung: nach Ablauf des ersten Bezugsjahres jederzeit fristlos zum Ende des<br />

Bezugszeitraums. Abo-Service <strong>CRESCENDO</strong>, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen<br />

Telefon: +49-89-85 85-35 48, Fax: -36 24 52, abo@crescendo.de, Online: crescendo.de/abo<br />

Verbreitete Auflage:<br />

75.034 (lt. IVW-Meldung 1I/20<strong>19</strong>)<br />

ISSN: 1436-5529<br />

(TEIL-)BEILAGEN / BEIHEFTER:<br />

CLASS, Bayerischer Rundfunk, C. Bechstein Pianofortefabrik, Quaternio Verlag Luzern<br />

DAS NÄCHSTE <strong>CRESCENDO</strong><br />

ERSCHEINT AM 16. OKTOBER 20<strong>19</strong>.<br />

<strong>CRESCENDO</strong><br />

unterstützt<br />

35


H Ö R E N & S E H E N<br />

JAZZ<br />

<strong>19</strong>-jährig begann sie ihre Laufbahn als professionelle Sängerin.<br />

Mit 21 ging ihr Traum mit einem Auftritt in Ronnie Scott’s<br />

legendärem Londoner Jazz Club in Erfüllung. <strong>19</strong>90 bekam sie<br />

einen Vertrag beim Glasgower Label Linn Records. Seither<br />

hat Claire Martin über 20 Alben veröffentlicht, zuletzt<br />

Believin’ it: Zusammen mit Niklas Fernqvist am Bass, Daniel<br />

Fredriksson an den Drums und dem Pianisten Martin Sjöstedt,<br />

der zwölf der 13 Songs arrangiert hat, interpretiert sie<br />

Claire Martin<br />

Einfühlsam<br />

Stücke quer durch die (Jazz-)Musikgeschichte genauso wie<br />

solche befreundeter Musiker. Lässig intoniert Claire Martin<br />

mit einfühlsamer, reifer Stimme P.S. I love You aus den<br />

<strong>19</strong>30er-Jahren oder Eric Stewarts Popsong I’m Not In Love,<br />

der <strong>19</strong>75 entstand. Genauso gut lässt sie aber auch in Timeline<br />

oder Believn’ it lebendig perlen. Unüberhörbar ist der harmonische<br />

Klang des Quartetts, bei dem alle Mitglieder brillieren,<br />

sich aber nie in den Vordergrund spielen. ASK<br />

Claire Martin: „Believin’ it“,<br />

Martin Sjöstedt, Niklas<br />

Fernqvist, Daniel<br />

Fredriksson (LINN)<br />

FOTO: LISA WORMSLEY<br />

Keith Jarrett<br />

Bachs Denkprozess<br />

Als man den berühmten Jazz-Pianisten Keith Jarrett einmal fragte,<br />

ob er sich vorstellen könne, in einem Konzert Jazz und Klassik zu<br />

kombinieren, sagte er: „Nein, ich glaube, das wäre Wahnsinn [...],<br />

praktisch nicht machbar. [...] Dein System baut für beide Richtungen<br />

auf unterschiedliche Schaltkreise.“ Trotzdem spielt der mittlerweile<br />

74-Jährige gerne mit den Genres. Er jazzte auf einer Kirchenorgel<br />

in Ottobeuren und am Clavichord. Für Johann Sebastian<br />

Bachs Goldberg-Variationen und dessen Wohltemperiertes Clavier wiederum<br />

nahm er das dafür vorgesehene Cembalo beziehungsweise<br />

das Klavier. So auch auf dieser Aufnahme von <strong>19</strong>87, ein Live-Konzert-Mitschnitt<br />

aus New York. Jarretts Ehrfurcht vor dem Thomaskantor<br />

ist groß, so groß, dass er kaum<br />

wagt, seiner Interpretation eine eigene<br />

Note zu geben. „Ich höre Bachs Denkprozess“,<br />

sagt Jarrett. TPR<br />

Abdullah Ibrahim<br />

Innig nachspürend<br />

Da ist er wieder, der Dollar-Band-Groove des legendären Titelstücks<br />

African Marketplace vom gleichnamigen Album aus dem Jahre <strong>19</strong>79.<br />

40 Jahre ist das her, und der Meister firmiert längst unter dem Namen<br />

Abdullah Ibrahim. Großartiger Cape Jazz, das ist mehr als Jazz, mehr als<br />

„modern creative“ wie Ibrahims Spielstil genannt wurde. Es ist reinste<br />

Musik aus langlebigen Sphären, die alles gibt in dem „Streben nach Perfektion“,<br />

wie es im Covertext heißt. Damit ist kein Perfektionismus<br />

gemeint, sondern ein „weniger ist mehr“. Sorgsam vorsichtig, innig<br />

nachspürend, intuitiv, schlicht meisterhaft gereift ist Ibrahims Spiel, brillant<br />

seine auserwählten Zutaten, ob im Bandarrangement exzellenter<br />

Mitstreiter oder solo improvisiert, alles so, als wollte der inzwischen<br />

85-jährige Pianist aus Kapstadt in weiser<br />

Gelassenheit die Essenz seines außergewöhnlichen<br />

Lebenswerkes noch einmal verewigen.<br />

Ans Herz empfohlen! SELL<br />

SOLO<br />

Johann Sebastian Bach: „The Well-Tempered Clavier.<br />

Book I“, Keith Jarrett (ECM)<br />

Abdullah Ibrahim: „The Balance“, Aka Dollar Band<br />

(Gearbox Records)<br />

36 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


TANZ<br />

GENIES IM<br />

RAMPENLICHT<br />

The Norwegian National Ballet<br />

Abgründiges Familiendrama<br />

Eine Woche Textstudium vor den ersten Proben im Ballettsaal: So begann die Arbeit an<br />

Ibsens Stück Gespenster. Denn die Regisseurin Marit Moum Aune und die Choreografin<br />

Cina Espejord wollten, dass alle Tänzer ihre Rollen durchdringen und eigene Ideen einbringen.<br />

Resultat dieser Zusammenarbeit: ein Handlungsballett, das Ibsens abgründiges Familiendrama<br />

in intensiven Bildern und Bewegungen auf die Bühne bringt und die klassisch<br />

geschulte Technik mit modernem Tanz-Vokabular kombiniert. Ein Kunstgriff der Produktion<br />

des Norwegian National Ballet ist, dass die Handlung nicht chronologisch<br />

erzählt wird, sondern Vergangenheit und Gegenwart ineinander<br />

verschränkt und Figuren gedoppelt werden. Dank virtuoser Solisten<br />

und einem reduziert-eindringlichen Bühnenbild ist Ibsen’s Ghosts ein<br />

optischer Genuss, den Jazz-Trompeter Nils Petter Molvaer – zum Teil<br />

live – passgenau musikalisch untermalt. ASK<br />

„Ibsen’s Ghosts“, Marit Moum Aune, Cina Espejord, Nils Petter Molvaer,<br />

The Norwegian National Ballet (BelAir)<br />

ALTE<br />

MUSIK<br />

Marin Marais<br />

Wehmütige Schönheit<br />

Wer erinnert sich nicht an jenen wunderbaren Kinofilm Tous les matins du monde von<br />

Alain Corneau aus dem Jahre <strong>19</strong>91, der das einsame Leben des Gambisten Monsieur de<br />

Sainte Colombe darstellte? Gérard Depardieu hatte die Rolle des Komponisten und<br />

Gambisten Marin Marais (1656–1728) übernommen, eines Schülers des Monsieur.<br />

Obwohl Depardieu in Wirklichkeit nur recht laienhaft auf der Gambe zupfen konnte,<br />

machte der Film die Gambenmusik damals populär. Heute braucht es eine Crowdfunding-Kampagne,<br />

um diese Aufnahme mit vier Suiten von Marin Marais zu ermöglichen.<br />

Aus den etwa 600 überlieferten Pièces de Viole, die seit 1685 in mehreren Musikbänden in<br />

der schottischen Nationalbibliothek in Edinburgh aufbewahrt werden, wählte der Gambist<br />

Robert Smith die Suite in fis-Moll aus Marais’ erstem Buch, die<br />

A-Dur-Suite aus dem zweiten Buch, die g-Moll aus dem dritten und<br />

e-Moll aus dem vierten: Klänge von wehmütiger und einmaliger<br />

Schönheit, aus den Händen virtuoser Interpreten. TPR<br />

Marin Marais: „La Gracieuse“, Pièces de Viole, Robert Smith, Israel Golani,<br />

Joshua Cheatham, Olivier Fortin (resonus)<br />

Berliner Barock Solisten<br />

Spielfreude und brillante Technik<br />

Georg Friedrich Händel war ein leidenschaftlicher Musikant und Lebenskünstler und<br />

entsprechend unmittelbar ist auch die Kraft seiner Werke. Die Berliner Barock Solisten,<br />

bestehend aus Solisten der Berliner Philharmoniker, haben sich unter Leitung von<br />

Alte-Musik-Experte Reinhard Goebel mit den Concerti Grossi op. 3 von Händel beschäftigt,<br />

ergänzt durch das Concerto F-Dur, bei dem unklar ist, ob Händel sein Urheber ist.<br />

Die Konzerte sind dabei höchst unterschiedlich, sowohl was die jeweilige Besetzung als<br />

auch den formalen Aufbau betrifft, und entsprechend kurzweilig und bunt ist die Sammlung.<br />

Schlank und ohne unnötige Schlenker, wohltuend undogmatisch, dafür umso präsenter<br />

und mit hörbarer Spielfreude und brillanter Technik legen die Musiker den tänzerischen<br />

Grundcharakter der Stücke offen und setzen diesen, sensibel<br />

eingespielt auf modernen Instrumenten, mit strahlendem<br />

Gesamtklang um. DW<br />

Georg Friedrich Händel: „Concerti Grossi op. 3.“ u. a., Berliner Barock Solisten,<br />

Reinhard Goebel (Hänssler)<br />

Track 7 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />

Concerto Nr. 3 G-Dur HWV 314. I. Largo e staccato – Allegro<br />

Zusammen mit dem Deutschen<br />

Symphonie-Orchester Berlin vollenden Mari<br />

Kodama und ihr Ehemann Kent Nagano die<br />

Einspielung aller Klavierkonzerte<br />

Beethovens. Der krönende Abschluss:<br />

das Klavierkonzert Nr. 0.<br />

Auf ihrem neuen Album wirft Céline Moinet<br />

einen Blick auf Johann Sebastian Bach: Zusammen<br />

mit l’arte del mondo kombiniert sie<br />

in seinen Oboenkonzerten einen historisch<br />

informierten Orchesterklang mit ihrem<br />

modernen Instrument.<br />

Concerto Köln verehrt den fast vergessenen<br />

Komponisten Francesco Geminiani<br />

als einen der ganz Großen und wählt aus<br />

unterschiedlichen Teilen des Œuvres seine<br />

persönlichen Lieblinge aus:<br />

Geminianis Quintessenz.<br />

www.berlin-classics-music.com<br />

37


H Ö R E N & S E H E N<br />

OPER<br />

ALTE<br />

MUSIK<br />

Leo Nucci<br />

Zwischen Pflicht und Liebe<br />

Venezianische Intrigen: Zu seiner sechsten Oper I due Foscari (1844)<br />

ließ sich Giuseppe Verdi von der tragischen Geschichte des letzten<br />

Dogen inspirieren. Das gleichnamige Versdrama des englischen Dichters<br />

Lord Byron über Francesco Foscari und seinen unschuldig wegen<br />

Mordes verurteilten Sohn diente ihm als Vorlage. Für die Opernbühne<br />

sei das Stück jedoch nicht wirkungsvoll genug, fand der junge Komponist.<br />

Gleich im ersten Akt müsse es „krachen“ („un po’ di fracasso“).<br />

Librettist Francesco Maria Piave straffte die Handlung, Verdi setzte<br />

neue musikalische Akzente. Das Münchner Rundfunkorchester unter<br />

seinem Chefdirigenten Ivan Repušić hat die Oper vorzüglich für das<br />

Eigenlabel des Bayerischen Rundfunks eingespielt. Mit starkem Ausdruck<br />

singt der sizilianische Tenor Ivan Magrì die Partie des verzweifelten<br />

Jacopo Foscari, an seiner Seite überzeugt die chinesische Sopranistin<br />

Guanqun Yu als Ehefrau Lucrezia Contarini. Den zwischen Amtspflichten<br />

und der Liebe zur Familie zerrissenen Dogen verkörpert der<br />

legendäre italienische Bariton Leo Nucci. CK<br />

Giuseppe Verdi: „I due Foscari“, Leo Nucci, Guanqun Yu,<br />

Ivan Magrì u. a., Chor des Bayerischen Rundfunks,<br />

Münchner Rundfunkorchester, Ivan Repušić (BR Klassik)<br />

Track 2 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />

Eccomi solo alfine – O vecchio cor, che batti<br />

Leo van Doeselaar und Erwin Wiersinga<br />

Orgelgemäßes Licht auf Bach<br />

Bach-Bearbeitungen gibt es wie Sand am Meer: unzählige. Und scheinbar<br />

gibt es noch nicht genug. Jedenfalls haben sich die niederländischen Organisten<br />

Leo van Doeselaar und Erwin Wiersinga noch mal an die Arbeit<br />

gemacht und das getan, was unzählige Komponisten und auch Bach selbst<br />

schon vor ihnen getan haben: Werke des Thomaskantors für Orgel eingerichtet.<br />

Bach soll hier „aus einem neuen Blickwinkel“ präsentiert werden.<br />

Das funktioniert verblüffend gut. Zum einen weil beide Interpreten die<br />

historischen Instrumente der Groninger Martinikerk wunderbar vielseitig<br />

ausnutzen und mit einer geradezu überwältigenden Spielfreude ans Werk<br />

gehen. Zum anderen werfen auch die eigens angefertigten Bearbeitungen<br />

ein neues, orgelgemäßes Licht auf Bach. So ist es<br />

insgesamt nicht zu viel versprochen, dass man<br />

Bach hier tatsächlich völlig neu hört – und erfrischend<br />

wie am ersten Tag. GK<br />

Johann Sebastian Bach: „A New Angle“, Leo van Doeselaar,<br />

Erwin Wiersinga (MDG)<br />

Ragna Schirmer<br />

Seelenverwandt<br />

Dass Ragna Schirmer sich nicht des großen Jubiläums wegen mit Clara<br />

Schumann auseinandergesetzt hat, ist in jeder Note zu hören. Die tiefe<br />

Verbundenheit zum Leben und Werk dieser außergewöhnlichen Musikerin<br />

pflegt Schirmer seit ihrer Kindheit, und davon zeugt jeder Augenblick ihres<br />

seelenverwandten Spiels. Ragna Schirmer ist die Expertin des Clara Schumann-Jahrs.<br />

Ihre Interpretation pendelt zwischen einfühlsam erhabener<br />

Behutsamkeit und kraftvoll treibender Präsenz, man glaubt, die 16-jährige<br />

Clara säße wie bei der Uraufführung am Klavier und Mendelssohn leite das<br />

Orchester. Bravourös spielt sie die pianistischen Höhenflüge im Dritten<br />

Satz, als seien sie ihr geradezu in die Finger geschrieben. Das folgende Klaviertrio,<br />

Claras einziges Kammermusikwerk, gilt es hier neu zu entdecken,<br />

es ist atemberaubend schön, nicht „weibisch<br />

sentimental”, wie die Komponistin in vorauseilender<br />

Zurücknahme ins Tagebuch<br />

schrieb. SELL<br />

Clara Schumann: „Trio & Concerto“, Ragna<br />

Schirmer, Staatskapelle Halle, Ariane Matiakh<br />

(Berlin Classics)<br />

Nelson Goerner<br />

Eine Offenbarung<br />

VINYL<br />

SOLO<br />

Der argentinische Pianist Nelson Goerner widmet sein Album zwei polnischen<br />

Klavierlegenden: Ignacy Jan Paderewski (1860-<strong>19</strong>41) und Leopold<br />

Godowski (1870-<strong>19</strong>38). Beide waren Virtuosen am Klavier in einer Zeit,<br />

in der es durchaus üblich war, dass Künstler in ihren Konzerten auch<br />

eigene, technisch anspruchsvolle Werke präsentierten. Dementsprechend<br />

schwer sind diese Kompositionen. Paderewski schrieb selbst über seine<br />

Variationen und Fuge über ein Originalthema op. 23: „Ich denke dieses Werk<br />

ist meine beste Klavierkomposition. Es ist extrem schwer und vielleicht<br />

zu lang, aber es enthält einige Dinge die in ihrem Charakter und ihrer<br />

Neuartigkeit beinahe eine Offenbarung sind.“ Zu lang wird dieses Werk,<br />

das das Herzstück der CD darstellt, in Goerners Händen keinesfalls. Er<br />

spielt detailverliebt mit einer Eleganz und Feinheit, die man so nicht oft<br />

hört. Sowohl in Paderewskis Variationen, als auch in Godowskis nicht<br />

weniger komplexen Symphonischen Metamorphosen über Johann Strauß<br />

Künstlerleben. Eine besondere Offenbarung ist<br />

Paderewskis beinahe schmerzhaft schönes<br />

Nocturne in B-Dur. SK<br />

Ignacy Jan Paderewski: „Variations et fugue” und Leopold<br />

Godowski: „Symphonische Metamorphosen”, Nelson Goerner<br />

(Narodowy Institut Fryderyka Chopina)<br />

Thomas Girst<br />

Lob der Langsamkeit<br />

Zunächst habe er für sich allein Halt gesucht. „Halt in einer Welt, in<br />

der sich das Hässliche immer schneller auszubreiten und das Schöne<br />

umso schützenswerter erscheint“, beginnt Thomas Girst sein Buch. Im<br />

wirklichen Leben ist er Leiter des Kulturengagements der BMW Group.<br />

Dafür wurde er 2016 als „Europäischer Kulturmanager des Jahres“ ausgezeichnet.<br />

Nachts findet er Zeit für seine zweite große Leidenschaft:<br />

das Schreiben. In einem Zeitalter, in dem alles schnell und<br />

effizient sein muss, setzt er einen Kontrapunkt<br />

und adelt die Langsamkeit in 28 Geschichten von<br />

Künstlern und Wissenschaftlern mit langem Atem.<br />

Natürlich darf auch das längste Musikstück der<br />

Welt nicht fehlen: John Cages Orgelwerk As Slow<br />

As Possible, das in Halberstadt aufgeführt wird –<br />

und im <strong>September</strong> des Jahres 2639 endet. Girst<br />

hat den Nerv der Zeit getroffen: Inzwischen geht<br />

sein Buch in die dritte Auflage. BS<br />

Thomas Girst: „Alle Zeit der Welt“ (Hanser Verlag)<br />

BUCH<br />

Erika Pluhar<br />

Mut zum Widerspruch<br />

„Die Gelassenheit braucht kein Trotzdem. Aber man braucht viel<br />

Trotzdem, um gelassen zu werden.“ Immer wieder: das Trotzdem. Ein<br />

Wort, das ihr „lebensnotwendig“ geworden ist: „Trotzdem kämpfen<br />

wir. Trotzdem glauben wir. Trotzdem lieben wir ...“ Ja, sie kämpft, sie<br />

glaubt, und sie liebt. Und sagt vielleicht gerade wegen dieses „Trotzdems“,<br />

schön sei immer das, was stimmt. Erika Pluhar,<br />

inzwischen 80-jährig, zeigt in ihren so klugen wie kurzweiligen<br />

und kontroversen Schriften, Reden und Essays, dass<br />

sie sowohl einen Sinn für das „Ja, aber ...“ im Leben hat, als<br />

auch für ein Ja zum Hier und Jetzt. Sie nimmt Stellung zu<br />

Themen wie Frau-Sein, Obdachlosigkeit, Rassismus,<br />

Männerschnupfen, Gier und Zeitgeist; sie ehrt Menschen,<br />

klagt an, verabschiedet sich. Pluhar schaut hin, hält nicht<br />

still. Aber in jedem Gedanken, in jeder Zeile spürt man,<br />

dass sie das Leben liebt. Und die Menschen. Trotzdem ... BS<br />

Erika Pluhar: „Die Stimme erheben. Über Kultur, Politik und Leben“<br />

(erscheint am 24.9. im Residenz Verlag)<br />

38 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


Unerhörtes & neu Entdecktes<br />

von Christoph Schlüren<br />

SOWJETISCHE MEISTER UND<br />

EINE GANZ GROSSE ENTDECKUNG<br />

Historisches von Northern Flowers, Melodiya und Doremi.<br />

Über all der Propaganda von allen Seiten, die Leitsymptom<br />

des neuen Kalten Kriegs ist, wird leicht übersehen,<br />

wie viel freier und demokratischer Russland heute ist<br />

als zu Sowjetzeiten. Zugleich ist, wie überall, leider die<br />

gegenwärtige Gegenläufigkeit zu beobachten, dass mit<br />

zunehmend besserem Leben zunehmende kulturelle Dekadenz einhergeht.<br />

Große Komponisten sind in West und Ost mehr denn je<br />

Mangelware. So verwundert es nicht, wenn die beiden wichtigsten<br />

Labels des heutigen Russland, die in Moskau beheimatete Melodiya<br />

und die in Petersburg ansässigen Northern Flowers, ganz besonders<br />

mit historischen Veröffentlichungen glänzen.<br />

Northern Flowers hat nun erstmals sämtliche 13 Streichquartette<br />

von Nikolai Miaskowsky in einer Fünf-CD-Box veröffentlicht,<br />

die zudem mit sehr informativen Einführungen versehen ist. Das<br />

Taneyev-Quartett spielt die vielseitig herausfordernden Werke technisch<br />

brillant, doch waren insbesondere die akustischen Voraussetzungen<br />

Mitte der <strong>19</strong>80er-Jahre sehr trocken. Miaskowsky ist mit<br />

27 Gattungsbeiträgen weltbekannt als einer der fruchtbarsten Sinfoniker,<br />

wird jedoch fast nie außerhalb Russlands gespielt – was<br />

teils sehr zu bedauern ist, denn einige seiner Sinfonien zählen zum<br />

Wertvollsten im Sowjetbestand. Seine Quartette<br />

bezeugen kein geringeres Niveau und bestechen mit<br />

großartiger kontrapunktischer Verzahnung und<br />

Finesse, kühner Auslotung der traditionellen Tonalität,<br />

rhythmischer Mannigfaltigkeit, Eleganz und<br />

Wucht und untrüglichem Sinn für die große<br />

Form. Einige, wie etwa die Nummern 9 oder 11<br />

bis 13, sind von zeitlosem Karat, und schon mit<br />

den <strong>19</strong>30 als Opus 31 zusammengefassten ersten<br />

drei, die die seelischen Schrecken der Stalin-Ära<br />

seismografisch ausagieren, eroberte Miaskowsky<br />

das Königsgenre der Kammermusik im Sturm.<br />

Herrlich die unendlichen Facetten, die er Walzercharakteren<br />

abgewinnt, tiefe Abgründe tun sich in langsamen<br />

Sätzen auf, auch die klangliche Palette ist<br />

unerschöpflich.<br />

Höchst empfehlenswert ist auch eine Serie<br />

von Northern Flowers, die das sowjetische Petersburg<br />

zelebriert: Leningrad Symphonies, Leningrad<br />

Violin Concertos, Leningrad String Quartets. Jedes<br />

Mal ist hier der noch lebende Sergey Slonimsky dabei, einer der<br />

interessantesten Komponisten unserer Zeit, der in jedem Werk mit<br />

unvorhersehbarer Originalität und absoluter Meisterschaft fesselt,<br />

aber auch der Schostakowitsch-Schüler Venjamin Basner mit seinem<br />

melancholischen Ersten Quartett, der bedeutende Sinfoniker<br />

Orest Yevlakhov (Schüler von Schostakowitsch und Lehrer der<br />

gesamten Leningrader Komponistenprominenz), Yuri Falik am<br />

Scheideweg von Expressionismus und Dodekafonie (Sinfonien und<br />

Quartette), Vladislav Uspensky mit dem fantasiereichen Violindoppelkonzert<br />

Phantasmagoria oder German Okunev mit seinem<br />

hochexpressiven Zweiten Quartett bieten grandiose Einblicke in die<br />

vielschichtige Leningrader Szene, die hierzulande so gut wie unbekannt<br />

ist.<br />

Melodiya hat uns in letzter Zeit mit einem herrlichen Drei-<br />

CD-Album von Mieczysław Weinberg beglückt, dessen 100.<br />

Geburtstag am 8. Dezember ansteht. Schon jetzt kann man sagen,<br />

dass seine Entdeckung seit ungefähr zehn Jahren ein voller Erfolg<br />

ist. Hier ist er selbst als vortrefflicher Pianist mit Alla Vasilieva in<br />

seinen zwei Cellosonaten zu hören, dazu kommen Violin- und<br />

Bratschenwerke auf hohem Niveau, das Trompetenkonzert mit<br />

Timofei Dokschitzer und vor allem das großartige Siebte Quartett<br />

mit dem Borodin-Quartett.<br />

Herausragend unter den russischen Dirigenten<br />

war Alexander Gauk, der Liszts Faust-Sinfonie,<br />

Dukas’ Zauberlehrling und Strauss’ Till Eulenspiegel<br />

mit einer beherrschten Wildheit entstehen lässt, die<br />

kaum ihresgleichen kennt (Melodiya). Er war einer<br />

der ganz Großen, und man müsste viel mehr von<br />

ihm kennen. Doch die größte Überraschung ist<br />

die griechische Pianistin Vasso Devetzi (<strong>19</strong>27–<br />

<strong>19</strong>87), engste Freundin Maria Callas’, die fast nur<br />

in der Sowjetunion auftrat. Sie spielt auf einem<br />

bei Doremi erschienenen Album sämtliche Konzerte<br />

Johann Sebastian Bachs mit dem exzellenten<br />

Moskauer Kammerorchester unter Rudolf Barschai.<br />

Dass sie die meines Erachtens phänomenalste<br />

Bach-Spielerin der ganzen Epoche war, hört man<br />

am deutlichsten in der Chromatischen Fantasie und<br />

Fuge, die ich noch nie so zusammenhängend und<br />

fantasievoll gespielt vernommen habe. n<br />

39


R Ä T S E L<br />

„Ich wurde<br />

unter anderem<br />

von Gamelan-<br />

Musik<br />

beeinflusst“<br />

GEWINNSPIEL<br />

Wer verbirgt sich hinter diesem Text?<br />

„Die Musik ist eine geheimnisvolle Mathematik, deren Elemente<br />

am Unendlichen teilhaben“ – schon in jungen Jahren besuchte ich<br />

das Konservatorium, auch wenn ich in bescheidenen Verhältnissen<br />

aufgewachsen bin und nie eine Schule besucht habe. Ich wurde von<br />

Musikern unterrichtet, die zwar nicht mit meinem jugendlichen<br />

Ungestüm umgehen konnten, mit mir jedoch bald große Erfolge<br />

am Klavier feierten. Als diese aber nicht lange andauerten, wechselte<br />

ich in die Kompositionsklasse und nahm von meinem Virtuosen-Traum<br />

Abstand. In meinem neuen Studium wurde meine<br />

musikalische Begabung auf ganz andere Weise gefordert, als ich<br />

mich nicht so recht an staubige harmonische Gesetze halten wollte<br />

causales_Anzeigen_20<strong>19</strong>.qxp_crescendo_220x144+5mm 15.08.<strong>19</strong> 11:40 Seite 1<br />

und so manche Lehrer behaupteten, dass ich von dem irren Wunsch<br />

FOTO: BY GUNAWAN KARTAPRANATA - CC BY-SA 3.0<br />

besessen sei, etwas Bizarres, Unverständliches und Unaufführbares<br />

zu schaffen. Mein Kompositionsstil stach nämlich durch das Schaffen<br />

einer neuen Tonsprache, die Überwindung traditioneller musikalischer<br />

Formen heraus.<br />

Begeistert von dem Exotismus, den ich auf der Pariser Weltausstellung<br />

erlebte, wurde mein Stil von russischer, arabischer und<br />

Gamelan-Musik beeinflusst. Meine Kompositionen sind voll von<br />

zauberhaften Klangfarben, Ganztonleitern, Pentatonik, sphärischen<br />

Akkordschichtungen und Ostinati. Zuerst konnte ich mich<br />

nur mit kleinen Kompositionen über Wasser halten und genoss<br />

einen launenhaften Lebensstil. Der änderte sich schlagartig, als<br />

meine Partnerin begann, den Haushalt und mein Leben zu organisieren.<br />

Leider endete diese Beziehung tragisch: Als sie einen Liebesbrief<br />

von mir fand, der unglücklicherweise nicht an sie adressiert<br />

war, richtete sie einen Revolver auf sich selbst. Dieses<br />

schmerzliche Szenario wiederholte sich ein paar Jahre später, als<br />

meine zweite Ehefrau eine meiner Affären aufdeckte und verzweifelt<br />

versuchte, sich das Leben zu nehmen. Auch wenn mein Privatleben<br />

nicht immer einfach war, führte ich doch die innigste<br />

Bindung zur Musik und gelte heute als das Bindeglied zwischen<br />

Romantik und Moderne.<br />

AM<br />

RÄTSEL LÖSEN UND EINE<br />

CD-BOX GEWINNEN!<br />

Wer ist hier gesucht? Wenn Sie die Antwort kennen,<br />

dann nehmen Sie an der Verlosung teil unter<br />

www.crescendo.de/mitmachen. Diese CD-Box<br />

können Sie gewinnen: „Friedrich Gulda: The Stuttgart Solo Recitals“<br />

(SWR Music). Einsendeschluss: 25.09.20<strong>19</strong> Gewinner unseres letzten Gewinnspiels<br />

ist Axel Krauss aus Plochingen. Die Lösung war Béla Bartók.<br />

JETZT TICKETS SICHERN!<br />

WWW.KULTURMARKEN.DE<br />

Au f b r u c h<br />

nach<br />

Transform the Culture in Europe<br />

Europa<br />

11.<br />

Kultur<br />

Invest!<br />

Kongress<br />

7./8. NOVEMBER<br />

UNESCO-WELTERBE ZOLLVEREIN<br />

EUROPAS FÜHRENDER KULTURKONGRESS<br />

EUROPE’S LEADING CULTURE CONGRESS<br />

CREATE EUROPE!<br />

CULTURAL COLLABORATIONS<br />

CULTURAL TOURISM<br />

CULTURAL ENTREPRENEURSHIP REVIVING INDUSTRIAL SITES CUSTOMER EXPERIENCE<br />

Highlight<br />

CULTURAL EDUCATION PLACES OF CULTURE CULTURAL MARKETING STRATEGIES<br />

Preisverleihung der<br />

14. Europäischen Kulturmarken-Awards<br />

TICKETING INNOVATIONS URBAN CULTURE CULTURAL TRANSFORMATION<br />

40 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – März 20<strong>19</strong><br />

