CRESCENDO 5/19 September-Oktober 2019
CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen.
CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Anne-Sophie Mutter, Christoph Eschenbach und Marlis Petersen.
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20 JAHRE<br />
AUSGABE 05/20<strong>19</strong> SEPTEMBER – OKTOBER 20<strong>19</strong><br />
WWW.<strong>CRESCENDO</strong>.DE 7,90 EURO (D/A)<br />
mit CD im Heft<br />
SCHWERPUNKT<br />
Klavier: 88 Tasten Leidenschaft<br />
CHRISTOPH<br />
ESCHENBACH<br />
„Aus der Macht der<br />
Musik schafft man alles“<br />
DANAE DÖRKEN<br />
KATHARINA THALBACH<br />
RAPHAËL PICHON<br />
MARLIS PETERSEN<br />
Anne-Sophie Mutter<br />
Ein Gespräch über die inspirierende Zusammenarbeit<br />
mit John Williams und die Guillotine der Gefälligkeit<br />
B47837 Jahrgang 22 / 05_20<strong>19</strong><br />
Mit Beihefter CLASS: aktuell
DRAMATIK PUR<br />
Der ältestes erhaltene<br />
biblische Bilderzyklus<br />
Erstpräsentation und feierliche Übergabe<br />
der Faksimile-Edition am 25. <strong>September</strong> 20<strong>19</strong><br />
um 18:00 Uhr in der Österreichischen<br />
Nationalbibliothek.<br />
www.quaternio.ch/veranstaltungen<br />
Lebendige Darstellung<br />
der Sintflut aus der<br />
Mitte des 6. Jahrhunderts<br />
Die Wiener Genesis ist der älteste und umfangreichste<br />
Bilder zyklus der christlichen Malerei.<br />
Im 6. Jahrhundert haben die Künstler im syrisch-antiochenischen<br />
Raum diese Handschrift geschaffen, die<br />
an Pracht kaum zu über bieten war: purpur gefärbte<br />
Blätter, reicher Bilderschmuck auf allen Seiten, durchgehend<br />
mit Silbertinte geschrieben – kein Wunder ist<br />
die Wiener Genesis heute eine der kostbarsten, aber<br />
auch fragilsten Schätze in den Tresoren der Österreichischen<br />
Nationalbibliothek.<br />
Die Faksimile-Edition bringt Ihnen die unglaubliche<br />
Bilderpracht aus dem 6. Jahrhundert<br />
nach Hause. Die Leuchtkraft der Farben nach<br />
über 1500 Jahren verblüfft, die von der Antike inspirierte<br />
Natürlichkeit und Lebendigkeit der Darstellung<br />
fas ziniert und die Authentizität der Faksimile-Edition<br />
begeistert – ein ästhetisches Erlebnis, das seines-<br />
gleichen sucht.<br />
Die Faksimile-Edition der Wiener Genesis ist<br />
weltweit auf 480 Exemplare limitiert. Originaltreue<br />
ist dabei das höchste Gebot: das gilt für die Wiedergabe<br />
der unterschied lichen Braun- und Purpurtöne<br />
des Pergaments genauso wie für die leuchtenden Farben<br />
und den zarten Schimmer der Goldpartien.<br />
Die limitierte Faksimile-Edition<br />
erscheint exklusiv im<br />
In Zusammenarbeit<br />
mit der Österreichischen<br />
Nationalbibliothek<br />
Quaternio Verlag Luzern<br />
www.quaternio.ch • Quaternio Verlag Luzern • Obergrundstrasse 98 • 6005 Luzern • Schweiz • Telefon +41 (0)41 318 40 20 • Fax +41 (0)41 318 40 25 • info@quaternio.ch
P R O L O G<br />
LIEBE LESER,<br />
WINFRIED HANUSCHIK<br />
Herausgeber<br />
mit unserer neuen <strong>CRESCENDO</strong> Ausgabe melden wir uns zurück aus der Sommerpause.<br />
Und hoffen, Sie hatten eine schöne, aufregende und inspirierende Festspielzeit. Vielleicht<br />
waren Sie ja dabei bei einer der spektakulären Inszenierungen und Vorstellungen:<br />
Rigoletto in Bregenz, Orphée in Salzburg, Agrippina in München, Tannhäuser in Bayreuth<br />
mit der wunderbaren Lise Davidsen. Oder waren Sie an den kleineren Häusern unterwegs?<br />
Mich hat beispielsweise die Turandot-Premiere in Gut Immling im oberbayerischen<br />
Chiemgau begeistert. Spannend waren – wie in jedem Jahr – natürlich auch die<br />
kontroversen Berichterstattungen darüber. Sehr unterhaltsam auch zu erfahren, was sich<br />
so alles hinter den Kulissen und im Publikum abgespielt hat. Unser Kolumnist AXEL<br />
BRÜGGEMANN hielt Sie und uns auf dem Laufenden mit unserem wöchentlichen<br />
Newsletter, auf den wir immer viel Feedback bekommen. Auch wenn die Leser offensichtlich<br />
nicht immer einer Meinung mit ihm sind – es ist uns eine Freude zu sehen, wie viel<br />
Lust am Debattieren seine News jedes Mal wieder auslösen. Schließlich geht es auch in<br />
der Kultur immer um die Kommunikation.<br />
Apropos Kommunikation: Besuchen Sie uns doch in unserer Redaktion am Münchner<br />
Marienplatz – der Künstler RAFAEL SCHÖLERMANN, der auch das Cover der<br />
aktuellen Premium-CD gestaltet hat, stellt persönlich einige seiner Werke vor (s. S. 73).<br />
Wenn Sie Lust haben, sich mit ihm über seine sensationellen Fotografien zu unterhalten<br />
oder vielleicht auch nur sehen wollen, wo <strong>CRESCENDO</strong> gemacht wird, melden Sie sich<br />
bitte unter www.crescendo.de/vernissage an.<br />
Zu unseren Inhalten: Den Schwerpunkt dieser Ausgabe haben wir dem Klavier gewidmet.<br />
Und naturgegeben den Menschen, die damit zu tun haben. Unter dem Arbeitstitel<br />
„Treffen der Giganten“ haben wir die Marktführer Steinway, Bechstein und Bösendorfer<br />
einander gegenübergestellt. Thematisch in die Hände gespielt hat uns dabei der regelrechte<br />
Shitstorm, der um ANDRÁS SCHIFF und die Schubertiade losbrach. Lesen Sie<br />
dazu den Beitrag unseres Kolumnisten Axel Brüggemann, der sich nicht einfach einreiht<br />
in die Aufregung, sondern Für und Wider abwägt.<br />
Dann lassen wir natürlich die Künstler selbst zu Wort kommen: Ist der Beruf des<br />
Pianisten einsam? War früher alles einfacher? Neben SOPHIE PACINI und ihrer<br />
Mentorin MARTHA ARGERICH haben wir dazu bei CÉDRIC TIBERGHIEN, IGOR<br />
LEVIT, ANNA GOURARI, JOSEPH MOOG und anderen Pianisten nachgefragt.<br />
Daneben wollten wir aber auch unbedingt einen Blick in die Zukunft richten und haben<br />
uns die Frage gestellt, wie das Klavier den Sprung ins 21. Jahrhundert schafft. Dass hier<br />
Technik ins Spiel kommt, versteht sich fast von selbst. Wer nun fürchtet, dass damit dem<br />
Klavier Klang und Brillanz zugunsten kühler Sounds abhandenkommt, dem sei das<br />
Interview mit RALF SCHMID ans Herz gelegt. Mit seinem Projekt „Pyanook“ liefert der<br />
Professor und Jazzmusiker den Beweis, wie viel Poesie in der Digitalisierung liegen kann.<br />
FOTOS TITEL: STEFAN HÖDERATH / DG<br />
Exklusiv für Käufer und Abonnenten:<br />
die <strong>CRESCENDO</strong> Premium-CD<br />
Viel Inhalt in besonders hochwertiger Ausstattung finden<br />
Sie in dieser Premium- Ausgabe: Reportagen, Porträts,<br />
Interviews, Aspekte und Hintergrundwissen aus der Welt<br />
der Klassik. Außerdem für alle Käufer und Abonnenten<br />
der Premium-Ausgabe:<br />
sechs Mal pro Jahr die <strong>CRESCENDO</strong> CD,<br />
ein exklusives Album mit Werken einiger in der<br />
aktuellen Ausgabe vorgestellter Künstler.<br />
In diesem Heft: die 79. CD der<br />
<strong>CRESCENDO</strong> Premium-Edition.<br />
Fehlt die CD? Dann rufen Sie uns an: 089/85 85 35 48.<br />
Worauf Sie sich noch freuen können? Wir haben CHRISTOPH ESCHENBACH, den<br />
neuen Leiter des Konzerthausorchesters in Berlin, getroffen, haben ANNE-SOPHIE<br />
MUTTER über ihr erstes Open-Air-Konzert befragt und MARLIS PETERSEN bei den<br />
Aufnahmen zu ihrem neuen Album besucht. Schließlich leisten sich KATHARINA<br />
THALBACH und das FEININGER TRIO einen kleinen Battle und lassen Berliner<br />
Kartoffelpuffer gegen Schweizer Rösti antreten.<br />
In diesem Sinne: Guten Appetit und viel Spaß beim Lesen, vielleicht sehen wir uns ja bei<br />
der <strong>CRESCENDO</strong> Vernissage,<br />
Ihr Winfried Hanuschik<br />
w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – Okktober 20<strong>19</strong> 3
P R O G R A M M<br />
Wir.Leben.Klassik!<br />
Top Neuheiten<br />
150 JAHRE WIENER STAATSOPER<br />
06<br />
PIANO VERTIKAL<br />
Der Schweizer Pianist<br />
Alain Roche tourt mit<br />
einem spektakulären Projekt<br />
durch Europa<br />
14<br />
CHRISTOPH<br />
ESCHENBACH<br />
Der neue Leiter des<br />
Konzerthausorchesters Berlin<br />
in seiner ersten Saison<br />
35<br />
MADDALENA<br />
DEL GOBBO<br />
Die Musikerin verzaubert<br />
mit dem Baryton<br />
ihr Publikum<br />
STANDARDS<br />
KÜNSTLER<br />
HÖREN & SEHEN<br />
D E U T S C H E O P E R B E R L I N<br />
KORNGOLD<br />
Das Wunder der Heliane<br />
1. Album SWR Symphonieorchester<br />
HENZE Das Floß der Medusa<br />
03 PROLOG<br />
Der Herausgeber stellt<br />
die Ausgabe vor<br />
06 BLICKFANG<br />
Sakrale Hängepartie<br />
08 OUVERTÜRE<br />
Klassik in Zahlen<br />
Was hören ...<br />
Manz und Studnitzky?<br />
Ein Anruf bei ...<br />
Otto Hott,<br />
Banker, Geiger, Golfer<br />
35 IMPRESSUM<br />
64 KOMMENTAR<br />
Axel Brüggemann über<br />
András Schiff und den<br />
„Flügel-Streit“<br />
40 RÄTSEL<br />
82 HOPE TRIFFT …<br />
Lise de la Salle<br />
12 EIN KAFFEE MIT …<br />
Jürgen Tarrach<br />
14 CHRISTOPH<br />
ESCHENBACH<br />
„Ich will keine graue Maus<br />
als Orchester ...“<br />
18 ANNE-SOPHIE<br />
MUTTER<br />
über ihre Freundschaft<br />
mit John Williams<br />
21 DANAE DÖRKEN<br />
„Musik ist ein Ausdruck<br />
von Philosophie“<br />
22 MARLIS PETERSEN<br />
über die Vollendung ihrer<br />
„Dimensionen-Trilogie“<br />
24 GÜLRU ENSARI &<br />
HERBERT SCHUCH<br />
Zwei Pianisten: Partner im<br />
Leben und am Klavier<br />
26 RAPHAËL PICHON<br />
„... alles transformiert sich“<br />
EXKLUSIV<br />
FÜR ABONNENTEN<br />
Hören Sie die Musik zu<br />
unseren Texten auf der<br />
<strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD –<br />
exklusiv für Abonnenten.<br />
Infos auf den Seiten 3 & 70<br />
29 DIE WICHTIGSTEN<br />
EMPFEHLUNGEN DER<br />
REDAKTION<br />
30 MICHAEL FABIANO<br />
Verdi und Donizetti:<br />
eine Symbiose ihrer Arien<br />
32 VLADIMIR<br />
HOROWITZ<br />
<strong>19</strong>65: großes Comeback<br />
in der Carnegie Hall<br />
33 WIENER STAATSOPER<br />
24 Stunden Oper zwischen<br />
Mozart und Schostakowitsch<br />
36 CLAIRE MARTIN<br />
Die Sängerin jongliert<br />
einfühlsam und lässig<br />
zwischen Jazz und Pop<br />
39 UNERHÖRTES &<br />
NEU ENTDECKTES<br />
Christoph Schlüren<br />
über unbekannte<br />
sowjetische Meister<br />
FOTOS: OLIVIER CARREL; MARCO BORGGREVE; NIKOLAJ LUND<br />
www.naxos.de · www.naxos-direkt.de<br />
Im Vertrieb der NAXOS DEUTSCHLAND GmbH<br />
4 www.crescendo.de — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
48<br />
TIROLER<br />
FESTSPIELE ERL<br />
Ein Fest zu Erntedank:<br />
Hommage an Frédéric Chopin<br />
– vier Konzerte an einem Tag<br />
ERLEBEN<br />
42 DIE WICHTIGSTEN<br />
TERMINE UND<br />
VERANSTALTUNGEN<br />
25 JAHRE FESTIVAL<br />
DER NATIONEN<br />
„Russische Nacht“ mit<br />
Nemanja Radulović<br />
44 SCHIRN<br />
KUNSTHALLE<br />
Tapisserien von<br />
Hannah Ryggen<br />
46 KOMISCHE OPER<br />
BERLIN<br />
The Bassarids von<br />
Hans Werner Henze<br />
47 IOAN HOLENDER<br />
Ticketseller und künstlerische<br />
Gewissensbisse<br />
48 TIROLER<br />
FESTSPIELE ERL<br />
Romantische Musik an<br />
der Schwelle zur Moderne<br />
52<br />
KLAVIER<br />
Piano oder Forte?<br />
Gedanken und Geschichten<br />
rund um das<br />
Schwergewicht der Musik<br />
SCHWERPUNKT<br />
51 TABELLE<br />
Ein Spiel mit 88 Tasten<br />
52 PLAY ME,<br />
I’M YOURS<br />
Eine Erfolgsgeschichte<br />
aus Birmingham<br />
54 TREFFEN DER<br />
GIGANTEN<br />
Steinway, Bösendorfer<br />
oder Bechstein?<br />
56 FLÜGEL MIT<br />
FANTASIE<br />
Ungewöhnliche Wünsche<br />
57 UNTER STROM<br />
E-Pianos und Synthesizer<br />
58 KLAVIER IN FILM,<br />
LITERATUR, COMIC<br />
60 ARGERICH & PACINI<br />
Eine fruchtbare Verbindung<br />
62 SAGEN SIE MAL ...<br />
Bei Pianisten nachgefragt<br />
78<br />
BUDAPEST<br />
Ein Spaziergang mit<br />
der Pianistin<br />
Mariam Batsashvili<br />
durch ihre Stadt der Liebe<br />
LEBENSART<br />
73 KUNST AM COVER<br />
„Waterworks“ von<br />
Rafael Schölermann<br />
74 LIEBLINGSESSEN<br />
Katharina Thalbach und<br />
das Feininger Trio:<br />
Kartoffelpuffer vs. Rösti<br />
76 PAULA BOSCHS<br />
WEINKOLUMNE<br />
Die neuen fabelhaften<br />
Weine aus Österreich<br />
78 BUDAPEST<br />
Mariam Batsashvilis Tipps<br />
für einen Besuch in der<br />
ungarischen Hauptstadt<br />
81 GLOBETROTTER<br />
Termine an der<br />
Ostküste der USA<br />
Übernachten in der Galerie:<br />
Hotel Blaue Gans, Salzburg<br />
Mozart<br />
PIANO CONCERTOS<br />
NOS. 20 & 26<br />
FRIEDRICH GULDA<br />
Mozart<br />
PIANO CONCERTOS<br />