Hauptförderer: Premium-Partner: Veranstalter:


ERLEBEN<br />

Die wichtigsten Termine und Veranstaltungen von <strong>September</strong> bis <strong>Oktober</strong> im Überblick (ab Seite 42)<br />

Erntedank in Tirol: Die Festspiele Erl präsentieren romantische Musik an der Schwelle zur Moderne (Seite 48)<br />

Chefdirigent Christoph Koncz und Isabelle Keulen leiten die neue Saison der Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein (Seite 50)<br />

8. bis 21. <strong>September</strong>, Hellerau<br />

„APPIA STAGE RELOADED“<br />

Hellerau steht als Modell einer Lebensreform zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf<br />

Anregung des Bühnenausstatters Adolphe Appia erhielt das Festspielhaus in der<br />

Gartenstadt keine Guckkastenbühne. Stattdessen wurde ein Raum geschaffen, in<br />

dem Zuschauerbereich und Spielfläche ineinander übergingen. Appia stellte sich,<br />

inspiriert von dem Choreografen Émile Jaques-Dalcroze, einen leeren Raum vor,<br />

in dem die Darsteller durch Haltungen und Bewegungen die ersten Akzente setzen.<br />

Der Bühnenbereich sollte mittels geometrischer Körper für jede Inszenierung<br />

neu gestaltet werden. Die Musik gab den Rhythmus vor, der als einigendes<br />

Band die Maßverhältnisse regelte. Den emotionalen Gehalt der Musik drückte das<br />

Licht aus, dessen Gestaltung der Lichtkünstler Alexander von Salzmann übernahm.<br />

Das Festival Appia Stage Reloaded zeigt Performances, Tanz, Musik sowie<br />

Ausstellungen auf der 2017 rekonstruierten Bühne. Die Choreografen und Darsteller<br />

Cindy Hammer, Joseph Hernandez, Johanna Raggan und Anna Till (Foto)<br />

erkunden die Appia-Bühne als Ort utopischer Träume. Zur Uraufführung kommt<br />

ein Werk der Bildhauerin Ursula Sax, dessen choreografische Umsetzung sich aus<br />

Tanzskulpturen und performativen Objekten entwickelt. Und die Ausstellung<br />

„Raum der Visionäre“ geht anhand von Briefen, Zeichnungen und Fotografien den<br />

Einflüssen nach, die Appia, von Salzmann und Jaques-Dalcroze aufeinander hatten.<br />

Hellerau, Festspielhaus, www.hellerau.org/appia<br />

FOTO: IAN WHALEN<br />

41


E R L E B E N<br />

<strong>September</strong> / <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong><br />

DIE WICHTIGSTEN<br />

VERANSTALTUNGEN AUF<br />

EINEN BLICK<br />

Ihr persönlicher Navigator für Premieren, Konzerte und Festivals<br />

PREMIEREN<br />

7.9. HAMBURG STAATSOPER<br />

Die Nase / Dmitri Schostakowitsch<br />

8.9. BERLIN DEUTSCHE OPER<br />

La forza del destino / Giuseppe Verdi<br />

8.9. ERFURT THEATER<br />

Im weißen Rössl / Ralph Benatzky<br />

8.9. FRANKFURT AM MAIN OPER<br />

Otello / Gioachino Rossini<br />

8.9. WEIMAR STAATSTHEATER<br />

Hoffmanns Erzählungen / J. Offenbach<br />

13.9. PFORZHEIM THEATER<br />

Rigoletto / Giuseppe Verdi<br />

14.9. BERLIN DEUTSCHE OPER<br />

Wolfsschlucht / Malte Giesen<br />

14.9. BRAUNSCHWEIG STAATS­<br />

THEATER Ekstase – Ein Fest des Tanzes<br />

14.9. CHEMNITZ THEATER<br />

Zarah 47 / Peter Lund<br />

14.9. GIESSEN STADTTHEATER<br />

Der Barbier von Sevilla / G. Rossini<br />

14.9. HANNOVER STAATSOPER<br />

La Juive / Jacques Halévy<br />

14.9. KAISERSLAUTERN PFALZ­<br />

THEATER La traviata / Giuseppe Verdi<br />

14.9. KASSEL STAATSTHEATER<br />

Siegfried / Richard Wagner<br />

14.9. LEIPZIG OPER<br />

Der Liebestrank / Gaetano Donizetti<br />

14.9. MÜNSTER STAATSTHEATER<br />

Un ballo in maschera / Giuseppe Verdi<br />

14.9. REGENSBURG THEATER<br />

Tosca / Giacomo Puccini<br />

14.9. TRIER THEATER<br />

La Bohème / Giacomo Puccini<br />

14.9. WIEN (AT) VOLKSOPER<br />

Das Gespenst von Canterville /<br />

Marius Felix Lange<br />

14.9. WIESBADEN LANDESTHEATER<br />

Carmen / Georges Bizet<br />

15.9. AACHEN THEATER<br />

Hagen – Der Ring / Richard Wagner<br />

15.9. DORTMUND THEATER<br />

Madame Butterfly / Giacomo Puccini<br />

15.9. DÜSSELDORF<br />

DEUTSCHE OPER AM RHEIN<br />

Roméo et Juliette / Charles Gounod<br />

15.9. WUPPERTAL BÜHNEN<br />

Oedipus Rex / Igor Strawinsky<br />

<strong>19</strong>.9. WIEN (AT) THEATER AN DER<br />

WIEN Rusalka / Antonín Dvořák<br />

27. <strong>September</strong> bis 6. <strong>Oktober</strong>, Bad Wörishofen<br />

25 JAHRE<br />

FESTIVAL DER NATIONEN<br />

Lädt mit dem Festivalorchester<br />

zu einer<br />

„Russischen Nacht“:<br />

Nemanja Radulović<br />

Mit einem Reigen großartiger Künstler feiert das Festival der Nationen<br />

sein 25-jähriges Bestehen. Ins Leben gerufen mit der Idee,<br />

eine Veranstaltung für Kinder aller Nationen zu sein, gewann es im<br />

Laufe der Jahre zunehmend an Attraktivität. Zur Eröffnung des<br />

Jubiläumsprogramms stellen die Pianistin Olga Scheps und die<br />

Sopranistin Regula Mühlemann mit dem Kammerorchester Basel<br />

unter Benedetti Michelangeli die elfjährige Junior-Preisträgerin im<br />

Menuhin-Wettbewerb, Chloe Chua, vor. Der Geiger Nemanja<br />

Radulović (Foto), der erstmals mit dem Festivalorchester auftritt,<br />

lädt mit Tschaikowsky zu einer „Russischen Nacht“. Die Sopranistin<br />

Diana Damrau und der Bass Nicolas Testé widmen sich mit<br />

dem Münchner Rundfunkorchester unter Ivan Repušić den Arien<br />

Verdis. Das Orchester begleitet auch den Tenor Klaus Florian Vogt<br />

bei seiner Wagner-Gala. Die Bamberger Symphoniker geben mit<br />

dem Geiger Frank Peter Zimmermann ihr Debüt in Bad Wörishofen<br />

und wirken mit bei der Vorstellung des Projekts „Volkslied Reloaded“<br />

des Ensembles Quadro Nuevo. Der Pianist Nikolai Tokarev,<br />

der 2006 in Bad Wörishofen entdeckt wurde, gastiert mit der<br />

Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Karel Mark<br />

Chichon, die auch in der Abschlussgala zu hören ist, wenn Elīna<br />

Garanča einen Arienabend gibt.<br />

Bad Wörishofen, Kursaal, www.festivaldernationen.de<br />

FOTO: LUKAS ROTTER / DG<br />

20.9. BREMEN THEATER<br />

Der Rosenkavalier / Richard Strauss<br />

20.9. DARMSTADT STAATSTHEATER<br />

Twice through the heart / Mark-Anthony<br />

Turnage, Trouble in Tahiti / L. Bernstein<br />

20.9. HILDESHEIM THEATER<br />

FÜR NIEDERSACHSEN<br />

Im weißen Rössl / Ralph Benatzky<br />

20.9. HOF THEATER<br />

Orpheus und Eurydike / C. W. Gluck<br />

21.9. DARMSTADT STAATSTHEATER<br />

Catch Me If You Can / Marc Shaiman<br />

und Scott Wittman<br />

21.9. HANNOVER STAATSOPER<br />

Beginning / Andonis Foniadakis<br />

21.9. HOF THEATER<br />

In der Strafkolonie / Philip Glass<br />

21.9. KÖLN OPER<br />

Tristan und Isolde / Richard Wagner<br />

21.9. LINZ (AT) LANDESTHEATER<br />

The Rape of Lucretia / Benjamin Britten<br />

21.9. LÜBECK THEATER<br />

La Sylphide / August Bournonville<br />

21.9. LÜNEBURG THEATER<br />

Orpheus und Eurydike / C. W. Gluck<br />

21.9. SALZBURG (AT) LANDES­<br />

THEATER Oberon / C. M. von Weber<br />

22.9. MÖNCHENGLADBACH<br />

THEATER Salome / Richard Strauss<br />

22.9. LINZ (AT) LANDESTHEATER<br />

Le prophète / Giacomo Meyerbeer<br />

22.9. ZÜRICH (CH) OPERNHAUS<br />

Die Sache Makropulos / Leoš Janáček<br />

26.9. BONN THEATER<br />

Infinito Nero / Salvatore Sciarrino<br />

26.9. ULM THEATER<br />

Fidelio / Beethoven<br />

28.9. CHEMNITZ THEATER<br />

Die Weise von Liebe und Tod /<br />

Malte Giesen, Fabian Gerhardt<br />

28.9. DRESDEN SEMPEROPER<br />

Il viaggio a Reims / Giacomo Rossini<br />

28.9. FLENSBURG SCHLESWIG-<br />

HOLSTEINISCHES LANDESTHEATER<br />

Rigoletto / Giuseppe Verdi<br />

28.9. FREIBURG THEATER<br />

Falstaff / Giuseppe Verdi<br />

28.9. GELSENKIRCHEN<br />

MUSIK THEATER IM REVIER<br />

Frankenstein / Jan Dvořák<br />

28.9. HALLE OPER<br />

Un ballo in maschera / Giuseppe Verdi<br />

28.9. KAISERSLAUTERN<br />

PFALZTHEATER Cabaret / John Kander<br />

42 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


FOTOS: FLORIAN LIEDEL; MARCO BORGGREVE; RÜDIGER SCHESTAG; MET IM KINO; SIMON PAULY; LAURENT PHILIPPE; WALTER GLÜCK; MARCO BORGGREVE; LUIS ALBERTO RODRIGUEZ; KLANGFORUM WIEN; KIRAN WEST;<br />

JUNGE KAMMERPHILHARMONIE BERLIN; LEONIE TREFFLINGER; JEANLOUIS FERNANDEZ<br />

13. <strong>September</strong><br />

DESSAU VIOLETT<br />

Als junger Student der Volkswirtschaft hörte<br />

Wassily Kandinsky in Moskau Wagners<br />

Lohengrin. „Ich konnte alle meine Farben sehen“,<br />

beschrieb er den Eindruck. „Es wurde mir<br />

bewusst, dass Malerei die gleiche Macht wie<br />

Musik besitzt.“ So war das Theater für ihn die<br />

höchste ästhetische Kunst, die idealerweise die<br />

bildenden Künste, Musik, Tanz und Dichtung vereinte. Zwischen <strong>19</strong>08<br />

und <strong>19</strong>14 schrieb er die Bühnenkompositionen Grüner Klang, Schwarz und<br />

Weiß, Schwarze Figur, Gelber Klang sowie die Farboper Violett, von der<br />

<strong>19</strong>27 ein Abschnitt in der Zeitschrift Bauhaus erschien. Assoziativ verband<br />

er darin Bilderfolgen, wobei er das Wort stellenweise als reinen<br />

Klangwert zum Einsatz brachte. Die Elemente Farbe und Form, Text,<br />

Raum und Klang sowie Bewegung sollten gleichwertig zusammenwirken.<br />

Wie er sich das vorstellte, erläuterte er zehn Jahre später in dem Aufsatz<br />

Über die abstrakte Bühnensynthese. Im Rahmen des Festivals Bühne<br />

TOTAL der Stiftung Bauhaus Dessau setzt die Regisseurin und Choreografin<br />

Arila Siegert das Werk mit Kerstin Schweer und Jörg Thieme szenisch<br />

um. Für die Musik von Ali N. Askin (Foto), die dabei zur Uraufführung<br />

gelangt, steht Sebastian Kennerknecht am Pult.<br />

Dessau, Anhaltisches Theater, 13. (Premiere), 14. und 15.9. sowie <strong>19</strong>., 20. und<br />

21.6.2020, www.anhaltisches-theater.de<br />

Bis <strong>19</strong>. <strong>September</strong><br />

MUSIKFEST BERLIN<br />

„Das ganze Leben des Traums und der ganze<br />

Sinn des Lebens sind bereit, in den empfindlichen<br />

Filmstreifen einzugehen“ – Zitate,<br />

Metaphern und Symbole durchziehen Abel<br />

Gances Stummfilm La Roue aus dem Jahr <strong>19</strong>23.<br />

Gances Bestreben war eine Synthese philosophischer,<br />

literarischer und malerischer Konzeptionen.<br />

Zwei Jahre arbeitete er daran und belichtete 10.000 Meter Zelluloid.<br />

Das Musikfest Berlin zeigt den melodramatischen Streifen in voller<br />

Länge – neun Stunden lang. Dazu spielt das Rundfunk-Sinfonieorchester<br />

Berlin Arthur Honeggers Filmmusik, aus der Honegger später das sinfonische<br />

Gedicht Pacific 231 schuf. Der Film zeichnet sich durch einen<br />

„beschleunigten Schnitt“ aus, für den Gance bekannt wurde. Scheiben,<br />

Signale, Weichen wechseln einander mit Landschaften und Gesichtern<br />

ab. Honegger schuf eine Musik, die „das ruhige Amen der stillstehenden<br />

Maschine“ wiedergibt, „die Anstrengung beim Anfahren, die allmähliche<br />

Steigerung der Geschwindigkeit“ bis „zum Gewaltig-Pathetischen eines<br />

Eisenbahnzuges“, der durch die tiefe Nacht rast.<br />

Berlin, verschiedene Spielorte, www.musikfest-berlin.de<br />

6. bis 29. <strong>September</strong><br />

BONN BEETHOVENFEST<br />

„Den Wein, den man mit Augen trinkt, / Gießt<br />

der Mond in Wogen nieder“ – mit Arnold<br />

Schönbergs Melodram Pierrot Lunaire auf<br />

Gedichte Albert Girauds und dem gesungenen<br />

Ballett Die sieben Todsünden von Bertolt Brecht<br />

und Kurt Weill in der Bearbeitung von HK<br />

Gruber gestaltet das Ensemble Modern seinen<br />

Auftritt beim Beethovenfest. Die Rolle der Anna, die durch sieben<br />

amerikanische Städte getrieben wird, bis sie wieder in Louisiana landet,<br />

„wo die Wasser des Mississippi unterm Monde fließen“, übernimmt die<br />

Sopranistin Sarah Maria Sun (Foto). „Mondschein“ lautet das Motto des<br />

Fests in Anspielung an die romantische 14. Klaviersonate, die nach<br />

Beethovens Tod diesen Titel erhielt. Sie dient dem Programm als<br />

Inspiration und durchzieht es in unterschiedlichen Interpretationen.<br />

Zum Auftakt erklingt sie als Sonate für Horn und Klavier. Ronald<br />

Bräutigam spielt sie auf dem Hammerklavier. Und Pierre-Laurent Aimard<br />

widmet sich ihr an seinem Soloabend.<br />

Bonn, verschiedene Kinos, www.beethovenfest.de<br />

Herbstliche Musiktage Bad Urach<br />

STEGREIF.orchester Berlin:<br />

#Beethoven#Eroica#Mozart#Don Giovanni<br />

Elisabeth Kulman Show:<br />

»Der ganz andere Opernabend«<br />

THOMANERCHOR Leipzig:<br />

Festkonzert jubelnder Knabenstimmen<br />

u.v.m.<br />

Internationales Orgelfestival<br />

6. bis 20. <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong><br />

Winfried Bönig, David Cassan, Kristin von der Goltz,<br />

Frank Höndgen, Lena Neudauer, Daniel Zaretzky<br />

und Peter Kofler<br />

www.muenchner-orgelherbst.de<br />

www.facebook.com/muenchner.orgelherbst<br />

Jesuitenkirche St. Michael<br />

Neuhauser Straße 6 | 80331 München<br />

herbstliche-musiktage.de, Telefon 07125 156 571<br />

43


E R L E B E N<br />

26. <strong>September</strong> bis 12. Januar, Frankfurt am Main<br />

HANNAH RYGGEN.<br />

GEWEBTE MANIFESTE<br />

„Das Leben zieht vorüber“, Tapisserie<br />

von Hannah Ryggen aus dem Jahr <strong>19</strong>39<br />

Hannah Ryggens großformatige Tapisserien sind gewebte Geschichten<br />

und Bekenntnisse. Zu Lebzeiten der Künstlerin wurden sie in<br />

internationalen Ausstellungen gezeigt. Ryggen war eine hochgeschätzte<br />

Künstlerin. <strong>19</strong>64 vertrat sie Norwegen auf der Biennale<br />

von Venedig. In Malmö geboren, zog sie <strong>19</strong>24 nach einem akademischen<br />

Malstudium mit ihrem Mann, dem Maler Hans Ryggen, auf<br />

einen kleinen Bauernhof in Ørland an der norwegischen Westküste.<br />

Hier fand sie im Webstuhl ihr malerisches Werkzeug. Aber nicht das<br />

bäuerliche Leben interessierte sie. Vielmehr nahm sie regen Anteil<br />

am politischen Geschehen ihrer Zeit. Wie ihre Biografin, die Kunsthistorikerin<br />

Marit Paasche, betont, verstand Ryggen ihre Tapisserien<br />

als politisches Statement. So gestaltete sie einen Hitlerteppich, auf<br />

dem sie die Gräueltaten des NS-Regimes zeigte sowie die Verstrickung<br />

der Kirche in den Nationalsozialismus, indem sie zwei enthauptete<br />

Figuren vor einem schwebenden Kreuz abbildete. Als<br />

Mussolinis Truppen <strong>19</strong>35 in Abessinien, dem heutigen Äthiopien,<br />

einmarschierten, webte sie aus Protest dagegen eine Arbeit mit<br />

Mussolinis Kopf, durchbohrt von einem Speer. Sie wurde <strong>19</strong>37 in<br />

Paris gemeinsam mit Picassos Guernica gezeigt. Ähnliche erträumte<br />

Angriffe auf Hitler und Franco hängte Ryggen während der deutschen<br />

Besetzung Norwegens <strong>19</strong>40 neben ihrem Haus auf. Nach dem<br />

Krieg wandte sie sich sozialen Fragen, aber auch Themen wie Liebe<br />

und Natur zu. Doch behielt sie das Zeitgeschehen stets kritisch im<br />

Blick. <strong>19</strong>66 protes tierte sie mit dem Teppich Blut im Gras gegen die<br />

amerikanische Einmischung in den Vietnamkrieg. In den Jahrzehnten<br />

nach ihrem Tod <strong>19</strong>70 allerdings sei Ryggens Werk in die Ecke des<br />

Primitiven und Ländlichen geschoben und in seiner künstlerischen<br />

Bedeutung verkannt worden, erläutert Paasche. Die einst berühmte<br />

Künstlerin geriet in Vergessenheit. Die Ausstellung Hannah Ryggen.<br />

Gewebte Manifeste vermittelt mit 25 Tapisserien erstmals in<br />

Deutschland Einblicke in ihr Werk. Begleitend dazu erscheint am<br />

2. <strong>Oktober</strong> im Pres tel Verlag ein gleichnamiger Bildband, herausgegeben<br />

von Marit Paasche und Esther Schlicht.<br />

Frankfurt am Main, Schirn Kunsthalle, www.schirn.de<br />

FOTO: © VG BILD-KUNST, BONN 20<strong>19</strong>, FOTO: JØRN HAGEN<br />

12. <strong>Oktober</strong><br />

MET IM KINO<br />

Franco Zeffirellis prachtvolle Inszenierung von<br />

Puccinis Turandot aus dem Jahr <strong>19</strong>87 gehört zu<br />

den Prunkstücken des Repertoires der New<br />

Yorker Metropolitan Opera. Zeffirelli zeigte<br />

eine in bombastischen Zeremonien erstarrte<br />

Welt der Dekadenz. Der golden funkelnde<br />

Thronsaal, in dem die Rätselszene und das<br />

Finale spielen, schafft mit den ausladenden Kostümen von Anna Anni und<br />

Dada Saligeri eine überbordende Vision des sagenhaften chinesischen<br />

Kaiserreichs. Im Todesjahr Zeffirellis, der am 15. Juni im Alter von 96 Jahren<br />

starb, kommt die Inszenierung wieder auf den Spielplan, und die Veranstaltungsreihe<br />

MET im Kino beginnt damit ihre Saison. In die Rolle der<br />

Prinzessin Turandot schlüpft Christine Goerke. Der unbekannte Prinz<br />

Kalaf ist Roberto Aronica. Und die musikalische Leitung übernimmt der<br />

musikalische Direktor des Hauses Yannick Nézét-Séguin.<br />

Deutschland und Österreich, verschiedene Spielorte, www.metimkino.de<br />

21. <strong>September</strong> bis 12. <strong>Oktober</strong><br />

USEDOMER MUSIKFESTIVAL<br />

Das Seebad Ahlbeck gehört zu den drei Kaiserbädern<br />

der Ostseeinsel Usedom. Mit Volksliedern<br />

aus aller Welt lädt das Calmus Ensemble<br />

(Foto) zu einer „Liedertafel“ in die örtliche<br />

Kirche. Nicht weit entfernt befindet sich das<br />

polnische Seebad Świnoujście. Hier warten die<br />

Sopranistin Dagmara Barna und das Ensemble Il<br />

pomo d’oro des Cembalisten Francesco Corti mit Arien von Händel und<br />

Hasse auf. Zur Eröffnung leitet Kristjan Järvi die vom Festival gegründete<br />

Baltic Sea Philharmonic bei der deutschen Erstaufführung einer Komposition<br />

von Steve Reich und bei Philip Glass’ Drittem Klavierkonzert. Am<br />

Flügel sitzt Simone Dinnerstein.<br />

Usedom, verschiedene Spielorte, www.usedomer-musikfestival.de<br />

6. bis 20. <strong>Oktober</strong><br />

11. MÜNCHNER ORGELHERBST<br />

Mit Bach-Chorälen eröffnet Peter Kofler an der<br />

Rieger-Orgel in der Jesuitenkirche St. Michael<br />

den Orgelherbst. Befasst mit einer Gesamteinspielung<br />

der Orgelkompositionen Johann Sebastian<br />

Bachs, deren erste Teile unter dem Titel<br />

„OpusBach“ bereits vorliegen, ist er innig vertraut<br />

mit dessen Orgelwerk. Bach ist der rote<br />

Faden, der sich durch die Programme zieht. Darüber hinaus gibt es anderes<br />

zu hören. Winfried Bönig gastiert mit Orgelkompositionen von<br />

Louis Vierne. Daniel Zaretzky bringt aus Sankt Petersburg Werke der<br />

russischen Komponisten Georgi Muschel und Christopher Kuschnarew.<br />

Und mit Improvisationskunst lässt David Cassan das Fest ausklingen.<br />

München, Jesuitenkirche St. Michael, www.muenchner-orgelherbst.de<br />

Bis 29. <strong>September</strong><br />

NIEDERSÄCHSISCHE MUSIKTAGE<br />

Mit Musik vom Meer gastiert das Ensemble<br />

Quadriga Consort bei den Niedersächsischen<br />

Musiktagen. Alte Seefahrerweisen und Shanties<br />

aus England, Schottland und Irland hat der<br />

Cembalist Nikolaus Newerkla zur Suite Hart am<br />

Wind zusammengestellt. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern<br />

des Ensembles, zu dem sich<br />

2001 vier Musiker zusammenfanden, um während ihres Studiums frühbarocke<br />

Kammermusik zu interpretieren. Eigene Arrangements erweiterten<br />

das Repertoire im Verlauf der Jahre, ebenso die Zahl der Mitglieder.<br />

Sechs Instrumentalisten und eine Sängerin bringen die alten Weisen,<br />

die von Abenteuerlust und Heimweh erzählen, wieder zum Klingen.<br />

Niedersachsen, verschiedene Spielorte, www.musiktage.de<br />

44 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


FOTOS: FLORIAN LIEDEL; MARCO BORGGREVE; RÜDIGER SCHESTAG; MET IM KINO; SIMON PAULY; LAURENT PHILIPPE; WALTER GLÜCK; MARCO BORGGREVE; LUIS ALBERTO RODRIGUEZ; KLANGFORUM WIEN; KIRAN WEST;<br />

JUNGE KAMMERPHILHARMONIE BERLIN; LEONIE TREFFLINGER; JEANLOUIS FERNANDEZ<br />

28.9. KIEL THEATER<br />

Ein Amerikaner in Paris / G. Gershwin<br />

28.9. MÖNCHENGLADBACH THEA­<br />

TER Der goldene Drache / Peter Eötvös<br />

28.9. MAINZ STAATSTHEATER<br />

The Producers / Mel Brooks<br />

28.9. OSNABRÜCK THEATER<br />

Falstaff / Giuseppe Verdi<br />

29.9. GIESSEN STADTTHEATER<br />

Rebellen / Asun Noales u. a.<br />

29.9. NÜRNBERG STAATSTHEATER<br />

Don Carlos / Giuseppe Verdi<br />

2.10. MÜNCHEN GÄRTNERPLATZ­<br />

THEATER Die Kluge / Carl Orff<br />

2.10. WIEN (AT) STAATSOPER<br />

A Midsummer Night‘s Dream / B. Britten<br />

3.10. MEININGEN STAATSTHEATER<br />

Your First Memory / Bryan Arias<br />

3.10. BERLIN STAATSOPER Die lustigen<br />

Weiber von Windsor / Otto Nicolai<br />

5.10. ERFURT THEATER<br />

Zaren Saltan / Nikolai Rimski-Korsakow<br />

5.10. LEIPZIG OPER<br />

Tristan und Isolde / Richard Wagner<br />

5.10. ROSTOCK VOLKSTHEATER<br />

La traviata / Giuseppe Verdi<br />

5.10. WIESBADEN HESSISCHES<br />

LANDESTHEATER<br />

Gräfin Mariza / Emmerich Kálmán<br />

6.10. BONN THEATER<br />

Der Rosenkavalier / Richard Strauss<br />

27. <strong>September</strong>, München<br />

6.10. FRANKFURT AM MAIN OPER<br />

Manon Lescaut / Giacomo Puccini<br />

10.10. MÜNCHEN GÄRTNERPLATZ­<br />

THEATER Der Messias / G. F. Händel<br />

11.10. MEININGEN STAATSTHEATER<br />

Der Mann von La Mancha / Mitch Leigh<br />

12.10. DORTMUND THEATER<br />

Jekyll & Hyde / Frank Wildhorn<br />

12.10. ESSEN AALTO THEATER<br />

Pique Dame / Peter Tschaikowsky<br />

12.10. KAISERSLAUTERN<br />

PFALZTHEATER<br />

Tell Me on a Sunday / A. L. Webber<br />

12.10. KASSEL KOMISCHE OPER<br />

Cavalleria rusticana / Pietro Mascagni,<br />

Pagliacci / Ruggero Leoncavallo<br />

12.10. KÖLN OPER<br />

Barkouf ou un chien au pouvoir /<br />

Jacques Offenbach<br />

12.10. LEIPZIG OPER<br />

Zorbas / Balkanfeuer / Mirko Mahr<br />

12.10. LÜBECK THEATER<br />

Christoph Colombe / Darius Milhaud<br />

12.10. MÜNSTER STAATSTHEATER<br />

Medea / Thomas Noone<br />

13.10. BERN (CH) STADTTHEATER<br />

Il barbiere di Siviglia / Gioachino Rossini<br />

17.10. WIEN (AT) THEATER AN DER<br />

WIEN La clemenza di Tito / W. A. Mozart<br />

<strong>19</strong>.10. KARLSRUHE BADISCHES<br />

STAATSTHEATER Faust / Ch. Gounod<br />

TEUFLISCHE KLÄNGE<br />

Mikhail Pochekin<br />

Ein Traum inspirierte Giuseppe Tartini zu seiner Sonate Teufelstriller.<br />

Im Bund mit dem Teufel spielte ihm dieser auf der Geige vor, und<br />

zwar so wundervoll, wie Tartini es noch nie zuvor gehört hatte.<br />

Nach dem Erwachen schrieb er die diabolische Musik nieder. Der<br />

Geiger Mikhail Pochekin und der Pianist Dmitry Mayboroda steigern<br />

die innigen Klänge, mit denen das Stück anhebt, bis zu den teuflischen<br />

Trillern im dritten Satz. Pochekin, <strong>19</strong>90 in Madrid als Sohn<br />

einer Musikerfamilie geboren, ist Preisträger mehrerer Wettbewerbe.<br />

Mit Johann Sebastian Bachs Zweiter Partita gibt er eine<br />

Kostprobe seines jüngst erschienenen Debütalbums, auf dem er mit<br />

seinem „klar konturierten Ton“ und seiner „frei von hörbaren<br />

Mühen“ ausformulierten Interpretation der Bach’schen Meisterstücke<br />

beeindruckt. Nach der Zweiten Solo-Etüde, in der Jörg Widmann<br />

„eine Reise von einem dreistimmigen Choral bis zu wild<br />

entfesselter Virtuosität“ unternimmt, widmet sich Pochekin mit<br />

Mayboroda der Ersten Sonate von Robert Schumann. Mayboroda,<br />

<strong>19</strong>93 als Sohn einer Geigerfamilie in Moskau geboren, ist ebenfalls<br />

Preisträger zahlreicher Wettbewerbe. Der Auftritt der beiden<br />

Musiker erfolgt im Rahmen der von Andreas Krause gegründeten<br />

Reihe Winners & Masters. Sie bietet jungen Talenten, die gerade einen<br />

Wettbewerb gewonnen haben, ein Podium.<br />

München, Kleiner Konzertsaal im Gasteig, www.gasteig.de<br />

FOTO: EVGENY EVTYUKHOV<br />

CARMINA BURANA MEETS BEST OF 25<br />

JUBILÄUMSKONZERTE »25 JAHRE BAYERISCHE PHILHARMONIE«<br />

10. Orff-Tage der Bayerischen Philharmonie<br />

3. <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong> | Bamberg, Konzerthalle<br />

4. <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong> | München, Carl-Orff-Saal im Gasteig<br />

5. <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong> | Füssen, Ludwigs Festspielhaus<br />

Robeat, Martin Schmitt, Enkhjargal Dandarvaanchig u.v.m.<br />

Mark Mast Dirigent und Gesamtleitung<br />

www.bayerische-philharmonie.de<br />

Tickets: info@bayerische-philharmonie.de | Bamberg: www.bvd-ticket.de, www.reservix.de<br />

München: www.muenchenticket.de | Füssen: www.muenchenticket.de, www.eventim.de<br />

21. Weidener Max-Reger-Tage<br />

14. <strong>September</strong> bis 6. <strong>Oktober</strong><br />

Kammermusik- und Liederabende,<br />

Chor- und Orgelkonzerte<br />

u.a. mit Tanja Becker-Bender, Minguet<br />

Quartett, Dietrich Henschel, Ensemble<br />

BachWerkVokal und Humboldt Quartett<br />

www.maxregertage.de<br />

Telefon 0961 81-4122<br />

45


E R L E B E N<br />

KÜNSTLER<br />

KIT ARMSTRONG<br />

13.9. Putbus, Marstall<br />

14.9. Ahrensburg, Eduard-Söring-Saal<br />

29.9. Laupheim, Kulturhaus<br />

29.9. Straubing, Herzogschloss<br />

3.10. Trier, Abteikirche St. Maximin<br />

9. und 10.10. Heidelberg, Neue Univ.<br />

13.10. München, Prinzregententheater<br />

CHRISTIAN GERHAHER<br />

9. bis 14.9. Klais-Elmau, Schloss Elmau<br />

20.9. Hohenems, Markus-Sittikus-Saal<br />

23.9. Berlin, Pierre Boulez Saal<br />

25.9. Bonn, Forum der Bundeskunsthalle<br />

27.9. Dortmund, Konzerthaus<br />

2.10. Wien (AT), Konzerthaus<br />

HÉLÈNE GRIMAUD<br />

8.10. München, Philharmonie Gasteig<br />

THOMAS HENGELBROCK<br />

27.9. Hamburg, Laeiszhalle<br />

28.9. Bremen, Die Glocke<br />

29.9. Neumarkt, Reitstadel<br />

DANIEL HOPE<br />

13.9. Berlin, Konzerthaus<br />

14.9. und 5.10. Dresden, Frauenkirche<br />

13.10. Münster, Theater<br />

IGOR LEVIT<br />

18. und <strong>19</strong>.9. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

22.9. Osnabrück, Theater am Domhof<br />

7.10. Köln, Philharmonie<br />

9.10. Wien (AT), Musikverein<br />

12.10. München, Prinzregententheater<br />

11. <strong>September</strong><br />

BERLIN NOTTURNO<br />

Die Notturno-Kammerkonzerte feiern ihr<br />

zehntes Jubiläum. Dreimal pro Saison lädt das<br />

Deutsche Symphonie-Orchester Berlin mit der<br />

Stiftung Preußischer Kulturbesitz in die Berliner<br />

Räume der Kunst und des Wissens. Nach einer<br />

nächtlichen Führung durch die Sammlungen gibt<br />

es Musik in unterschiedlichen Besetzungen. Das<br />

Jubiläumskonzert findet auf der Museumsinsel im Neuen Museum statt,<br />

dessen Exponate die Entwicklung frühzeitlicher Kulturen vom Vorderen<br />

Orient bis zum Atlantik und von Nordafrika bis Skandinavien nachzeichnen.<br />

Robin Ticciati (Foto) dirigiert Brett Deans Streicherstück Testament, in<br />

dem dieser, angeregt von Beethovens nie abgeschicktem Brief an seine Brüder,<br />

dessen Hörleiden klanglich darstellt. Der Schauspieler Mark Waschke<br />

liest aus dem Heiligenstädter Testament, in dem Beethoven verzweifelt von<br />

seiner Taubheit und seiner Angst vor dem Tod erzählt.<br />

Berlin, Neues Museum, www.dso-berlin.de<br />

27. <strong>September</strong><br />

KÖLN RICHARD SIEGAL<br />

SHEKU KANNEH-MASON<br />

9.10. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

10.10. Köln, Philharmonie<br />

11.10. Baden-Baden, Festspielhaus<br />

DANIEL MÜLLER-SCHOTT<br />

6. und 7.10. Hohenems (AT),<br />

Markus-Sittikus-Saal<br />

9.10. Vevey (CH), Salle del Castillo<br />

13.10. Frankfurt, MuseumsSalon<br />

16.10. Heilbronn, Konzert- und<br />

Kongresszentrum Harmonie<br />

MARLIS PETERSEN<br />

<strong>19</strong>.9. Berlin, Philharmonie<br />

5., 9. und 13.10. München,<br />

Nationaltheater<br />

RAGNA SCHIRMER<br />

13.9. Koblenz, Rhein-Mosel-Halle<br />

14.9. Mainz, Kurfürstliches Schloss<br />

21. und 22.9. Blankenburg,<br />

Kloster Michaelstein<br />

24.9. Heringsdorf, Steigenberger<br />

29.9. Altenburg, Residenzschloss<br />

4.10. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

11.10. Oberhausen, CongressCentrum<br />

12.10. Kiel, Schloss<br />

JULIAN STECKEL<br />

8. und 9.9. Halle, Oper<br />

15.9. Schöntal, Kloster<br />

22.9. Vaterstetten, Seniorenwohnpark<br />

29.9. Wiesloch, Palatin<br />

3.10. Großschönau, Kirche<br />

12.10. Icking, Rilke-Gymnasium<br />

EMMANUEL TJEKNAVORIAN<br />

12. und 13. 9. Göttingen, Univ.<br />

14.9. Osterode, Stadthalle<br />

Merce Cunningham war der einflussreichste Choreograf<br />

des 20. Jahrhunderts. Seine Arbeiten veränderten<br />

die Tanzlandschaft und wirken bis heute<br />

fort. Mit seinem Lebenspartner John Cage schuf<br />

er faszinierende Tanzereignisse, die Zeit- und<br />

Raumvorstellungen aufbrachen. Anlässlich der<br />

100. Wiederkehr von Cunninghams Geburtstag<br />

bringt ihm Richard Siegal (Foto) mit seiner Kompanie Ballet of Difference<br />

eine Hommage dar. New Ocean (the natch’l Blues) ist inspiriert von Ocean,<br />

jener Arbeit, die Cage und Cunningham <strong>19</strong>90 in Angriff nahmen und für das<br />

sie eine Struktur konzentrischer Kreise entwarfen. Cunningham konzipierte<br />

128 verschiedene Bewegungsphasen, durch die alle Tänzer in einer<br />

Die Bakchen des Euripides in ein modernes Musikdrama zu verwandeln<br />

und dieses nach dem Aischylos-Fragment aus dem Lykurgos-<br />

Zyklus Bassarai (Fuchsfelljägerinnen) zu nennen – diese Idee sei von<br />

W. H. Auden gekommen, berichtet Hans Werner Henze in seinen<br />

Autobiographischen Mitteilungen. Er sei sofort begeistert gewesen von<br />

der szenischen Situation, die der Librettovorschlag von Auden und<br />

Chester Simon Kallman geboten habe. In seiner Partitur zu The<br />

Bassarids habe er darzustellen versucht, „wie das Tonmaterial des<br />

Gottes Dionysos langsam, lockend, listig und am Ende dann auch äußerst<br />

gewalttätig die mönchisch-keusche Klangwelt des Pentheus<br />

vernichtet“. Den beiden Gegenspielern Pentheus und Dionysos ordnet<br />

Henze jeweils eine Zwölftonreihe zu. Die beiden Bereiche greifen<br />

ineinander, bis das Dionysische die Oberhand gewinnt und das<br />

Klangmaterial des Pentheus zum Verschwinden bringt. Vorangestellt<br />

ist der Partitur ein Zitat Gottfried Benns: „Der Mythos log.“ Habe<br />

das 18. Jahrhundert es als erwiesen erachtet, dass in einem Konflikt<br />

zwischen Vernunft und Unvernunft die Verunft zu siegen habe, so<br />

wisse man heute, dass ganze Gesellschaften vom „Dämon“ befallen<br />

werden könnten. Barrie Kosky, der Intendant des Hauses, setzt das<br />

Werk mit Vladimir Jurowski am Pult in Szene. Dionysos und Pentheus<br />

verkörpern Sean Panikkar und Günter Papendell.<br />

Berlin, Komische Oper, 13. (Premiere), 17. und 20.10., 2., 5. und 10.11. sowie<br />

26.6., www.komische-oper-berlin.de<br />

ständigen Kreisbewegung gehalten wurden. Cage stellte sich ein Orchester<br />

vor, dessen 150 Musiker jeweils eine eigene Partitur spielen sollten. Für<br />

seine Choreografie entwirft Siegal eine elektroakustische Komposition, die<br />

mit Originalaufnahmen von Cages Musik arbeitet.<br />

Köln, Schauspiel, 27. (Premiere), 28. und 29.9., www.schauspiel.koeln<br />

Bis 29. <strong>September</strong><br />

RUHRTRIENNALE<br />

13. <strong>Oktober</strong>, Berlin<br />

„DER MYTHOS LOG“<br />

Vladimir Jurowski<br />

Mit Rosen aus dem Süden beschließt das Klangforum<br />

Wien (Foto) sein dreitägiges Gastspiel<br />

beim Festival Ruhrtriennale. Es erinnert damit<br />

an Arnold Schönbergs Initiative, „Künstlern und<br />

Kunstfreunden eine wirklich genaue Kenntnis<br />

moderner Musik zu schaffen“. Um seinen Fonds<br />

aufzufüllen, lud der Verein für musikalische<br />

Privataufführungen <strong>19</strong>21 zu einem Konzert mit vier Walzern von Johann<br />

Strauß. Außerdem gab es eine „Lizitation“ der Arrangements. Das Klangforum<br />

Wien unter der Leitung von Sylvain Cambreling spielt jene Walzer<br />

in der Schönberg’schen Bearbeitung. Eingebettet in die süßen Melodien<br />

erklingen Ebe und anders, das Pierluigi Billone dem Posaunisten Andreas<br />

Eberle vom Klangforum gewidmet hat, D’après, in dem Clara Iannotta<br />

den Nachhall von Klängen in der Erinnerung erforscht, Archeologia del<br />

telefono, mit dem Salvatore Sciarrino die eigene Gegenwart in anderen<br />

zeitlichen Zusammenhängen betrachtet, sowie die Uraufführung einer<br />

neuen Komposition von Martino Traversa.<br />

Essen u .a., verschiedene Spielorte, www.ruhrtriennale.de<br />

FOTO: DREW KELLEY IMG ARTISTS<br />

FOTOS: FLORIAN LIEDEL; MARCO BORGGREVE; RÜDIGER SCHESTAG; MET IM KINO; SIMON PAULY; LAURENT PHILIPPE; WALTER GLÜCK; MARCO BORGGREVE; LUIS ALBERTO RODRIGUEZ; KLANGFORUM WIEN; KIRAN WEST;<br />

JUNGE KAMMERPHILHARMONIE BERLIN; LEONIE TREFFLINGER; JEANLOUIS FERNANDEZ<br />

46 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


27. bis 29. <strong>September</strong><br />

BADEN-BADEN JOHN NEUMEIER<br />

In John Neumeiers szenischer Interpretation<br />

von Christoph Willibald Glucks Oper Orphée et<br />

Eurydice tritt Orphée als Ballettchef auf. Wenn<br />

der Vorhang sich öffnet, blickt das Publikum in<br />

einen Ballettsaal. Fasziniert von Arnold Böcklins<br />

Toteninsel will Orphée das Gemälde mit seiner<br />

Frau, der Tänzerin Eurydice, choreografieren.<br />

Bereits seit vielen Jahren begleitet Neumeier der mythologische<br />

Stoff. Für seine Hamburger Inszenierung, die im Rahmen der Herbstfestspiele<br />

in Baden-Baden zu sehen ist, entwarf er das Bühnenbild, die<br />

Kostüme und das Lichtkonzept. Am Pult des Freiburger Barockorchesters<br />

und des Vokalensembles Rastatt steht Alessandro De Marchi.<br />

Orphée tanzen alternierend Dmitry Korchak und Maxim Mironov. Arianna<br />

Vendittelli verkörpert Eurydice, und diese muss auch nicht in der<br />

Unterwelt bleiben. Denn am Ende war bei Neumeier alles nur ein Traum.<br />

Baden-Baden, Festspielhaus, www.festspielhaus.de<br />

9. <strong>Oktober</strong><br />

BERLIN DIALOG DES UNTERSCHIEDLICHEN<br />

Das Lied von der Erde brachte die Sängerin Sarah<br />

van der Kemp auf eine musikalische Dialogidee.<br />

Mahler komponierte den sinfonischen Zyklus<br />

nach Gedichten aus Hans Bethges Sammlung<br />

Die chinesische Flöte. Er schuf damit eine Verbindung<br />

zwischen abendländischem Komponieren<br />

und fernöstlicher Klangwelt. Van der Kemp begeisterte<br />

die Junge Kammerphilharmonie Berlin (Foto) dafür, diesen<br />

„Dialog des Unterschiedlichen“ fortzuführen. In dem von ihnen entworfenen<br />

Projekt tritt Mahlers Werk in Dialog mit drei neuen Solokompositionen<br />

von Nathan Currier, Peter Eötvös und Toshio Hosokawa. Das<br />

Projekt begreift sich als offener Prozess, der sich mit verschiedenen Musikern<br />

und Komponisten sowie an verschiedenen Orten fortsetzen soll.<br />

Die einzige Konstante ist Das Lied von der Erde. Zu den Mitwirkenden<br />

des Auftakts gehören die Altistin van der Kemp, der Tenor Yiwei Xu,<br />

die Harfenistin Marie-Pierre Langlamet, die Geigerin Nurit Stark und<br />

der Oboist Dominik Wollenweber. Am Pult steht Aurélien Bello.<br />

Berlin, Philharmonie, 9.10., Wiesbaden, Kurhaus, 12.10., www.jkp.berlin<br />

11. bis 30. <strong>September</strong><br />

DÜSSELDORF FESTIVAL!<br />

Ein plötzlich auftauchendes Fragment des<br />

Gilgamesch-Epos inspirierte Akram Khan zu<br />

seinem Tanzstück Outwitting the Devil (Den<br />

Teufel überlisten). Schmuggler boten 2011 dem<br />

archäologischen Museum von Sulaimaniyya eine<br />

Tontafel an, auf der Wissenschaftler 20 bislang<br />

unbekannte Zeilen jener ältesten festgehaltenen<br />

Dichtung der Menschheit fanden. Khan richtet in seiner Choreografie<br />

den Blick von heute auf den Fund. Er zeigt Menschen, die zwischen<br />

den Scherben ihrer Überlieferung leben, gefallenen Götterbildern<br />

und zerbröckelnden Tontafeln, auf denen die alten Weisheiten nicht<br />

mehr zu entziffern sind. Verzweifelt versuchen sie, die Lücke in ihrem<br />

Gedächtnis zu schließen. Zeitgenössische Tanzformen verbindet Khan<br />

mit dem nordindischen Kathak. Dieser Tanz, der stampfend in den<br />

Boden hineingetanzt wird und sich durch ausgefeilte Fußarbeit auszeichnet,<br />

ist eng mit dem Mythos verbunden. Er entwickelte sich ab dem<br />

13. Jahrhundert in Zusammenhang mit der sogenannten Bhakti-Bewegung,<br />

die Erlösung durch Liebe propagierte und das Ideal der Gewaltlosigkeit<br />

im Hinduismus erneuerte. Khan zeigt sein Stück mit seiner<br />

Compagnie beim düsseldorf festival!, das Künstlern eine Bühne bietet,<br />

die Grenzlinien zwischen den Kunstformen erkunden. Zu den Gästen<br />

gehören auch Mourad Merzouki und seine Compagnie Käfig mit Vertikal<br />

(siehe S. 6).<br />

Düsseldorf, verschiedene Spielorte, www.duesseldorf-festival.de<br />

Ioan-Holender-Kolumne<br />

DAS KÜNSTLERISCHE<br />

GEWISSEN<br />

Fragt man Direktoren der weltberühmtesten Opernhäuser,<br />

wieso der eine oder andere Sänger für eine Rolle<br />

engagiert wurde, bekommt man meistens die Antwort,<br />

weil der Betreffende ein „Ticketseller“ oder „Kartenverkäufer“<br />

sei. Ob gut, ob schlecht, ob für die entsprechende Rolle<br />

geeignet oder nicht, ob das gespielte Werk von Relevanz ist<br />

oder nicht, spielt keine Rolle. Der Engagierte ist beim breiten<br />

Publikum bekannt, und dieses kauft Karten, um ihn zu hören.<br />

Es ist irrelevant, ob es sich um einen – derzeit Baritonpartien<br />

singenden – alten, früheren Tenor handelt oder um eine<br />

kühle, schöne, oft abgebildete Mezzosopranistin oder aber<br />

um eine neuerdings mit einem durchschnittlich singenden<br />

Tenor vermählte hervorragende Sopranistin; diese Sänger<br />

kennt man, daher engagiert „man“ sie.<br />

Dieser alles dominierende Kartenverkaufsrausch, der<br />

natürlich keinerlei künstlerische Qualitätsargumente kennt,<br />

geht in seiner Vernichtung – vor allem was das künstlerische<br />

Gewissen betrifft – aber noch weiter. Die wenigen „Ticketseller“<br />

bestimmen auch die Werke, in denen sie bereit sind<br />

aufzutreten, und es sollen nach Möglichkeit auch immer und<br />

überall dieselben sein. Wenn ein schöner, romantisch aussehender<br />

Tenor einmal eine dankbare Rolle in einer sogenannten<br />

italienischen Schnulzenoper singen will, setzen<br />

bedeutende Opernhäuser das Werk sofort auf den Spielplan,<br />

und wenn der Bariton gewordene alte Tenor noch eine<br />

entsprechende, ihm zumutbare Gesangspartie findet, wird<br />

das Werk sogar bei den berühmtesten Festspielen weltweit,<br />

natürlich konzertant, aufgeführt.<br />

Konzertant, was man heute halbszenisch nennt, ist<br />

überhaupt die beliebteste Darstellungsform von Bühnenwerken<br />

geworden. Man spart damit viele Kosten, überbeansprucht<br />

das Auditorium nicht mit Inszenierungen, und vor<br />

allem – sehr wichtig – benötigen jene, um derentwillen man<br />

das unwichtige Werk aufführt, keine lange Probenzeit. Während<br />

die wenigen auserkorenen „Ticketseller“ immer höhere<br />

und im Vergleich zu allen anderen und angesichts ihrer eigenen<br />

Leistung unverschämte Honorare aus Steuergeldern<br />

kassieren, die für Theaterbudgets vorgesehen sind, lässt die<br />

gleiche Kulturpolitik, die diese Vorgangsweise akzeptiert, die<br />

kleinen und mittleren Stadttheater, in welchen die zukünftigen<br />

Sängergenerationen entstehen, aushungern.<br />

„kulTOUR mit Holender“ auf<br />

ServusTV Deutschland:<br />

5. und 8.9. Momo oder Was ist Kinderoper?<br />

13. und 15.9. Oman – Im Lande des Musik-Sultans<br />

20. und 22.9. Tiflis – Kulturzentrum am Kaukasus<br />

27. und 29.9. Tokio – Kultur in Fernost<br />

47


E R L E B E N<br />

Die Zugangstreppe ins asymmetrisch geformte Foyer des Festspielhauses,<br />

dessen eigenwillige Geometrie aus der Landschaft entwickelt wurde<br />

FOTOS: TIROLER FESTSPIELE ERL<br />

EINE NEUE GENERATION<br />

BEGNADETER MUSIKER<br />

Mit romantischer Musik an der Schwelle zur Moderne feiern<br />

die Tiroler Festspiele Erl Erntedank.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

Auf eine reiche künstlerische Ernte können die Tiroler Festspiele<br />

Erl nach einem Festspielsommer mit anregenden Uraufführungen,<br />

Wiederentdeckungen und Neuinszenierungen zurückblicken. Mit<br />

einem Wochenende voller Musik feiern sie Erntedank. Das einstimmende<br />

Programm des ersten Abends lässt freudige Dankbarkeit<br />

und melancholische Stimmung über das Ende des Sommers<br />

anklingen. Valentin Uryupin steht am Pult des Festspielorchesters.<br />

Der aus Russland stammende Dirigent war zunächst weltweit als<br />

gefeierter Klarinettist zu erleben, ehe er das Dirigentenpult für sich<br />

entdeckte. 2017 gewann er den Dirigentenwettbewerb Sir Georg<br />

Solti, und seither dirigiert er in aller Welt. Nach Erl kommt er mit<br />

Anatoli Ljadows stimmungsvollem Märchenbild Der verzauberte<br />

See und Jean Sibelius’ dunkel schwermütiger Erster Sinfonie. Die<br />

glutvollen Melodien von Sibelius’ Violinkonzert bringt Timothy<br />

Chooi, Preisträger des Joseph Joachim Violinwettbewerbs, aus<br />

Kanada zum Klingen.<br />

Mit vier Konzerten an einem Tag stellen die Festspiele ein<br />

neues Format vor, in dessen Rahmen jährlich ein Komponist porträtiert<br />

wird. In diesem Jahr ist es Frédéric Chopin. „Von Polen in<br />

die Pariser Salons“ beleuchtet einen bedeutsamen Lebensabschnitt<br />

des Komponisten, in dem dieser 20-jährig nach Paris aufbrach, um<br />

seine Kompositionen zu verbreiten, und sich krank vor Heimweh<br />

als Emigrant wiederfand. Chopins Instrument ist das Klavier, und<br />

seine Kompositionen versprechen Sternstunden für jeden Pianisten.<br />

Der Samstag bietet Gelegenheit, eine neue Generation begnadeter<br />

Pianisten kennenzulernen. Mit seinen 12 Etüden op. 25, dem ehrgeizigsten<br />

Werk seiner frühen Pariser Jahre, fand Chopin Eingang<br />

in die Szene der Klavier-Titanen und eroberte die Pariser Salons.<br />

48 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


Mariam Batsashvili<br />

Claire Huangci<br />

Anna Gabler<br />

Valentin Uryupin<br />

FOTOS: MILENA SCHLOESSER; JOSEF FISCHNALLER; EVGENY EVTYUKHOV; GREGOR HOHENBERG<br />

„Ich bin in der besten Gesellschaft eingeführt, sitze zwischen Botschaftern,<br />

Fürsten, Ministern“, schrieb er 1833 an seinen Jugendfreund.<br />

Mariusz Kłubczuk, der an der Frédéric-Chopin-Musikuniversität<br />

in Warschau studierte, als Solorepetitor an der Frankfurter<br />

Oper tätig ist und als Solist, Liedbegleiter und Kammermusikpartner<br />

durch Europa tourt, widmet sich Chopins Etüden-Zyklus.<br />

Chopin brachte es in Paris zu Ruhm und Reichtum. Aber die<br />

Sehnsucht nach der polnischen Heimat und die Tuberkulose vollzogen<br />

ihr schmerzvolles Zerstörungswerk an ihm. Nach der Niederschlagung<br />

des Warschauer Aufstands und der Russifizierung des<br />

sogenannten Kongress-Polens unter Zar Nikolaus I. sah er sich vor<br />

die Entscheidung gestellt, ob er sich als loyaler Untertan des Zaren<br />

erweisen und in der Botschaft des Zaren eine Verlängerung seines<br />

polnischen Passes beantragen solle. Sein Vater beschwor ihn, dies<br />

zu tun. „Versäume das nicht, ich bitte dich“, schrieb er 1834 in einem<br />

Brief. Er wünsche nicht, dass sein Sohn „zu der Zahl der Flüchtlinge“<br />

gerechnet werde. Chopin aber hatte bereits anders entschieden.<br />

Damit erhielt er den Status eines Emigranten, und der Rückweg<br />

in die polnische Heimat war ihm verwehrt. Mariam Batsashvili aus<br />

Georgien, die 2014 den Franz Liszt Klavierwettbewerb in Utrecht<br />

gewann und seit 2017/18 BBC New Generation Artist ist, zeigt ihre<br />

Meisterschaft mit der Grande Polonaise brillante op. 22. Ihre ausgedehnten,<br />

rasenden Läufe und drängenden Tanzrhythmen ließen<br />

diese Polonaise zu den anspruchsvollsten Klavierwerken Chopins<br />

werden. Ebenfalls auf dem Programm hat Batsashvili Sechs polnische<br />

Lieder op. 24, arrangiert von Franz Liszt, die<br />

Chopin, inspiriert von volksliedhaften Motiven,<br />

noch in Warschau komponierte.<br />

1842 trat Chopin in eine neue Schaffensphase<br />

ein, die gekennzeichnet war von einer besonderen<br />

ästhetischen Aura und Ausdruckskraft. Mélodie<br />

ERNTEDANK IN ERL<br />

4. bis 6. <strong>Oktober</strong><br />

Informationen und Kartenservice:<br />

karten@tiroler-festspiele.at<br />

www.tiroler-festspiele.at/erntedank<br />

Zhao aus der Schweiz, die bereits mit 13 Jahren ihr erstes Album<br />

dem Werk Chopins widmete, wendet sich den Kompositionen dieses<br />

stilistischen Übergangs zu. Sie spielt das Scherzo Nr. 2 op. 31 und<br />

die Ballade Nr. 3 op. 47, die eine Vielfalt an glanzvollen Farben und<br />

Gefühlen aufweisen, sowie die Ballade Nr. 4 op. 52 und die Sonate<br />

Nr. 3 op. 58, die gekennzeichnet sind von jener neuen Tiefgründigkeit<br />

und Erhabenheit. Musik zu spielen, an die man sich erinnere,<br />

weil „sie so berührend war“, ist das Anliegen von Claire Huangci.<br />

Die Pianistin aus den USA, die schon als Kind mit außergewöhnlicher<br />

Virtuosität beeindruckte und 2011 als jüngste Teilnehmerin<br />

den zweiten Preis beim ARD-Musikwettbewerb gewann, legte 2017<br />

eine Einspielung mit Chopins Nocturnes vor. Neben den Drei<br />

Nocturnes op. 9 bringt sie nach Erl auch die 24 Préludes op. 28, die<br />

Chopin auf Mallorca komponierte. Verbunden durch ein Grundmotiv,<br />

stellen sie mit ihrem breitgefächerten Spektrum an Gefühlen<br />

und psychischen Zuständen musikalische Erkundungen der<br />

menschlichen Seele dar.<br />

Zum Ausklang des Erntedankfests singt in einer sonntäglichen<br />

Matinee, begleitet vom Festspielorchester unter Lothar Koenigs, die<br />

Sopranistin Anna Gabler Ausschnitte aus Richard Strauss’ letzter<br />

Oper Capriccio. Über die weitgeschwungenen Melodien der Orchesterlieder<br />

von Joseph Marx schlägt das Programm einen Bogen zu<br />

Arnold Schönbergs Pelleas und Melisande. Richard Strauss hatte<br />

Schönberg dazu angeregt, eine sinfonische Dichtung zu komponieren.<br />

Schönberg verwendet das gewaltige Orchester der Spätromantik.<br />

Er steht noch unter dem Einfluss Richard Wagners.<br />

Doch kündigen sich in ihm bereits die<br />

Moderne und der Weg in die Neue Musik des 20.<br />

Jahrhunderts an, und der Kreislauf setzt sich fort.<br />

Auf die Ernte folgt die Saat, die wiederum neue<br />

Frucht hervorbringt.<br />


E R L E B E N<br />

INSPIRIERENDE<br />

OFFENHEIT<br />

Chefdirigent Christoph Koncz lenkt gemeinsam mit Isabelle van Keulen als künstlerischer<br />