NOS. 20 & 26<br />
FRIEDRICH GULDA<br />
FOTOS: JOSEF FISCHNALLER; LUKE JERRAM<br />
50 DEUTSCHE KAMMER-<br />
AKADEMIE NEUSS<br />
AM RHEIN<br />
Die neue Saison<br />
unter Chefdirigent<br />
Christoph Koncz und<br />
Isabelle van Keulen als<br />
künstlerischer Leiterin<br />
66 DIGITALE POESIE<br />
Das Projekt „Pyanook“<br />
69 WER OHREN HAT ...<br />
Von der Kunst des<br />
Klavierstimmens<br />
71 DIE CARL BECH-<br />
STEIN STIFTUNG<br />
72 WOHER KOMMT<br />
EIGENTLICH<br />
... das Klavier?<br />
Aus dem Archiv<br />
des Orchesters –<br />
jetzt als Album<br />
erhältlich!<br />
In Zusammenarbeit mit LOFT Music<br />
5<br />
mphil.de/label
O U V E R T Ü R E<br />
Sakrale Hängepartie<br />
Nach einem ersten erstaunten Luftholen stellen<br />
sich die Assoziationen ein. Und irgendwann<br />
vielleicht auch das eine oder andere<br />
Wortspiel. Ein Pianist, der in den Seilen hängt.<br />
Der Künstler mit hängenden Flügeln. Nun,<br />
ganz von der Hand zu weisen ist das nicht.<br />
Denn der Schweizer Komponist und Pianist<br />
Alain Roche liebt verrückte Herausforderungen.<br />
Seit 2013 geht er mit einem im wahrsten<br />
Sinne des Wortes hängenden Flügel auf<br />
Tournee. Der – extra für ihn vom Pianisten<br />
Fernand Kummer umgebaut – ihm erlaubt,<br />
im Freien und vertikal zu spielen. „Piano Vertical“<br />
nennt er folgerichtig dieses aufwendige<br />
Projekt, bei dem er am Baukran vor einem<br />
Alpenpanorama oder in Kirchenschiffen eine<br />
Hängepartie gibt – ein in jedem Fall unvergessliches<br />
und spektakuläres Musikerlebnis!<br />
www.pianovertical.com<br />
6 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
7<br />
FOTO: OLIVIER CARREL
O U V E R T Ü R E<br />
Was hören …?<br />
Manz und Studnitzky<br />
Der Klarinettist und der Pianist<br />
verraten uns ihre Lieblingsaufnahmen.<br />
Film ab! (1)<br />
Regisseur Ron Howard widmet sich einer weiteren Musikikone:<br />
Luciano Pavarotti eroberte mit Stimme und Ausstrahlung die<br />
Bühnen der Welt. Anhand nie veröffentlichter Aufnahmen zeichnet<br />
Howard das intime Porträt eines faszinierenden Mannes und<br />
unvergesslichen Ausnahmekünstlers. Ab 26. Dezember im Kino.<br />
Sebastian Manz und<br />
Sebastian Studnitzky widmen<br />
sich dem großen Leonard<br />
Bernstein: „A Bernstein Story“<br />
ist ein Album zwischen Jazz und<br />
Klassik (Berlin Classics)<br />
Track 12 auf der <strong>CRESCENDO</strong><br />
Abo-CD: Prelude, Loops & Riffs.<br />
IV. Jam Session<br />
Film ab! (2)<br />
Sebastian Manz<br />
1<br />
Parov Stelar Trio: Ménage à trois aus „The Invisible Girl“<br />
Für mich unangefochten seit Langem schon einer meiner Top Tracks:<br />
E-Swing at its best. Geile Mischung aus Electro Beats und echten Saxofonund<br />
Brass-Lines. Super Mix vom E-Swing-Guru Parov Stelar. Habe schon öfters<br />
auf Swing-Partys live dazu improvisiert.<br />
2<br />
Archive: Controlling Crowds aus dem gleichnamigen Album<br />
Sehr archaischer Track, der zu Beginn fast schon ins Meditative geht und<br />
dabei kompromisslos direkte Gefühle in mir hervorruft. Seit Langem<br />
schon auf meiner All-time-Playlist.<br />
3<br />
Gabin: Doo Uap, Doo Uap, Doo Uap aus „The First Ten Years“<br />
Ein weiterer Electro-Swing-Meilenstein für mich, bei dem der Saxofonist<br />
Stefano di Battisti am Ende über den Remix improvisiert. Auf der Basis<br />
von It don’t mean a thing, if it ain’t got that swing entsteht ein chillig- fließender<br />
Beat, den ich gerne auch zur Entspannung zwischendurch höre.<br />
4<br />
AC/DC: Shoot to Thrill aus dem Album „Back In Black“<br />
Über den Inhalt so mancher Songtexte dieser Band lässt sich sicher<br />
streiten, aber die Musik hat für mich nie an Power verloren. Der Sound<br />
von AC/DC ist bis heute einmalig, und die Songs sind musikalisch einfach toll<br />
komponiert. Dieser Song ist für mich einer der Highlights des legendären<br />
Albums „Back in Black“.<br />
Sebastian Studnitzky<br />
1<br />
Miles<br />
Davis: Shhh/Peaceful aus dem Album „In a silent way“<br />
(Etwas lang, kann man aber gut ausblenden ...) Mein absolutes Lieblingsalbum.<br />
Miles’ Trompetensound ist so fokussiert und rau gleichzeitig.<br />
Die Art der Kollektivimprovisation ... Das Voodoohafte der Grooves. Unser<br />
zweiter Remix im ersten Satz ist ein bisschen von diesem Vibe inspiriert.<br />
2<br />
Ahmad Jamal: The Awakening aus dem gleichnamigen Album<br />
Ebenso ein All-time-Favourite. Das interaktive, kollektive Konzept des<br />
Trios gefällt mir sehr. Der Bandsound und der Vibe stehen über der<br />
solistischen Virtuosität. Außerdem mag ich Ahmad Jamals Klaviersound.<br />
3<br />
Arvo Pärt: Fratres<br />
Ich bin ein großer Fan von Pärts emotionalem, vielschichtigem Minimalismus.<br />
Schlicht und spirituell zugleich.<br />
4<br />
Christian Löffler: slowlight aus dem Album „A forest“<br />
Tolle Kombination von urbanem Beat und emotionaler Weite.<br />
Beruhend auf wahren Ereignissen erzählt Regisseur und Darsteller<br />
Ralph Fiennes (Der englische Patient) in Nurejew – The White<br />
Crow die Geschichte der sowjetischen Ballettlegende Rudolf Nurejew.<br />
Gedreht auf 16 mm leben in atmosphärischen Bildern die<br />
bewegten 60er-Jahre wieder auf. Die Rolle Nurejews interpretiert<br />
eindrucksvoll der ukrainische Weltklasse-Balletttänzer Oleg<br />
Ivenko. Im Kino läuft der Streifen ab 26. <strong>September</strong>.<br />
Markante Klangfarbe<br />
Für ihre „unfassbar markante Klangfarbe, berauschende, makellose<br />
Technik und unglaubliche Natürlichkeit“, so der Intendant<br />
Christian Kuhnt bei der Preisverleihung, erhielt die Mezzosopranistin<br />
Emily D’Angelo den Leonard Bernstein Award des<br />
Schleswig-Holstein Musik Festivals. Der mit 10.000 Euro dotierte<br />
Preis wurde erstmals an ein Gesangstalent vergeben.<br />
Oper preiswert<br />
In keinem Land der Welt gibt es so viele Opernhäuser wie in<br />
Deutschland. Höchste Zeit also für einen Preis, der ausschließlich<br />
der Oper gewidmet ist. Am 21. <strong>September</strong> werden im Konzerthaus<br />
Berlin die ersten OPER! AWARDS für die besten nationalen und<br />
internationalen Akteure auf und hinter der Bühne verliehen. Die Jury<br />
besteht aus acht prominenten Journalisten. www.oper-awards.com<br />
FOTOS: ALAMODE FILM; DARIO ACOSTA<br />
8 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
5,8<br />
Millionen<br />
KLASSIK<br />
IN ZAHLEN<br />
US-Dollar Schadenersatz wollte der Dirigent James Levine von<br />
der Metropolitan Opera in New York bekommen. Nach Vorwürfen des<br />
sexuellen Missbrauchs war der 76-Jährige entlassen worden. Nun hat man<br />
sich außergerichtlich geeinigt.<br />
83.674<br />
Tickets für 80 Veranstaltungen hat<br />
die Bayerische Staatsoper für die<br />
Münchner Opernfestspiele verkauft.<br />
Damit beschließen sie ihre elfte<br />
Saison mit einer Auslastung von<br />
97,77 Prozent.<br />
FOTOS: AJAY SURESH FROM NEW YORK, NY, USA - MET OPERA, CC BY 2.0;<br />
590<br />
Anmeldungen aus 50 Ländern<br />
und vier Kontinenten konnte<br />
der 68. Musikwettbewerb der<br />
ARD in den Kategorien<br />
Klarinette, Cello, Fagott und<br />
Schlagzeug verzeichnen.<br />
Davon wurden 212 Musiker<br />
nach München eingeladen.<br />
An der Spitze der Herkunftsländer<br />
steht Südkorea.<br />
27.000<br />
Menschen besuchten im Jahr des<br />
20. Jubiläums das Berliner Festival<br />
„Young Euro Classic“. Das bedeutet<br />
einen Besucherrekord.<br />
30<br />
Dirigentinnen und Dirigenten waren<br />
für Findungsverfahren zum künstle-<br />
115 rischen Leiter und Chefdirigenten<br />
des Südwestdeutschen Kammerorchesters Pforzheim<br />
infrage gekommen. Das Rennen machte nun Douglas<br />
Bostock, der zur Konzertsaison 20<strong>19</strong>/20 übernimmt.<br />
Milliarden schwer ist geschätzt die Universal Music<br />
Group, zu der seit <strong>19</strong>98 auch die Deutsche Grammophon<br />
gehört. Der chinesische Internetkonzern Tencent<br />
hat sein Interesse an Anteilen des Konzerns bekundet.<br />
Es gehe zunächst um einen zehnprozentigen Anteil.<br />
9
O U V E R T Ü R E<br />
„Gefühl beim Berühren der Taste“<br />
Anruf bei Otto Hott, Banker, Geiger, Golfer – und stets dabei, die Firma Sauter, den ältesten<br />
Klavierhersteller der Welt, unablässig zu nachhaltigem Erfolg zu führen.<br />
Herr Hott, wobei störe ich Sie gerade?<br />
Sie stören nicht, wir haben gerade den Erfolg unseres jüngsten<br />
Coups teamintern besprochen und sind mit den ersten Reaktionen<br />
von Seiten einiger Pianisten und von Teilen der Öffentlichkeit<br />
zufrieden. Wir haben eine besondere Innovation herausgebracht,<br />
die eigentlich auf einer sehr alten Tradition beruht.<br />
Was kann man sich unter einer Innovation,<br />
die auf einer alten Tradition beruht, im<br />
Klavierbau vorstellen?<br />
Eine der Traditionen bedeutet, dass der<br />
Tastenbelag in früheren Jahrhunderten aus<br />
Elfenbein bestand, was begreiflicherweise heute<br />
verboten ist. Pianisten, die aber auf älteren<br />
Instrumenten gespielt haben, schwärmen von<br />
dem unvergleichlichen Spielgefühl des echten<br />
Elfenbeins. Und hier hat unsere neueste<br />
Innovation eingesetzt, von der wir uns viel<br />
versprechen.<br />
Und was für eine Innovation haben Sie jetzt<br />
auf den Markt gebracht?<br />
Otto Hott und die<br />
Die Pianofortemanufaktur Sauter feiert Pianistin Annique Göttler<br />
dieses Jahr ihr 200-jähriges Bestehen und<br />
das Max-Planck-Institut für Festkörperphysik in Stuttgart sein<br />
50-jähriges. Anlässlich eines Besuches einiger Wissenschaftler und<br />
Professoren des Instituts in unserer Produktion in Spaichingen<br />
wurde mir die überraschende Frage gestellt, ob ich Wünsche für die<br />
Verbesserung beim Klavierbau habe. Und ohne zu überlegen habe<br />
ich geant wortet: synthetisches Elfenbein.<br />
Was ist denn der Unterschied zu den heutigen Kunststoffbelägen<br />
auf den Tasten?<br />
Alle Klavierhersteller dieser Welt, besonders im Premiumbereich,<br />
haben an diesem Problem gearbeitet, denn der Kunststoffbelag<br />
vermittelt ein anderes Gefühl beim Berühren und Drücken der<br />
Taste. Der Kontakt mit Elfenbein ist ganz anders. Elfenbein ist etwas<br />
weicher, etwas unebener und kann die natürliche Feuchtigkeit, die<br />
sich auf unserer Haut bei Betätigung bildet, unauffällig aufsaugen.<br />
Hier ist man mit Kunststoffbelägen weniger erfolgreich gewesen.<br />
Das Max-Planck-Institut hat in mehrjähriger Entwicklung jetzt<br />
synthetisches Elfenbein hergestellt: Es besteht aus einer Hightech-<br />
Mischung aus Gelatine und Mineralien und fühlt sich an wie<br />
Elfenbein. Es ist darüber hinaus auch bei der späteren Entsorgung<br />
keine Belastung für die Umwelt. Die ersten Pianistinnen und<br />
Pianisten, die unsere Instrumente jetzt gespielt haben, äußerten sich<br />
positiv über die Spieleigenschaften dieses synthetischen Elfenbeins,<br />
das wir als Patent angemeldet haben. Man<br />
rutscht weniger.<br />
Welche Erfindungen haben Sie denn noch in<br />
Ihrer Firmengeschichte hervorgebracht, die<br />
das Spielen auf einem Klavier angenehmer<br />
oder ausdrucksvoller machen?<br />
Da muss man ein paar geschichtliche<br />
Fakten nennen. Der Gründer der<br />
Firma Sauter hieß Grimm und der<br />
lernte von 1813 bis 18<strong>19</strong> bei einem der<br />
damals führenden Instrumentenhersteller<br />
in Wien, dem gebürtigen<br />
Schwaben Andreas Streicher. Streicher,<br />
der eine Tochter aus der Augsburger<br />
Klavierbauerfamilie Stein, Nanette,<br />
geheiratet hatte, stieg durch Fleiß und<br />
Innovationskraft schnell zu einem der führenden Klavierbauer<br />
seiner Zeit auf. So zählten zu seinen Kunden unter anderem<br />
Beethoven, Goethe, Hummel. Dieser Tradition zur Modernität fühlt<br />
man sich bei Sauter bis heute verpflichtet, ein Teil dieser Innovationen<br />
wurden auch als Patente angemeldet.<br />
Können Sie ein paar Beispiele nennen?<br />
Sauter steht immer für einen großen Klang, vor allem unsere<br />
Klaviere verfügen, gemessen an der Gehäusegröße, immer über eine<br />
besonders große Resonanzbodenfläche. Bei den Spitzenklavieren<br />
und -flügeln verwenden wir extrem abgelagertes Holz aus jener<br />
Alpenregion, aus der der Geigenbauer Stradivari seine Hölzer bezog.<br />