Leiterin die musikalischen Geschicke der Deutschen Kammerakademie Neuss<br />

am Rhein. Orchestermanager Martin Jakubeit verspricht eine ereignisreiche Saison.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

Christoph Koncz<br />

Deutsche Kammerakademie Neuss<br />

Isabelle van Keulen<br />

Mit einer besonderen Uraufführung eröffnet die Deutsche Kammerakademie<br />

Neuss am Rhein ihre neue Saison. Der mehrfach preisgekrönte<br />

Komponist Bernd Franke schreibt ARKA, drei Rituale für<br />

Pipa, Oboe, Streicher, Pauke und Schlagzeug. Seit den <strong>19</strong>90er-Jahren<br />

unternimmt Franke ausgedehnte Reisen durch Südostasien und sammelt<br />

Eindrücke alternativer Musizierstrukturen, die er in seinen<br />

Werken zur Anwendung bringt. Die eigentümliche Klangfarbe der<br />

chinesischen Laute Pipa, die über einen kräftigen, mitunter scharfen<br />

Ton verfügt, vermittelt in Verbindung mit den Streichern ein außergewöhnliches<br />

Klangerlebnis. Für solche sorgt desgleichen die Geigerin<br />

Isabelle van Keulen, die vor zwei Jahren als Artist in Residence<br />

die künstlerische Leitung der Kammerakademie übernahm und nach<br />

der Bestätigung in ihrem Amt auch während der nächsten drei Jahre<br />

zumeist die Streicherkonzerte leiten und jenen wunderbar transparenten<br />

Streicherklang pflegen wird, dem das Orchester sein hervorragendes<br />

Renommee verdankt und der es zu einer der führenden<br />

Kammermusikformationen werden ließ. Umrahmt wird van Keulens<br />

Eröffnungsabend vom Einleitungssextett zur Oper Capriccio und der<br />

Streicherstudie Metamorphosen von Richard Strauss.<br />

Durch die Deutsche Kammerakademie fördert die Stadt Neuss<br />

junge hochbegabte Musiker, die kurz vor dem Abschluss ihres<br />

Musikstudiums stehen. Sie musizieren gemeinsam mit erfahrenen<br />

Kollegen, und dieses Zusammenwirken mit immer neu hinzukommenden<br />

jungen Musikern bringt Anregungen, schafft inspirierende<br />

Offenheit und Freimut sowie die Bereitschaft,<br />

sich mit Begeisterung neuen Kompositionen<br />

zuzuwenden. Im Laufe ihres über 40-jährigen<br />

Bestehens hat die Kammerakademie eine Reihe<br />

von vergessenen Werken wieder zum Klingen<br />

gebracht sowie zahlreiche neue Kompositionen<br />

DEUTSCHE KAMMERAKADEMIE<br />

NEUSS AM RHEIN<br />

Saison 20<strong>19</strong>/2020<br />

Informationen und Kartenservice:<br />

www.deutsche-kammerkadademie.de<br />

uraufgeführt. Das breitgefächerte Repertoire erstreckt sich auf den<br />

Podien der Welt und im Tonstudio vom Barock bis zur Avantgarde.<br />

Ab dieser Saison hat das Orchester nun auch einen neuen Chefdirigenten.<br />

Christoph Koncz, der Stimmführer der zweiten Geigen<br />

bei den Wiener Philharmonikern, wurde mit diesen Aufgaben<br />

betraut. Er übernimmt die großen sinfonischen Projekte, da runter<br />

die sommerliche Klassiknacht im Rosengarten und das Neujahrskonzert,<br />

das den Neusser Auftakt zum 250. Geburtstag von Ludwig<br />

van Beethoven bildet.<br />

Darüber hinaus sorgen international tätige Dirigenten für<br />

musikalische Abwechslung. So kehrt Lavard Skou Larsen, der langjährige<br />

Chefdirigent des Orchesters, an seine einstige Wirkungsstätte<br />

zurück. Im Gepäck hat er Werke von Mozart, Chopin, Guillaume<br />

Lekeu sowie den Zyklus Die Torten von Hukváldy, Diego<br />

Contis Hommage an den Geburtsort von Leoš Janáček. Der Cellist<br />

Marc Coppey leitet ein klassisch-romantisches Gipfeltreffen mit<br />

Étienne-Nicolas Méhuls Ouvertüre zu seiner Oper Die Amazonen<br />

oder die Gründung Thebens sowie Werken von Beethoven und Schumann.<br />

Isabelle van Keulen huldigt mit der Pianistin Ulrike Payer,<br />

dem Bandoneonspieler Christian Gerber und dem Kontrabassisten<br />

Rüdiger Ludwig der Tango-Leidenschaft. Und zum Abschluss der<br />

Saison gibt der Geiger, Dirigent und Komponist Henning Kraggerud<br />

mit Musik aus dem Norden ein Gastspiel. Auf seinem Programm<br />

stehen Werke von Kurt Atterberg, Johan Halvorsen und Edvard<br />

Grieg sowie eine eigene Komposition. Mit ihr<br />

erinnert er an den Dichter Zacharias Topelius<br />

und setzt sich mit Ragnarök auseinander, jener<br />

Sage aus der nordischen Mythologie, die vom<br />

Untergang der alten Welt erzählt und vom Auferstehen<br />

einer neuen kündet.<br />

■<br />

FOTO: DEUTSCHE KAMMERKAKADEMIE NEUSS; NIKOLAJ LUND; BENJAMIN MORRISON<br />

50 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


SCHWERPUNKT<br />

KLAVIER!<br />

Nicht nur eine Frage des Geschmacks: die Giganten Steinway, Bösendorfer und Bechstein (Seite 54)<br />

Martha Argerich und Sophie Pacini sind mehr als nur Kolleginnen (Seite 60)<br />

Jazzpianist Ralf Schmid und sein ungewöhnliches Projekt zwischen zwei Flügeln: „Pyanook“ (Seite 66)<br />

Die 88-Tasten-Tabelle<br />

VON STEFAN SELL<br />

Rohe Kräfte Rekordverdächtig Kurios<br />

Klavier<br />

Zerhacken, verbrennen, in Milch<br />

tränken, „es gibt viele verschiedene<br />

Arten ein Klavier zu<br />

zerstören“, sagt die Künstlerin<br />

Andrea Büttner mit ihrer Videoinstallation<br />

Piano Destructions<br />

und hinterfragt Geschlechterrollen.<br />

Man sieht simultan Männer,<br />

die Klaviere kaputt machen, und<br />

Frauen, die Klaviere spielen.<br />

Der Sphinx-Flügel<br />

aus dem<br />

Hause Bechstein<br />

gilt mit einem<br />

derzeitigen Kaufpreis<br />

von einer<br />

Million Euro als der wohl teuerste<br />

Flügel der Welt. Sphinxleuchter<br />

aus 24-karätigem Gold<br />

flankieren die Tasten des teuren<br />

Klangkastens aus europäischem<br />

Tonholz im Mahagonikleid.<br />

Der „Quattrochord-Super-<br />

Flügel“ aus der Werkstatt<br />

des Klavierbauers August<br />

Förster hat die Besonderheit,<br />

mit einer Taste statt drei, vier<br />

Saiten anschlagen zu können.<br />

Kurios, dass die Nazis in ihrem<br />

Größenwahn dachten, mit<br />

diesem 700 Kilogramm schweren<br />

Instrument Steinway ausstechen<br />

zu können.<br />

Klavierspiel<br />

Clara Wieck erlebte in Wien 1838<br />

Liszt im Konzert. Drei Flügel<br />

hat der Virtuose verschlissen:<br />

„Alle drei zerschlagen. Aber alles<br />

genial.“ Heine: „... daß Franz Liszt<br />

kein stiller Klavierspieler für<br />

ruhige Staatsbürger und gemüthliche<br />

Schlafmützen seyn kann,<br />

das versteht sich von selbst.“<br />

Ist der Ungar Peter Bence mit<br />

765 Anschlägen pro Minute<br />

der schnellste? Oder der Kroate<br />

Maksim Mrvica mit 16 Tönen pro<br />

Sekunde, also 960 Anschlägen pro<br />

Minute? Oder der ukrainische<br />

Jazzpianist Lubomir Melnik, der<br />

<strong>19</strong>,5 Töne pro Sekunde spielt? Das<br />

wären, wenn er nicht schummelt<br />

1.150 Anschläge pro Minute.<br />

Extravagant und<br />

luxuriös – der schrillste<br />

Klavierspieler war<br />

Liberace aka „GlitterMan“.<br />

Die Hände<br />

voller Ringe und unter<br />

Chinchilla-Pelz diamantglitzernd<br />

gekleidet, tobte er in Las<br />

Vegas über die Tasten. Seine<br />

Geschichte kam 2013 unter dem<br />

deutschen Titel „Zu viel des Guten<br />

ist wundervoll“ in die Kinos.<br />

Klavierbau<br />

Was waren das für Kräfte, als am<br />

30. Dezember 2010 im polnischen<br />

Szymbark ein Flügel auf die<br />

Bühne gewuchtet wurde, der fast<br />

zwei Tonnen wog. Der polnische<br />

Klavierbauer Daniel Czapiewski<br />

hat mit dem Stolëmowi Klawér<br />

das schwerste Klavier der Welt<br />

gebaut. Ob ihm noch Kraft blieb,<br />

als es fertig war?<br />

Die größten Klaviere der Welt<br />

baut David Klavins. War sein<br />

Modell 370 mit 3,70 Meter schon<br />

hoch, hat er das mit seinem<br />

Modell 450i nochmals um 2,30<br />

Meter in die Höhe getrieben.<br />

Zu hören und sehen ist es in<br />

Lettland, im Konzerthaus<br />

von Ventspils. Um es spielen<br />

zu können, muss man auf<br />

eine Treppe steigen.<br />

Kurios ist, wenn ein Flügel aus Eis<br />

gebaut ist. Wie spielt man den? Mit<br />

Handschuhen wie Glenn Gould?<br />

Was macht man, wenn er unter<br />

schmachtenden Klängen einfach<br />

so dahinschmilzt? In der chinesischen<br />

Stadt Harbin in<br />

der Provinz Heilongjiang<br />

war er bei -40<br />

Grad 2004 auf dem<br />

Eisskulpturenfestival<br />

zu sehen.<br />

FOTOS: ALLAN WARREN; BECHSTEIN; AGENTUR<br />

51


K L A V I E R<br />

52 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


MIT 15 PIANOS STARTETE<br />

„PLAY ME, I’M YOURS“<br />

2007 IN BIRMINGHAM.<br />

BIS HEUTE SIND ES SCHON<br />

1.900 STRASSENKLAVIERE<br />

IN 40 LÄNDERN.<br />

53<br />

FOTO: LUKE JERRAM


K L A V I E R<br />

Besinnung auf<br />

Individualität<br />

B<br />

Klavierhersteller bieten wieder breitere Klangvielfalt.<br />

Steinway gilt nicht mehr als alleiniger Maßstab.<br />

C. Bechstein und Bösendorfer arbeiten<br />

an der Umsetzung eines eigenen Klangbildes.<br />

etritt man den neuen Showroom von<br />

Steinway & Sons am Maximiliansplatz in<br />

München, sticht einem sofort ein roter Flügel ins Auge. Legen die<br />

Klaviere allmählich das Ehrfurcht gebietende Schwarz ab, das seit<br />

den <strong>19</strong>60er-Jahren ihr Aussehen bestimmt? Keineswegs, es handelt<br />

sich um einen Ferrari-Flügel. Er trägt das Rot des italienischen<br />

Sportwagenherstellers.<br />

Steinway verstand es von Anfang an, ein offensives Marketing<br />

zu betreiben, der Marke ein luxuriöses, fortschrittliches Image zu<br />

verleihen und sie zu einem Mythos werden zu lassen. William Steinway,<br />

der Sohn des Firmengründers, legte den Grundstein dafür.<br />

1872 finanzierte er eine Konzertreise<br />

des russischen Pianisten Anton<br />

Rubinstein und zahlte ihm für 215<br />

Auftritte 80.000 Dollar. Die Tournee<br />

erregte ungeheures Aufsehen, und<br />

Steinway wurde dabei im gleichen<br />

Atemzug wie Anton Rubinstein<br />

genannt.<br />

Heute ist Lang Lang, dem sogar<br />

ein Flügel gewidmet ist, der große Steinway-Künstler, gefolgt von<br />

Yuja Wang. Und dank des digitalen Systems Spirio kann man Lang<br />

Lang nicht nur im Konzertsaal erleben, sondern auch ins häusliche<br />

Wohnzimmer holen. Man sieht ihn zwar nicht auf der Klavierbank<br />

sitzen. Aber man kann beobachten, wie die Tasten von seinen<br />

unsichtbaren Händen angeschlagen werden, und man hört und<br />

fühlt sein großartiges Spiel.<br />

Spirio sei die Innovation seit 70 Jahren, unterstreicht man in<br />

der Marketingabteilung von Steinway in Hamburg. Fünf Jahre habe<br />

ein technisches Team in New York an der Entwicklung des Systems<br />

gearbeitet. Die Markteinführung sei sodann in den USA, Singapur<br />

und Großbritannien getestet worden. 2016 kam es in Deutschland<br />

auf den Markt. Vom Erfolg sei man überwältigt gewesen. Jeder vierte<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

DER KLARE, BRILLANTE KLANG<br />

MIT DEM GLOCKIGEN DISKANT<br />

WURDE ZUM MASSSTAB<br />

verkaufte Flügel sei bereits ein Spirio, und die Pianisten stünden<br />

Schlange, um sich aufnehmen zu lassen. Über 3.500 Titel umfasse<br />

die Bibliothek bereits, darunter auch historische Aufnahmen. Selbst<br />

Vladimir Horowitz könne man sich ins Wohnzimmer holen. Im<br />

Kaufpreis eines Spirio-Flügels inbegriffen ist ein monatliches Update<br />

auf dem mitgelieferten Apple iPad, von dem aus das System mittels<br />

einer App gesteuert wird, über die gesamte Lebensdauer des Instruments<br />

hinweg. Mittlerweile steht die nächste Generation vor der<br />

Markteinführung. Spirio | r soll im Herbst 2020 auf den deutschen<br />

Markt kommen. Damit wird es möglich, auch das eigene Spiel aufzunehmen,<br />

zu bearbeiten und wiederzugeben.<br />

Steinway & Sons war nicht der<br />

erste Klavierhersteller, der einen Flügel<br />

mit Selbstspielmechanik herausbrachte.<br />

Aber es gelang dem Unternehmen,<br />

damit den Markt zu öffnen<br />

und neue Käuferschichten zu gewinnen.<br />

Im Blick hatte es vor allem<br />

China, dessen Oberschicht sich gerne<br />

mit westlichen Prestigeobjekten<br />

umgibt. Zu spüren aber war der Schub auch auf dem heimischen<br />

Markt, und er kam den Mitbewerbern ebenfalls zugute.<br />

Der Markt für Klaviere schrumpft. Davon wissen alle Händler<br />

zu berichten. In den <strong>19</strong>60er-Jahren hätte man mehr Klaviere verkaufen<br />

können, als es gegeben habe. Ende der <strong>19</strong>80er-Jahre erfolgte<br />

der Einbruch. Nicht wenige Hersteller blieben auf der Strecke, manche<br />

hielten sich mit Notverkäufen über Wasser oder wurden selbst<br />

verkauft. Auch Steinway & Sons ging durch mehrere Hände. Aber<br />

es behauptete seine nach dem Zweiten Weltkrieg eroberte Marktführerschaft<br />

im Premiumbereich und seine Dominanz auf den<br />

Podien. Der klare, brillante Klang mit dem glockigen Diskant, der<br />

einen Steinway-Flügel auszeichnet, wurde als zeitgemäß empfunden<br />

und zum Maßstab.<br />

54 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


Seit der Wende zum 21. Jahrhundert<br />

taucht jedoch wieder mehr<br />

Vielfalt auf. Die Zeiten, da alle so<br />

klingen wollten wie ein Steinway,<br />

scheinen vorüber. Die Marken haben<br />

sich emanzipiert und besinnen sich<br />

auf ihre Individualität und jenes<br />

Klangbild, auf dem ihr Ansehen<br />

gründet. C. Bechstein und Bösendorfer,<br />

die mit Steinway einst die großen<br />

Drei bildeten, streben danach, diese<br />

Stellung zurückzuerobern.<br />

Gearbeitet wird am Klang, seinen<br />

Farben und seinem Volumen.<br />

Die Probleme, mit denen sich Sänger<br />

herumschlagen, weil die Orchester<br />

immer lauter und brillanter klingen<br />

wollen, treffen auch die Pianisten.<br />

Insbesondere beim romantischen<br />

Repertoire, das die Programme mehr<br />

denn je dominiert, brauchen sie<br />

einen Flügel, dessen Klang sich<br />

gegenüber dem Orchester behaupten<br />

und von den übrigen Instrumenten<br />

abheben kann. Einiges tut sich daher<br />

im Klavierbau. Die Fertigungstiefe<br />

wird gesteigert. Produktionsteile, die<br />

bisher zugekauft wurden, stellt man<br />

wieder selbst her. C. Bechstein fertigt seit 2015 eigene Hammerköpfe,<br />

um seine Vorstellung eines transparenten Klangs mit großem Farbenreichtum<br />

vom feinsten Pianissimo bis zum stärksten Fortissimo<br />

verwirklichen zu können.<br />

Auf die Frage, wer einen Bechstein kaufe, kommt bei Piano<br />

Fischer, dem C. Bechstein Centrum München, eine eindeutige Antwort:<br />

wertkonservative Familien, die das europäische Klangbild<br />

schätzten. Musikliebhaber, die selbst spielen, wissen den warmen,<br />

obertonreichen, singenden Klang und die leicht gängige Klaviatur<br />

zu würdigen. Sie sind die Zielgruppe des Unternehmens, das 1853<br />

zur Zeit der Industrialisierung und des aufstrebenden Bürgertums<br />

in Berlin gegründet wurde und der größte europäische Klavierhersteller<br />

ist. „Unsere Kunden spielen selbst“, betont man nicht ohne<br />

Stolz. Gleichzeitig habe sich der Verkauf von Instrumenten an Hochschulen<br />

und Konzerthäuser gesteigert, wie der Pressevertreter des<br />

Unternehmens hervorhebt. Im Mozarteum, dem Royal College of<br />

Music London, dem Brucknerhaus in Linz, dem Konzerthaus Berlin<br />

und vielen anderen wichtigen Institutionen stünden heute wieder<br />

Bechstein-Flügel. Auch Pianisten wie Kit Armstrong, Saleem Ashkar<br />

oder Abdel Rahman El Bacha konzertierten regelmäßig auf<br />

C.-Bechstein-Konzertflügeln.<br />

Die allmählich einziehende Abwechslung an Marken in Musikhochschulen<br />

begrüßt man auch bei Klavier Hirsch, dem Fachgeschäft<br />

für Bösendorfer in München. Es sei wichtig für die Zukunft,<br />

den Studierenden unterschiedliche Klangerfahrungen zu vermitteln.<br />

Für den Sprung auf die internationalen Podien konstruierte Bösendorfer<br />

sogar einen neuen Konzertflügel. Gewiss werde das Flaggschiff<br />

der Marke, der legendäre Imperial mit seiner Klaviatur von<br />

acht vollen Oktaven, weiterhin gebaut. Doch Bösendorfer musste<br />

SELBST VLADIMIR HOROWITZ<br />

KÖNNTE MAN SICH<br />

INS WOHNZIMMER HOLEN<br />

sich ebenfalls der Forderung nach<br />

größerem Volumen stellen.<br />

Nachdem der 1828 gegründete<br />

und damit am längsten bestehende<br />

Klavierhersteller im Verlauf der zweiten<br />

Hälfte des 20. Jahrhunderts in<br />

wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten<br />

und mehrmals verkauft worden<br />

war, hatte ihn 2007 der japanische<br />

Instrumentenhersteller Yamaha<br />

übernommen. 2015, als Bösendorfer<br />

im niederösterreichischen Wiener<br />

Neustadt erstmals wieder Gewinne<br />

vermelden konnte, stellte er den Konzertflügel<br />

280VC vor. Die Buchstaben<br />

„VC“ stehen für „Vienna Concert“<br />

und verweisen auf den warmen, weichen<br />

Bösendorfer-Klang, der sich an<br />

den Streichern der Wiener Philharmoniker<br />

orientiert und dem der Flügel,<br />

ungeachtet seiner technischen<br />

Neuerungen und der zusätzlichen<br />

klanglichen Brillanz, treu bleiben<br />

sollte.<br />

Der Flügel VC ist das Ergebnis<br />

einer Symbiose alter Handwerkskunst<br />

und computergestützter Konstruktions-<br />

und Fertigungstechnik.<br />

Weiterentwickelt wurde die komplette akustische Anlage, wozu bei<br />

Bösendorfer auch das Gehäuse gehört. Die gesamte Kastenwand<br />

sowie die sogenannte Raste, die unten im Flügelgehäuse als Auflage<br />

für den Resonanzboden und den Gussrahmen dient, wird bei Bösendorfer<br />

aus Klangholz, das heißt Fichte, gefertigt. Die Seitenwände<br />

können daher nicht in scharfer Rundung gebogen werden, sondern<br />

weisen nach alter Bauart eine Ecke auf. Das Hauptaugenmerk des<br />

Konstrukteurs lag auf dem Resonanzboden, seinen Rippen und vor<br />

allem seiner Krone, jener kleinen Kuppel an der Oberseite, die sich<br />

sanft in Richtung der Seiten wölbt.<br />

András Schiff präsentierte den Flügel 280VC am 3. Juni 2018<br />

im Wiener Konzerthaus. Er bekam eine Sonderanfertigung in Pyramidenmahagoni.<br />

Sein Wunsch war eine eigene Konzeption, die an<br />

einen alten Hammerflügel des 18. Jahrhunderts erinnert, mit deutlich<br />

unterschiedenen Registern: Bass, Mitte und Diskant. So habe<br />

die Wiener Klassik geklungen, erläutert er in einem Video. Haydn,<br />

Mozart und Beethoven hätten in diesem Sinne komponiert.<br />

Auf dem Flügel VC kann man sich zu Hause sogar ein Konzert<br />

von Rachmaninow oder Rubinstein geben lassen. Denn der Flügel<br />

ist mit der Reproduktionstechnik Disklavier Enspire ausgestattet.<br />

Bösendorfer begann bereits in den <strong>19</strong>80er-Jahren, mit Sensortechnikern<br />

zu experimentieren, um das Spiel anschlagsgetreu aufnehmen<br />

und wiedergeben zu können. 2005 stellte er das System CEUS<br />

vor. Nach der Übernahme durch Yamaha erhielt er Zugang zu dessen<br />

Reproduktionssystem Disklavier Enspire und damit einer ausgereiften<br />

Technik. 2017 kam die erste Bösendorfer Disklavier Enspire<br />

Edition heraus. Sie ermöglicht auch die Aufnahme und Wiedergabe<br />

des eigenen Spiels. Damit werde „Ihr Spiel so unsterblich wie die<br />

Kompositionen großer Meister“, verspricht Bösendorfer. n<br />

55


K L A V I E R<br />

AUFWENDIG UND<br />

MASSGEFLÜGELT<br />

Geht nicht, gibt’s nicht: ungewöhnliche Kundenwünsche und<br />

Sondereditionen im Hause Steinway<br />

VON SINA KLEINEDLER<br />

Ganz rockig ist der „Sunburst“,<br />

in derselben Lackierung der<br />

Gitarren von Jimi Hendrix<br />

oder Bob Dylan<br />

Steinway & Sons ist<br />

ein Unternehmen<br />

mit über 160<br />

Jahren Tradition.<br />

1853 gründete<br />

Henry E. Steinway mit<br />

seinen Söhnen die<br />

erste Manufaktur in<br />

New York. Ihr Grundsatz? „To<br />

build the best piano possible.“<br />

Über 120 Patente meldete Steinway<br />

nach und nach an und revolutionierte<br />

so den modernen<br />

Klavierbau.<br />

Heute finden sich Flügel<br />

von Steinway & Sons auf fast<br />

allen bedeutenden Bühnen der<br />

Welt. Mit einem zweiten Blick kann<br />

man sogar die Herkunft des Flügels erkennen: Sind die Backenklötze<br />

(die Seitenteile der Klaviatur) eckig, so kommt er aus New<br />

York, sind sie abgerundet, ist es ein Hamburger Steinway. Aber<br />

was macht einen „klassischen“ Steinway eigentlich aus? Sabine<br />

Höpermann, Leiterin der PR-Abteilung, fasst es so zusammen:<br />

„Von der Konstruktion her war der Steinway schon in den <strong>19</strong>30ern<br />