Außerdem werden die Resonanzböden über eine Druckpresse mit<br />
präzise berechneten Verläufen in eine leicht sphärische Rundung<br />
gepresst, sodass sie unter leichter Spannung auf den Rahmen<br />
geschraubt werden, was zu einer leichteren Schwingungserregbarkeit<br />
führt und sich positiv auf das Klangvolumen auswirkt. <br />
■<br />
Wie das Geige- und Klavierspielen<br />
erfordert das Denken<br />
eine tägliche Praxis.<br />
Charlie Chaplin<br />
HINTER DER BÜHNE<br />
Als ausgebildeter Puppenspieler ist der Schweizer<br />
Olivier Carrel Bildern und Inszenierungen gegenüber<br />
sehr aufgeschlossen – so auch denen von Alain<br />
Roche und seinem „Piano Vertical“ (siehe S. 6). Die<br />
Fotografie sei auf „wilde, instinktive Weise“ in sein<br />
Leben getreten, weil er das Bedürfnis verspürt habe,<br />
auch außerhalb der Theater einen Raum für seine<br />
Kreationen zu finden. Während er zu Beginn seiner<br />
Fotografenkarriere vor allem Bilder von Shows<br />
machte, versuchte er parallel dazu, Momente einzufangen: Geschichten,<br />
Sensationen, Emotionen. Carrels Bilder halten tatsächlich die<br />
Zeit an. Der Fotograf vergleicht seine Bilder mit „in Zucker eingelegten<br />
Früchten, die man später genießen kann – und die dann immer<br />
noch ihren Geschmack behalten“. www.photographyoliviercarrel.com<br />
FOTOS: SAUTER PIANOS; P.D JANKENS - FRED CHESS, GEMEINFREI<br />
10 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
NEUHEITEN<br />
Herausragende<br />
bei Sony Music<br />
Jonas Kaufmann<br />
Wiener Philharmoniker<br />
Wien<br />
Das neue Album mit den<br />
Wiener Philharmonikern<br />
ist eine Hommage an<br />
die Traumstadt Wien mit<br />
Musik von Johann Strauss,<br />
Kálmán, Benatzky,<br />
Weinberger, Stolz u.a.<br />
Erhältlich ab 11.10.<br />
www.jonaskaufmann.com<br />
www.igor-levit.de<br />
Igor Levit<br />
Beethoven<br />
Sämtliche Klaviersonaten<br />
Igor Levits sensationelle<br />
neue Gesamteinspielung<br />
aller 32 Beethoven Sonaten.<br />
Limitierte Deluxe Edition<br />
mit persönlichen Texten zu<br />
allen Sonaten und Faksimilie-Druck<br />
einer Beethoven<br />
Notenhandschrift.<br />
Erhältlich ab 13.09.<br />
Lucas Debargue<br />
Scarlatti<br />
52 Sonaten<br />
„Authentisch, erfrischend<br />
wie spannend“ (Piano News)<br />
spielt Debargue diese<br />
Scarlatti Sonaten auf einem<br />
modernen Steinway.<br />
4 CDs zum Sonderpreis,<br />
erhältlich ab 04.10.<br />
www.lucas-debargue.com<br />
www.tal-groethuysen.de<br />
Yaara Tal<br />
Hommage an<br />
Clara Schumann<br />
Werke von Clara<br />
Schumann und ihren<br />
Weggefährten Theodor<br />
Kirchner, Johannes<br />
Brahms und Julie von<br />
Webenau. Mit zwei<br />
Weltersteinspielungen.<br />
Capella de la Torre<br />
Air Music<br />
Nach den erfolgreichen Alben<br />
zu „Wasser“ und „Feuer“<br />
präsentiert die Capella de<br />
la Torre unter Katharina<br />
Bäuml reizvolle Werke mit<br />
Bezug zum Thema „Luft“,<br />
von Monteverdi, Ravenscroft,<br />
Holborne, Praetorius u.a.<br />
Erhältlich ab 13.9.<br />
www.capella-de-la-torre.de<br />
www.wavequartet.com<br />
The Wave Quartet<br />
Carmen<br />
Das Wave Quartet lässt<br />
Bekanntes völlig neu<br />
und mitreißend erklingen:<br />
Die Carmen-Suite mit<br />
den Highlights aus Bizets<br />
Oper, arrangiert für vier<br />
Marimbas, aber auch Musik<br />
von Sting, Suzanne Vega,<br />
Avner Dorman u.a.<br />
Erhältlich ab 13.9.<br />
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sowie Interessantes aus der Klassikwelt.
K Ü N S T L E R<br />
Auf einen Kaffee mit …<br />
JÜRGEN TARRACH<br />
VON SINA KLEINEDLER<br />
FOTO: DOMINIK BECKMANN<br />
12 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
Als Rechtsanwalt Eduardo Silva ermittelt Jürgen Tarrach in Lissabon für<br />
seine Mandanten. Wie die Portugiesen selbst konnte sich der Schauspieler<br />
dabei dem Zauber den traurig-sehnsuchtsvollen Melodien des Fado nicht<br />
entziehen. Jetzt hat er sogar eine deutschsprachige Hommage an diese Musik<br />
aufgenommen: das Album „Zum Glück traurig“.<br />
<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Tarrach, jetzt haben wir gerade leider<br />
keine Musik hier. Welches Stück würden Sie gerne zum<br />
Kaffeetrinken hören?<br />
Jürgen Tarrach: La Javanaise, eigentlich von Serge Gainsbourg,<br />
aber es gibt eine Version der Chansonnière Madeleine Peyroux, die<br />
noch sehnsuchtsvoller und schöner ist. Die würde ich gern hören.<br />
Welche Rolle spielt Musik in Ihrem Leben?<br />
Sie ist eine kleine Flucht aus dem Alltag. Musizieren macht mir<br />
unglaublich viel Spaß. Und da ich leider kein Instrument spiele,<br />
singe ich. Hab ich mal schlechte Laune und geh zum Gesangsunterricht<br />
gehe, komme ich immer<br />
fröhlich wieder raus. Musikmachen<br />
bewegt den ganzen Körper und<br />
wahrscheinlich auch den Geist. Eine<br />
kleine Katharsis, wenn man so will.<br />
Woher kam diese Lust zum Singen?<br />
Und wann?<br />
Auf der Schauspielschule ist Singen ja<br />
nichts Ungewöhnliches. Und damals<br />
am Nürnberger Stadttheater inszenierte ein Gastregisseur Gogols<br />
Revisor. Er war auch Musiker, und ich freundete mich schnell mit<br />
ihm an. Eines Tages – er hatte während der Probenzeit Geburtstag<br />
– kochte er groß auf für uns: Ente mit Rotkohl, Klößen und<br />
viel Rotwein. Irgendwann hat er die Klampfe ausgepackt und<br />
Musik gemacht. Ich habe gesungen. Dabei haben wir das „Lied<br />
auf Zuruf“ erfunden, damals war es zum Beispiel Das Lied der<br />
Kaffeetassen … (lacht)<br />
Wie passend!<br />
Ja! Oder Das Lied vom Wasser – immer in verschiedenen Stilrichtungen.<br />
Mal als Udo Jürgens, mal als Brecht … Ein beschwipster<br />
Jux, aber mir hat das Singen wahnsinnig Spaß gemacht.<br />
Schauspiel und Gesang, das hat ja sowieso einige Parallelen …<br />
Auf jeden Fall! Musikalität ist absolut notwendig für einen<br />
Schauspieler. Dialoge haben eine eigene „Musik“. Jedes Stück,<br />
jeder Film hat einen Rhythmus. Timing ist ganz wichtig.<br />
Nutzen Sie Musik auch bewusst in der Rollenvorbereitung?<br />
Nein, aber wenn ich Text lernen muss, mache ich manchmal Musik<br />
an. Meine Frau ist immer ganz empört: „Da kannst du dich doch<br />
gar nicht konzentrieren!“ Aber ich mag das, denn es ist ja zunächst<br />
ein fremder Text. Es braucht eine Weile, bis der einem zu eigen<br />
wird. Anfangs komme ich mir oft doof vor, aber um Text zu lernen,<br />
muss man ihn laut sprechen. Da ist es manchmal ganz gut, wenn<br />
man sich selbst nicht so genau hört. Also höre ich Musik.<br />
Welche Art von Musik?<br />
Lange Zeit war Tom Waits mein Favorit. Und eigentlich wäre es<br />
ein schöner Gedanke, für verschiedene Rollen jeweils eine eigene<br />
Musik zu haben. Es gibt auch Kollegen, die kaufen sich ein<br />
Parfüm, von dem sie denken, es könnte zu ihrer Rolle passen.<br />
Alles schöne Gedanken. Aber ich gehe da pragmatischer ran.<br />
Jetzt drehen Sie den Spieß um: Der Anwalt aus dem Lissabon-<br />
Krimi singt typisch portugiesische Musik: Fado.<br />
Ja, das war eigentlich eine spontane Eingebung. Ingvo Clauder,<br />
unser Komponist, Arrangeur und Produzent, und ich haben<br />
zuletzt einen französischen Chansonabend gemacht. Was vor<br />
JE ÄLTER ICH WERDE, UMSO MEHR<br />
MERKE ICH: ALLES IST ENDLICH<br />
allem deshalb lustig war, weil Ingvo gar kein Französisch kann.<br />
Das lief dann in den Proben so: „Ähm, diese eine Stelle, wo du da<br />
singst ‚cra …eh creu …‘“ (lacht) Wir sind damit sogar beim<br />
Bundespräsidenten aufgetreten. Das französische Chanson ist<br />
allerdings in Deutschland ein bisschen aus der Mode geraten,<br />
deshalb war es ziemlich schwer, Auftritte zu bekommen. Also<br />
wollte ich auf Deutsch singen.<br />
Dafür ist portugiesischer Fado ja vielleicht nicht die erste<br />
Eingebung …<br />
Fado wollte ich machen, weil ich Melancholie ein tolles Thema für<br />
Musik finde. Von den Themen und der<br />
Sehnsucht her sind Fado und Chanson<br />
sogar eng verwandt. Unseren Textdichter<br />
Antek Krönung habe ich dann<br />
zufällig in Köln auf der lit.Cologne<br />
kennengelernt. Ich habe ihm auf dem<br />
Handy etwas aus unserem Chanson-<br />
Programm vorgespielt und ihm gesagt:<br />
„Eigentlich würde ich gerne mal auf<br />
Deutsch singen.“ Ich finde singbare deutsche Texte zu schreiben<br />
generell nicht einfach – das könnte ich gar nicht. Als wir bei einem<br />
Wein zusammensaßen, hab ich ihn einfach gefragt, was er denn<br />
eigentlich von deutschem Fado halte – er wusste sofort, was ich<br />
meine. „Okay“, sagte er, „nächste Woche bin ich in Berlin, da<br />
bringe ich dir mal zwei, drei Texte mit.“<br />
Die Lieder sind alle speziell für Sie geschrieben und von Ingvo<br />
Clauder komponiert worden, quasi maßgeschneidert. Wie viel<br />
Anteil hatten Sie selbst an den Stücken?<br />
Ich bin wirklich nur Interpret. Als Antek mir seine Texte<br />
geschickt hat, war es, als hätte ich sie selbst geschrieben – dabei<br />
kann ich es ja gar nicht! Da sind Situationen, Themen und<br />
Gefühlslagen drin, die genau zu mir passen.<br />
Ihr Album heißt – ein bisschen widersprüchlich – „Zum Glück<br />
traurig“. Was ist denn das Schöne am Traurigsein?<br />
Ein Beispiel: Wenn man sich von den Kindern alte Fotos anguckt,<br />
als sie noch klein waren, ist das einerseits eine schöne Sache.<br />
Andererseits rührt es sehr an. Man weiß: Diese Zeit ist vorbei. Und<br />
sie war wahnsinnig schön. Diesen bittersüßen Zustand wollten wir<br />
ausdrücken: Mit einem Lächeln auf den Lippen könnte man<br />
heulen. Sich da reinzubegeben ist Tradition in Portugal und<br />
Frankreich. Weil man danach oft befreiter ist. Das ist sozusagen der<br />
„therapeutische“ Sinn der Musik.<br />
Fado widmet sich ja der „Saudade“, also dem Weltschmerz.<br />
Kennen Sie das auch?<br />
„Weltschmerz“ ist ja recht pauschal, ich würde sagen, es ist die<br />
Vergänglichkeit. Je älter ich werde, umso mehr merke ich, dass<br />
alles endlich ist. Das kann schon schmerzlich sein.<br />
Was hilft gegen dagegen?<br />
Singen, malen – das sind Dinge, die einen eine<br />
Zeit lang von der Welt entheben. Es ist ungemein<br />
schön und tröstlich, sich in so etwas<br />
verlieren zu können.<br />
„Zum Glück traurig“, Jürgen Tarrach (OKeh)<br />
■<br />
13
K Ü N S T L E R<br />
EINE TRAUMATISCHE KINDHEIT LIESS CHRISTOPH ESCHENBACH<br />
VERSTUMMEN. ERST MIT DER MUSIK FAND ER DIE SPRACHE WIEDER<br />
„WIR MACHEN<br />
SCHWARZE<br />
PUNKTE<br />
LEBENDIG“<br />
Herbert von Karajan nannte ihn einen Orchester-Architekten unter<br />
den Dirigenten. Jetzt übernimmt Christoph Eschenbach das<br />
Konzerthausorchester in Berlin. Und baut dabei auf sein bewährtes<br />
Fundament: eine gute Zusammenarbeit mit den Musikern.<br />
VON VERENA FISCHER-ZERNIN<br />
<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Eschenbach, Sie sind in Breslau geboren. Jeder anständige<br />
Berliner kommt aus Breslau, sagt Tucholsky ...<br />
Christoph Eschenbach: ... ach! (lacht)<br />
Kommen Sie also nach Hause, wenn Sie in der neuen Saison die Leitung des<br />
Konzerthausorchesters Berlin übernehmen?<br />
Das hat etwas. Die Breslauer sagen, Berlin sei ein Vorort von Breslau. Durch die<br />
ganze Historie hat sich das alles sehr verändert, aber etwas daran gilt noch. Mein<br />
Vater war Universitätsprofessor in Breslau und zugleich Dirigent. Er hat den<br />
größten gesamtschlesischen Chor geleitet und viele, viele Konzerte gegeben. Er<br />
starb <strong>19</strong>45 in der letzten Schlacht um Berlin. Das ist mein persönlicher<br />
Zusammenhang.<br />
Sie sind in Norddeutschland aufgewachsen. Sie haben als Kind in Schleswig-Holstein<br />
Orgeldienste versehen, haben in Hamburg bei Eliza Hansen studiert, das<br />
Schleswig-Holstein Musik Festival mitgeprägt und waren Chefdirigent des<br />
heutigen NDR Elbphilharmonie Orchesters. Und nun machen Sie in Ihrer ersten<br />
14 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
Blick nach vorn:<br />
Christoph<br />
Eschenbach im<br />
Parkett seiner neuen<br />
Wirkungsstätte<br />
FOTO: MARCO BORGGREVE<br />
15
K Ü N S T L E R<br />
FOTO: MARCO BORGGREVE<br />
Saison beim Konzerthausorchester einen Brahms-<br />
Schwerpunkt. Von Brahms heißt es ja oft, der hätte so was<br />