perfekt. Uns ist wichtig, Traditionen und Werte zu pflegen. Wir<br />

legen zum Beispiel hohen Wert auf den Einsatz qualitativ hochwertiger<br />

Materialien und setzen auf die Leidenschaft und Erfahrung<br />

unserer Fachleute.“<br />

Leidenschaft und Erfahrung sind auch gefragt, wenn Kunden<br />

kommen, für die es nicht der klassische lackschwarze Konzertflügel<br />

sein soll. Manche haben spezielle Farb- oder Holzwünsche,<br />

manche wollen aufwendige Intarsienarbeiten. Solche Flügel<br />

werden, wenn sie den Ansprüchen der Manufaktur gerecht werden,<br />

extra produziert. Laut Sabine Höpermann kommt das gar<br />

nicht mal so selten vor: „Ungewöhnliche Kundenwünsche gibt es<br />

immer wieder. Wir können alles umsetzen, wenn es die Konstruktion<br />

des Instrumentes nicht verändert. Von einem verschnörkelten<br />

Flügel in Pink mit goldenen Intarsien über Flügel in den<br />

Farben des Lieblings-Fußballclubs<br />

oder einen weißen<br />

Flügel mit rosa Deckel,<br />

rosafarbenen statt schwarzen<br />

Tasten und Schmetterlingsintarsien<br />

in Perlmutt<br />

war schon Einiges dabei …“<br />

Manche Kundenwünsche waren<br />

so aufwendig, dass das Endergebnis<br />

einem Kunstwerk glich. Aber nicht<br />

nur die Kunden haben ungewöhnliche<br />

Ideen. Steinway selbst bringt<br />

immer wieder Sondereditionen heraus.<br />

Zum Beispiel den „Elbphilharmonie“-Flügel<br />

mit berühmten Paten<br />

wie Igor Levit, Mitsuko Uchida und<br />

Daniil Trifonov. Ganz neu: der „Black<br />

Diamond“, in Kooperation mit Starpianist Lang<br />

Lang und (Möbel-)Designer Dakota Jackson, der schon häufiger<br />

an den Spezialdesigns mitgewirkt hat. Dabei wurden Diamantstrukturen<br />

und Akzente aus Metall ins Design eingearbeitet und<br />

passend zur Zahl der Klaviertasten nur 88 Stück produziert.<br />

Zum 150. Geburtstag der Firma entwarf Karl Lagerfeld einen<br />

exzentrischen Flügel, den „THE S.L.ED“ im Schlittendesign mit<br />

rotem Japanlack. Zum 165. Jubiläum wurde dann der „ONE SIX<br />

FIVE“ entwickelt, in einem ganz klassischen Design mit Mahagoni.<br />

Ganz rockig ist der „Sunburst“, in derselben Lackierung<br />

der Gitarren von Jimi Hendrix oder Bob Dylan. Passend zum<br />

Woodstock-Jahr gibt es von diesem spektakulär lackierten Flügel<br />

weltweit nur 69 Stück. Das sind nur wenige Beispiele.<br />

Wenn man Sabine Höpermann nach ihrem liebsten Design<br />

fragt, kommt die Antwort prompt: „Der ,Imagine‘-Flügel, den<br />

wir zu Ehren des 70. Geburtstags von John Lennon im Jahre 2010<br />

aufgelegt haben. Der hat mich emotional sehr berührt.“ Der weiße<br />

Flügel trägt eine kleine John-Lennon-Zeichnung auf dem Notenpult<br />

und die ersten Takte des Songs Imagine auf der Gussplatte.<br />

Und wie könnte der Steinway der Zukunft aussehen? Für Höpermann:<br />

„Nicht anders als der heutige.“<br />

n<br />

56 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


LETZTE<br />

GRENZE<br />

ZEIT<br />

Wie die Elektrizität ins<br />

Klavier einzog<br />

und eine neue<br />

Klangwelt eröffnete.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

Drei Streicher, drei Bläser, Marimba<br />

und Elektropiano – das war die<br />

originale Besetzung von Terry<br />

Rileys In C. Uraufgeführt <strong>19</strong>64 in<br />

San Francisco, wurde das Werk zur Initialzündung<br />

des musikalischen Minimalismus.<br />

Musiker wie Jon Gibson, Pauline Oliveros,<br />

Morton Subotnick und Steve Reich wirkten<br />

an der Aufführung mit. Riley hatte 53<br />

Klangmodule in C-Dur komponiert, die von<br />

den Musikern nacheinander gespielt werden<br />

sollten. Der Zeitpunkt, wann ein Spieler von<br />

einem zum nächsten Modul wechselte, blieb<br />

freigestellt. Eine immer wieder angeschlagene<br />

Klaviertaste zog sich als Puls durch die<br />

gesamte Aufführung und diente den Spielern<br />

als metrische Orientierung. Riley schuf<br />

damit ein neues meditatives Musikverständnis.<br />

Und E-Piano, Keyboard und Synthesizer<br />

gaben der musikalischen Strömung<br />

ihre Farbe.<br />

Was wäre Koyaanisqatsi ohne die der<br />

Orgel nachempfundenen, obertonreichen,<br />

stetig vorwärtstreibenden Keyboard-<br />

Klänge? Philip Glass komponierte <strong>19</strong>82 den<br />

Soundtrack zu Godfrey Reggios großartigem<br />

Filmkunstwerk und spielte ihn mit seinem<br />

Ensemble ein. Zum Instrumentarium<br />

der <strong>19</strong>68 ins Leben gerufenen Formation<br />

gehörten von Anfang an mehrere Keyboards,<br />

gespielt u.a. von Michael Riesman,<br />

dem Leiter des Ensembles, und Philip Glass.<br />

Die entscheidende Inspiration für seine<br />

musikalische Entwicklung hatte Glass<br />

Anfang der <strong>19</strong>60er-Jahre durch die Begegnung<br />

mit dem Sitar-Spieler Ravi Shankar in<br />

Paris erhalten. Aus der Beschäftigung mit<br />

der klassischen indischen Musik lernte er,<br />

musikalische Strukturen aus rhythmischen<br />

Zyklen zu gewinnen und erfuhr die meditative<br />

Versenkung in den Klang. Mit Two<br />

Pages for Keyboards erprobte er <strong>19</strong>68 einen<br />

Ablauf mit der Wiederholung einzelner<br />

Tonfolgen, denen Töne hinzugefügt oder<br />

abgezogen wurden. Im Jahr darauf entstand<br />

Music in Contrary Motion, bestehend aus<br />

zwei fließenden Gegenbewegungen und<br />

geschrieben für das mit Keyboards besetzte<br />

Philip Glass Ensemble. Wie Glass in einem<br />

Interview betonte, sei es ihm beim Einsatz<br />

von Keyboards und später auch Synthesizern<br />

nicht darum gegangen, das akustische<br />

Klavier zu ersetzen, sondern um die Schaffung<br />

eines besonderen Klangs. So wie das<br />

Klavier nicht das Cembalo ersetzt habe, so<br />

ersetze auch der Synthesizer nicht das Klavier.<br />

Es seien einfach verschiedene Instrumente,<br />

die die Wahlmöglichkeiten der<br />

Komponisten erweiterten.<br />

Eine Besonderheit an sich stellt der<br />

Komponist Conlon Nancarrow dar. In seinem<br />

mexikanischen Exil, in das ihn der<br />

McCarthyismus getrieben hatte, komponierte<br />

er 40 Jahre lang ausschließlich für<br />

Elektrisches Klavier. Er war überzeugt, dass<br />

die Zeit die letzte Grenze der Musik sei und<br />

dass er seine Vorstellungen von schnellen<br />

Tempi, vielschichtigen Metren, Tonhäufungen,<br />

Trillern, weiten Sprüngen und Glissandi<br />

durch einen menschlichen Spieler<br />

nicht verwirklichen könne. Also stanzte er<br />

Papierrollen. Mit seiner neuartigen Polyphonie<br />

verschiedener simultaner Tempi<br />

gelang es ihm, in seinen rund 50 Studies for<br />

Player Piano das Tempo als strukturbildendes<br />

Element einzusetzen. John Cage entdeckte<br />

<strong>19</strong>60 seine Musik. György Ligeti<br />

pries ihn <strong>19</strong>81 als „die größte Entdeckung<br />

seit Webern und Ives“. <strong>19</strong>97, im Jahr seines<br />

Todes, erfolgte im Rahmen der MusikTriennale<br />

Köln erstmals die Aufführung seines<br />

Gesamtwerks für Player Piano.<br />

Langfristig etablieren konnte sich<br />

allerdings erst der Synthesizer. Tristan<br />

Murail etwa, dessen Ziel es war, die elektronischen<br />

und die instrumentalen Klänge<br />

miteinander zu verflechten, experimentierte<br />

neben den Ondes Martenot, jenem<br />

elektronischen Tasteninstrument, das<br />

bereits sein Lehrer Olivier Messiaen verwendet<br />

hatte, auch mit Keyboards. Ende<br />

der <strong>19</strong>70er-Jahre aber konzentrierte er sich<br />

auf den Yamaha DX7-Synthesizer. So verschwanden<br />

E-Piano und Keyboard aus dem<br />

klassischen Konzertbetrieb. Nur vereinzelt<br />

tauchen sie auf, wenn es darum geht, einen<br />

überraschenden Klang zu kreieren. Moritz<br />

Eggert zum Beispiel, der von seinem Lehrer<br />

Wilhelm Killmayer eine Vorliebe für das<br />

Bizarre übernahm, bringt das Keyboard in<br />

seinen Kompositionen zum Einsatz. So findet<br />

es sich in seinem Fußballoratorium Die<br />

Tiefe des Raumes und ebenso in seinem<br />

Vokalwerk Mein Traum ist länger als die<br />

Nacht. <br />

n<br />

57


K L A V I E R<br />

Mit Charles Aznavour in<br />

der Hauptrolle: der<br />

französische Filmklassiker<br />

der Nouvelle Vague aus<br />

dem Jahre <strong>19</strong>60<br />

SCHIESSEN SIE<br />

AUF DEN PIANISTEN!<br />

Das Klavier in Film, Literatur und Comic. VON STEFAN SELL<br />

Das Klavier! Die Vielfalt des magischen Tastenkastens hat<br />

alle Künste inspiriert. Als Metapher, Symbol und Ausdrucksform.<br />

Im Film werden Pianisten ermahnt, sie sollen<br />

sich nicht in kriminelle Machenschaften hineinziehen<br />

lassen, denn ehe sie sich versehen, geraten sie in die Schusslinie ihrer<br />

Kontrahenten. Charles Aznavour macht das in Truffauts Klassiker<br />

Schießen Sie auf den Pianisten! augenfällig.<br />

In Ein Tag beim Rennen dient Harpo Marx das Klavier auf<br />

offener Bühne als Schutzwall, müssen doch seine Verfolger verzweifelt<br />

hinter dem Bühnenvorhang zusehen, wie er „Wreckmaninoff“<br />

spielend Taste für Taste, Bauteil für Bauteil durch die Luft wirbelt<br />

und den ganzen Konzertflügel in Grund und Boden spielt, nur um<br />

am Ende im entstandenen Chaos erneut die Flucht anzutreten. Das<br />

Klavier als Zuflucht. Doch Vorsicht! Schießen Sie nicht auf den Pianisten,<br />

denn er könnte zurückschießen. Die Musik George Antheils<br />

war im Paris der 20er-Jahre so unerhört, dass sein öffentliches Klavierspielen<br />

stets von Tumulten, Aufruhr und Skandalen begleitet<br />

war. Antheil soll stets eine Pistole bei sich getragen haben, um sich<br />

zur Not den Fluchtweg freizuschießen. Auch von Franz Liszt erzählt<br />

man, dass er mithilfe einer Pistole das scharenweise aufgeregte Publikum<br />

in Schach hielt, um sich Gehör zu verschaffen.<br />

Stan und Ollie transportieren im Oscar-prämierten Kurzfilm<br />

The Music Box als Umzugsfirma Laurel & Hardy Transfer Co. ein<br />

elektrisches Klavier. Als Geburtstagsgeschenk gedacht, überlebt das<br />

Klavier wie ein Wunder den Transport über endlose Stufen, tausenderlei<br />

Stürze und Brunnenbäder, nur, um endlich angekommen,<br />

vom vermeintlich Beschenkten mit einer Axt kurz und klein geschlagen<br />

zu werden.<br />

Das Piano der neuseeländischen Regisseurin Jane Campion<br />

erzählt die Geschichte eines Klaviers, das sich mit einem tragischen<br />

Frauenschicksal verbindet. Ada, eine junge, verstummte Frau (Holly<br />

Hunter), legt ihren ganzen Ausdruck ins Klavierspiel. Von Schottland<br />

aus wird sie nach Neuseeland zwangsverheiratet. Das Klavier<br />

begleitet sie bis zur Ankunft, strandet von Wellen gekost und bleibt<br />

im Sande stehen. Ihr Zukünftiger sieht dafür keine Verwendung.<br />

Durch einen Gegenspieler kommt das Klavier zunächst in ihre<br />

Hände, doch letztlich wird es als Metapher für ein selbstbestimmtes<br />

Leben und die Schönheit eines eigenständigen Ausdrucks qualvoll,<br />

aber malerisch inszeniert auf den Meeresgrund sinken. Im männlich<br />

dominierter Liebesbalz löst Ada zwischen Verweigerung und<br />

Hingabe eine Klaviertaste aus und verwandelt sie in einen<br />

Liebesbrief.<br />

Ein jüdischer Musiker überlebt den Holocaust. In Erinnerung<br />

an die eigene Kindheit erzählt Roman Polanski eine wahre<br />

Geschichte: Der Pianist. „Musiker eignen sich einfach nicht zum<br />

Verschwörer. Sie sind zu musikalisch“, scherzt ein Freund des Pianisten.<br />

Tatsächlich besitzt Władysław Szpilman (Adrien Brody)<br />

weder das Talent zum Widerstandskämpfer noch zum Mitläufer.<br />

58 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


Das Piano der neuseeländischen Regisseurin Jane Campion<br />

erzählt die Geschichte eines Klaviers, das sich mit einem<br />

tragischen Frauenschicksal verbindet (links). Der Pianist (oben)<br />

kann nur Klavier spielen – und das rettet ihm das Leben<br />

„Das Leben ist wie das<br />

Klavier eines Menschen,<br />

der in den neunten Stock<br />

umzieht – schwer, aber<br />

tragbar“ – das Klavier in<br />

der Literatur<br />

FOTO: 2002 STUDIOCANAL - HERITAGE FILMS - STUDIO BABELSBERG - RUNTEAM LTD; PRIVAT<br />

Er kann nur Klavier spielen, und das rettet<br />

ihm das Leben.<br />

In der Literatur erfahren wir vom<br />

29-jährigen Autor Beka Adamaschwili aus<br />

Georgien: „Das Leben ist wie das Klavier eines<br />

Menschen, der in den neunten Stock umzieht<br />

– schwer, aber tragbar.“ Das meint zumindest<br />

seine Figur Pierre, ein erfolgloser Schriftsteller,<br />

in dem Roman Bestseller.<br />

Das Klavier selbst ist Protagonist im<br />

autobiografischen Roman von Avner und Hannah<br />

Carmi, Das unsterbliche Klavier. Wie der<br />

Untertitel verrät, ist es „die abenteuerliche und wahrhaftige<br />

Geschichte von dem verschollenen und wiedergefundenen Siena-<br />

Klavier“, das „manchmal wie eine Harfe und manchmal wie ein<br />

Spinett und dann wie ein ganzes Orchester klingt“. Avner Carmi<br />

war über seinen Großvater zum Klavierbau gekommen und entwickelte<br />

später als Klavierstimmer eine eigene Art und Weise, die<br />

Saiten in Stimmung zu bringen. Das Siena-Piano wurde aufgrund<br />

seines einzigartigen Klangs die „Harfe Davids“ genannt und soll<br />

aus den Holzsäulen eines Tempels von König Salomon gebaut worden<br />

sein. Es hat eine so zauberhaft barocke Auskleidung, dass man<br />

es fast für eine Skulptur halten könnte. 1867 spielte darauf Camille<br />

Saint-Säens im italienischen Pavillon der Weltausstellung in Paris,<br />

und ein Jahr später in Rom ließ Liszt, vielleicht wieder bewaffnet,<br />

auf dem Siena-Klavier seine Campanella erklingen.<br />

In Tolstois Erzählung Kreutzersonate wird das Klavier zum<br />

Objekt der Eifersucht. Vermeintlicher Held der Geschichte ist Posdnyschew,<br />

der in rasender Eifersucht seine Frau ermordet. „Sie<br />

beschäftigte sich wieder angeregt mit dem Klavier, das sie vorher<br />

völlig gelassen hatte. Und damit fing alles an.“ Als sie den Geiger<br />

Truchatschewski kennenlernt, mit ihm regelmäßig musizierend<br />

gemeinsam Beethovens Kreutzersonate spielt, ist das Grund genug<br />

für Posdnyschew, zum Mörder zu werden.<br />

Lotte Kinskofer berichtet in zwei wundervollen Kinderbüchern<br />

von einem Klavierling. Ein kleines Wesen namens Crescendo lebt<br />

als Klavierling in einem Klavier. Crescendo isst ausschließlich<br />

Töne und kann falsche Töne aussortieren.<br />

Je mehr auf einem Klavier gespielt wird, desto besser<br />

geht’s dem Klavierling.<br />

Am 7. Februar fand sich Mein blaues Klavier<br />

von Else Lasker-Schüler in der „Neuen Zürcher Zeitung“,<br />

die ersten vier Zeilen lauten: Ich habe zu<br />

Hause ein blaues Klavier / Und kenne doch<br />

keine Note. / Es steht im Dunkel der Kellertür,<br />

/ Seitdem die Welt verrohte. Else Lasker-<br />

Schüler lebte in Zürich im Exil. Sie hatte<br />

Deutschland als Jüdin verlassen, weil die Nationalsozialisten<br />

dabei waren, die Welt zu verrohen. Das Klavier als<br />

Bild ihres Leids. Aus einem Tagebucheintrag geht hervor, dass sie<br />

als Kind ein blaues Klavier hatte: „Ich besitze alle meine Spielsachen<br />

von früher noch, auch mein blaues Puppenklavier.“<br />

Wilhelm Busch war dagegen der Meinung, das Klavier selbst<br />

habe viel zu leiden: „Ein gutes Tier / Ist das Klavier, / Still, friedlich<br />

und bescheiden, / Und muß dabei / Doch vielerlei / Erdulden und<br />

erleiden.“<br />

Zu den bekanntesten amerikanischen Comics zählen die Peanuts.<br />

Unter ihnen gibt es einen einzigartigen Pianisten, der nichts<br />

mehr liebt als Beethoven. Auch wenn er nur ein Kinderklavier mit<br />

aufgemalten schwarzen Tasten hat – Schroeder gibt alles, und vor<br />

lauter Hingabe bekommt er vom ständigen Liebeswerben Lucys gar<br />

nichts mit. Es vergeht kein Jahr, an dem er nicht den 16. Dezember<br />

würdigt, Beethovens Geburtstag. Als er ihn dann doch einmal vergisst,<br />

ist er am Ende.<br />

Eine wundervolle Klaviergeschichte vermählt Orient und<br />

Okzident. Zeichnend erzählt wird sie von der aus Beirut stammenden<br />

Künstlerin Zeina Abirached in ihrer Graphic Novel Piano Oriental.<br />

Sie setzt darin ihrem Urgroßvater ein Denkmal. Abdallah<br />

Kamanja erfand ein zweisprachiges Klavier, das mittels eines Pedals<br />

auch Vierteltöne spielt und so in sich zweierlei Kulturen vereinigt.<br />

Bei all der Schießerei zu Beginn ist dies vielleicht die schönste<br />

Zukunftsvision, die ein Klavier auslösen kann.<br />

n<br />

59


K L A V I E R<br />

MUT ZUM<br />

VOLLEN RISIKO<br />

Martha Argerich und Sophie Pacini: Die beiden Pianistinnen<br />

verbindet mehr als nur eine Freundschaft.<br />

VON KLAUS HÄRTEL<br />

Sophie Pacini und<br />

Martha Argerich<br />

FOTO: SEBASTIAN HATTOP<br />

„ALLEIN AUF DER BÜHNE<br />

FÜHLE ICH MICH<br />

WIE EIN INSEKT UNTER<br />

EINEM BRENNGLAS“<br />

MARTHA ARGERICH<br />

Clara Schumann ist nicht begeistert.<br />

Gelinde ausgedrückt. „Die<br />

Sachen sind schaurig! Brahms<br />

spielte sie mir, ich wurde aber<br />

ganz elend. (...) Das ist nur noch blinder<br />

Lärm – kein gesunder Gedanke mehr, alles<br />

verwirrt, eine klare Harmoniefolge ist da<br />

nicht mehr herauszufinden“, schreibt sie<br />

1854 voller Verzweiflung in ihr Tagebuch.<br />

„Es ist wirklich schrecklich.“ Die Rede ist<br />

von Franz Liszts h-Moll Sonate.<br />

Die gewaltigen Ausbrüche und harmonischen Härten mögen<br />

für Pianisten und Hörer in der Mitte des <strong>19</strong>. Jahrhunderts schwer<br />

hinnehmbar gewesen sein – heute wird das Werk als einer der<br />

Gipfelpunkte der Klaviermusik betrachtet. Die Klaviersonate h-Moll<br />

gilt als eines der bedeutendsten, technisch anspruchsvollsten Klavierwerke<br />

der Romantik und durchaus auch als einer der Höhepunkte<br />

im Œuvre des Komponisten.<br />

Dabei nahmen und nehmen Pianisten die technische und<br />

gestalterische Herausforderung unterschiedlich an. Vladimir Horowitz’<br />

Interpretation muss dem Publikum<br />

durch die derart nervöse Beweglichkeit,<br />

stahlharte Kraft und teilweise atemberaubende<br />

Geschwindigkeit damals als etwas<br />

Ungeheures erschienen sein. Der Pole Krystian<br />

Zimerman besticht durch die scheinbare<br />

Mühelosigkeit in der Zusammenführung<br />

von brachialer Gewalt und sanfter<br />

Lyrik, während eine Interpretation der<br />

h-Moll Sonate selten so improvisiert klingt<br />

wie die des Kroaten Ivo Pogorelich: zerbrechlich<br />

und ins Sphärische entrückt auf der einen Seite, bedrohlich,<br />

skurril und naturkatastrophenhaft auf der anderen.<br />

Bei der Grande Dame des Klaviers Martha Argerich überschlägt<br />

man sich beinahe mit Adjektiven. Martha Argerichs Interpretation<br />

wirkt gequält, wütend, leidenschaftlich, verrückt, aber<br />

auch dantesk, göttlich, mystisch. Die Argerich wirkt wie ein freigelassenes<br />

wildes Tier, voller Feuer, Leidenschaft und: Poesie. Sie ist<br />

bereit, Risiken einzugehen – und das zahlt sich aus.<br />

Franz Liszts h-Moll Sonate ist all das. Aber sie ist auch starkes<br />

60 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


Bindeglied der Freundschaft zwischen Martha Argerich und der<br />

jungen deutsch-italienischen Pianistin Sophie Pacini. Die nämlich<br />

legt bisweilen auch einen eigenen Zugang zur Musik an den Tag,<br />

der „jenseits einer Spieltradition liegt“, wie sie selbst formuliert.<br />

Eine ihrer ersten starken pianistischen Prägungen sei von Martha<br />

Argerich ausgegangen, die sie im Radio gehört habe – mit eben<br />

jener h-Moll Sonate von Franz Liszt. „Ich hatte die Sonate vorher<br />

schon einmal gehört und fand sie total unansprechend und, ehrlich<br />

gesagt, auch ein bisschen langweilig. Ich habe mich nicht zurechtgefunden<br />

in dem Stück. Mir war klar: Ein Stück, das ich nicht spielen<br />

will, ist die h-Moll Sonate von Franz Liszt.“ In Argerichs Radioversion<br />

jedoch habe sie das Werk nicht wiedererkannt. „Es war<br />

phänomenal, passend, und es hat mir eine Geschichte erzählt.“<br />

„Es gab Traditionen, wie man Werke zu spielen hat“, erzählt<br />

die 27-jährige Pacini. Bereits mit zehn Jahren war sie durch die harte<br />

„Handwerksschule“ Karl-Heinz Kämmerlings<br />

gegangen und hatte bereits da hinterfragt,<br />

warum was wie gespielt wird. „Warum<br />

darf man das nicht anders interpretieren?<br />

Ich muss doch dahinterstehen und das zu<br />

Gehör bringen, was mein innerster Herzenswunsch<br />

ist.“ Viel gelernt hat sie dann<br />

auch von Pavel Gililov, zu dem sie quasi als<br />

rebellierender Teenager gewechselt war.<br />

„Das erste Werk, bei dem ich wirklich<br />

gespürt habe, dass es von Tradition überlagert<br />

wird, war wieder: die h-Moll Sonate<br />

von Franz Liszt. Mir fehlte der intermusikalische<br />

Austausch ...“<br />

Es muss um Weihnachten herum<br />

gewesen sein, Sophie Pacini war gerade 17 geworden und übte wie<br />

wild für einen Wettbewerb in Gstaad. „Mir fehlte etwas. Es gab da<br />

eine Stelle, die noch viel diabolischer klingen musste. Ich habe angefangen,<br />

Dinge drastischer zu zeichnen.“ Sie traute sich, das Werk<br />

anders zu interpretieren, als es die traditionelle Interpretationsschule<br />

vorgab. „Ich liebe Liszt! Das Virtuose, aber auch dieses Diabolische,<br />

diese dramatische Komponente und das Spielen mit der Grenze.“<br />

Sie wollte es eben genau so, wie das Martha Argerich auch anging.<br />

Ihr Lehrer indes war wenig begeistert. „Viel zu emotional!“,<br />

habe der gesagt. Man müsse eine gewisse Distanz wahren zum Werk.<br />

„Er sagte zu mir: ‚Du weißt doch gar nicht, wie die Wahrheit ist!‘<br />

Das hat mich überrascht, und ich habe zurückgefragt, ob er das<br />

denn wisse.“ Erstmals habe sie ihren Lehrer infrage gestellt. „Sophie,<br />

in Gstaad wirst du so nicht gewinnen ...“, lautete die lapidare Aussage<br />

damals. Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass Sophie Pacini<br />

dann genau das tat. Dmitri Baschkirow, der in der Jury saß, war<br />

jedenfalls beeindruckt. Pacini habe das Werk anders gespielt, als er<br />

es kenne. „Mutig, persönlich, aber überzeugend.“<br />

Die enge, innige Freundschaft zwischen Martha Argerich und<br />

Sophie Pacini basiert also sozusagen auf Liszts h-Moll Sonate – und<br />

einer ersten persönlichen Begegnung in der Toskana. Im gleichen<br />

Ort nämlich, in dem Sophie Pacini mit ihren Eltern Urlaub machte,<br />

eröffnete Martha Argerich ein Festival. Die Grande Dame des Pianos<br />

wollte zunächst nichts von dem kleinen klavierspielenden Mädchen<br />

wissen. Sophie aber blieb hartnäckig und wartete. Die Argerich<br />

kam zurück, sagte: „Nun, dir ist ja offenbar nicht zu helfen. Dann<br />

spiel.“ Und weiter: „Was für eine Persönlichkeit! Du erinnerst mich<br />

„ES IST SEHR SCHWER, SICH<br />

SELBST TREU ZU BLEIBEN<br />

IN EINER ZEIT, IN DER MAN<br />

VON SEHR VIELEN LEUTEN<br />

ALLE MÖGLICHEN<br />

RATSCHLÄGE BEKOMMT“<br />

SOPHIE PACINI<br />

an mich selbst. Ich merke, dass du einen eigenen Kopf hast.“<br />

Seit dieser Zeit kreuzen sich die Wege der beiden Pianistinnen<br />

regelmäßig. Auch bei der Einspielung von Solowerken Chopins, die<br />

mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet wurde, vertraute Pacini auf<br />

die Expertise Martha Argerichs. Ihr nämlich spielte sie die „eigene“<br />

Version von Chopins Fantaisie-Impromptu mit weniger akzentuiertem<br />

Daumenanschlag vor. Die Antwort Argerichs: „Ja, das hört sich<br />

logischer an.“<br />

Es bliebt dabei: Die „Ikone“ Martha Argerich und die „Newcomerin“<br />

Sophie Pacini reden viel miteinander. Über die Karriereplanung,<br />

über Alltägliches, über den Gossip der Szene. „Über Musikalisches<br />

reden wir spielenderweise ...“<br />

Zum Beispiel über die Frage: War früher alles besser? Die Antwort<br />

wird nie ja oder nein sein können. Martha Argerich aber findet:<br />

„Wenn ich heute Karriere machen müsste, würde mir das sehr<br />

schwerfallen.“ Heute werden Musiker bisweilen<br />

nicht präsentiert, wenn sie nicht<br />

gewillt sind, dem schreienden Marketing<br />

stattzugeben. Die Disbalance sei heute stärker<br />

geworden als früher. Eine Karriere sei<br />

viel schwieriger. Und Sophie Pacini weiß,<br />

dass es natürlich heute – nach einer „goldenen<br />

Generation“ von Pianisten – kein<br />

Selbstläufer ist, sich zu positionieren.<br />

„Letztlich gibt es ja alles schon“, seufzt sie.<br />

„Es gibt viele Einspielungen großer Werke<br />

und großer Pianisten.“ Man braucht daher<br />

das Selbstbewusstsein und den Mut, den<br />

eigenen Weg zu verfolgen. Martha Argerich<br />

gab der jungen Pianistin mit auf den Weg:<br />

„Sei du selbst! Bleib authentisch und so, wie du bist! Lass dich nicht<br />

verbiegen!“ Damals habe sie schlicht „Ja, klar!“ gesagt, doch heute:<br />

„Spüre ich immer deutlicher, was sie damit meinte. Es ist sehr<br />

schwer, sich selbst treu zu bleiben in einer Zeit, in der man von sehr<br />

vielen Leuten alle möglichen Ratschläge bekommt.“<br />

Alles, was man heute tut, bekommt eine Gewichtung. Je sichtbarer<br />

man als Künstler wird, umso mehr. Es gibt heute einen Starkult,<br />

den es früher nicht gab. In der Hinsicht hat sich das Marketing<br />

geändert. „Das Bild eines klassischen Musikers hat sich verändert“,<br />

findet Sophie Pacini. Der Klassiker erscheine immer häufiger in<br />

einem „Popgewand“. Dabei brauche Klassik eigentlich die innere<br />

Ruhe, was in der heutigen schnelllebigen Zeit nicht leicht sei.<br />

Kürzlich fand in Hamburg das Martha Argerich Festival statt.<br />

Motto: Musizieren unter Freunden. An nur einem Abend waren<br />

mehrere unterschiedliche Instrumentenkombinationen zu erleben.<br />

Schließlich standen gar vier Flügel auf der Bühne. Mit von der Partie<br />

war Sophie Pacini. Es war auch hier nicht zu übersehen, dass Martha<br />

Argerich das Zusammenspiel mit alten Freunden und neuen jungen<br />

Talenten, auf die sie aufmerksam geworden ist, mag, vielleicht sogar<br />

genießt. Martha Argerich „wirkt nach außen hin extrem entschlossen<br />

und selbstsicher“, erklärt Pacini. Privat sei das nicht immer so.<br />

Seit Jahrzehnten hat die Argentinierin Lampenfieber, seit <strong>19</strong>81 tritt<br />

sie nicht mehr solo auf. Allein auf der Bühne fühle sie sich wie „ein<br />

Insekt unter einem Brennglas“, hat sie einmal gesagt. Mit Partnern<br />

liegt der Fokus nicht allein auf ihr, das entlastet. Jüngst lud die<br />

„Grande Dame“ – ein Titel übrigens, auf den sie keinen Wert legt<br />

– die junge Kollegin ein, mit ihr Beethoven im Duo zu spielen. n<br />

61


K L A V I E R<br />

ZWISCHEN FREIHEIT<br />

UND TRADITION<br />

Ist der Pianist ein Einzelgänger? War früher tatsächlich alles besser?<br />

Wie hat sich das Klavierspiel verändert? Was unternimmt der<br />

Pianist eigentlich, um sich von den zahlreichen Konkurrenten und Kollegen<br />

abzuheben? Wir haben uns umgehört ...<br />

D e j a nL a z i ć<br />

Dass früher alles besser war, hat viel mit Nostalgie zu<br />

tun. Das haben meine Eltern und auch meine Großeltern<br />

schon gesagt. Aber: Früher hatte man mehr Zeit<br />

zu träumen! Der Sprung von der analogen zur digitalen<br />

Welt war schon riesengroß. Natürlich gibt es mit den<br />

modernen Medien wie YouTube die Möglichkeit, ein<br />

Werk kennenzulernen. Allerdings beeinflusst uns das ja<br />

auch, sodass wir am Ende klingen wie „jemand“. Ich<br />

brauche Zeit, um „etwas“ zu erreichen. In meiner Vorstellung<br />

spiele ich jedes Werk – auch wenn ich es schon<br />

kenne – immer zum ersten Mal.<br />

Cédric Tiberghien<br />

Wenn ich mir legendäre Aufnahmen anhöre, finde ich sie absolut zeitgemäß.<br />

Jede Technik ist persönlich. Natürlich hat sich der stilistische<br />

Ansatz weiterentwickelt, aber das bedeutet nicht, dass er besser oder<br />

schlechter ist. Einfach anders! Ich verbringe weniger Zeit damit, zu entscheiden,<br />

was ich tun soll, und gebe spontanen Ideen mehr Raum.<br />

62 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


William Youn<br />

Die Pianisten heute achten mehr auf die<br />

Sicherheit, auf die Zuverlässigkeit der<br />

Technik. Wenn man Aufnahmen von<br />

Cortot oder Sofronitsky hört, dann<br />

merkt man, mit wie viel mehr Risiko und<br />

Freiheit sie spielten. Dass dann einige<br />

Töne danebengegangen sind, war für sie<br />

nicht wichtig. Auch hat sich das Instrument<br />

verändert. Die Mechanik wird<br />

schwerer, die Tasten sind breiter und<br />

tiefer, damit sie einen größeren Klang<br />

für die heutigen Säle erzeugen können.<br />

FOTOS: IRÈNE ZANDEL; T. MARDO; FELIX BROEDE; BOURIGES; LUCA D‘AGOSTINO / ECM RECORDS; HANS BUTTERMILCH; C. TIBERGHIEN;<br />