norddeutsch Schweres.<br />
Brahms kam aus Norddeutschland, aber er liebte Ungarn! Er hat in<br />
Wien gelebt, hatte in seiner Wohnung aus Stroh gemachte ungarische<br />
Puppen stehen, hat in seiner Jugend mit einem ungarischen<br />
Geiger Ungarn bereist. Er war insgesamt sehr frei und offen. Auch<br />
im Ersten Klavierkonzert gibt es ja nicht nur das Schwere. Es gibt<br />
auch den ungarisch angehauchten letzten Satz und den unglaublich<br />
lyrischen Mittelsatz, der das Landschaftliche übersteigt.<br />
Kann eine Landschaft das musikalische Denken prägen?<br />
Ich liebe die norddeutsche Landschaft – sie hat mein Denken in<br />
der Kindheit geprägt. Was aber das Musikalische angeht, gab es<br />
sicher andere Prägungen, die wichtiger waren. Dass es mich<br />
dorthin verschlagen hat, wie man so schön oder so unzutreffend<br />
sagt, das war einfach Schicksal. Meine Mutter ist bei meiner<br />
Geburt gestorben. Ich bin nach dem Krieg bei einer Cousine<br />
meiner Mutter aufgewachsen. Die beiden waren gut befreundet<br />
gewesen, beide waren ausgebildete Pianistinnen.<br />
Bei Kriegsende ist Ihre Großmutter mit Ihnen nach Mecklenburg<br />
geflohen. Sie starb in einem Flüchtlingslager an Typhus.<br />
Das gerade fünfjährige Kind, das Sie waren, blieb zurück,<br />
ebenfalls todkrank.<br />
Meine zweite Mutter hat mich wirklich gerettet.<br />
Sie müssen durch die Ereignisse schwer traumatisiert gewesen<br />
sein, jedenfalls haben Sie damals für Monate die Sprache<br />
verloren. Wie haben Sie sie denn wiedergewonnen?<br />
Durch die Musik. Ich hörte – krank wie ich war – meine zweite<br />
Mutter jeden Abend stundenlang Klavier spielen. Die Musik hat<br />
mir Kraft gegeben und mir Mut gemacht, mich auszudrücken. Und<br />
als meine Mutter mich fragte, willst du auch Klavier spielen, sagte<br />
ich: „Ja!“ Das war das erste Wort. (lacht, als wäre er selbst erstaunt)<br />
Und dann konnten Sie plötzlich sprechen?<br />
Es hat ein bisschen gedauert. Ich musste mir selber Worte formen.<br />
Das war sehr schwierig. Aber der eigentliche Bruch war nicht in<br />
der Sprache. Er war in der Seele.<br />
Sie sind als Einzelkind aufgewachsen. Wie kamen Sie denn mit<br />
anderen Kindern zurecht?<br />
Erst war es nicht so einfach. Ich konnte nicht teilen, was ich<br />
wusste. Ich wusste, dass es nicht verstanden würde. Es war ein<br />
Tabu in mir, das ich behielt. Eigentlich sehr, sehr lange. Bis vor<br />
wenigen Jahren. Natürlich habe ich im Lauf der Jahre einzelne<br />
Geschichten erzählt, aber es war kein wirkliches Gesprächsthema,<br />
das wollte ich nicht.<br />
Wenn Sie proben, wie viel sprechen Sie da? Musiker wollen ja<br />
lieber spielen, als Ansprachen zu lauschen.<br />
Man sagt präzise Worte, wo man sie notwendig findet – nicht<br />
mehr. Es gibt eine schöne Geschichte von dem Pianisten Edwin<br />
Fischer. Es ging um das zweite Brahms-Konzert. Das fängt so<br />
an ... (singt den Anfang), und Otto Klemperer dirigierte ... (singt<br />
das Gleiche, ein wenig verwaschener). Fischer unterbricht und<br />
sagt zu Klemperer: „Maestro, es muss so klingen wie im Wald.“<br />
Und Klemperer erwidert (Eschenbach nuschelt, als hätte er eine<br />
heiße Kartoffel im Mund): „Es muss so klingen wie im Wald.“<br />
16 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
Sie proben weiter, Fischer unterbricht wieder: „Etwas Sonne ...“<br />
und Klemperer (nuschelnd): „Etwas Sonne!“ Ging auch nicht gut.<br />
Dann machen sie weiter, und Fischer ist glücklich. Und Klemperer<br />
nuschelt nur: „Also im Tempo!“ (lacht)<br />
So etwas will ein Orchester nicht.<br />
Ein Orchester will präzise Angaben. Wenn junge Dirigenten mich<br />
fragen, wie werde ich Dirigent, dann sage ich denen: Hör zu, wie<br />
Dirigenten proben. Dann kannst du lernen, was schlecht ist –<br />
wenn sie zu viel reden. Und was gut ist – wenn sie präzis sind.<br />
Wie sie ein Resultat erreichen im Orchester. Einen Erfolg im<br />
Klangempfinden. Oder nicht im Empfinden, sondern im Wissen.<br />
Wie sehr glauben Sie an rein manuelle Dirigiertechniken, etwa<br />
einen bestimmten Winkel des Handgelenks?<br />
Man muss bestimmte Dirigiertechniken beherrschen. Das lernt<br />
man aus seinem eigenen Körper. Es ist sehr wichtig, dass jeder<br />
Dirigent früh sein eigenes Körpergefühl lernt, auslotet und dann<br />
weitergeben kann.<br />
Das ist etwas sehr Persönliches. Kann man das überhaupt<br />
weitergeben?<br />
Jedenfalls kann man es nicht kopieren. Ich habe sehr viel von<br />
Karajan gelernt und von meinem großen Mentor George Szell.<br />
Kopiert habe ich sie nie.<br />
Wenn Sie ein Stück einstudieren, was ist Ihr oberstes Ziel?<br />
Zuerst, wenn ich die Partitur lerne, lerne ich die Struktur des<br />
Stückes kennen, die Farbgebung des Stückes, die Zusammenhänge<br />
der einzelnen Teile und Details. Wenn ich es dann weitergebe,<br />
muss ich das alles schon im Kopf haben. Und im Geist.<br />
Gibt es Momente, in denen Sie über einer Partitur grübeln und<br />
sich fragen, wie mach ich’s? Was hat der Komponist gewollt?<br />
Es gibt sehr komplizierte Partituren, bei denen man nicht gleich<br />
weiß, wie man’s macht. Aber es kommt schon. Nur wenn ich es<br />
gar nicht zustande bekomme, dann lasse ich es lieber sein. Ich<br />
habe nie ein Stück dirigiert, mit dem ich mich nicht hundertprozentig<br />
identifizieren konnte. Wenn 99 Prozent schon da sind,<br />
kann das eine Prozent noch kommen. Meist ist es aber so, dass<br />
mich Stücke anspringen – und ich dann auf sie springe.<br />
Das heißt, eigentlich wählt das Stück Sie.<br />
So soll es doch sein. Wir sind die Lebendigmacher dieser schwarzen<br />
Punkte auf weißem Papier.<br />
Ich habe mal gelesen: „Ganz ohne Selbstinszenierung kommen<br />
Dirigenten kaum aus.“<br />
Das ist ein gefährliches Wort. Davon bin ich weit entfernt. Wir<br />
sollen wir selbst sein. Aber uns dann noch zu inszenieren, das<br />
finde ich ein bisschen viel. Wenn wir eine Persönlichkeit darstellen<br />
– vor dem Orchester und vor dem Publikum –, ist das genug.<br />
Wie viel hat Dirigieren mit Machtausübung zu tun?<br />
Nichts. Die Macht ist die Musik. Nicht die Persönlichkeit<br />
derjenigen, die sie ausführen. Aus der Macht der Musik schafft<br />
man alles.<br />
Kommt es vor, dass Sie sagen, so, wir gehen jetzt in diese<br />
Richtung, und Sie dann merken, dass da vielleicht jemand nicht<br />
unbedingt d’accord ist? 90 Leute müssen oder können ja nicht<br />
immer alle einer Meinung sein.<br />
Ich baue sehr auf Geben und Nehmen. Ich will die Meinung der<br />
Musiker hören. Wenn ich in der Partitur arbeite und probe, ist<br />
mein Horizont so weit, dass ich andere Auffassungen mit<br />
aufnehmen kann. Wenn sie mir gefallen, nehme ich sie sehr gerne<br />
auf. Meist ist es bei hervorragenden Orchestern so, dass es mir<br />
gefällt. Ich will keine graue Maus als Orchester, sondern ich will<br />
eine Versammlung von Persönlichkeiten, die etwas bieten<br />
können. Und bei großartigen Orchestern ist das halt so. Das hat<br />
mich auch beim Konzerthausorchester von Anfang an fasziniert.<br />
Wie sind Dirigenten vom alten Schlag mit den Musikern<br />
umgegangen? Wenn man mit Berliner Philharmonikern<br />
spricht, die Karajan noch als junge Leute erlebt haben, das<br />
klingt ganz schrecklich.<br />
Eine schreckliche Geschichte kenne ich nicht von ihm. Er war<br />
sehr für die Musiker da. Das einzige Mal, dass er in Diskrepanz<br />
geriet mit dem Orchester, war das Engagement von Sabine Meyer.<br />
Das Orchester wollte keine Frau! Das war’s!<br />
Und George Szell?<br />
Der Szell! (klingt amüsiert)<br />
„SELBSTINSZENIERUNG IST EIN<br />
GEFÄHRLICHES WORT.<br />
PERSÖNLICHKEIT DARZUSTELLEN,<br />
IST GENUG“<br />
War der ein autoritärer Dirigent?<br />
Ja! Bei all seiner Größe und seiner großartigen Musikalität und<br />
all den Dingen, die er für mich getan hat – Szell war mit dem<br />
Orchester ... streng.<br />
Das mögen Orchester aber doch eigentlich ganz gern.<br />
Diese Art von Strenge nicht. Wenn Sie jemandem am fünften Pult<br />
der ersten Geige sagen: „Jetzt setzen Sie sich mal zehn Zentimeter<br />
mehr in die Gruppe“, und der dann ein Gesicht zieht ... Und wenn<br />
der Dirigent dann sagt: „Kommen Sie in der Pause mal bitte zu<br />
mir ins Zimmer ...“<br />
Hui. Hat der Geiger seine Stelle behalten?<br />
Er hat sie dann doch behalten, weil er gut war. Aber es war ein<br />
kritischer Moment. Oder wenn Sie an Toscanini denken, wie er<br />
die Leute anbrüllte und seine Uhr hinschmiss und drauftrat. Ich<br />
weiß nicht, ob die Geschichten alle stimmen. Aber so kann man<br />
mit Leuten, mit denen man Musik machen will, nicht umgehen.<br />
Auf den Aufnahmen von Toscanini hört man das auch, finde ich.<br />
Manches ist so eckig, so strikt.<br />
Was hat sich verändert?<br />
Die Autorität eines Dirigenten ist natürlich. Sie brauchen<br />
Autorität, wenn Sie vor 100 Leuten stehen und ihnen den Weg<br />
weisen. Auf ihnen herumzuhacken, ist unmöglich.<br />
Und früher war der Dirigent ...<br />
... na ja, wie eine höhere Gewalt! (lacht unvermittelt laut los) Was<br />
nicht gut ist.<br />
Sie haben ja schon sehr viele Chefposten gehabt. Sie gehen<br />
intensive künstlerische Beziehungen ein. Wie ist denn das,<br />
wenn man nach langer Zeit zu einem Orchester zurückkommt?<br />
Das ist schön, weil sich die Musiker an die Spezialitäten erinnern,<br />
die man hat, die Nuancen, die man von ihnen möchte, und die<br />
Farben, mit denen man malt.<br />
Wenn Sie nach Jahren zurückkommen, hat sich sicherlich ein<br />
Teil des Orchesters verändert, und trotzdem ist das noch im<br />
kollektiven Gedächtnis?<br />
Absolut. Die Jungen haben von den Älteren gelernt und sind Teil<br />
eines unausgesprochenen Einverständnisses.<br />
Gibt es ein Orchester, bei dem Sie noch nie waren und das Sie<br />
gerne einmal dirigieren würden?<br />
Ich war eigentlich bei allen. (lacht)<br />
Würden Sie mehrere Chefposten gleichzeitig bekleiden?<br />
Ich habe das mal gemacht, ich hatte sogar drei. Aber es ist einfach<br />
zu viel. Nicht terminmäßig. Sondern um sich um die „Familie“ zu<br />
kümmern. Wenn man drei Familien hat, ist das ein bisschen<br />
schwierig. Ich hab jetzt eine. Und das genügt mir völlig. n<br />
17
K Ü N S T L E R<br />
FOTO: STEFAN HÖDERATH / DG<br />
18 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
RASTLOSE<br />
LEIDENSCHAFT<br />
Unter dem Motto „Across the Stars“ beschreitet<br />
Anne-Sophie Mutter neues Terrain: Auf ihrem Album<br />
interpretiert sie eigens für sie komponierte Arrangements<br />
der bekanntesten Filmtitel von John Williams.<br />
Am 14. <strong>September</strong> gibt sie mit diesem Repertoire<br />
ihr erstes Open-Air-Konzert überhaupt.<br />
Ein Gespräch über die Guillotine der Gefälligkeit,<br />
den Charme des Breitwandgefühls<br />
und das Gute im Menschen.<br />
VON DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />
<strong>CRESCENDO</strong>: Sie sind ein leidenschaftlicher Film-Fan. Wann<br />
haben Sie zum ersten Mal den Zauber des Films erlebt?<br />
Anne-Sophie Mutter: In meiner Kindheit hat das Fernsehen nur eine sehr<br />
periphere Rolle gespielt. Deshalb war der cineastische Eindruck Ende der<br />
70er-Jahre, als ich in diesem kleinen Kino im Schwarzwald Star Wars sah,<br />
besonders eindrucksvoll. Dabei ist mir ganz besonders die Musik in Erinnerung<br />
geblieben. Schon dieses erste große Thema, wenn der Film beginnt:<br />
Das ist episch, das ist Wagner, das ist große Oper und große Musik.<br />
Was macht die Musik von John Williams für Sie so besonders?<br />
John Williams versteht wie kein anderer, in den Körper der Handlungsgeschichte<br />
zu schlüpfen und sie in eine Emotionstiefe zu bringen, die das Auge<br />
höchstwahrscheinlich so nicht erreicht. Tatsache ist, dass John Williams’<br />
Musik für sich allein steht und ohne den Film sehr gut lebt. Das ist das<br />
Faszinierende daran – ich brauche die Bilder nicht. Dabei besitzt Williams’<br />
Musik derart viel Persönlichkeit und nimmt so viel Raum ein, dass sie den<br />
Film nicht überschattet, aber ein Eigenleben hat, das gleichberechtigt neben<br />
dem Filmepos steht. Es ist ja phänomenal, was man durch akustische Bilder<br />
machen kann. Denken Sie an einen spannenden Thriller. Wenn ich die<br />
<strong>19</strong>
K Ü N S T L E R<br />
Spannung gar nicht mehr aushalte,<br />
stelle ich oft einfach die Musik aus.<br />
Und dann? Ist alles ganz easy. (lacht)<br />
Sie verbindet mittlerweile eine<br />
langjährige Freundschaft mit<br />
Williams. Wie haben Sie sich<br />
kennengelernt?<br />
Das ist witzigerweise auf André<br />
Previn zurückzuführen, denn die<br />
beiden waren fast gleich alt und<br />
haben sich mit 18 oder <strong>19</strong> kennengelernt,<br />
als sie begonnen haben, in<br />
Hollywood zu arbeiten. So sind die<br />
beiden engste und beste Freunde<br />
geworden. Ich selbst habe John in<br />
Tanglewood kennengelernt. Nach<br />
einem Konzert bin ich ihm zum<br />
ersten Mal begegnet, da war auch<br />
mein Sohn Richard dabei, der ein<br />
extremer John-Williams-Fan ist und<br />
einfach alles über seine Musik weiß.<br />
Damals hat sich dann ein Gespräch<br />
entsponnen und bald darauf hat<br />
Williams das großartige Stück Markings für mich komponiert.<br />
Später kam dann die Idee auf, neue Arrangements seiner größten<br />
Filmwerke für mich zu schreiben. Dann hatte ich eine Liste mit<br />
Stücken, dann er … Und bis heute wächst und wächst das. (lacht)<br />
Ich glaube nicht, dass dies das letzte Wort sein wird in dieser<br />
Zusammenarbeit.<br />
Wie haben Sie die gemeinsame Arbeit bisher erlebt?<br />
Es ist schon auffallend, mit welch unglaublichem Wissen Williams<br />
das Instrumentarium einsetzt. Man fühlt sich als Interpret<br />
total verstanden. Seine Musik ist technisch teilweise extrem<br />
anspruchsvoll, aber immer absolut machbar. Dabei geht er bis ins<br />
akribischste Detail, zum Beispiel was die Bogenstriche anbelangt.<br />
Ich habe wirklich Bauklötze gestaunt, was er alles weiß und wie<br />
penibel er selbst um die Länge der Abschlussnoten gerungen hat.<br />
Auch jetzt ist es noch so, dass er die Arrangements umschreibt. Es<br />
arbeitet pausenlos in ihm. Am Anfang hat mich das etwas nervös<br />
gemacht, denn gerade, wenn ich die Materie verinnerlicht hatte,<br />
hieß es: Ach, übrigens, ich hab jetzt da noch eine Idee. (lacht)<br />
Diesen work in progress zu erleben und zu merken, wie sehr er<br />
um Details ringt, finde ich zutiefst inspirierend und aufregend<br />
und eigentlich nie dagewesen in meinem Leben.<br />
Ist John Williams ein Besessener?<br />
Oh ja, ohne Frage. Das macht das Projekt für mich auch zu etwas<br />
ganz Außergewöhnlichem, weil es mit so viel Leidenschaft und<br />
Rastlosigkeit verbunden ist. Das sind zwei Komponenten in<br />
meinem Leben, die mich immer fasziniert haben und die auch<br />
mich selbst ausmachen. In der Musik gibt es ja dieses Vorurteil<br />
gegenüber der Filmmusik im Gegensatz zur ernsten Musik. Diese<br />
sogenannte ernste Musik ist manchmal aber auch totaler Bullshit.<br />
Ich glaube alles, was irgendwo einem menschlichen ästhetischen<br />
Empfinden folgt, fällt unter die Guillotine der Gefälligkeit.<br />
Letztlich gibt es gute Musik und es gibt Musik, die ist halt nicht so<br />
gelungen. John hat bei der Arbeit immer gesagt: „Let’s not forget<br />
the t-word: taste.“ Ich würde das übersetzen mit Reinheit des<br />
musikalischen Ausdrucks, und es war großartig zu sehen, mit<br />
welcher Akribie und mit welch ungeheurem Respekt für die<br />
WIE SEHR JOHN WILLIAMS UM<br />
DETAILS RINGT, FINDE ICH ZUTIEFST<br />
INSPIRIEREND UND AUFREGEND<br />
FOTO: STEFAN HÖDERATH / DG<br />
Interpreten diese Aufnahme ablief.<br />
Das ist nicht so das business as usual,<br />
wie es leider heutzutage oft gehandhabt<br />
wird aus finanziellen Gründen.<br />
Da war diese Aufnahme echt ein<br />
Lichtblick. Zurück in die goldenen<br />
Jahre mit Karajan. Da hat man die<br />
Sachen aufgenommen, bis es saß, und<br />
einen anderen Parameter gab es nicht.<br />
Ist Karajan für Sie denn heute<br />
noch präsent?<br />
Absolut. Ich bin bis heute fasziniert<br />
von der Leidenschaft, mit der er<br />
musizierte, und der Ruhelosigkeit<br />
und Rastlosigkeit, mit der er die Ziele<br />
musikalisch immer wieder neu<br />
definiert hat. Natürlich würde man<br />
Mozart heute nicht mehr so interpretieren,<br />
wie er das gemacht hat. Aber<br />
die Summe seiner musikalischen<br />
Visionen und diese Fähigkeit, uns<br />
das Zuhören zu lehren und diese<br />
großen musikalischen Gedankenbögen<br />
zu verfolgen, statt eine schöne Note an die andere zu<br />
reihen: Das war bei ihm einfach singulär.<br />
Am 14. <strong>September</strong> treten Sie mit den Stücken von Williams<br />
erstmals bei einem Open-Air-Konzert am Münchner Königsplatz<br />
auf. Bislang hatten Sie das vermieden …<br />
Ja, denn ich finde, das Repertoire muss sich eignen für diskrete<br />
Unterstützung durch die Technik. Bei John Williams macht das<br />
für mich absolut Sinn. Seine Musik wurde nicht für den Konzertsaal<br />
komponiert, sondern für eine Surround-Sound-Anlage und<br />
ist so dicht in der Orchestration, dass ich nicht weiß, ob sich<br />
dieses Breitwandgefühl in einem Konzertsaal überhaupt einstellen<br />
und die Geige als Soloinstrument überleben würde. Sehr<br />
wahrscheinlich nicht, dazu ist sie einfach zu fragil. Bei Mozart<br />
weiß ich nicht, ob das funktionieren würde. Aber: learning by<br />
doing. (lacht)<br />
Sie haben einmal E. T. A. Hoffmann zitiert und seinen Satz,<br />
„Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an“. Erleben Sie diese<br />
Kraft und Wirkung der Musik bei Ihren Auftritten?<br />
Ja, durchaus. Man kann mit Musik natürlich keine Wunder<br />
bewirken, aber man kann mit der Kraft eines Konzertes etwas<br />
verändern. Kürzlich habe ich in der Elbphilharmonie für den<br />
Jemen gespielt, für „Save the children“. Bevor wir am Ende des<br />
Konzerts ein musikalisches Gebet gespielt haben für die 85.000<br />
unter fünfjährigen Kinder, die gestorben sind in den letzten vier<br />
Jahren, entweder dahingerafft von der Seuche oder von den<br />
Bomben zerfetzt oder einfach nur verhungert, habe ich dem<br />
Publikum gesagt: „Stellen sie sich vor, das ist 40-mal die vollbesetzte<br />
Elphi! Wie wäre es, wenn jeder von uns jetzt zehn Euro<br />
spendet?“ Und dann bekam ich ein paar Tage später eine E-Mail<br />
von einem Ehepaar, das mir schrieb, sie hätten jetzt beschlossen,<br />
dass sie 21.000 Euro überweisen. Da habe ich<br />
fast geweint. Denn der Mensch ist im Grunde<br />
genommen ja gut. Man muss ihn nur dran<br />
erinnern.<br />
John Williams: „Across the Stars“, Anne-Sophie Mutter (DG)<br />
n<br />
20 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
„VIELFALT IST STÄRKE“<br />
Die Pianistin Danae Dörken hat eine so beflügelnde wie einfache Philosophie:<br />
„Verbinden, was zusammengehört!“ VON STEFAN SELL<br />
Sechs Jahre ist es nun her, sie war gerade mal 21, da stellte<br />
<strong>CRESCENDO</strong> sie als Newcomerin vor. Sie war gerade von<br />
einer großen Konzerttournee aus China zurück und hatte mit ihrem<br />
bahnbrechenden Debüt, Leoš Janáčeks Pianoworks, für Furore<br />
gesorgt. Die Frage, die sich heute stellt: Gibt es eine Steigerung des<br />
Superlativs? Danae Dörken ist in ihrer erdverbundenen Souveränität<br />
zur Spitzenpianistin avanciert. Sie schürt ihr Spielfeuer, dass selbst<br />
der zartglimmendste Funken Glut nicht verlöscht. Virtuosität ist für<br />
sie selbstverständlich, denn ihr geht es um die Musik und das, was<br />
sie bewirkt. „Ich finde, wenn man schon eine Stimme hat und einem<br />
eine Bühne gegeben wird, sollte man diese auch nutzen und seine<br />
Message rüberbringen. Alles andere wäre für mich wie nicht wählen<br />
zu gehen – da hat man seine Stimme einfach vergeudet.“<br />
Dörkens Mutter ist Griechin, ihr Vater Deutscher. Dass sie zwei<br />
so sehr unterschiedliche Kulturen in sich vereint, empfindet sie „als<br />
Privileg: Vielfalt ist etwas, was uns näher zusammenbringt und<br />
enorme Stärke gibt“. Klassische Musik ist für Dörken keine elitäre<br />
Klangkapsel, die man wie eine Pille einfach schluckt, um der Sinnlosigkeit<br />
des Alltags zu entfliehen. Die Emotionalität dieser Musik<br />
soll die Herzen aller berühren können. Dafür spielt sie.<br />
Als Mutter zweier Kinder wagt sie den Spagat zwischen Karriere<br />
und Familie und weiß, dass auch das zusammengehört. Dabei orientiert<br />
sie sich – zu Recht – an einer Größe wie Clara Schumann. „Ich<br />
sehe zu, wie meine beiden Jungs die Welt entdecken. Alles ist so<br />
abenteuerlich, auch dann, wenn etwas hundert Mal passiert. Lässt<br />
man hundert Mal den Stift runterfallen, ist das für sie jedesmal etwas<br />
ganz Tolles und Interessantes. Davon kann ich mir viel abschauen<br />
und in die Musik einbringen. Alles ist frisch und immer eine große<br />
Freude, ein großes Spiel.“ Ja, und genau so ist ihre Musik.<br />
Ihr neues Soloalbum heißt „East and West“ und verbindet westliche<br />
wie östliche Strömungen. Dörken näht zusammen, was zusammengehört.<br />
„Der Kerngedanke dieser CD – und das sehe ich nicht<br />
nur musikalisch – enthält eine Botschaft, die in der heutigen Zeit<br />
wichtig ist: Wenn man die Einzigartigkeit von Lebensweise und<br />
Lebensausdruck bewahrt und sich öffnet, kann man zu einer Verbindung<br />
zwischen den Menschen und Völkern finden.“<br />
Die Einspielung beginnt mit den 5 Preludes von Manolis Kalomiris<br />
(1883–<strong>19</strong>62). Kalomiris wurde im damaligen Smyrna geboren<br />
und gilt als Vater der modernen griechischen Musik, fühlte sich zu<br />
Chopin und Liszt ebenso hingezogen wie zum griechischen Volkslied.<br />
Hört man dann Dörkens Interpretation des dritten rumänischen<br />
Volkstanzes von Bartók, glaubt man, plötzlich Rembetiko zu hören,<br />
genauer das Lied Kegome (Καίγομαι/„ich verbrenne“) von Stavros<br />
Xarhakos, das den brennenden Untergang der Stadt Smyrna, dem<br />
heutigen Izmir, beklagt. Alles ist mit allem verbunden. „Bartók finde<br />
ich ein super Beispiel dafür. Gerade die östlichen Melodien sind auf<br />
irgendeine Weise alle miteinander verbunden. Ist es auch keine griechische,<br />
sondern eine rumänisch-ungarische Melodie, fühle ich mich<br />
dem Charakter, den Farben und allem, was da mit einfließt, sehr<br />
nahe. Und das ist natürlich in der griechischen Rembetiko-Musik<br />
verankert. Die leicht orientalischen Melodien, die Volkslieder, sie<br />
sind prägend für das Land und die Kultur, gleichzeitig zeigen sie aber<br />
auch die Verbindungen und Vernetzungen untereinander und dass<br />
alles ein und denselben Ursprung hat.“<br />
Das Verbindende in der Musikgeschichte gleicht einem Staffellauf,<br />
wobei der Stab – ein musikalischer Einfall, eine Kompositionsidee<br />
–, von Musiker zu Musiker weitergereicht, immer etwas Neues,<br />
Einzigartiges erscheinen lässt. So sind auf „East and West“ Schubert,<br />
Chopin, Grieg, de Falla, Bartók, Kalomiris und Poulenc als Stafette<br />
zu hören, verbunden durch ihre Nähe zur Volksmusik: „Das finde<br />
ich ein zutreffendes Bild. Was man in der Hand hält, bleibt – das ist die<br />
Essenz. Alles andere ändert sich, auch im Verhältnis von Komponist<br />
und Interpret. Ich als Interpretin verändere die Idee des Komponisten.<br />
Musik ist letztlich ein Ausdruck von Philosophie.“ n<br />
Chopin, Grieg, Kalomiris u. a.: „East and West“, Danae Dörken (Ars)<br />
Track 11 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Polonaise op. 26 Nr. 1.<br />
Allegro appassionato von Frédéric Chopin<br />
FOTO: ERVIS ZIKA<br />
21
K Ü N S T L E R<br />
VOM GLÜCK IM<br />
HIER UND JETZT<br />
FOTO: CONSTANTIN MIRBACH<br />
22 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
Mit ihrem Album „Innenwelt“ schließt die Sopranistin Marlis Petersen eine dreiteilige<br />
musikalische Reise durch die Dimensionen des Menschseins ab. <strong>CRESCENDO</strong> hat sie am<br />
Ende der Aufnahmesession im niederbayerischen Blaibach getroffen.<br />
E<br />
inst war Blaibach nichts weiter als ein kleines, ein wenig<br />
verschlafenes Örtchen im Niederbayerischen. Seit dort aber<br />
ein futuristisches Konzerthaus gebaut wurde, pocht die Musik im<br />
Herzen des Ortes, umgeben von Stille, Natur und Bodenständigkeit<br />
– der ideale Ort für einen geerdeten Weltstar wie Marlis Petersen. Die<br />