Igor Levit<br />

Sicherlich hat sich das Klavierspiel verändert<br />

– aber alles hat sich verändert.<br />

Die Welt hat sich innerhalb der letzten<br />

15 Jahre komplett verändert. Ob sich<br />

dadurch auch meine Herangehensweise<br />

an das Repertoire geändert hat? Das<br />

weiß ich nicht. Meine Haupttriebfeder<br />

war schon immer meine Neugierde,<br />

und das wird auch so bleiben. Ein Pianist<br />

sollte sehr, sehr viel Humor haben.<br />

Denn Liebe und Humor sind eh die zwei<br />

schönsten Momente im Leben, oder?<br />

Amir Katz<br />

Joseph Moog<br />

Für mich als Notensammler<br />

war die Repertoirewahl<br />

immer ein kreativer Prozess<br />

und daher mit persönlicher<br />

Freiheit verbunden, weshalb<br />

ich schon zu Studienzeiten<br />

gerne eigene Wege ging. Das<br />

führte immer wieder zu<br />

Konflikten mit meinen<br />

Lehrern. Ich habe auch nie<br />

daran gedacht, mich abheben<br />

zu müssen, sondern bin<br />

meinen Instinkten und Ausdrucksbedürfnissen<br />

gefolgt.<br />

Ich habe enormen Respekt für die gute alte musikalische Tradition und<br />

habe mich sehr intensiv damit beschäftigt. Die Welt ändert sich ständig<br />

und wir uns mit ihr. Optimal wäre es, zwischen Alt und Neu zu kombinieren.<br />

Musikalische Interpretation ist für mich eine Lebenssuche nach<br />

einer Wahrheit, die immer unerreichbar bleibt.<br />

Anna Gourari<br />

Manchmal fühle ich mich wirklich ziemlich<br />

allein. Der einzige Mit- und manchmal auch<br />

der Gegenstreiter ist dann das Instrument.<br />

Dennoch möchte ich nicht sagen, dass Einsamkeit<br />

nicht auch schön sein kann!<br />

63


K L A V I E R<br />

Der Axel-Brüggemann-Kommentar<br />

WIE KLANG<br />

GESCHICHTE SCHREIBT<br />

Der Pianist András Schiff hat sich mit der Schubertiade verkracht.<br />

Anlass war die Marke eines Flügels – tatsächlich aber geht es um viel mehr.<br />

DER ANLASS FÜR SCHIFFS WUT: DIE<br />

ANDEREN KÜNSTLER SPIELTEN AUF<br />

STEINWAY-FLÜGELN UND LOBTEN<br />

AUCH NOCH DESSEN KLANG<br />

Für viele war der Streit, der in den letzten Wochen auf ausgesuchten<br />

Seiten des deutschen Feuilletons tobte, so etwas wie eine Freakshow<br />

der Klassik oder „ein abgefahrenes Paralleluniversum“, wie ein Leser<br />

der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die Debatten in einem Kommentar<br />

beschrieb. Es ging um Folgendes: Der Pianist András Schiff<br />

hatte sich mit den Machern der<br />

Schubertiade in Vorarlberg überworfen:<br />

mit ihrem Intendanten<br />

Gerd Nachbauer, zahlreichen<br />

Musikerkollegen und nicht zuletzt<br />

mit dem Publikum. Schiff holte<br />

zu einem wütenden Rundumschlag<br />

aus, der Intendant Nachbauer<br />

wiederum veranlasste, Stellung<br />

zu beziehen: Der Pianist<br />

hätte „die Beurteilungskompetenz des Schubertiade-Publikums<br />

infrage“ gestellt, erklärte Nachbauer, und „sich abschließend noch<br />

sehr negativ über eine ganze Gruppe von bei uns regelmäßig auftretenden<br />

Künstlern“ geäußert. Der Anlass für Schiffs Wut: Die<br />

anderen Künstler spielten auf Steinway-Flügeln und lobten auch<br />

noch dessen Klang. Schiff hingegen führt seit Jahren einen erbitterten<br />

Feldzug gegen Steinway und wirbt offensiv für die Konkurrenz:<br />

das Haus Bösendorfer in Wien. Nur bei Bösendorfer sei seiner Meinung<br />

nach der wahre Geist der Wiener Hammerflügel aus der Zeit<br />

Beethovens und Schuberts zu hören. Andere Meinungen lässt er<br />

nicht zu. Basta.<br />

Nun mag es Außenstehenden merkwürdig vorkommen, dass<br />

über derartige Details ein handfester Streit eskaliert, an dessen Ende<br />

eine jahrelange, sehr fruchtbare<br />

musikalische Zusammenarbeit<br />

zerbricht. Tatsächlich aber geht es<br />

bei diesem „Flügel-Streit“ um viel<br />

mehr, wie „FAZ“-Kritiker Jan<br />

Brachmann neulich in einem<br />

Kommentar darlegte, in dem er<br />

Schiff kurzerhand zum Schuldigen<br />

erklärte. „Immer deutlicher<br />

wird nun“, schrieb der Feuilletonist,<br />

„dass András Schiff sich mit alternativen Fakten in einen Wahn<br />

von der Reinheit der österreichisch-ungarischen Kultur des Klavierspiels<br />

hineinsteigert, der nichts mit der geschichtlichen Wirklichkeit<br />

zu tun hat. Auch seine Behauptungen über den Klavierbau werden<br />

durch großartige Pianisten täglich widerlegt. Die Schubertiade tut<br />

gut daran, einem derart ressentimentbesessenen Künstler keine<br />

Träne nachzuweinen.“<br />

Vielleicht ist es sinnvoll, an dieser Stelle zunächst einmal fest-<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

64 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


DER FLÜGEL-KRACH<br />

IST IN WAHRHEIT<br />

EINE DEBATTE<br />

ÜBER WELTBILDER<br />

zustellen, dass ich András Schiff mag – als Musiker und als Mensch.<br />

Ich schätze seinen Humor und seine Ernsthaftigkeit, vor allen Dingen<br />

aber seine unglaubliche Unerschrockenheit und Offenheit, die<br />

von seinen Kritikern zuweilen mit Arroganz verwechselt wird. Schiff<br />

sagt, was er denkt – ohne Rücksicht auf Verluste. Er hat kein Problem<br />

damit, zu erklären, dass er Martin Stadtfeld für einen fürchterlichen<br />

Pianisten und Evgeny Kissin auf keinen Fall für ein Genie<br />

hält („Wie würden Sie denn dann Mozart nennen?“). Und es lohnt<br />

auch sonst, die aktuelle Debatte ein wenig aufzudröseln, um zu<br />

erkennen, dass der Flügel-Krach in Wahrheit eine Debatte über<br />

Weltbilder ist, die sich hier lediglich in einem Streit um eine Klavierfirma<br />

manifestieren.<br />

Tatsächlich hatte Schiff bereits in einem Interview 2007 erklärt,<br />

die „ursprüngliche Kultur Ungarns“ wurzele in der „Wiener Tradition“<br />

und komme aus der Habsburger-Welt, die russische Schule<br />

dagegen spiele seiner Meinung nach so gut wie gar keine Rolle im<br />

alten Ungarn. So sei hier kein Ton Rachmaninow gespielt worden.<br />

Das ist so sicherlich nicht richtig, denn die russische Schule hatte<br />

– wie auch Jan Brachmann zeigt – durchaus Protagonisten<br />

in Schiffs Heimat. Das aber hielt Schiff<br />

nicht davon ab, sein Steinway-Bashing zu wiederholen,<br />

wie er es auch im Booklet zu seinen Diabelli-Variationen<br />

betrieb, in denen er die Theorie<br />

des typisch österreichischen Klangideals, das<br />

allein Bösendorfer abbilde, bereits episch<br />

ausbreitete.<br />

Doch man muss Schiffs Argumentation vielleicht<br />

auch aus anderen Perspektiven heraus verstehen.<br />

Dazu ist ein Verständnis seiner Biografie<br />

nicht ganz unwesentlich. Schiff wurde <strong>19</strong>53 in<br />

Budapest als Sohn eines musikbegeisterten jüdischen<br />

Gynäkologen geboren und begann sein<br />

Musikstudium bereits mit 14 Jahren an der Franz-Liszt-Musikakademie<br />

in Budapest. Er erlebte die politischen Repressionen Russlands,<br />

fühlte sich später besonders in England zu Hause und erhielt<br />

2001 schließlich die österreichische Staatsbürgerschaft – 2014 wurde<br />

er sogar in den englischen Ritterstand erhoben. Immer wieder<br />

äußerte Schiff politischen Protest, unter anderem, als er der Schubertiade<br />

im Jahre 2000 schon einmal den Rücken gekehrt hatte, um<br />

gegen die Politik der regierenden Rechtspartei FPÖ unter ihrem<br />

damaligen Chef Jörg Haider zu protestieren. Auch verzichtete Schiff<br />

auf Auftritte in Ungarn, um seinem Protest gegen die Politik Viktor<br />

Orbáns Ausdruck zu verleihen.<br />

„Natürlich bin ich als jüdischer Musiker in diesem Punkt ganz<br />

besonders sensibel und nicht objektiv“, erklärte Schiff bereits im<br />

Jahre 2007 der österreichischen Zeitschrift „profil“. Es sei ihm wichtig,<br />

dass Musiker die gespenstische Haltung Wilhelm Furtwänglers<br />

gegenüber den Nazis kennen und diskutieren. „Furtwängler hat<br />

viele Leben gerettet, aber sein affirmatives Verhalten gegenüber den<br />

Nationalsozialisten war nicht richtig“, sagte Schiff. Ihn hätte schon<br />

in der ersten Rechts-rechts-Regierung in Österreich verwundert,<br />

dass damals aus der Pop- und Theaterszene sehr mutige Stimmen<br />

gegen Jörg Haider zu hören waren, dass sogar Arnold Schwarzenegger<br />

gegen ihn protestiert hätte. Und er hätte sich damals gefragt:<br />

„Wenn der das kann: warum nicht auch klassische Musiker?“ Schiff<br />

erklärte das Schweigen im politischen Klassik-Wald damit, dass<br />

„viele glauben, die Klassik würde einem gewissen Teil der Gesellschaft<br />

gehören, die man nicht unnötig provozieren möchte. Aber<br />

Musik gehört nicht nur dem Bürgertum. Ich betrachte mich ja auch<br />

als Linken.“<br />

Was das alles nun mit der aktuellen Flügel-Debatte der Schubertiade<br />

zu tun hat? Natürlich ist Schiffs Kampf gegen Steinway<br />

verbohrt (was übrigens nicht immer so war, denn ausgewählte Beethoven-Sonaten<br />

spielte er einst durchaus an einem Flügel dieser<br />

Firma). Aber sein Plädoyer für Bösendorfer hat unterschiedliche,<br />

emotional nachvollziehbare Gründe: Zum einen will Schiff dem<br />

Mainstream Paroli bieten. Er selber besitzt zehn oder zwölf Flügel<br />

aus der Beethoven-Zeit in Wien. „Es gab damals allein in Wien über<br />

100 Baumeister“, erklärt Schiff gern, „deren Instrumente sehr unterschiedlich<br />

waren. Die Einförmigkeit war damals noch keine Tugend.“<br />

Dann stellt er seine Standardfrage: „Warum müssen heute alle Instrumente<br />

schwarz sein und aussehen wie Särge?“ In der alten Zeit<br />

seien die Klaviere doch auch aus wunderschönem Rosenholz gefertigt<br />

gewesen. Es geht Schiff also um eine Stimme der Vielfalt gegen<br />

das, was er musikalische Globalisierung nennt.<br />

Noch wesentlicher aber scheint ihm die Verteidigung<br />

einer historischen Hoffnung seiner Heimat<br />

Ungarn zu sein, die sich für ihn ausgerechnet<br />

im differenzierten, eigenwilligen und individuellen<br />

Klang der Bösendorfer-Instrumente widerspiegelt.<br />

Es geht um sein – ja, wohl etwas verklärtes<br />

– Weltbild der aufgeklärten Wiener Gesellschaft<br />

zur Zeit der k. u. k Monarchie, der sowohl<br />

der Freigeist Mozart als auch der Querkopf Beethoven<br />

entsprungen war. Aus diesem Kosmos heraus<br />

würde Schiff so gern die eigentliche Kultur<br />

Ungarns ableiten, die „ursprüngliche“ Kultur seiner<br />

Heimat, wie er es selber formuliert, die sich<br />

einst aus eben dieser „Wiener Tradition“ speiste.<br />

Das ist gerade in Zeiten des wachsenden Orbán-Nationalismus und<br />

mit Blick auf die einstige russische Besetzung Ungarns ein verständlicher<br />

Wunsch – gerade, was auch die Abgrenzung von der russischen<br />

Schule betrifft. Schiffs Geschichtsbild ist nach den kommunistischen<br />

Repressionen und unter der neuen nationalistischen<br />

Rechtsregierung mit ihrem latenten Antisemitismus allzu verständlich.<br />

Er sehnt sich danach, den von Viktor Orbán besetzten Mythos<br />

der Nation zu einem Mythos der Menschlichkeit und Vielfalt umzuschreiben.<br />

Der Klang seines Flügels ist dabei die akustische Flagge,<br />

mit der er in den Kampf ziehen will. Man mag, so wie Jan Brachmann,<br />

András Schiff „Ressentimentbesessenheit“ vorwerfen – dann<br />

wäre es aber nur fair zu sagen, dass seine Ressentiments ihre Wurzeln<br />

in der Kultur des Humanismus suchen.<br />

Dass Schiffs zutiefst persönlicher und emotionaler Blick auf<br />

die Geschichte sich mit einem radikalen, ja, meinetwegen auch verbohrten<br />

Blick auf einen Instrumentenhersteller verbindet, ist problematisch.<br />

Wirklich spannend an dieser Debatte aber ist, dass der<br />

Klang in ihr mehr darstellt als lediglich einen akustischen Ausdruck.<br />

Der Klang, den Schiff beschreibt, ist ein Klang, der für ihn die Ordnung<br />

der Dinge – vor allen Dingen aber die Umschreibung der<br />

Geschichte – beinhaltet. Der Streit über den Klang – das ist, was wir<br />

hier lernen – bedeutet immer auch, das Ohr auf die Tradition zu<br />

legen und ihr ein Bewusstsein über die Definition des Vergangenen<br />

abzulauschen. Allein für diese Bewusstwerdung lohnt sich die<br />

Flügel- Debatte um András Schiff. <br />

■<br />

65


K L A V I E R<br />

AUF DER SUCHE<br />

NACH NEUEN<br />

KLÄNGEN<br />

Ralf Schmid komponiert seine Musik an der Schnittstelle<br />

von klassischem und elektronisch gestaltetem<br />

Klavierklang. Mit seinem Projekt PYANOOK führt er das<br />

Klavier ins 21. Jahrhundert.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

66 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


67<br />

FOTO: NEUMEISTER


K L A V I E R<br />

Ralf Schmid arbeitet<br />

mit Datenhandschuhen<br />

FOTO: NEUMEISTER<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Professor<br />

Schmid, was fasziniert Sie<br />

am Klavier?<br />

Ralf Schmid: Das Klavier ist<br />

seit Kindertagen mein<br />

Instrument. Ich habe mit fünf Jahren<br />

angefangen, es zu spielen, und seither hat<br />

es mich durch mein Leben begleitet. Ihm<br />

gilt meine Faszination. Es ist ein besonderes<br />

Instrument vieler musikalischer<br />

Sphären. Auch wenn ich als Komponist,<br />

Dirigent, Arrangeur oder Produzent tätig<br />

bin, bleibt meine Basis bei allem immer<br />

das Klavier.<br />

Das 20. Jahrhundert arbeitete sich am<br />

pianistischen Erbe ab. Piano Activities von Philip Corner wurde<br />

<strong>19</strong>62 in Form der mehrtägigen Zerlegung eines Flügels aufgeführt,<br />

dessen Teile an das Publikum versteigert wurden.<br />

Brachten solche Aktionen wie diese Fluxus-Performance die<br />

erhoffte Befreiung?<br />

Eine Befreiung erfolgte nur in bestimmten Szenen, im Mainstream<br />

ist sie kaum zu spüren. An Musikhochschulen konzentriert sich die<br />

pianistische Ausbildung nach wie vor auf ein Spektum von Bach<br />

bis Bartók, mit Fokus auf dem <strong>19</strong>. Jahrhundert. Und wir bilden hier<br />

die nächste Generation von Musikern aus, die demnächst ins<br />

Konzertleben tritt oder wieder unterrichtet.<br />

Empfinden Sie das pianistische Erbe als Bürde oder als<br />

Herausforderung?<br />

Eine Bürde ist es, wenn man die Epoche nicht verlässt. Das <strong>19</strong>. Jahrhundert<br />

war eine Blüte für das Klavier, für die Komponisten, die<br />

dafür schrieben, und für die Interpreten, die virtuos darauf<br />

spielten. Liszt, Chopin und all die Koryphäen von damals komponierten<br />

und improvisierten mit den Mitteln ihrer Zeit großartige<br />

Musik. Wir können so viel von ihnen lernen. Gegenwärtig aber<br />

findet die Pflege ihrer Werke oft verkürzt statt. Wir interpretieren<br />

diese gut 100 Jahre alten Kompositionen – ließe man sich darüber<br />

hinaus auf den freien improvisatorischen Geist dieser Meister ein,<br />

könnte das Erbe eine weitaus größere Inspiration sein.<br />

Ein Komponist, der sich immer wieder mit dem Erbe<br />

herumschlug und sich intensiv mit dem Klavier auseinandersetzte,<br />

war John Cage …<br />

Cage ist eine der größten Inspirationsquellen für mein Projekt<br />

PYANOOK. Seine Schriften las ich bereits Jahre davor, und mit<br />

seiner Musik begann ich meine Klangreise. Ich suchte im Flügel<br />

nach neuen Klangfarben, und diese Suche setzte damit ein, dass ich<br />

Cage kopierte und ausprobierte – wie es klingt, wenn man<br />

Nylonschrauben und Gummis an die Saiten heftet. Allerdings ging<br />

ich in der Folge zu zeitgenössischen elektronischen Techniken über<br />

und jagte die John-Cage-Klänge durch Effektschleifen.<br />

Karlheinz Stockhausen betrachtete den Synthesizer als Weiterführung<br />

des Klaviers. Wie beurteilen Sie seine Einschätzung?<br />

In vielen Bereichen der Musik gab es diese Anfangsbegeisterung<br />

für den Synthesizer sowie elektronische und später auch digitale<br />

Varianten von Klavier. Ich möchte das Klavier erhalten. Mit seiner<br />

Aura empfinde ich es als ideale Basis für ein elektronisches Projekt<br />

wie PYANOOK, das die Gegenwart aufnimmt und zugleich in die<br />

Zukunft denkt. Ich liebe das Holz und die Klangästhetik, die mit<br />

elektronischen Mitteln nicht nachzuahmen ist. Die Elektronik hat<br />

andere Stärken.<br />

Sie arbeiten mit den Datenhandschuhen, die die Londoner<br />

Gruppe mi.mu. entwickelte, um den Klang des Flügels zu<br />

verändern. Ist das für Sie der Weg, die<br />

Pianistik ins 21. Jahrhundert zu bringen?<br />

Es ist ein Weg – mein Weg, im 21. Jahrhundert<br />

neue Klänge zu finden, neue<br />

Strukturen zu generieren und neue Musik<br />

zu komponieren, zu improvisieren und mit<br />

Einbeziehung der elektronischen Ebene<br />

eine Art digitale Poesie zu kreieren.<br />

Entgrenzung ist für mich ein wichtiges<br />

Thema. Ich überwinde Grenzen und suche<br />

nach Schnittstellen zwischen der analogen<br />

und digitalen Performance, zwischen der<br />

analogen und digitalen Klangwelt und<br />

zwischen stilistischen Sphären.<br />

Wie bringen Sie diese Datenhandschuhe<br />

in PYANOOK zum Einsatz?<br />

Ich spiele auf zwei Flügeln, die ich mikrofoniere. Den Klang des<br />

einen belasse ich unverändert. Die Saiten des anderen präpariere ich<br />

à la Cage oder verändere dessen Klänge elektronisch. Die Handschuhe<br />

ermöglichen es mir, die Klänge in Echtzeit mit Effekten<br />

auszustatten. Das können Hallräume sein, Echos, Modulationen<br />

oder digitale Filter, mit denen sich Höhen oder Bässe dazusetzen<br />

lassen. Während ich spiele, vermag ich durch Arm- oder Fingerbewegungen<br />

die Klänge meines Flügels durch Effektschleifen zu<br />

schicken und diese live zu steuern. Ich kann mit meinem Flügelklang<br />

Kathedralen öffnen und wieder schließen oder durch das<br />

Ballen einer Faust den Klang in eine Verzerrung schicken.<br />

Durch die Armbewegungen beziehen Sie auch den Raum in Ihre<br />

Musik ein. Der Komponist Marco Stroppa nannte den Raum das<br />

größte Rätsel der Musik …<br />

Die Hände im Raum zu bewegen und damit einen Klang zu<br />

formen, ist unglaublich faszinierend. Es eröffnet eine andere<br />

Dimension und lässt etwas mitschwingen. Für mich war es ein<br />

logischer Schritt, von der Klavierbank aufzustehen. Wenn sich<br />

mein Klang in einem langen Kathedralenhall befindet, kann<br />

ich den im Raum stehenden Klavierakkord formen. Damit ergibt<br />

sich eine neue Ästhetik.<br />

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Lichtkünstler Pietro<br />

Cardarelli?<br />

Als der Raum in meine Musik einbezogen war, wollte ich ihn auch<br />

künstlerisch gestalten und die Szenerie nicht dem Zufall überlassen.<br />

Pietro Cardarelli ist in vielen Bereichen der digitalen Kunst<br />

und der Videokunst tätig und arbeitet als Bühnenbildner am<br />

Theater. Er entwarf für die Aufführungen von PYANOOK eine<br />

Szenerie und eine visuelle Umsetzung. Derzeit arbeiten wir daran,<br />

dass meine Bewegungen, mit denen ich die Klänge verändere, auch<br />

seine visuellen Projektionen verändern.<br />

Der meditative Charakter Ihres Projekts lässt erneut an John<br />

Cage denken. Ist Ihnen das Meditative ein Anliegen?<br />

Das Meditative und das Versenken in den Klang sind für mich ein<br />

wichtiger Aspekt. Ich möchte mit meiner Musik Menschen<br />

erreichen und ihnen etwas mitgeben. Wir leben in einer immer<br />

schneller werdenden Welt. Die Musik kann diese rasende Zeit<br />

aufheben und in meditative Momente überführen.<br />

Am 8. November erscheint auch ein Album von PYANOOK …<br />

Das Label Neue Meister trat an mich heran und schlug die<br />

Produktion eines Albums vor. Die Aufnahmen erfolgten im<br />

restaurierten Operntheater der italienischen Stadt Ascoli Piceno.<br />

Cardarelli stammt daher, und er organisierte, dass wir in diesem<br />

traumhaften Setting eine Woche lang aufnehmen und konzertieren<br />

konnten.<br />

■<br />

68 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


DER<br />

KLAVIERVERSTEHER<br />

„Wer ausschließlich mit dem Gerät stimmt, verlässt sich auf seine Augen, nicht auf seine<br />

Ohren“, sagt Klavierstimmer Stefan Knüpfer. Als solcher hat er einiges erlebt.<br />

VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL<br />

Sänger, vorwiegend Primadonnen, haben seit jeher die Schriftsteller<br />

zu Romanen inspiriert. Aber ein Klavierstimmer? In<br />

Pascal Merciers Der Klavierstimmer jedenfalls erschießt ein<br />

stadtbekannter Klavierstimmer und Meister seines Fachs,<br />

der bereits in Karajans Diensten stand, einen berühmten italienischen<br />

Tenor. Als Stefan Knüpfer die Story hört, lacht er laut und<br />

kontert: „Eigentlich müsste es doch heißen, wann bringe ich mich<br />

um?!“ Schließlich habe er als<br />

Cheftechniker von Steinway<br />

in Wien einiges erlebt im<br />

Umgang mit weltberühmten<br />

Klienten. Etwa wenn der von<br />

Lampenfieber und Versagensängsten<br />

gepeinigte Konzertpianist<br />

kurz vor dem Auftritt<br />

meint, dass der Ton „nicht<br />

atme“, obwohl Knüpfer tagelang<br />

am Instrument getüftelt,<br />

gewerkelt und alle Schrauben<br />

und Keile justiert hatte.<br />

Da gilt es, Nerven und<br />

Ruhe zu behalten. Denn nur<br />

zufriedene Pianisten seien<br />

eben auch gute Pianisten,<br />

weiß Knüpfer. „Was ist physikalisch<br />

das Problem, und wie<br />

kann man es physikalisch<br />

lösen?“ Das sind die Fragen,<br />

die er sich dann stellt, um, wie<br />

ein Techniker der Formel 1,<br />

das oft auch nur vermeintliche<br />

Problem anzugehen. Dabei<br />

scheut er nicht vor unkonventionellen<br />

Methoden zurück,<br />

wie die Geschichte mit einem<br />

Tennisball zeigt. „Wir hatten<br />

da ein Instrument, das war<br />

lange nicht gespielt worden.<br />

Das stand da wie ein Oldtimer,<br />

der lange nicht gefahren worden<br />

war. Hätte man da einen<br />

Rennfahrer hineingesetzt,<br />

wäre das Auto dahingewesen.<br />

So kam ich auf die Idee, mithilfe eines Tennisballs den Flügel schön<br />

weich zu klopfen. Und: Er klang wieder!“<br />

Zu Knüpfers Klientel zählt die erste Garde der Konzertpianisten.<br />

Und dennoch könnten nur wenige ihre Klangvorstellung<br />

beschreiben, sagt er. „Es geht ja nicht um die ganz einfachen dynamischen<br />

Kategorien wie laut und leise, hart oder weich. Es geht um<br />

das Dazwischen, um Emotionen. Einige sagen mir: ‚Der Ton soll<br />

reich sein.‘ Aber was bedeutet denn ein reicher Ton? Ein Ton hat<br />

Hand angelegt: Stefan Knüpfer bei der Arbeit<br />

FOTO: STEFAN OLAH<br />

doch kein Konto.“ Alfred Brendel etwa wollte einen in allen Lagen<br />

ebenmäßigen Ton, Pierre-Laurent Aimard wiederum wünschte sich<br />

für jede Bach-Fuge die ganze Klangpalette, aufgefächert wie ein<br />

Regenbogen. Pflegeleicht hingegen war Lang Lang, der einen „Instinkt<br />

für Töne“ hatte, egal auf welchem Instrument. „Der brauchte<br />

eher einen stabilen Stuhl, der seinem Temperament standhält.“<br />

Knüpfer könnte es sich leichter machen und mit einem Stroboskop<br />

oder anderen Geräten die<br />

Tonfrequenzen messen, um<br />

quasi auf Knopfdruck den<br />

richtigen Ton zu erreichen. Er<br />

lehnt das ab. Er begreift den<br />

Ton wie eine Farbe, innerhalb<br />

derer allerlei Schattierungen<br />

und Abstufungen und Nuancen<br />

möglich sind. „Wer ausschließlich<br />

mit dem Gerät<br />

stimmt, verlässt sich auf seine<br />

Augen, nicht auf seine Ohren“,<br />

sagt er. Einen Großteil seiner<br />

Arbeit habe er deshalb unterhalb<br />

des Instruments verbracht<br />

und den Pianisten unter<br />

die Finger geschaut: um zu<br />

sehen „mit welchem Impuls,<br />

mit welcher Geschwindigkeit,<br />

welchem Gewicht er auf die<br />

Tasten drückt“.<br />

Eine zwar nicht devote,<br />

aber doch demütige Haltung<br />

für einen Mann, der einst<br />

selbst Pianist werden wollte.<br />

<strong>19</strong>67 in Hamburg geboren,<br />

weiß er heute selbst nicht<br />

mehr so genau, wie er auf die<br />

Idee kam, Klavierstimmer zu<br />

werden. Nur: Er war 15 Jahre<br />

alt, und es war an einem<br />

Samstag. „Ich hatte mal wieder<br />

eine Matheklausur verpatzt.<br />

Da dachte ich mir: Jetzt<br />

habe ich genug. Ich werde Klavierstimmer.<br />

Dann habe ich<br />

mich bei Steinway beworben.“ Das Handwerk wollte er in jedem<br />

Fall dort erlernen. „Immer, wenn ich im Schaufenster die Instrumente<br />

sah, war das für mich wie pure Magie. Allein schon die Klappe<br />

mit dem Emblem darauf. Diese Welt übte einen unglaublichen Sog<br />

auf mich aus. Bis heute.“<br />

Ein Roman wurde noch nicht über ihn geschrieben, dafür aber<br />

mit Pianomania (2009) von Robert Cibis und Lilian Frank ein wunderbarer<br />

Film gedreht.<br />

■<br />

69


Titel Gill 60pt<br />

Softreturn light<br />

Abonnieren Sie die schönsten Seiten der<br />

Klassik für nur 55 EUR*:<br />

Lead 14 pt sda conectur autatium labore esed<br />

6 Ausgaben <strong>CRESCENDO</strong><br />

untorisquia ss cusam<br />

mit<br />

haruptiasi<br />

Festspiel-Guide<br />

cons<br />

und Geschenk-CD VON AUTOR GILL 8PT<br />

www.crescendo.de<br />

Wir<br />

schenken<br />

Ihnen<br />

„Richard Strauss: Don Quixote.<br />

Daniel Müller-Schott, Herbert<br />

Schuch, Melbourne Symphony<br />

Orchestra, Sir Andrew Davis<br />

(Orfeo)<br />

2018_Bildunterschrift<br />

Abo bestellen unter:<br />

www.crescendo.de/abo, kostenlos unter 0800 / 66 66 300, per E-Mail an abo@crescendo.de, per Fax an 089/741509-11<br />

oder per Post: Port Media GmbH, Vertrieb, Rindermarkt 6, 80331 München (bitte Code CPPAE05<strong>19</strong> angeben)<br />