Koloratursopranistin hat hier bereits die zwei ersten Alben ihrer dreiteiligen<br />
„Dimensionen-Trilogie“ aufgenommen, in der sie singend<br />
verschiedene Gefühls- und Erlebniswelten des Menschseins erkundet.<br />
Erst widmete sie sich der „Welt“ im Hier und Jetzt, dann der „Anderswelt“,<br />
jenem verwunschenen Reich der Feen, Elfen und Trolle. Nun<br />
ist sie ein weiteres Mal vor Ort, um fernab des urbanen Trubels die<br />
„Innenwelt“ zu erforschen. Mit dabei: Michael J. Müller, der die Produktion<br />
mit der Kamera begleitet.<br />
Marlis Petersen sitzt auf der Terrasse des Dorfrestaurants, legt<br />
den Kopf in den Nacken und schließt kurz die Augen. „Ich kann gar<br />
nicht genug Sonne bekommen“, lacht die Sängerin, die <strong>19</strong>68 in Sindelfingen<br />
zur Welt kam und im Kirchenchor ihre Stimme entdeckte.<br />
Um die Eltern zu beruhigen, studierte sie neben Gesang auch Schulmusik,<br />
außerdem absolvierte sie eine<br />
Jazz- und Steptanzausbildung. Indes:<br />
Vor der Klasse stand sie nie. Dafür auf<br />
den großen Bühne: Mal als Lulu an der<br />
Met, als Susanna bei den Salzburger<br />
Festspielen oder als Manon an der Wiener<br />
Staatsoper. Im Herbst wird sie die<br />
Salome an der Bayerischen Staatsoper<br />
in München geben, außerdem ist sie<br />
Artist in Residence bei den Berliner<br />
Philharmonikern. Eine beeindruckende<br />
Karriere. Gleichwohl: Müsste man eine<br />
Absage an das Diventum skizzieren, es<br />
käme eine Künstlerin wie Marlis Petersen<br />
heraus – unprätentiös, herzlich und<br />
geerdet hat sie sich einen bodenständigen<br />
Charme erhalten, einen Hauch<br />
schwäbischen Dialekts obendrein.<br />
Technisch überlegen und mit<br />
einer ungemein wandlungsfähigen und<br />
strahlend klaren Stimme ausgestattet,<br />
hat sich Marlis Petersen nie auf nur ein<br />
Fach beschränkt. „Bei mir ist immer<br />
alles bunt, selbst die Haare“, sagt Petersen<br />
und fährt sich lachend durch die farbigen Strähnen. „Es gibt so<br />
einen Reichtum, eine solche Vielfalt an Musik. Ich würde wahnsinnig<br />
werden, müsste ich als Koloratursopran immer nur die gleichen<br />
vier Rollen singen.“<br />
Die Dimensionen-Trilogie ist für die Sängerin ein „Herzensund<br />
Lebensprojekt“. Umgeben von unzähligen Notenblättern, hat<br />
sie sich zu Beginn des Projekts in ihrem Haus in Griechenland ans<br />
Keyboard gesetzt und Lieder zusammengetragen, die die Dimensionen<br />
des Menschseins assoziativ erfahrbar machen. Wie ein immer<br />
weiter wachsendes Puzzle haben die einzelnen Stücke schließlich<br />
VON DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />
Sinn für Gin<br />
„Das Schönste, was wir Menschen bekommen<br />
haben, sind doch unsere Sinne“, findet Marlis Petersen.<br />
Dieser Meinung ist auch Michael J. Müller, der<br />
Petersens Trilogie als Filmemacher begleitet hat.<br />
Seit <strong>Oktober</strong> widmet sich Müller nicht nur dem<br />
Film, sondern auch dem Gin. Zusammen mit drei<br />
Kollegen hat er unter Anleitung von Destiller<br />
Sebastian Rauscher von Cosmic Spirits den<br />
„Sleepy4Gin“ erschaffen, einen exquisiten London<br />
Dry Gin aus Höhenrain, der im Direktvertrieb an<br />
den Kunden geht. „Unser Gin sollte nach Heimat<br />
schmecken“, sagt Müller. Kräftig und pur soll er<br />
sein, mit einer satten Wacholder-Basis und einer<br />
besonderen Note Fichtennadeln im Bouquet. Laut<br />
Gin-Fan Marlis Petersen ist das gelungen. „Sleepy-<br />
4Gin ist für mich Erdung pur, ein sinnliches Erlebnis<br />
mit Urgeschmack“, sagt die Sängerin. Dabei sei es<br />
wie immer im Leben: „Wenn man mit dem Herzen<br />
etwas angeht, dann kommen die Dinge“ – ob in<br />
der Musik oder beim Gin.<br />
www.weckediejungfrau.de<br />
ein farbenreiches Bild „mit musikalisch und geistig-seelischer Dramaturgie“<br />
ergeben, wie Petersen sagt. Die daraus entstandenen Alben<br />
gleichen aufregenden und berührenden Reisen durch existenzielle<br />
Dimensionen und Gefühlszustände, die von der Künstlerin sinnlich<br />
und ausgesprochen feinsinnig und intensiv ausgestaltet werden. In<br />
Blaibach hat sie sich zusammen mit ihrem Pianisten Matthias Lademann<br />
nun der menschlichen Innenwelt zugewandt und ist tief eingetaucht<br />
in jenes Reich der Emotionen, Visionen und Träume, in<br />
dem sich das Unterbewusstsein offenbart und tief Verborgenes zutage<br />
tritt. Da findet sich etwa das Lied Seele von Karl Weigl, Après un rêve<br />
von Gabriel Fauré, Die Nacht von Richard Strauss, Hohe Liebe von<br />
Franz Liszt oder das Gebet von Hugo Wolf bis hin zu einer besonderen<br />
Bearbeitung von Strauss’ Beim Schlafengehen von und mit dem<br />
Jazzgeiger und Komponisten Gregor Hübner.<br />
Das Lied ist für Marlis Petersen der musikalische Ursprung.<br />
So sei schließlich alles losgegangen: mit einer Stimme, die anfängt,<br />
zu singen. „Das Lied ist eine Essenz, ein Kleinod, eine Oper im<br />
Inneren“, sagt Petersen. Um es richtig zu interpretieren, müsse man<br />
die ganze Szene in sich tragen, und Text<br />
und Musik würden dabei nicht 50 und<br />
50 Prozent ausmachen, sondern jeweils<br />
100 Prozent. „Beides muss vollständig<br />
da sein, damit es funktioniert.“ Marlis<br />
Petersen gibt gern 200 Prozent. „Wir<br />
tanzen nicht, wir eskalieren“ prangt auf<br />
ihrem Oberteil – humorvolles Statement<br />
einer Vollblutmusikerin und<br />
Lebenskünstlerin, die fahle Kompromisse<br />
ebenso scheut wie das durchgetaktete<br />
Businessleben. „In unserer verrückten<br />
Welt hasten wir so oft an allem<br />
vorbei und nehmen die Umwelt kaum<br />
mehr wahr“, sagt Petersen und zeigt auf<br />
die zarten Pflanzen, die zwischen den<br />
Steinplatten am Boden emporwachsen.<br />
„Dabei verbindet uns alle doch die<br />
Sehnsucht danach, dass unser Leben<br />
Sinn macht. Ich wollte uns Menschen<br />
mit der Form des Lieds auffordern, das<br />
Glück im Hier und Jetzt zu suchen.“<br />
Marlis Petersen hat ihr Glück gefunden:<br />
in Griechenland. Seit neun Jahren lebt<br />
sie in Athen, seit zwei Jahren auf dem Peloponnes. Und wann immer<br />
es ihr möglich ist, kehrt sie dorthin zurück. Dann produziert sie ihr<br />
eigenes Olivenöl, tankt Sonne und erdet sich. „Meine Heimat ist die<br />
Musik und Griechenland. Dort kann ich auch mal Fünfe grade sein<br />
lassen und spüre die Elemente ganz stark. Wenn<br />
ich in meinem Haus sitze und das Meer aufsaugen<br />
kann, bin ich tief glücklich.“<br />
n<br />
„Innenwelt“, Marlis Petersen, Stephan Matthias Lademann<br />
(Solo Musica)<br />
23
K Ü N S T L E R<br />
DER KICK<br />
AM KLAVIER<br />
Bei einem Konzert in der Düsseldorfer Tonhalle wurden sie kürzlich als<br />
Clara und Robert Schumann bezeichnet. Gülru Ensari und Herbert Schuch<br />
verbindet die Liebe füreinander – und für ihr Instrument.<br />
VON KATHERINA KNEES<br />
24 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
FOTO: MAGNUS CONTZEN<br />
<strong>CRESCENDO</strong>: Kann man die persönliche<br />
Beziehung als Paar auf der Bühne<br />
überhaupt mal abschütteln?<br />
Gülru Ensari: Nein, gar nicht, das Gefühl ist eigentlich immer da.<br />
Aber es ist auch so, dass man sich auf den anderen auch ganz<br />
anders verlassen kann als auf andere Kollegen, mit denen man<br />
spielt. Ganz egal, wie viel man davor gestritten hat über diese<br />
oder jede Stelle. (lacht)<br />
Sind Sie gegenseitig Ihre schärfsten Kritiker?<br />
Herbert Schuch: Das ist das Schwierige an dieser direkten<br />
Arbeitsweise miteinander. Wir sind uns ja immer in jeder<br />
Hinsicht sehr nah und man bekommt alles voneinander mit. Es<br />
hilft dann vermutlich, einfach am eigenen Ego zu arbeiten. Ich<br />
habe gelernt, dass es wichtig ist, Verschiedenheit auch als etwas<br />
Schönes zu akzeptieren.<br />
Gülru Ensari: Wenn ich Geigerin wäre und er Pianist, dann<br />
hätten wir vielleicht auch musikalische Auseinandersetzungen,<br />
aber man würde nicht über einzelne Fingersätze oder so etwas<br />
reden. Dadurch, dass wir uns sogar ein Instrument teilen, wenn<br />
wir vierhändig spielen, kommt man quasi automatisch immer in<br />
die Sphäre des anderen. Und dann hat jeder auch noch eine<br />
Vorstellung von dem Instrument, wie es klingen soll. Darum<br />
mischt man sich immer viel ein, wie der andere spielen soll. Das<br />
würde man mit unterschiedlichen Instrumenten sicherlich nicht<br />
so stark machen.<br />
Wie proben Sie denn im Alltag miteinander?<br />
Gülru Ensari: Meistens lesen wir die Stücke zusammen, dann übt<br />
jeder für sich selbst, und dann kommen wir wieder zusammen.<br />
Ich empfinde es oft als großen Luxus, dass wir die Stücke<br />
gemeinsam kennenlernen. Ansonsten ergibt es sich meist<br />
irgendwie, wann wir hier zu Hause proben. Einer hängt noch die<br />
Wäsche auf, und dann geht es los. Es gibt keinen festen Plan.<br />
Ist Ihr Anspruch an das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit<br />
besonders hoch?<br />
Herbert Schuch: Ja, vielleicht schon, aber wir sind mittlerweile<br />
ein bisschen gelassener, weil wir merken, dass wir vor allem in<br />
den Konzerten ganz genau herausfinden, was klappt und was<br />
nicht. Die Konzerte sind sozusagen immer Zwischenergebnisse<br />
von dem gemeinsamen künstlerischen Prozess, den wir durchlaufen<br />
und niemals Endergebnisse. Auf der Bühne sieht man immer<br />
nur eine Momentaufnahme.<br />
Gülru Ensari: Das ist ja auch das Spannende. Dass wir uns<br />
entwickeln können und von jedem Konzert etwas lernen und<br />
dann weiterarbeiten. Sonst würde es auch gar keinen Spaß<br />
machen. Wenn wir nach jedem Konzert fertig wären und ein für<br />
immer gültiges Endergebnis hätten. Dann müssten wir in jedem<br />
Konzert ein neues Repertoire spielen.<br />
Auf der Bühne müssen Sie immer zwei Persönlichkeiten und<br />
zwei Tagesformen unter einen Hut bekommen. Müssen Sie sich<br />
manchmal gegenseitig etwas kicken?<br />
Herbert Schuch: Du kickst gerne. (beide lachen) Ich bin nicht so<br />
der Kicker. Ich werde eher gekickt. Aber du versuchst oft beim<br />
Spielen Signale zu senden, wenn dir etwas nicht passt.<br />
Gülru Ensari: Haha, aber meine Signale kommen ja nicht immer<br />
an. (lacht) Aber es stimmt. Ich stupse ihn oft mit meinem Bein an,<br />
weil wir ja so dicht nebeneinander sitzen. Aber er weiß dann<br />
nicht, was das heißen soll. Ist das zu viel Pedal oder zu wenig<br />
Pedal? Bin ich zu laut oder zu leise? Das stresst ihn eigentlich<br />
mehr, als es hilft. (lacht)<br />
MOZART IST EINFACH GENIAL,<br />
WEIL ER DIE IDEE DES DIALOGS<br />
PERFEKT AUSGELEBT HAT<br />
Haben Sie ein ähnliches Klangideal?<br />
Herbert Schuch: Ich glaube, dass wir<br />
eigentlich ein unterschiedliches Klangideal haben, aber dass<br />
unser tatsächlicher Klang sich ganz gut mischt. Es ist ja auch so,<br />
dass man eine bestimmte Idee vom Klang im Kopf hat, die man<br />
gar nicht realisieren kann, sondern man ist quasi nur auf dem<br />
Weg dorthin, das darzustellen, wie es sein soll.<br />
Gülru Ensari: Aber wenn wir spielen, ist das Empfinden meistens<br />
gleich.<br />
Wie entscheiden Sie denn, wer oben oder unten spielt?<br />
Herbert Schuch: Demokratische Prinzipen. (lacht)<br />
Gülru Ensari: Meist gucken wir uns das Programm für ein<br />
Konzert in der Saison an, das uns wichtig ist, und schauen dann,<br />
dass die Verteilung ungefähr halb, halb ist. Man kann auch gar<br />
nicht sagen, dass es attraktiver ist, oben zu spielen. Ich bin zum<br />
Beispiel total glücklich, dass ich die Bearbeitung vom Schumann<br />
Klavierquintett unten spiele. Ich hätte zuerst gedacht, dass ich<br />
vermutlich die Streicherstimmen spiele und Herbert den Klavierpart.<br />
Aber es ist so toll verteilt. Ich finde meine untere Stimme<br />
total spannend.<br />
Herbert Schuch: Man lernt auch immer ein bisschen etwas über<br />
Instrumente und ihre Rolle im Orchester. Wenn man unten sitzt,<br />
ist man ja eher Kontrabass und Cello oder Fagott. Man kann sich<br />
dann überlegen, wie man das klanglich gestalten kann.<br />
Was macht eine Komposition für Klavier zu vier Händen zu<br />
einem guten Stück?<br />
Gülru Ensari: Ich finde, wenn der Gesamtklang zur Geltung<br />
kommt, aber es trotzdem transparent bleibt. Wenn vier Hände<br />
gleich viel zu spielen haben, funktioniert es natürlich nicht.<br />
Herbert Schuch: Es gibt nur wenige Komponisten, die das<br />
überhaupt gut konnten. Mozart ist einfach genial, weil er die Idee<br />
des Dialogs perfekt ausgelebt hat. Bei Schubert ist es tatsächlich<br />
so, dass man immer denkt, das müsste doch eigentlich von einem<br />
Orchester gespielt werden. Hört man dann aber eine Orchesterversion,<br />
merkt man, dass in der Fassung für Klavier vierhändig<br />
gar nichts fehlt.<br />
Gülru Ensari: Ja, Mozart und Schubert konnten diese musikalischen<br />
Dialoge wirklich wahnsinnig toll in Töne fassen. Und das<br />
macht dann auch sehr viel Spaß beim Spielen.<br />
Was schätzen Sie an Ihrer Frau als Pianistin?<br />
Herbert Schuch: Ich versuche immer, mich frühzeitig ganz<br />
sorgfältig vorzubereiten, und bei ihr geht das alles immer<br />
wahnsinnig schnell. Wenn ich schon denke „Um Gottes Willen“<br />
und auf den Kalender schaue, weil das Konzert bald ist, hat sie da<br />
eine ganz andere Lernkurve. Darauf bin ich dann manchmal auch<br />
sehr neidisch, weil das bei ihr so schnell geht.<br />
Und worum beneiden Sie Ihren Mann?<br />
Herbert Schuch: Um meine Fingersätze … (beide lachen)<br />
Gülru Ensari: Aber im Ernst: Ich beneide ihn vor allem für sein<br />
riesiges Repertoire. Ja, wenn man mehr übt, hat das schon auch<br />
Vorteile.<br />
Herbert Schuch: Irgendeinen Vorteil muss es ja haben.<br />
Gülru Ensari: Er hat ein tolles Repertoire, das auch wirklich gut<br />
zu ihm passt. Es hätte ja auch sein können, dass er wahnsinnig<br />
viele Stücke gelernt hat, doch dass sie gar nicht zu ihm passen.<br />
Aber Beethoven und Schubert stehen ihm einfach gut. Und Bach.<br />
Du spielst auch toll Bach!<br />
Herbert Schuch: Spiele ich doch kaum.<br />
Gülru Ensari: Das ist sehr schade, finde ich. <br />
n<br />
25
K Ü N S T L E R<br />
26 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
EXPLOSION<br />
IM KOPF<br />
Geiger, Countertenor, Dirigent – und alles<br />
buchstäblich mit links! Mit erst 34 Jahren hat<br />
Raphaël Pichon bereits eine erstaunliche<br />
musikalische Laufbahn hinter sich.<br />
Ein Gespräch über sein neues Album,<br />
Vorbilder, Freiheit und: die chemische Reaktion<br />
von Polyfonie in der Kirche.<br />
VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL<br />
27<br />
FOTO: PIERRE GAB
K Ü N S T L E R<br />
<strong>CRESCENDO</strong>: „Libertà!“ haben Sie Ihre<br />
neue CD mit Werken von Mozart und<br />
Zeitgenossen genannt. Warum?<br />
Raphaël Pichon: Ich wollte Mozarts<br />
musikalischen Reifungsprozess zeigen in<br />
seinen Werken zwischen 1782 und 1786<br />
– eine Zeit, in der er sehr experimentierfreudig<br />
war. Er hatte sich von der strengen<br />
Kontrolle durch den Salzburger Erzbischof Colloredo und der<br />
Bevormundung seines Vaters befreit und ist nach Wien umgezogen.<br />
Mit Joseph II. hatte er einen liberalen Regenten, der die Oper<br />
liebte, soziale Reformen anschob, die Folter fast abschaffte und<br />
sogar politische Satire zuließ.<br />
Was fördert die Kreativität im Künstler mehr: die Demokratie<br />
oder die Diktatur?<br />
Das ist eine wirklich sehr interessante Frage, die schwer zu<br />
beantworten ist. In demokratischen Zeiten kann der Künstler all<br />
seine Werke ohne Zensur aufführen.<br />
Aber wirklich inspirierend für seine musikalische Fantasie<br />
dürften doch wohl eher die subversiven Gedanken sein, die in<br />
Zeiten der Unterdrückung aufkommen?<br />
Ja, da gebe ich Ihnen recht. Das war ja in Mozarts Hochzeit des<br />
Figaro so, wo sich die Kammerzofe in die Herrin verwandelt.<br />
Andererseits sind gesellschaftlich politische Tabus an ihre Zeit<br />
gebunden. Sie verlieren ihre Wirkung in freien Zeiten. Weshalb<br />
bedeuten uns Mozarts Opern heute aber immer noch so viel?<br />
Weil es ihm um Emotionen geht, um den Menschen schlechthin<br />
mit all seinen Abgründen. Seine Musik wird uns immer berühren,<br />
egal wie die politischen Zeitläufe sind.<br />
Oskar Kokoschka nannte „die Freiheit“ einen Kaugummibegriff.<br />
An jedem Schlagbaum verstünde man etwas anderes<br />
darunter. Was bedeutet Freiheit für Sie persönlich?<br />
Freiheit bedeutet für mich, das zu machen und durchzusetzen,<br />
was mir wichtig ist.<br />
Wie etwa als Kind, als Sie sich als Linkshänder weigerten, sich<br />
umschulen zu lassen?<br />
Ja. Es gab natürlich Lehrer, die mich zwingen wollten umzulernen.<br />
Heute ist man da wesentlich toleranter.<br />
Als Countertenor, der Sie mal waren, spielte das ja keine Rolle.<br />
Aber vielleicht, als Sie mit der Geige anfingen.<br />
Auch die habe ich sozusagen mit links gespielt. Als junger Student<br />
in der Dirigierklasse am Konservatorium forderten mich die<br />
Professoren auf, die Klasse zu verlassen, sollte ich nicht umlernen.<br />
Stolz wie ich war, habe ich nicht darauf geachtet. Mehr noch:<br />
Vielleicht habe ich auch deshalb 2006 mein Ensemble Pygmalion<br />
gegründet.<br />
Einem Dirigenten, der Linkshänder ist, begegnet man nicht<br />
alle Tage. Gibt es Irritationen bei den Orchestermusikern?<br />
Die Musiker in meinem Ensemble haben das von Anfang an<br />
akzeptiert. Selbstverständlich gibt es Erwartungen, besonders<br />
wenn ich andere Orchester dirigiere. Schritt für Schritt passen wir<br />
uns an. Hinzu kommt, dass ich ohnehin nicht unbedingt in der<br />
traditionellen Technik dirigiere. Ich versuche eher, ich selbst zu sein.<br />
Sie wuchsen in Versailles auf, einem Ort, an dem man im<br />
Schlosspark über Lautsprecher mit Musik aus der Zeit des<br />
Sonnenkönigs Ludwigs XIV. beschallt wird: Lully, Rameau …<br />
… mich aber interessierte zunächst nur die Musik von Johann<br />
Sebastian Bach. Meine Eltern waren keine Musiker, aber mein<br />
Vater spielte klassische Gitarre und liebte leidenschaftlich die<br />
spanischen Komponisten. Meine Mutter war eine Amateurpianistin.<br />
Wir hatten ein wunderbares Schulsystem. Morgens<br />
„POLYFONIE IST EINE<br />
TIEFGREIFENDE<br />
TRANSZENDENTE<br />
ERFAHRUNG. MAN WÄCHST<br />
MIT DEM STÜCK, ALLES<br />
TRANSFORMIERT SICH“<br />
ging ich in die normale Schule, nachmittags<br />
dann in eine Art Konservatorium, wo<br />
wir in den Genuss einer fantastischen<br />
Musikerziehung kamen.<br />
Wie kam es zu Ihrer Leidenschaft für<br />
den Thomaskantor aus der entfernten<br />
deutschen Provinz?<br />
Nach dem Geigenunterricht wurde ich<br />
Mitglied der Maîtrise des Petits Chanteurs de Versailles, eines<br />
Knabenchors. Ein Projekt war Bachs Johannes-Passion. Als ich sie<br />
zum ersten Mal hörte, war das wie ein Schock, wie eine Explosion<br />
in meinem Kopf. Terrific! Ich hatte nie vorher eine solche<br />
emotionale Kraft erlebt! Die Polyfonie in der Kirchen-Akustik,<br />
diese chemische Reaktion zwischen Klang und Stein, dieser<br />
Nachhall! Ich war einfach überwältigt. Ich bin immer noch<br />
fasziniert. Polyfonie ist eine tiefgreifende transzendente Erfahrung.<br />
Man wächst mit dem Stück, alles transformiert sich. Man<br />
ist ein anderer Mensch nach einer solchen Musik. Irgendwann<br />
wollte ich selbst diese chemische Reaktion erreichen …<br />
Indem Sie selbst Dirigent wurden …<br />
Ja. Ich sah mich allerdings nie als Dirigent eines Sinfonieorchesters,<br />
sondern eher als Leiter einer Gruppe. Mit 15 Jahren<br />
fing ich an, bei den Proben zu dirigieren – vor allem die Chorpartien.<br />
Der Chor gilt bei uns in Frankreich oft wenig. Wenn man<br />
einen braucht, bestellt man sich zwei Dutzend Sänger, die sich<br />
nicht kennen, und lässt sie singen. Es ist nicht wie in Deutschland,<br />
Holland oder England, wo es eine Oratorium-Tradition gibt.<br />
Ich saugte damals alles auf, was ich fand: alle Aufnahmen von<br />
Nikolaus Harnoncourt, von Gustav Leonhardt, von Philippe<br />
Herreweghe, Ton Koopman und anderen.<br />
Können Sie Ihre Faszination beschreiben?<br />
Ich war begeistert von Harnoncourt wegen der Art und Weise,<br />
wie er die Musik mit Philosophie und dem Humanismus unserer<br />
Tage verband. Er kämpfte für den wahren Ort der Musik in<br />
unserem Leben. An Herreweghe liebte ich seine Klarheit und<br />
Transparenz. Leonhardt war von dogmatischer Natur. Unter<br />
seiner Führung hatte ich auch als Countertenor gesungen auf<br />
einer seiner letzten Aufnahmen. Ich habe ihn sehr bewundert,<br />
aber er war sehr streng. Besonders, wenn es um den Applaus ging.<br />
Er gab uns genaue Anweisungen, damit keiner länger auf der<br />
Bühne stand als nötig. Den großen Schlussapplaus verbat er sich<br />
mit einem energischen Zeichen.<br />
Die Reaktion eines strengen Protestanten.<br />
Ja, in jedem Fall.<br />
Mit Ihrem Instrumentalensemble kehrten Sie für einen<br />
Moment zurück nach Versailles.<br />
Ja, wir haben die Oper Dardanus von Jean-Philippe Rameau<br />
eingespielt, der am Versailler Hof wirkte. Und sein Castor et<br />
Pollux. Doch eigentlich spielen wir die Musik, die zu Bach<br />
hinführt und die sich von ihm ableitet: Schütz, Mozart, Brahms,<br />
Mendelssohn.<br />
Zurück zur „Libertá!“. Sie steht ja oft im Widerspruch zu der<br />
ökonomischen Sicherheit. Die Freiheit sei ein Luxus, den sich<br />
nicht jedermann gestatten kann, sagte Otto von Bismarck.<br />
Das stimmt und stimmt wiederum nicht. Man muss einfach an<br />
das glauben, was man tut. Auch als Freelancer.<br />
Und das tue ich. <br />
n<br />
„Liberta!“, Raphaël Pichon, Pygmalion (Harmonia mundi)<br />
Track 1 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />
Ouvertüre. Aus: Der Schauspieldirektor KV 486<br />
28 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
HÖREN & SEHEN<br />
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Vladimir Horowitz ist zurück. Das Comeback des Pianisten in der Carnegie Hall auf 11 CDs (Seite 32)<br />
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Asmik Grigorian<br />
Sog & Sinnlichkeit<br />
Was für eine streitbare, verrätselte und bildgewaltige Inszenierung,<br />
die Romeo Castellucci für die Salzburger Festspiele<br />
2018 in die Felsenreitschule gestellt hat! So verweigert er<br />
seiner Salome effektvoll das Haupt des Jochanaan und den –<br />
sonst oft zwischen Peinlichkeit und Voyeurismus changierenden<br />
– Tanz der sieben Schleier. Doch wie Dirigent Franz<br />
Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker dessen musikalische<br />
Raffinessen farbenreich auskosten, hat ohnehin<br />
mehr Sinnlichkeit und Sogwirkung als jede Darstellung. Im<br />
Zentrum leuchtet Asmik Grigorian als ideale Salome mit<br />
überragender Gestaltungskraft, darstellerisch ebenso wie<br />
stimmlich. Ihr warm flutender Sopran, ihre staunenswerte<br />
Technik und die intensive Bühnenpräsenz berühren unmittelbar.<br />
Ein sensationelles Rollendebüt und ein Mitschnitt,<br />
der alle Zutaten einer Referenzaufnahme besitzt. AR<br />
OPER<br />
Richard Strauss: „Salome“,<br />
Asmik Grigorian, John<br />
Daszak, Anna Maria Chiuri<br />
u. a., Wiener Philharmoniker,<br />
Franz Welser-Möst,<br />
Romeo Castellucci,<br />
Salzburger Festspiele 2018<br />
(DVD) (Cmajor)<br />
FOTO: SALZBURGER FESTSPIELE / RUTH WALZ<br />
29
H Ö R E N & S E H E N<br />
Michael Fabiano<br />
Mut zum Pathos<br />
In unseren hochspezialisierten Zeiten ist es für einen<br />
Tenor geradezu mutig, ein Rezital aus späten Arien<br />
Donizettis und teils raren frühen bis mittleren von<br />
Verdi zusammenzustellen. Oder sind es nur unsere<br />
Hörgewohnheiten, die einen trennenden Taktstrich<br />
zwischen den beiden Komponisten ziehen? Der<br />
35-jährige US-Amerikaner Michael Fabiano will diesen<br />
jedenfalls ausradieren: mit einer deutlichen Prise<br />
Corelli und auch Shicoff, sowohl in der Diktion, als<br />
auch im charaktervollen, heldischen Timbre, mit Mut<br />
zum Pathos alter Schule sowie der Fähigkeit zum<br />
Decrescendo am Phrasenende. Seine Höhe mag nicht<br />
immer sofort frei strömen. Die – allerdings enorm<br />
schwierige – Forza-Erstfassungsarie singt er transponiert.<br />
Aber Fabianos Vortrag hakt sich im Ohr fest.<br />
Musikalisch untadelig, philologisch allerdings etwas<br />
sorglos (etwa mit kleinen Strichen nach Gutdünken),<br />
assistiert Enrique Mazzola am Pult des London<br />
Philharmonic Orchestra. WW<br />
Giuseppe Verdi, Gaetano Donizetti: „Arien aus Opern“,<br />
Michael Fabiano, London Voices, London Philharmonic<br />