*) Abo-Preis Inland bei Zahlung per Bankeinzug. Sollten Sie Bezahlung per Rechnung wünschen, fallen zusätzlich 5 EUR Bearbeitungsgebühr an. Versand ins Ausland gegen Gebühr. Das Abo läuft zunächst für ein Jahr und kann dann gekündigt<br />

werden. Das Angebot ist nur in Deutschland, der Schweiz und im EU-Ausland verfügbar und nicht wiederholbar. Geschenk-CD und Prämien: solange der Vorrat reicht. Widerrufsrecht: Die Bestellung kann ich innerhalb der folgenden<br />

zwei Wochen ohne Begründung bei Abo-Service <strong>CRESCENDO</strong> in Textform (z. B. per Mail oder Brief) oder durch Rücksendung der Zeitschrift widerrufen. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung.<br />

BILD CREDIT 5PT<br />

Abb.: Portmedia Verlag; Strezhnev Pavel / fotolia.com<br />

70 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


KINDER FÜR DAS<br />

KLAVIERSPIELEN<br />

BEGEISTERN<br />

Gregor Willmes, seit 2017 Vorstandsmitglied der Carl Bechstein Stiftung,<br />

wirkte bereits als Projektmanager an ihrem Aufbau mit.<br />

Im Gespräch erläutert er die Förderprojekte und Ziele der Stiftung.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

FOTO: CARL BECHSTEIN STIFTUNG<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Willmes, 2012<br />

wurde die Carl Bechstein Stiftung ins<br />

Leben gerufen, benannt nach dem<br />

Gründer der Berliner Pianoforte-Fabrik.<br />

Was war der Anlass der Gründung?<br />

Gregor Willmes: Wir trugen uns schon<br />

länger mit Überlegungen, wie wir das<br />

Klavierspielen fördern könnten. Dabei<br />

dachten wir vor allem an Kinder und Jugendliche. Wir fühlen uns<br />

der Tradition des Klavierspielens seit Franz Liszt verbunden, und<br />

unser Wunsch ist es, auch künftige Generationen dafür zu<br />

gewinnen. Auf diese Weise kam ein Prozess in Gang, der<br />

schließlich zur Gründung dieser Stiftung führte.<br />

Warum wendet sich die Stiftung an Schulen und nicht etwa an<br />

Freizeiteinrichtungen?<br />

Wir haben das Projekt „Klavier für Grundschulen“ initiiert, weil<br />

wir vor allem Kinder für das Klavierspielen begeistern wollen.<br />

Untersuchungen belegen die positiven Auswirkungen des<br />

Musizierens und insbesondere des Klavierspielens auf die<br />

Entwicklung junger Menschen. Es ist gut, wenn Kinder möglichst<br />

früh mit dem Spielen anfangen. Das ideale Einstiegsalter liegt bei<br />

fünf bis sechs Jahren. Kinder dieses Alters erreichen wir am<br />

besten über die Grundschulen. Es gibt immer mehr Ganztagsschulen,<br />

wodurch die Kinder keine Gelegenheit mehr haben,<br />

nachmittags eine Musikschule zu besuchen. Da hatten wir die<br />

Idee, den Klavierunterricht in die Schulen zu verlegen.<br />

Das Klavierspielen und die Marke C. Bechstein sind ja eng<br />

verbunden mit dem Image einer traditionellen bürgerlichen<br />

Erziehung. Ist das auch das Ideal, dem sich die Stiftung<br />

verpflichtet fühlt?<br />

Das klingt wie „von gestern“. Wir wollen die jungen Menschen<br />

heute erreichen. Klavierspielen macht Spaß. Und diesen Spaß<br />

wollen wir möglichst vielen Kindern und Jugendlichen<br />

ermöglichen. Wir möchten nicht nur Kinder aus Bildungsbürgertumfamilien<br />

ansprechen, sondern gerade auch Kindern<br />

einen Zugang zum Spielen eröffnen, die nicht mit diesen<br />

traditionellen Musikkulturen aufwachsen.<br />

Wie sieht die praktische Durchführung eines Förderprojekts<br />

aus? Gehen Sie zuvor in die Schulen<br />

und sprechen mit den Kindern, ob sie<br />

Lust auf Klavierspielen haben?<br />

Unser Projekt hat sich mittlerweile so<br />

weit herumgesprochen, dass die Schulen<br />

sich bei uns bewerben. Da sie von der<br />

öffentlichen Hand nicht mehr genügend<br />

Geld bekommen, um sich selbst ein<br />

Klavier zu kaufen, wenden sie sich an uns. Wir besuchen dann die<br />

Schulen, sprechen mit den Lehrern, schauen, ob sie engagierte<br />

Musikpädagogen haben, und erkunden die Möglichkeiten eines<br />

Klavierunterrichts. Die Instrumente, die wir zur Verfügung<br />

stellen, können im Regelunterricht zum Einsatz kommen, sollen<br />

aber auch zum Klavierunterricht genutzt werden. Daher sind<br />

gerade Ganztagsschulen an unserer Stiftung interessiert.<br />

Die Stiftung fördert auch besonders begabte Kinder, die eine<br />

pianistische Laufbahn anstreben. Welche Initiativen gibt es da?<br />

Zum einen veranstalten wir einmal im Jahr in Berlin den<br />

Carl Bechstein Wettbewerb, zu dessen Teilnahme wir Jugendliche<br />

bis zur Vollendung des 17. Lebensjahres einladen. Zum anderen<br />

kooperieren wir mit dem Bundesjugendwettbewerb „Jugend<br />

musiziert“. Wir vergeben alle drei Jahre vier Stipendien an<br />

höchstplatzierte Pianisten in der Altersgruppe von 13 bis 14<br />

Jahren. Diese erhalten von uns drei Jahre lang eine Förderung in<br />

Form finanzieller Unterstützung, der Einladung zu Konzerten<br />

und – wenn nötig – sogar der Vermittlung von Lehrern. Darüber<br />

hinaus vergibt die Stiftung zahlreiche Sonderpreise bei Wettbewerben.<br />

So sind wir seit Jahren beim Internationalen<br />

Klavier wettbewerb Jugend in Essen tätig. In diesem Jahr haben<br />

wir uns erstmals beim neuen Internationalen Carl Maria von<br />

Weber Wettbewerb für junge Pianisten des Sächsischen<br />

Landes gymnasiums für Musik in Dresden engagiert. Und<br />

beim Deutschen Musikwettbewerb vergaben wir einen großen<br />

Sonderpreis.<br />

Und welche Planungen gibt es für die Zukunft?<br />

Unser Wunsch ist es, ein Haus in Berlin zu haben. In dem wir<br />

Workshops, Meisterkurse, Wettbewerbe und Konzerte mit jungen<br />

Pianisten veranstalten können. www.carl-bechstein-stiftung.de<br />

71


K L A V I E R<br />

WOHER KOMMT<br />

EIGENTLICH …<br />

… das Klavier ?<br />

VON STEFAN SELL<br />

Bartolomeo<br />

Cristofori: Porträt<br />

eines unbekannten<br />

Malers<br />

Ein ovaler Rokokosaal in den Farben<br />

Weiß und Gold, überall runde Stehtische<br />

mit weißen Hussen, von eleganten<br />

Herren mit Sektflöten und<br />

Lachshäppchen umkreist. 120 Gäste haben<br />

sich eingefunden, die die Vorsitzende der<br />

Internationalen Slagharpa Liga, Frau Prof.<br />

Dr. Tastenspiel, mit erhobenem Sektglas<br />

begrüßt:<br />

„Meine sehr verehrten Herren, wir<br />

widmen uns heute der Frage: Woher kommt<br />

eigentlich das Klavier? Wer hat es erfunden?<br />

(Unruhe kommt auf) ... ich weiß, ich weiß,<br />

Sie alle ... Lassen Sie uns anstoßen auf die,<br />

die uns mit ihrer Ausdauer, ihrer Erfindungsfreude, ihrem unermüdlichen<br />

Pioniergeist ermöglicht haben, Klavier zu spielen. Skål!<br />

Ein Hoch auf leise und laute Töne. Sie alle hier hatten es sich zur<br />

Aufgabe gemacht, ein Klavier zu bauen, das sowohl Piano als auch<br />

Forte spielen kann. Sie werden sich erinnern, einst wurden die Saiten<br />

mit einem Federkiel angerissen, bis 1694 Signore Cristofori die<br />

Idee mit dem Hammer kam. Ich darf einen Zeitzeugen zitieren: ‚Es<br />

ist jedem Kenner bewußt, dass in der Musik das Schwache und das<br />

Starke gleich wie Licht und Schatten in der Mahlerey, die vornehmste<br />

Quelle sei, woraus die Kunsterfahrenen das Geheimnis gezogen,<br />

ihre Zuhörer ganz besonders zu ergötzen. So ist in Florenz von Herrn<br />

Bartolomeo Cristofori, einem bey dem Großherzog in Diensten stehenden<br />

Clavir-Macher, aus Padua gebürtig, diese so kühne Erfindung<br />

nicht weniger glücklich ausgedacht als mit Ruhm ins Werk<br />

gesetzt worden.’ 1697 haben Sie das erste Hammerklavier gebaut,<br />

ein Prototyp der heutigen Klaviere. Herzlich willkommen, Signore<br />

Cristofori!“ (Applaus). Ein kleiner zierlicher Mann, von bleichem<br />

Teint erhebt sein Glas freundlich nickend in die Runde und führt<br />

es an seine schmalen Lippen.<br />

„Dann kamen Sie ins Spiel, Herr Gottfried Silbermann“, fährt<br />

die Vorsitzende fort, „ohne Sie wäre wohl die Erfindung Cristoforis<br />

in Vergessenheit geraten.“ Cristofori verzieht die dünnen Lippen<br />

und wiegt zweifelnd den Kopf. „Herr Silbermann, Sie sind uns<br />

bekannt als jemand, der alle Register ziehen kann, Sie waren es, der<br />

die Mechanik verbessert hat.“ Der Sachse Silbermann reagiert<br />

prompt: „Ja, Cristoforis Idee war einfach der Hammer!“ (Der zierliche<br />

Cristofori blüht wieder auf.) „Der Hammer machte den<br />

Anschlag lauter. Ich habe allerdings die Spielfähigkeit alltagstauglich<br />

gemacht, der alte Bach war ganz verrückt danach.“<br />

Da meldet sich der aus Stuttgart angereiste<br />

Dichter und Musiker Christian Daniel<br />

Schubart: „Stein in Augsburg hat dem Fortepiano<br />

eine Stärke, Schönheit und Wirkung<br />

gegeben.“ „Habt ihr vergessen, als der<br />

Saitenzug zunahm, baute ich aus einem<br />

Guss den Rahmen!“, ruft aufgebracht<br />

Alpheus Babcock aus Boston dazwischen.<br />

„Ohne unsere Repetitionsmechanik hätte<br />

aber niemand so schnell hintereinander<br />

anschlagen können“, wetteifert der Klavierbauer<br />

Sébastien Érard aus Paris. „Und die<br />

läuft nur wegen meiner ‚Herzfeder‘ so glatt“,<br />

drängt sich Henri Herz nach vorn.<br />

„Moment, ich habe aus den Lederkappen, die den Hammerkopf<br />

polsterten, Filzhüte gemacht“, wettert Henri Pape los.<br />

„Aber meine Herren“, beruhigt die Vorsitzende, „Sie alle haben<br />

Ihren Beitrag geleistet“, (Broadwood, Pleyel, Bösendorfer und Steinway<br />

schütteln verächtlich den Kopf), „auch viele, die heute Abend<br />

gar nicht anwesend sind. Ihnen allen herzlichen Dank! Aber Sie<br />

haben nicht nur Freude damit bereitet – lassen wir den Musikpapst<br />

Eduard Hanslick zu Wort kommen“: „Sie wünschen meine Ansicht<br />

über jene unbarmherzige moderne Stadtplage zu hören, die es heute<br />

glücklich bis zu der ehrenvollen Bezeichnung ‚Clavierseuche‘<br />

gebracht hat. Ich glaube allen Ernstes, daß unter den hunderterlei<br />

Geräuschen und Mißklängen, welche tagüber das Ohr des Großstädters<br />

zermartern und vorzeitig abstumpfen, diese musikalische<br />

Folter die aufreibendste ist.“<br />

Da platzt Heine in den Saal: „Diese ewige Klavierspielerei ist<br />

nicht mehr zu ertragen! Diese grellen Klimpertöne ohne natürliches<br />

Verhallen, diese herzlosen Schwirrklänge, dieses erzprosaische<br />

Schollern und Pickern, dieses Fortepiano tötet all unser Denken<br />

und Fühlen, und wir werden dumm, abgestumpft, blödsinnig.“<br />

(Rundherum Schweigen)<br />

„Meine Herren, sorgen Sie sich nicht, all Ihre haarsträubenden<br />

Argumente sind im Laufe der Zeit hinfällig geworden. Überzeugen<br />

Sie sich selbst, ich präsentiere Ihnen das Silent Piano, das über ein<br />

Pedal stummgeschaltet wird, der Hammerkopf wird gestoppt, bevor<br />

er die Saite auch nur berühren kann, ob Piano oder Forte, jeder<br />

Klang, jeder Ton kommt jetzt digital heraus. Wer spielt, kann seine<br />

Musik über Kopfhörer hören, aber niemand muss mehr mithören,<br />

geschweige denn zuhören. Ich bedanke mich bei Ihnen und beende<br />

hiermit unseren Festakt in aller Stille.“<br />

n<br />

72 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


LEBENSART<br />

Kartoffelpuffer oder Rösti? Die Berlinerin Katharina Thalbach und das Feininger Trio aus der Schweiz am Herd (Seite 74)<br />

Paula Bosch war in Österreich. Und hat wunderbare Weine mitgebracht (Seite 76)<br />

Und überall ist Liszt: Die Pianistin Mariam Batsashvili zeigt uns ihre Stadt der Liebe: Budapest (Seite 78)<br />

präsentiert<br />

am 17. <strong>Oktober</strong><br />

WASSERSPIEGELUNGEN<br />

Rafael Schölermann stammt aus der kanadischen Künstlerfamilie<br />

de Grandmaison, sein Großvater Nicholas war ein bekannter<br />

Porträtmaler. Schölermann studierte zunächst Musik<br />

und arbeitete als freischaffender Musiker und Komponist.<br />

In seiner Serie Waterworks zeigt Rafael Schölermann Fotografien,<br />

bei denen die Realität der Auslöser für die Bildfindung ist. Indem er<br />

mit der traditionellen Erwartung an Fotografie, der Abbildtreue,<br />

bricht, öffnen sich Freiräume für eine malerische Auffassung. Weder<br />

arrangiert noch überarbeitet Rafael Schölermann seine Fotografien,<br />

frei nach der Devise „die Natur erschafft das beste Bild<br />

selbst“. Durch Ausschneiden und Fokussieren wird die Realität<br />

verfremdet, ohne dass er sie manipulieren müsste. So schafft er<br />

abstrakte impressionistische Kompositionen mit großer Wirkung.<br />

Die Fülle von Farbtönen und -nuancen entsteht durch Spiegelungen<br />

von Wolken, Häusern, Bäumen, Schiffsmasten etc. auf der<br />

Wasseroberfläche. Rafael Schölermanns Fotos, die zu verschiedenen<br />

Tageszeiten und bei unterschiedlichstem Wetter entstehen,<br />

sind nicht dokumentarisch, sie sind ein Schatten der uns umgebenden<br />

Welt und strahlen Ruhe und große Schönheit aus.<br />

www.waterworks.photos<br />

Vernissage in den Redaktionsräumen (Rindermarkt 6, München) am<br />

17. <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong> – Eintritt frei. Anmelden unter crescendo.de/vernissage<br />

FOTO: RAFAEL SCHÖLERMANN<br />

73


L E B E N S A R T<br />

Lieblingsessen!<br />

HIER VERRATEN DIE STARS IHRE BESTEN REZEPTE.<br />

UND KLEINE GESCHICHTEN, DIE DAZUGEHÖREN ...<br />

FOTO: BEATRICE VOHLER, WWW.VOHLER.COM<br />

„KANN MAN TEILEN.<br />

MUSS MAN ABER NICHT!“<br />

KATHARINA THALBACH<br />

74 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


KATHARINA THALBACH<br />

SCHAUSPIELERIN<br />

Mein Lieblingsessen? Kartoffelpuffer! Seit ich klein bin. Früher hat sie mir meine Mama immer gemacht. Heute mach<br />

ich sie mir selbst. Und meist wandern sie direkt aus der Pfanne in den Mund. Klar könnte man teilen, muss man aber<br />

nicht. Fünf große reichen knapp. Pur, ohne alles. Kein Mensch braucht Apfelmus dazu.<br />

FEININGER TRIO<br />

Unsere Zusammenarbeit mit Katharina für „… sink hernieder, Nacht der Liebe“ begann mit einer kleinen Katastrophe:<br />

Die Sprecherin sagte kurz vor der Veranstaltung ab. Wir fragten mutig DIE Ikone unserer Vorstellung, einer Absage gewärtig:<br />

Katharina Thalbach, die mit ihrer Stimme für diese Aufgabe geradezu prädestiniert ist. Und sie sagte einfach zu,<br />

ohne Wenn und Aber. Dass wir als Schweizer Trio mit Katharina unverhofft eine vierte Eidgenossin in unserem Kreis<br />

hatten – ihr Vater ist der Schweizer Regisseur Benno Besson –, fühlte sich besonders an. Allerdings würden wir Kathis<br />

Lieblingsgericht sehr gerne unsere Rösti gegenüberstellen, denn wir finden: Rösti macht immer eine gute Falle!<br />

Als hätten sie sich<br />

schon ewig gekannt:<br />

Katharina Thalbach mit<br />

dem Feininger Trio<br />

FOTO: IRÈNE ZANDEL<br />

•<br />

KARTOFFELPUFFER À LA THALBACH<br />

5 faustgroße festkochende Kartoffeln, 1 große Zwiebel, 2 Eier, 50 g Mehl, Salz, Pfeffer, Muskat, Rapsöl<br />

Kartoffeln und Zwiebel schälen, waschen und fein reiben. Eier, Mehl, 1 TL Salz und Pfeffer unter die Kartoffelmischung<br />

rühren. In einer großen Pfanne ausreichend Öl erhitzen, pro Kartoffelpuffer etwa 2 EL Kartoffelmasse hineingeben, flach<br />

streichen. Sobald die Puffer nach etwa 4 Min. an den Rändern braun werden, wenden und in etwa 4 Min. fertig braten.<br />

•<br />

BIRNEN-SPECK-RÖSTI À LA FEININGER TRIO<br />

Für die Rösti Gschwellti (Pellkartoffeln) schälen und an der Röstiraffel in eine Schüssel raffeln. Birnen und Speck fein<br />

würfeln, zugeben, würzen. Alles sorgfältig mischen.<br />

Bratbutter (Butterschmalz) in einer beschichteten Bratpfanne erhitzen. Kartoffel-Birnen-Speck-Mischung zugeben.<br />

Bei mittlerer Hitze 10 bis 15 Min. braten, ab und zu wenden. Gehackte Dörrbirnen daruntermischen. Kartoffel mischung<br />

auf Pfannengröße flach streichen, 5 bis 10 Min. weiterbraten, bis sich eine braune Kruste gebildet hat. Rösti auf eine<br />

flache Platte oder einen Teller stürzen und in die Pfanne zurückgleiten lassen. Zweite Seite fertig braten.<br />

Rösti auf der vorgewärmten Platte oder dem Teller anrichten.<br />

Passt gut zu Käseplatte, Soßenfleisch, Wildgerichten oder Gemüse.<br />

Schubert: „… o sink hernieder, Nacht der Liebe“,<br />

Katharina Thalbach, Feininger Trio (Cavi)<br />

75


L E B E N S A R T<br />

Die Paula-Bosch-Kolumne<br />

FELIX AUSTRIA 2.0<br />

Glückliches Österreich, diesen Ruf hatte sich das Land im Hinblick auf seine Weine<br />

einst gründlich verspielt. Doch hat es seine Krise hinter sich gelassen.<br />

Dank einer Generation, die nach dem Glykol-Skandal mit globaler Offenheit die<br />

regionalen Weine in die Spitzengastronomie führt.<br />

Nein, die österreichischen Weine sind in den letzten<br />

drei Jahrzehnten nicht Jahr für Jahr besser geworden,<br />

weil der Weinskandal des Jahres <strong>19</strong>85, jene<br />

Verfälschung der Weine mit Diethylenglykol, die<br />

Winzer zum Handeln gezwungen hätte. Die Weinqualitäten<br />

sind in erster Linie besser und besser geworden, weil –<br />

wie in vielen anderen europäischen Weinregionen in dieser Zeit –<br />

eine neue, bestens ausgebildete, teils durch die ganze Welt gejettete,<br />

junge Winzergeneration herangewachsen<br />

ist, die einfach Mut zum Risiko, die<br />

nötige Energie, den Willen und auch das<br />

Zeug zu einem Neustart in sich trug.<br />

In dieser Zeit, <strong>19</strong>86, wurde auch<br />

die ÖWM (Österreich Wein Marketing<br />

GmbH) zur Image- und Absatzförderung<br />

gegründet. Sie hat an der positiven Entwicklung<br />

des Weinmarktes einen großen Anteil, nicht zuletzt wegen<br />

der weltweiten Engagements und Einladungen mit österreichischen<br />

Premiumwinzern und deren Weinen.<br />

In diesem Jahr war ich nun in Österreich zum Weingipfel-Treffen<br />

eingeladen, das unter dem Motto „Weingeschichte mit Terroir-<br />

Schnittstellen im Herzen Europas“ stand. Die Reise führte in die<br />

Weinanbaugebiete zu den angrenzenden Ländern Tschechien, Slowakei,<br />

Ungarn, Slowenien und Südsteiermark.<br />

Klimatisch betrachtet befinden sich Österreichs bedeutendste<br />

Weinregionen vorwiegend im Osten. Flächenmäßig ist Niederösterreich<br />

mit 50 Prozent das größte und auch bedeutendste Anbaugebiet.<br />

Es grenzt an die Tschechien und Slowakei, während das Burgenland<br />

in ganzer Länge an Ungarn, die Steiermark und ganz im<br />

Süden an Slowenien stößt.<br />

Neben viel Geschichte und Weinhistorie, die uns dort präsentiert<br />

wurden, konnten wir wunderbare Weine probieren, viele von<br />

Weingütern, die mir schon vor Jahren aufgefallen sind und deren<br />

Weine immer noch besser werden.<br />

DER WEIN MUSS SCHMECKEN UND<br />

KLAR WIE EIN GEBIRGSBACH<br />

DURCH DIE KEHLE RINNEN<br />

2018 WIENER GEMISCHTER SATZ, Wieninger, Wien.<br />

Was wäre Wien ohne seine Sehenswürdigkeiten wie das Riesenrad,<br />

Schloss Schönbrunn oder die Hofburg? Nicht auszudenken! Das gilt<br />

auch für den „Wiener Gemischten Satz“.<br />

Das ist ein Wein aus verschiedenen weißen Rebsorten, die früher<br />

in einem Weinberg zusammengepflanzt wurden, um so größere<br />

Ernteausfälle auszugleichen. Heute ist es die Spezialität der Stadt,<br />

wie das Wiener Schnitzel selbst. Ein facettenreiches Aroma von Birnen-,<br />

Mango,- Honigmelonen- und<br />

Mirabellennoten. Ganz zarte Säurestruktur,<br />

wohlproportionierter Körper,<br />

sehr frisch, leicht, fetzig im Gaumen.<br />

Feiner Trinkfluss, reizvoller Abgang.<br />

Macht Lust auf ein zweites Glas. Ein idealer<br />

Alleskönner zu Vorspeisen mit Salaten<br />

oder Gemüse, Fisch oder Frischkäse<br />

oder auch zum Wiener Schnitzel mit Erdäpfelsalat.<br />

2018 GRÜNER VELTLINER 30 JAHRE „FASS 4“, Bernhard<br />

Ott, Wagram, Niederösterreich. Mit den Weinen des neuen<br />

Jahrgangs 2018 feiert das Weingut Bernhard Ott den 30. Jahrgang<br />

seines legendären Grünen Veltliner FASS 4, der sich längst als „die<br />

Marke“ unter den Veltlinern etabliert hat. Quasi von Anfang an mit<br />

dabei, habe ich die Entwicklung des Ott’schen Universums unter der<br />

Führung von Junior Bernhard mitverfolgt. Seine letzte und wichtigste<br />

Veränderung war die totale Umstellung auf Biodynamie, die<br />

er aus Respekt vor der Natur mit dem letzten Jahrgang abschließen<br />

konnte. Die Einzellagenweine, Spiegel, Stein und Rosenberg, sind<br />

letztlich die Krönung der Kollektion. Doch das FASS 4 – es ist kein<br />

Grand Cru, kein Premier Cru, keine Reserve und keine Einzellage<br />

– aber im Ott’schen Sinn, von Anfang an, ein Prototyp unter den<br />

Grünen Veltlinern und für mich die Nummer eins. Ott steht auf<br />

Klarheit, Brillanz, Feinheit, Frische, Finesse, eindeutige Aromatik<br />

und feinen Charakter. Der Wein muss schmecken und klar wie ein<br />

Gebirgsbach durch die Kehle rinnen.<br />

FOTOS: OESTERREICH-WERBUNG / MARTIN STEINTHALER TINE FOTO; PRIVAT<br />

76 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


Feinste Lagen in Niederösterreich:<br />

Blick auf Weißenkirchen in der Wachau<br />

2016 BELA REX, ALBERT GESSELLMANN, Mittelburgenland.<br />

In jeder der vier Regionen des Burgenlands herrscht ein<br />

eigenes Mikroklima, gibt es völlig andere Böden. Allein der Neusiedlersee<br />

hat mehr als 60 Winzer. Beispiele auf Weltklasseniveau,<br />

ob Bella Rex oder der „G“ von Albert Gesellmann sind immer dabei.<br />

Zweifelsohne wird das Weingut insbesondere mit seinen Rotweinen<br />

seit Jahren als die Premiumklasse des Landes gehandelt. Bela Rex<br />

hat für mich immer wieder die Rasse, den Esprit und Körper eines<br />

ganz edlen Geschöpfes, vorausgesetzt man gibt ihm die nötige Zeit<br />

zur Reife. In der Jugend, wie sich 2016 derzeit präsentiert, strotzt er<br />

vor feinsten Zedernholznoten, saftiger roter Frucht und Blaubeeren,<br />

geröstete Haselnuss und feinster Gerbstoff im Rückaroma.<br />

2015 BLAUFRÄNKISCH EISENBERG „ALTE REBEN“,<br />

Wachter-Wiesler, Neusiedlersee, Burgenland. Im Burgenland, der<br />

Rotweinecke Österreichs, findet man allerbeste Qualitäten. Allein<br />

die Sorte Blaufränkisch stieg wie Phönix aus der Asche auf. Bei<br />

Wachter-Wiesler hat Christoph Wachter die Zügel fest im Griff.<br />

Seine Philosophien wirken auf die Qualitäten durchschlagend. Der<br />

„Eisenberg“ wird aus den besten Lagen der Region cuvéetiert, was<br />

zur Folge hat, dass die spezifischen Terroirnoten ex trem ausgeprägt<br />

sind. Mein spontaner Eindruck in der Nase war Syrah Côte Rotie<br />

mit klassischer Würze wie Wacholder, grüner Pfeffer, Lorbeer, kalter<br />

Kaminrauch. Frische Provencekräuter, Kirschsaft. Das jugendliche<br />

Tannin steppt im Gaumen, fordert zum Tanz.<br />

2017 CHARDONNAY „GLORIA“, Kollwentz, Leithaberg,<br />

Burgenland. Das Weingut Kollwentz ist ohne Zweifel eines der Top-<br />

Five-Weingüter in Österreich. In mehrfacher Hinsicht gilt Anton<br />

Kollwentz als Pionier im Qualitätsweinbau des Landes. Er war es,<br />

der den Ausbau trockener Weißweine in der Region vorantrieb, und<br />

das jahrelang allein auf weiter Flur. Heute zählen die im neuen<br />

Holzfass ausgebauten Chardonnays zur Welt spitze – à la Burgund.<br />

Dafür sorgt Junior Andi ebenso selbstverständlich wie für die großartigen<br />

Roten. Und das seit 30 Jahren. Die Weingärten sind gepflegt<br />

wie die Parkanlagen von Schönbrunn. Der 2017 Chardonnay „Gloria“<br />

aus der höchsten Lage am Leithaberg mit Kalkgestein, benötigt<br />

noch ein bis zwei Jahre Geduld, will man ihn zum besten Zeitpunkt<br />

trinken, naschen ist erlaubt; fruchtige Exotik pur, Kokosnuss, saftige<br />

frische Säure im reichen Gaumen, die garantiert, dass auch ein Jahrzehnt<br />

mehr nicht schaden kann.<br />

2017 SAUVIGNON BLANC „KLAUSEN“, Neumeister<br />

Vulkanland, Steiermark. Sauvignon Blanc in all seinen unterschiedlichen<br />

Ausbauarten zählt zu meinen bevorzugten Weinen, ich kann<br />

von diesem Duftspektrum gar nicht genug bekommen, verstehe<br />

aber auch, dass nicht jeder mit den opulenten, vegetalen oder fruchtigen<br />

Noten glücklich ist. In der Steiermark, an der Loire und in<br />

Neuseeland ist die Rebsorte am stärksten vertreten. Auch bei Neumeisters<br />

ist die nächste Generation sehr erfolgreich unterwegs. Mir<br />

gefällt die frische Stilistik mit ausgeprägter Finesse, Mineralität und<br />

doch zurückhaltender Frucht besonders gut. „Noblesse oblige“ ist<br />

bei dieser Sorte nicht einfach. Der dezente Hauch von Exotik<br />

beginnt bei Ananas und endet mit Zitrone. Was sich dazwischen<br />

abspielt, müssen Sie probieren. So viel sei gesagt: Der Wein ist köstlich.<br />

n<br />

Bezug: Furore RotWeissRot, München; www.weinfurore.de<br />

77


L E B E N S A R T<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

6<br />

7<br />

8<br />

5<br />

9<br />

1) Ein Wahrzeichen: Statue der kleinen Prinzessin von László Marton 2) Die größte Kirche Budapests, die St.-Stephans-Basilika in Pest<br />

3) Straßenbahn 4) Budapest bei Nacht mit Kettenbrücke und ungarischem Parlament 5) Kuppel der St.-Stephans-Basilika 6) Statue von Franz Liszt<br />

am gleichnamigen Flughafen 7) Bar 8) Die berühmte Dobos-Torte, Biskuit mit Schoko und Karamell 9) Morgennebel auf der Kettenbrücke<br />

FOTOS: PIXABAY<br />

78 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


ZUGEGEBEN: DER BLICK AUF UNGARN SOLLTE<br />

DERZEIT KRITISCH SEIN. DOCH IRGENDWIE WIRKT<br />

SEINE HAUPTSTADT WIE DAS BERÜHMTE KLEINE<br />

GALLISCHE DORF – EINFACH ANDERS …<br />

Budapest<br />

Was Paris kann, kann Budapest schon lange: die Liebe. Ihretwegen lebt die Pianistin Mariam<br />

Batsashvili in Budapest. Eine zweifache Liebe: die zu ihrem Freund, aber auch die zu dem<br />

Komponisten Franz Liszt, der ihr die Stadt an der Donau zur zweiten Heimat gemacht hat.<br />

VON ANTOINETTE SCHMELTER-KAISER<br />

FOTO: ANTOINETTE SCHMELTER-KAISER<br />

Mariam Batsashvili auf der<br />

Terrasse des Aria Hotels<br />

Es gibt viele Gründe, Budapest zu besuchen.<br />

Eigentlich aber ist es nur einer:<br />

Budapest ist ganz großes Kino! Und<br />

zwar in jeglicher Hinsicht: Kunst, Kultur,<br />

Architektur. Die Bäder, die Parks,<br />

die Traditionen. Essen, Trinken und ein Hauch von<br />

Piazza-Flair. Für die georgische Pianistin Mariam<br />

Batsashvili gibt es noch einen: die Liebe. Hier wohnt<br />

und arbeitet ihr ungarischer Freund, den sie an der<br />

Hochschule für Musik in Weimar kennengelernt hat. Doch auch die<br />

Tatsache, dass die Hauptstadt Ungarns eine wichtige Lebensstation<br />

des Komponisten Franz Liszt war, machte ihr die Entscheidung<br />

dazubleiben leicht. Denn ihn verehrt diese junge, lebhafte Frau wie<br />

keinen anderen. Womit sie nicht allein ist: Der Flughafen, von dem<br />

aus die 26-Jährige viele ihrer Konzertreisen antritt, ist ebenso nach<br />

ihm benannt wie die Musikakademie und der parkähnliche Platz<br />

davor zwischen Villen aus der Habsburger Zeit, lebendig, jung, fast<br />

mediterran und deshalb: gern überfüllt. Statuen und Büsten mit seinem<br />

Konterfei finden sich überall in der Donau-Metropole – überall<br />

Zeugnisse wahrer Lisztomania, die Stationen unseres Spaziergangs<br />

auf seinen Spuren sind.<br />

Und so hängt auch im historischen Künstlercafé Müvész Kavéház<br />

an der Prachtstraße Andrássy út ein Porträt von ihm an der mit<br />

gelbem Stoff bespannten Wand. An einem Marmortischchen direkt<br />

darunter verrät mir Mariam Batsashvili bei Espresso und einer Portion<br />

pikanter Bundás Kenyér (Armer Ritter), was sie an Liszt fasziniert.<br />

„Er hat so viele verschiedene Facetten, vereinte<br />

Technik und Emotion“, schwärmt sie. Aus diesem<br />

Grund hat sie fünf seiner Stücke für ihr neues<br />

Album ausgewählt und sie mit drei Etüden von<br />

Frédéric Chopin kombiniert – beide Künstler waren<br />

zeitweilig eng miteinander befreundet; nach Chopins<br />

Tod veröffentliche Liszt zu dessen Gedenken seine<br />

Consolations, die Mariam Batsashvili auf ihrem<br />

Album interpretiert. Technisch brilliert sie dabei<br />

auf höchstem Niveau. Wichtiger sind ihr aber gefühlvoller Tiefgang<br />

und intensives Eintauchen in eine andere musikalische Welt.<br />

Im Liszt Ferenc Memorial Museum, einen kurzen Spaziergang<br />

entfernt, ist ihr das auf besondere Weise möglich: Drei hohe Altbauzimmer<br />

erinnern mit Möbeln, Instrumenten, Noten, Büchern und<br />

Gegenständen aus dem Besitz des Komponisten an die Jahre, die er<br />

von 1881 bis 1886 hier verbrachte. Fast ehrfürchtig führt Mariam<br />

Batsashvili vorbei an Vitrinen mit Devotionalien, von der Reisetasche<br />

bis zu einer weißen Haarsträhne, nostalgischen Chickering-<br />

Klavieren und einem Komponier-Schreibtisch mit ausziehbarer<br />

Klaviatur. Überhaupt hat sie ein Faible für Ambiente von anno<br />

dazumal: „In New York könnte ich nicht leben. Hier in Budapest<br />

spricht die Architektur zu mir – so wie in Weimar, wo ich seit 2011<br />

bei Grigory Gruzman studiere und jetzt meinen Master mache“,<br />

erklärt sie draußen auf dem Andrássy út, an dem auch ihre Wohnung<br />

liegt. Mit opulenten Jahrhundertwendebauten, in deren Erdgeschoss<br />

sich schicke Geschäfte und Lokale eingemietet haben, gehört<br />

79


L E B E N S A R T<br />

der 2,5 Kilometer lange Boulevard zum<br />

UNESCO-Weltkulturerbe. Am monumentalsten<br />

wirken die achteckige Kreuzung<br />

Oktogon und der weite Heldenplatz,<br />

den Kunsthalle, Museum der Bildenden<br />

Künste und Kolonnaden flankieren.<br />

Hinter ihnen führt eine Brücke<br />

über einen künstlichen See in die von<br />

zahlreichen Wegen durchzogene Parkanlage<br />

Városliget. „Ich mag das Märchenschloss<br />

Vajdahunyad mit seinem Stil -<br />

mix von Mittelalter bis Barock“, erzählt<br />

Mariam Batsashvili. Doch weil es tagsüber<br />

– wie die meisten Sehenswürdigkeiten in Budapest –Touristen<br />

en masse anzieht, komme sie gerne abends. Und das samt Teleskop:<br />

für einen Blick in den Nachthimmel, das netterweise ihr Freund<br />

trägt. Lieblingsorte wie diese steuert Mariam Batsashvili gezielt an,<br />

anstatt sich in der Stadt treiben zu lassen. „Oft ist es mir da zu voll<br />

und zu laut. Außerdem reise ich viel, habe wenig Zeit und genieße<br />

als Kontrastprogramm unser Zuhause im VI. Bezirk“, erklärt sie.<br />

Rund sechs Stunden täglich übt sie dort auf ihrem GC1-Flügel von<br />

Yamaha. Zweimal pro Woche unterstützt sie dabei via Skype bis<br />

heute ihre Lehrerin Natalia Natsvlishvili, bei der sie in ihrer Heimatstadt<br />

Tiflis im Alter zwischen fünf und 18 ihr Klavierspiel perfektionierte.<br />

Außerdem kocht sie gerne selbst und liest viel, bevorzugt<br />

zum Thema Psychologie, das sie sehr „neugierig“ macht.<br />

„Ich könnte mir auch vorstellen, als Therapeutin zu arbeiten“,<br />

erstaunt mich Mariam Batsashvili auf der Fahrt Richtung Zentrum<br />

mit der Linie 1. Seit 1896 verkehrt die Millenniumi Földalatti Vasút<br />

knapp unter der Andrássy út als liebevoll gepflegtes U-Bahn-Relikt.<br />

Weiter geht es mit der modernen Tram. In der St.-Stephans-Basilika<br />

sorgt Mariam Batsashvili für eine weitere Überraschung. „Bei meinem<br />

ersten Besuch war ich allein hier und habe deutlich gespürt,<br />

dass ich wiederkommen werde“, erinnert sie sich unter der 96 Meter<br />

hohen Kuppel, die ein Mosaik mit himmlischen Motiven schmückt.<br />

An der schönen blauen Donau:<br />

Blick auf das ungarische Parlament<br />

„8.500 Menschen haben hier Platz. Trotz<br />

der Größe fühle ich mich zu Hause.“ Die<br />

größte Kirche Budapests wirkt selbst mit<br />

Abstand noch imposant: Von der High<br />

Note Sky Bar auf dem Dach des Fünf-<br />

Sterne-Hotels Aria fällt bei einem Cocktail<br />

der Blick auf ihre geschwungenen<br />

Dächer und spitzen Türme. In der entgegengesetzten<br />

Richtung ragt das Parlament<br />

am Ufer der Donau empor.<br />

Rund um das riesige Regierungsgebäude<br />

wirkt Budapest besonders aufpoliert,<br />

während weiter entfernt vom Zentrum<br />

das sozialistische Erbe vor sich hin verwittert. Zwei Gardesoldaten<br />

paradieren im Kreis auf dem Platz vor dem Wahrzeichen<br />

der Stadt, dessen Vorbild der Londoner Palace of Westminster war.<br />

Vor der neogotischen Fassade zum Fluss hin ankern Ausflugsschiffe.<br />

Oberhalb von ihnen führt die berühmte Kettenbrücke hinüber zum<br />

hügeligeren Stadtteil Buda. „Wenn man am Hang unterhalb der<br />

Burg spazieren geht, hat man einen tollen Blick auf Pest“, weiß<br />

Mariam Batsashvili. Doch dafür bleibt heute keine Zeit mehr, sie<br />

muss weiter. Auf dem Weg zurück zum zentralen Platz Deák Ferenc<br />

tér schauen wir kurz in ihrem Lieblingsladen vorbei. Er verkauft<br />

Vintage-Mode, die Mariam Batsashvili für ihre kleine, zarte Figur<br />

selbst umschneidert.<br />

Dann hat sie es eilig, wieder an ihr Instrument zu kommen.<br />

Denn auf Konzerte bereitet sie sich akribisch vor; bis Januar steht<br />

die nächste Serie an, die von England über Belgien und Österreich<br />

bis nach Deutschland führt. Angebote bekommt sie seit ihrem ersten<br />

Platz bei Liszt-Wettbewerben in Weimar und Utrecht mehr als<br />

genug. Für ihre Auftritte wählt Mariam Batsashvili bewusst strenge<br />

Anzüge, spielt hochkonzentriert und ohne große Geste. „Ich bin<br />

nicht wichtig. Was zählt, ist die Musik“, macht sie bar jeder Eitelkeit<br />

klar. „Als Pianistin habe ich das Gefühl, Medium zu sein für eine<br />

Energie, die aus anderen Quellen kommt.“<br />

■<br />

Tipps, Infos & Adressen<br />

Reiseinformationen rund um Ihren Besuch in Budapest.<br />

Musik & Kunst<br />

Derzeit wird die Staatsoper an der Andrássy<br />

út renoviert. Daher gibt es nur verkürzte<br />

Touren durch das prachtvolle Gebäude, Aufführungen<br />

finden andernorts statt. Kostproben<br />

junger Könner in historischen Sälen gibt<br />

es an der Liszt Academy. Kulturzentrum für<br />

alle Genres von Ballett bis Musik ist seit 2005<br />

das Müpa im IX. Bezirk. Wegen der Thermalwasservorkommen<br />

hat Heilbaden in Budapest<br />

Tradition. Mariam Batsashvili entspannt<br />

am liebsten im eleganten Széchenyi Fürdö.<br />

Essen & Trinken<br />

Stilvolle Lokale mit dem Flair vergangener Epochen:<br />

Müvész Kavéház und Café Parisi, beide<br />

auf der Andrássy út mit köstlichen Kuchen und<br />

Torten. Wie ein Pariser Bistro: das Két Szerecsen<br />

nahe der Oper. Morgens Frühstück, mittags<br />

und abends moderne Multikulti-Küche. Mariam<br />

Batsashvili bestellt gerne Tapas. Experimentierfreudig<br />

mit lokalen Produkten kocht Ákos<br />

Sárközi, der auch Küchenchef des Sterne-<br />

Restaurants Borkonyha gegenüber ist, im<br />

Textúra in der Nähe der St.-Stephans-Basilika.<br />

Übernachten<br />

Das luxuriöse Aria Hotel neben der<br />

St.-Stephans-Basilika. Vier Gebäudeteile<br />

sind je einer Richtung gewidmet: Klassik,<br />

Oper, Moderne, Jazz – Nachmittagskonzerte<br />

auf einem futuristischen Flügel. Vis-àvis<br />

vom Parlament: das Four Seasons<br />

Gresham Palace – ein aufwendig restauriertes<br />

Jugendstil-Juwel. Vintage-Fans fühlen<br />

sich im Brody House wohl: einer<br />

privaten Villa von 1896, 2009 verwandelt<br />

in ein Boutiquehotel mit elf Zimmern.<br />

FOTOS: ANTOINETTE SCHMELTER-KAISER, SZÉCHENYI FÜRDÖ<br />

80 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


Termine<br />

Tanzgeschichten<br />

FÜR GLOBETROTTER<br />

Der Indian Summer lockt an die Ostküste Nordamerikas.<br />

Vier Uraufführungen stehen auf dem Programm<br />

des Fall for Dance Festivals. Myste Copeland stellt<br />

eine neue Choreografie von Kyle Abraham vor.<br />

Kim Brandstrup, der, angeregt von seinen filmischen<br />

Erfahrungen, mit seinen Choreografien<br />

emotional berührende Geschichten erzählt, bringt<br />

eine neue Tanzgeschichte. Sonya Tayeh zeigt mit<br />

dem Sänger Moses Sumney Unveiling. Und Caleb<br />

Teicher setzt sein Projekt Bzzz fort und erkundet<br />

mit seiner Kompanie das Zusammenspiel von<br />

Aufbau und Zerstörung von Mustern.<br />

Zur Eröffnung zeigt die Kompanie Hubbard<br />

Street Dance Chicago die Choreografie A Picture<br />

of You Falling von Crystal Pite, eine getanzte Erzählung<br />

über Liebe und Verlust. Darüber hinaus<br />

gibt es Künstler aus Argentinien, Kanada, Südafrika,<br />

Russland und Europa zu sehen. Den Abschluss<br />

bildet die Martha Graham Dance Company mit<br />

der Choreografie Chronicle. Martha Graham, die<br />

Ikone des Modern Dance, reagierte damit <strong>19</strong>36 auf<br />

den Faschismus in Europa.<br />

New York City Center, 1. bis 13.10.,<br />

www.nycitycenter.org<br />

Heimatsuche<br />

Die Heimat verlassen. Vom Außenstehenden zum<br />

Mitglied einer Gesellschaft werden. Der umgekehrte<br />

Prozess in Bezug auf die ursprüngliche Heimat.<br />

Komponist Jorge Sosa und Librettistin Cerise<br />

Lim Jacobs stellen sich dem Thema in ihrer neuen<br />

Oper I Am A Dreamer Who No Longer Dreams.<br />

Beide sind selbst in die USA immigriert, Sosa aus<br />

Mexiko, Jacobs aus Singapur.<br />

Der Titel ihrer Oper bezieht sich auf Trumps<br />

Beendigung von DACA (Deferred Action for Childhood<br />

Arrivals). Die von Obama erlassene Regelung<br />

schützte die sogenannten Dreamer, illegale<br />

Einwanderer, die bereits als Kinder in die USA<br />

gekommen waren, vor Abschiebung. Elena Araoz<br />

ins zeniert. Protagonistin Rosa, die das mexikanische<br />

Erbe und die neue Kultur in sich trägt, verkörpert<br />

die Mezzosopranistin Carla López-Speziale.<br />

Sosas traumhafte und mitunter auch alptraumhafte<br />

Musik dirigiert Maria Sensi Sellner.<br />

Boston, Robert J. Orchard Stage im<br />

Emerson Paramount Center, 20. bis 22.9.,<br />

emersontheatres.org<br />

Empfindungslosigkeit<br />

Das Festival O<strong>19</strong> eröffnet mit der neuen Kammeroper<br />

Denis & Katya, die auf einer realen Begebenheit<br />

basiert. 2016 schossen zwei 15-Jährige im westrussischen<br />

Pskow aus einer Datscha auf Polizisten<br />

und übertrugen dies live in den sozialen Medien.<br />

Die Polizei fand später die Leichen der beiden<br />

Jugendlichen – vermutlich Selbstmord. Der Fall<br />

regte Philip Venables und Ted Huffman zu den<br />

Überlegungen an, wie empfindungslos man durch<br />

das Ansehen eines solchen in Echtzeit ablaufenden<br />

Dramas werde. Man sehe einfach zu, anstatt<br />

zu helfen. In ihrer Oper verweben sie originale<br />

Textpassagen und Videospuren mit Botschaften<br />

aus den sozialen Medien und stellen die Frage, was<br />

diese über uns aussagen. Die beiden Protagonisten<br />

verkörpern der Bariton Theo Hoffman und die<br />

Mezzosopranistin Siena Licht Miller. Regie führt<br />

Ksenia Ravvina, und die musikalische Leitung<br />

übernimmt Emily Senturia<br />

Philadelphia, Opera, 18. bis 29.9.,<br />

www.operaphila.org<br />

FOTO: XIN YING<br />

VIEL SCHICKER ALS „NACHTS IM MUSEUM“ IST „ÜBERNACHTEN IN DER GALERIE“<br />

Blaue Gans in Salzburg<br />

FOTO: PRIVAT<br />

Seit über 660 Jahren speisen die<br />

Salzburger und ihre Gäste in<br />

der „Blauen Gans“ – ganz zentral<br />

in der Getreidegasse in der Salzburger<br />

Altstadt, nur ein paar Schritte<br />

vom Festspielhaus entfernt. Dabei<br />

sollte das Haus ursprünglich eigentlich<br />

„Zum Fasan“ heißen – ein<br />

damals sehr exotisches Tier, das die<br />

meisten Menschen noch nie zuvor<br />

gesehen hatten. Anscheinend noch<br />

nicht einmal der Kunsthandwerker<br />

selbst, der das berühmte Nasenschild<br />

gestaltet hat: Sein Fasan sieht jedenfalls<br />

tatsächlich aus wie eine blaue<br />

Gans. Schnell hatte das Haus seinen<br />

neuen Spitznamen – bis heute.<br />

Seit über 100 Jahren ist das älteste Gasthaus der Stadt nun im<br />

Besitz der Familie Gfrerer. Der heutige Eigentümer, Andreas Gfrerer,<br />

hat das Haus behutsam, aber aufwendig renoviert. Was er noch mehr<br />

liebt, als Hotelier zu sein, ist die Kunst: An den Wänden hängen ausschließlich<br />

Originale – sozusagen eine „Galerie mit Übernachtungsmöglichkeit“.<br />

Viele renommierte Künstler kennt er persönlich und<br />

hat zu jedem Werk in seinem Haus eine Geschichte auf Lager. Darum<br />

nennt er sein Haus auch treffend „arthotel“. Das historische Gebäude,<br />

in dem es keine rechten Winkel und geraden Mauern gibt, birgt<br />

modern und edel eingerichtete<br />

Zimmer. Absolutes Highlight sind<br />

die zwei neuen 80 Quadratmeter<br />

großen City Flats: Mit wertvollen<br />

barocken Türen, Stuckdecken und<br />

Holz- und Marmorböden vermitteln<br />

beide Appartements ein einzigartiges<br />

Wohngefühl. In der voll eingerichteten<br />

Küche kann man sogar<br />

selbst den Kochlöffel schwingen –<br />

der Salzburger Grünmarkt mit heimischem<br />

Obst und Gemüse befindet<br />

sich nur wenige Schritte entfernt.<br />

Im historischen Restaurantgewölbe<br />

oder im lauschigen Gastgarten<br />

lässt es sich ganztägig gut speisen:<br />

Küchenchef Martin Bauernfeind verwöhnt unter anderem mit<br />

viel Selbstgemachtem aus der hauseigenen Speisenmanufaktur wie<br />

Nudeln und Tascherl. Heimische Fische finden sich ebenso auf der<br />

Karte wie Küchenklassiker, so zum Beispiel Wiener Schnitzel, Backhendl,<br />

Beef Tatar, Apfelstrudel oder hausgemachtes Eis.<br />

■<br />

TIPP: Natürlich ist Salzburg immer eine Reise wert, Anlässe gibt es genug.<br />

Wer einen sucht, der noch nicht in aller Munde ist: Vom 16. bis 20. <strong>Oktober</strong><br />

findet in der Altstadt das Festival Jazz&TheCity statt: 5 Tage. 30 Bühnen. 70<br />

Konzerte. Freier Eintritt! Preis pro Person im DZ: ab 71 EUR; arthotel Blaue<br />

Gans, Getreidegasse 41-43, 5020 Salzburg, Tel: +43-(0)662-84 24 91<br />

81


HTOI PT E LTZREIIFLFET<br />

Daniel-Hope-Kolumne<br />

„DIE MÖGLICHKEITEN SIND ENDLOS“<br />

Die französische Pianistin Lise de la Salle wirft mit Daniel Hope einen Blick auf die Zukunft<br />

des Klaviers. Und freut sich auf die Herausforderung eines Perspektivenwechsels.<br />

Daniel Hope: Lise, wolltest du eigentlich<br />

schon immer Pianistin werden?<br />

Lise de la Salle: Ich hatte keine Wahl. Wir<br />

hatten ein Klavier zu Hause. Meine<br />

Mutter war Sängerin, keine professionelle<br />

zwar, aber sie liebte es zu singen. Und<br />

meine Großmutter war Klavierlehrerin!<br />

Ich wuchs also in einer sehr musikalischen<br />

Umgebung auf. Mein erstes Erlebnis<br />

mit dem Instrument hatte ich mit drei<br />

oder vier Jahren. Und seitdem habe ich nie<br />

wieder aufgehört zu spielen. Ich kann<br />

mich nicht an ein Leben ohne Klavier<br />

erinnern – es war einfach immer da.<br />

Was ist denn eigentlich so faszinierend<br />

am Klavier? Vor allem auf Kinder<br />

wirken die Tasten einladend.<br />

Einerseits ist das Klavier ein sehr kraftvolles<br />

Instrument. Es ist schön, es ist nobel,<br />

es ist elegant, es ist groß. Vor allem auf<br />

Kinder wirkt es wirklich riesig! Auch ich<br />

war als Kind sehr beeindruckt vom<br />

Klavier. Andererseits ist es – im Vergleich<br />

zur Geige etwa – relativ einfach zu spielen.<br />

Wenn man sich ans Klavier setzt, muss<br />

man nicht einmal wissen, wie es geht.<br />

Man kann etwas produzieren – und dabei<br />

etwas fühlen. Es ist reizvoll, weil man<br />

schnell etwas zustande bringt, was<br />

halbwegs anständig klingt.<br />

Später ist man dann fasziniert, was man<br />

alles mit einem Klavier anstellen kann. Es<br />

klingt sehr einfach, was ich sage: Wir<br />

haben zehn Finger. Und allein mit diesen<br />

zehn Fingern erzeugt man Klänge. Und<br />

manchmal sieht das so irreal aus, wenn<br />

man einen Pianisten beobachtet. Auch ich<br />

staune immer noch Bauklötze, wenn ich<br />

meine Kollegen spielen sehe, und denke<br />

„wow!“. Das ist unglaublich, denn man<br />

kann wirklich sehen, was passiert. Das ist<br />

anders als bei anderen Instrumenten ...<br />

Lise de la Salle mit Daniel Hope<br />

Du spielst überall auf der Welt und bist<br />

bekannt für dein großes Repertoire.<br />

Und du machst Dinge, die ziemlich<br />

außergewöhnlich sind, spielst etwa alle<br />

Rachmaninow-Konzerte in einem<br />

Zyklus. Das ist phänomenal. Du benutzt<br />

das Klavier, um dich selbst in neue<br />

Sphären zu pushen. An Bach arbeitest<br />

du zum Beispiel mit einem Jazzpianisten<br />

zusammen. Wie siehst du die Flexibilität<br />

des Klaviers in der Zukunft? Meinst du,<br />

dass das Instrument die Möglichkeit hat,<br />

verschiedene Felder zu beackern?<br />

Ja! Absolut! Gerade heutzutage brauchen<br />

wir Projekte, die andere Dinge zutage<br />

fördern und dem Publikum mehr bieten.<br />

Ich liebe es, mich neuen Herausforderungen<br />

zu stellen. Manchmal spielt man<br />

wunderbare Programme, hat aber nur<br />

zehn Zuhörer. Du wirst keine Säle nur mit<br />

Beethoven-Sonaten füllen! Ich wünschte,<br />

es wäre so – aber die Realität sieht anders<br />

aus! Wir sind gezwungen, über einen<br />

anderen Filter zu denken! Das verändert<br />

die Perspektive! Wir müssen darüber<br />

nachdenken, welche neuen Geschichten<br />

wir mit unserem Publikum teilen wollen.<br />

Das ist faszinierend. Und ja, es macht die<br />

Sache auch schwerer, denn es zwingt uns,<br />

über den Tellerrand hinauszuschauen. Es<br />

ist eine große Herausforderung – doch mit<br />

dem Klavier kann man so viele Klänge<br />

produzieren und hat so viele Möglichkeiten<br />

der Zusammenarbeit! Grundsätzlich<br />

ist man zwar allein – doch jenseits dieser<br />

Tatsache sind die Möglichkeiten endlos.<br />

Das reicht vom Duo bis hin zu einer<br />

Zusammenarbeit mit 70 Leuten! Am<br />

wichtigsten ist, dass ich meine Geschichte<br />

mit dem Publikum teilen möchte, dass ich<br />

Gefühle preisgebe.<br />

Als Pianist kann man sein Klavier nicht<br />

mitnehmen – da haben wir Geiger es<br />

schon leichter. Du bist dem ausgeliefert,<br />

was für ein Instrument in einem Saal<br />

steht. Ist das eine Sache, die bei der<br />

Vorbereitung eine Rolle spielt?<br />

Früher habe ich das gehasst! Heute habe<br />

ich gelernt, auch diesen Teil zu genießen.<br />

Ich bin natürlich heute in der glücklichen<br />

Lage, in Sälen zu spielen, in denen<br />

meistens sehr gute Instrumente stehen.<br />

Die Frage „Welche Entdeckung werde ich<br />

machen?“ finde ich sehr spannend!<br />

Manchmal hast du eine sofortige Verbindung<br />

zum Instrument. Es läuft, es ist<br />

schön, es ist perfekt. Und manchmal spielt<br />

man auf Instrumenten, bei denen die<br />

Verbindung nicht ganz so einfach ist.<br />

Dann musst du versuchen zu verstehen,<br />

wie dieses spezielle Klavier tickt und<br />

welche Verbindung du schaffen musst.<br />

Wie viel Energie muss ich hineinstecken,<br />

um meinen spezifischen Klang zu<br />

erreichen? Einige Klaviere erfordern dies<br />

und andere verlangen etwas völlig<br />

anderes. Es ist niemals der gleiche Weg.<br />

Eine Herausforderung, ja, aber es bringt<br />

meist viel Freude – weil manchmal die<br />

Chemie einfach perfekt stimmt. n<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

FOTO: FRANK STEWART<br />

82<br />

w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>


Spüren Sie die grandiose Kraft von 80 Spitzenmusikern<br />

Herr der Ringe | Gladiator | Ziemlich beste Freunde | Star Wars | Titanic<br />

König der Löwen | Jurassic World | The Da Vinci Code | Game of Thrones | uvm.<br />

01.11.<strong>19</strong><br />

München<br />

02.11.<strong>19</strong><br />

Stuttgart<br />

05.11.<strong>19</strong><br />

Dresden<br />

06.11.<strong>19</strong><br />

Frankfurt<br />

22.11.<strong>19</strong><br />

Hamburg<br />

29.11.<strong>19</strong><br />

Hannover<br />

03.12.<strong>19</strong><br />

Düsseldorf<br />

06.12.<strong>19</strong><br />

Augsburg<br />

13.12.<strong>19</strong><br />

Berlin<br />

18.12.<strong>19</strong><br />

Nürnberg<br />

Tickets unter www.klassikradio.de


ANNE-SOPHIE MUTTER & JOHN WILLIAMS<br />

ACROSS THE STARS<br />

CD / VINYL / DELUXE (CD + DVD) / STREAM / DOWNLOAD<br />

EINE KLASSIK FÜR SICH.<br />

WILHELM KEMPFF<br />

BEETHOVEN: SÄMTLICHE KLAVIERSONATEN<br />

8 CD + BLU-RAY AUDIO / STREAM / DOWNLOAD<br />

ERSCHEINT AM 13.09.20<strong>19</strong><br />

MISCHA & LILY MAISKY<br />

20TH CENTURY CLASSICS<br />

2 CD / STREAM / DOWNLOAD<br />

ERSCHEINT AM 13.09.20<strong>19</strong><br />

WILHELM FURTWÄNGLER<br />

COMPLETE RECORDINGS ON DEUTSCHE GRAMMOPHON AND DECCA<br />

34 CD + DVD / STREAM / DOWNLOAD<br />

ERSCHEINT AM 27.09.20<strong>19</strong><br />

www.klassikakzente.de<br />

www.deutschegrammophon.com

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!