Orchestra, Enrique Mazzola (Pentatone)<br />
Track 4 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Qual sangue<br />
sparsi ... S’affronti la morte. Aus: La Forza del Destino<br />
Adolfo Gutiérrez Arenas<br />
Ungewohnt expressiv<br />
„Ein Cello ist ein Instrument, das oben<br />
kreischt und unten brummt“, soll Antonín<br />
Dvořák einmal ganz uncharmant geurteilt<br />
haben. Trotzdem hat er dem Instrument eines<br />
der schönsten Solokonzerte überhaupt<br />
geschenkt: sein Cellokonzert in h-Moll, op. 104.<br />
Kreischen und brummen hört man zum Glück<br />
nichts, wenn Adolfo Gutiérrez Arenas spielt.<br />
Seine neue CD umfasst alle Werke, die Dvořák<br />
seinem Instrument auf den Leib geschrieben<br />
hat. Neben dem monumentalen Konzert auch<br />
das berühmte Rondo und die wunderbar sentimentale<br />
Waldesruh. Arenas und die Magdeburgische<br />
Philharmonie unter der Leitung des taiwanesischen<br />
Dirigenten Kimbo Ishii gehen sehr<br />
individuell an diese Musik heran, den Kopfsatz<br />
des Konzertes spielen sie relativ breit, manch<br />
ein Lagenwechsel klingt ungewohnt expressiv.<br />
Eine schöne „Zugabe“ der CD: Dvořáks Lied<br />
Lasst mich allein in einem Arrangement für<br />
Cello und Klavier. Dabei handelte es sich um<br />
das Lieblingslied seiner verstorbenen Schwägerin,<br />
für die er heimlich schwärmte. Es ist<br />
sowohl im zweiten als auch im finalen dritten<br />
Satz des Konzertes zu hören. SK<br />
Antonín Dvořák: „Cello<br />
Works“, Adolfo Gutiérrez<br />
Arenas, Magdeburgische<br />
Philharmonie, Kimbo Ishii (Ibs<br />
Classical)<br />
Track 5 auf der <strong>CRESCENDO</strong><br />
Abo-CD: Klid (‚Waldesruhe‘)<br />
op. 68 Nr. 5 B 182<br />
ORCHES-<br />
TER<br />
GESANG<br />
Daniel Müller-Schott<br />
Brillanz und<br />
Schlagfertigkeit<br />
Er spielt mit filigranem Strich, aber auch mit breitem<br />
Pinsel: Der Cellist Daniel Müller-Schott<br />
beherrscht beides meisterlich. Mit pastosem Brio<br />
schwelgt er etwa im zarten Andante der Cellosonate<br />
von Richard Strauss oder spürt zartesten<br />
vokalen Verästelungen in zwei Liedtranskriptionen<br />
des Meisters nach, überaus brillant und sorgsam<br />
sekundiert von seinem musikalischen Partner,<br />
dem Pianisten Herbert Schuch. Auch in seinen<br />
Phantastischen Variationen über Don Quixote<br />
bedenkt Strauss das Cello mit einer dankbaren<br />
Aufgabe, die Müller-Schott mit der nötigen Brillanz<br />
und Schlagfertigkeit absolviert. Das trifft<br />
ebenso auf das Melbourne Symphony Orchestra<br />
als Hauptakteur bei diesem Werk zu. Dirigent<br />
Sir Andrew Davis entfaltet mit unerbittlicher<br />
Präzision und klanglicher Virtuosität ein in jeder<br />
Beziehung fantastisches Werk, das bis heute<br />
nichts von seinem visionären Charakter eingebüßt<br />
hat. GK<br />
Richard Strauss: „Don Quixote“<br />
u. a., Daniel Müller-Schott,<br />
Herbert Schuch, Melbourne<br />
Symphony Orchestra. Sir Andrew<br />
Davis (Orfeo)<br />
Track 3 auf der <strong>CRESCENDO</strong><br />
Abo-CD: Ich trage meine Minne<br />
op. 32 Nr. 1 TrV 174<br />
Michael Gielen<br />
In memoriam<br />
Über Jahrzehnte waren Michael Gielen und<br />
das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden<br />
und Freiburg eng miteinander verbunden.<br />
In Gedenken an ihn – Gielen starb im März<br />
dieses Jahres – ist ein Stück Zeitgeschichte<br />
auf CD erschienen: zweimal Gustav Mahlers<br />
Sechste Sinfonie, aufgenommen von<br />
Gielen und „seinem“ Orchester im<br />
Abstand von rund vier Jahrzehnten. Die<br />
Tragische war das Stück, mit dem sich<br />
Gielen am häufigsten auseinandergesetzt<br />
hatte. Und so liegt zwischen der ersten<br />
Einspielung von <strong>19</strong>71 und dem letzten Konzert<br />
2013 nicht nur die Jahrtausendwende,<br />
sondern ein ganzer Reifeprozess. Viel zu<br />
schnell hätten er und seine Kollegen Mahler<br />
früher dirigiert, meinte Gielen. Und<br />
dabei handelt es sich nicht um spitzfindige<br />
Nuancen, sondern um ganze 20 Minuten,<br />
die Gielen dieser Sinfonie am Schluss mehr<br />
Zeit lässt. Diese CD macht wunderbar<br />
klar: Das Tempo ist weder richtig noch<br />
falsch, aber entscheidend. UH<br />
FOTO: DIEGO BENDEZU<br />
Gustav Mahler:<br />
„Sinfonie Nr. 6“,<br />
SWR Sinfonieorchester<br />
Baden-Baden und<br />
Freiburg, Michael Gielen,<br />
(SWR Classics)<br />
30 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
Julian Steckel<br />
Musikalität und<br />
Ausdruckskraft<br />
Zoltán Kodály war der Erste, der das Cellorepertoire rund 200<br />
Jahre nach Johann Sebastian Bachs Suiten um ein Solowerk bereicherte<br />
– und was für eines! Seine Solosonate verlangt neben vielen<br />
technischen Herausforderungen eine Skordatur: Die beiden unteren<br />
Saiten werden einen Halbton tiefer gestimmt. Julian Steckel widmet<br />
diesem Werk seine neue CD. Ihm zur Seite stellt er die Sonatina für<br />
Cello und Klavier und das Duo für Cello und Geige. Dabei hat Steckel<br />
kongeniale Partner: Violinistin Antje Weithaas und Pianist Paul Rivinius.<br />
Selbst urteilte der Komponist, der sich (hörbar) sehr für die<br />
Volksmusik Ungarns einsetzte, über seine <strong>19</strong>15 entstandene Solosonate:<br />
„In 25 Jahren wird kein Cellist akzeptiert werden, der sie<br />
nicht gespielt hat.“ Julian Steckel ist natürlich schon längst „akzeptiert“.<br />
Aber er beweist hier einmal mehr seine wahnsinnige Musikalität<br />
und Ausdruckskraft. Sein Spiel ist technisch versiert, aber alles<br />
andere als glatt und langweilig. Er kann zupacken,<br />
ungestüm werden, wenn es nötig ist,<br />
vermag es aber genauso, sein Cello singen<br />
und flüstern zu lassen. SK<br />
Zoltán Kodály: „Sonatina für Cello und Piano“ u. a.,<br />
Julian Steckel, Paul Rivinius, Antje Weithaas (Avi)<br />
KAMMER-<br />
MUSIK<br />
Nicolas Altstaedt<br />
Wiederentdeckt<br />
Nicolas Altstaedt, Leiter des Kammermusikfestes Lockenhaus im<br />
österreichischen Burgenland, ruft zwei sträflich vernachlässigte<br />
Werke in Erinnerung. Mit seinem Streichtrio gelang Bartóks<br />
musikethnologischem Mitarbeiter Sándor Veress im Schweizer<br />
Exil <strong>19</strong>50 eine spannende Synthese aus Zwölftonstrukturen, klassischer<br />
Sonatensatzform und dem in der ungarischen Volksmusik<br />
formbildenden Wechsel von einem langsamen Beginn in einen<br />
beschwingten Schlussteil. Bartóks Pianoquintett von <strong>19</strong>03/04, dessen<br />
Autograf erst nach der Wiederentdeckung <strong>19</strong>70 gedruckt<br />
wurde, offenbart sich in dieser von rhapsodischer Beschwingtheit<br />
getragenen Einspielung als vitales Frühwerk mit spätromantischen<br />
Harmonien und einem prägnanten rhythmischen Eigenleben.<br />
Wenige Jahre später wird Bartók mit seinen Forschungen<br />
einen anderen musikalischen Weg einschlagen. Hier steht er<br />
noch im hypnotischen Bann des langen <strong>19</strong>. Jahrhunderts. DIP<br />
Sándor Veress: „String Trio“, Béla Bartók: „Piano<br />
Quintet“, Vilde Frang, Barnabás Kelemen, Katalin<br />
Kokas, Lawrence Power, Nicolas Altstaedt, Alexander<br />
Lonquich (Alpha)<br />
Track 10 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Klavierquintett<br />
C-Dur Sz 23. IV. Poco a poco più vivace von Béla Bartók<br />
Vocal Concert Dresden<br />
Sangesfreudige Freimaurer<br />
Freimaurermusik ist das Motto der neuen Einspielung vom Vocal Concert Dresden unter der Leitung von Peter Kopp.<br />
Was verbirgt sich dahinter? Keine geheime Musik, aber ein großer Fundus an Liedern von der Eröffnung bis zum Schluss<br />
der Loge. Die Freimaurer waren musikbegeistert und sangesfreudig. 27 Kostproben haben die Sänger (und Instrumentalisten)<br />
dokumentiert. Es ist Männerchorliteratur aus dem 18. Jahrhundert von überraschenderweise nicht ganz so unbekannten<br />
Komponisten wie Carl Philipp Emanuel Bach oder Wolfgang Amadeus Mozart, am häufigsten ist Johann Gottlieb<br />
Naumann vertreten. Die Musik erinnert an die Priesterchöre in der Zauberflöte, besitzt aber auch den Charme typischen<br />
Männergesangs. Das nimmt der Darbietung Würde, soll aber diese nicht schmälern. Wissenschaftlich scheint die Freimaurermusik<br />
reizvoller zu sein (ein ausführliches Booklet liegt bei) als musikalisch. UH<br />
„Freimaurermusik“,<br />
Vocal Concert<br />
Dresden, Peter Kopp<br />
(Berlin Classics)<br />
Track 9 auf der<br />
<strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />
Schlusslied von<br />
Johann Gottlieb<br />
Naumann<br />
FOTO: FRANK HÖHLER<br />
31
H Ö R E N & S E H E N<br />
DAS COMEBACK<br />
Vladimir Horowitz in der Carnegie Hall – Proben, Privatkonzert und<br />
der Auftritt nach zwölf Jahren Konzertabstinenz.<br />
VON KLAUS KALCHSCHMID<br />
FOTO: DON HUNSTEIN / SONY MUSIC ENTERTAINMENT<br />
Vladimir<br />
Horowitz am<br />
9. Mai <strong>19</strong>65 in<br />
der New Yorker<br />
Carnegie Hall<br />
Vor zwei Jahren hat Sony auf fünf CDs (+ Interview +<br />
die fertige Einspielung auf CD + LP) alle Aufnahmesitzungen<br />
für die <strong>19</strong>55er-Einspielung Glenn Goulds der<br />
Goldberg-Variationen Bachs veröffentlicht: ein spannendes,<br />
erhellendes und vorzüglich durch üppiges<br />
Material in Bild, Verschriftung und Notenform begleitetes Projekt.<br />
Nun gibt es Ähnliches, etwas schlanker in der Ausstattung, auf elf<br />
CDs (+ vier CDs mit den beiden Konzerten und anderthalb Stunden<br />
Interview mit Abram Chasins), wieder mit zahlreichen Fotos für<br />
Vladimir Horowitz’ Comeback in den Konzertsaal nach zwölf Jahren<br />
Abstinenz. Der damals 61-Jährige hat es akribisch unter Live-Bedingungen<br />
vorbereitet und für die Konzerte in der Carnegie Hall<br />
vor Ort Probedurchläufe ohne Publikum absolviert. Sie wurden<br />
technisch exzellent mitgeschnitten und klingen, brillant digital<br />
restauriert, teilweise noch poetischer, intimer und bezaubernder<br />
als die entsprechenden Werke im Live-Konzert vor großem Publikum.<br />
Das betrifft vor allem Mozarts A-Dur-Sonate KV 331, die bei<br />
der Probe am 5. April <strong>19</strong>66 schlicht vollendet klingt in jeder Hinsicht,<br />
oder feine Scarlatti-Mirakel. Mit Blick auf den großen Saal<br />
und die Entfernung zum Hörer werden sie später klanglich und in<br />
den dynamischen Kontrasten größer dimensioniert und verlieren<br />
so den Zauber des Unmittelbaren und Privaten.<br />
Domenico Scarlattis E-Dur-Sonate K 380 (L<br />
23) etwa spielt Horowitz als mögliche Zugabe in<br />
der Probe am 7. April <strong>19</strong>65, Tage vor dem ersten,<br />
und am 5. April <strong>19</strong>66, Tage vor dem zweiten Konzert.<br />
Beim ersten Mal kündigt er auf Englisch an:<br />
„Okay, jetzt werde ich nur kleine Stücke spielen!“<br />
und lässt dem überwältigend zarten Scarlatti<br />
jeweils gut zweiminütigen Rachmaninow, Chopin,<br />
Moszkowski und Liszt folgen; eine Petitesse<br />
berückender als die andere, ohne Applaus dazwischen<br />
wie sonst bei Zugaben. Skrjabins op. 70<br />
klingt dagegen ein halbes Jahr nach einem privaten<br />
beim öffentlichen Konzert <strong>19</strong>66 im Pianissimo<br />
oftmals noch luzider und filigraner, in den Ausbrüchen und den<br />
wilden Triller-Ketten dagegen nervös flirrender, exzentrischer und<br />
farbiger.<br />
Man kann diese CDs mit ungemein plastischer, technisch wie<br />
musikalisch ausgefeilt und inspiriert gespielter (Klavier-)Musik und<br />
launigen, manchmal fast beschwipst klingenden Kommentaren von<br />
Horowitz (sowie seiner Tontechniker und der grauen Eminenz im<br />
Hintergrund, Gattin Wanda Toscanini Horowitz) chronologisch<br />
hören; man kann aber auch einzelne Stücke direkt vergleichen. Zur<br />
Auswahl stehen im Vorfeld der beiden Konzerte Bach/Busoni (Toccata,<br />
Adagio und Fuge C-Dur BWV 564), Schumanns Fantasie op.<br />
17, Beethoven (32 Variationen über ein eigenes Thema), Skrjabins<br />
Neunte (Schwarze Messe) und Zehnte Sonate, aber auch Chopin (u. a.<br />
Erstes Scherzo oder die Erste Ballade), besagter Mozart und diverse<br />
Scarlatti-Sonaten oder andere kleine Stücke.<br />
So minutiös der Blick hinter die Kulissen ist und etwa auch<br />
virtuose Improvisationen zum Einspielen dokumentiert, so rätselhaft<br />
bleibt anderes, etwa der Mitschnitt eines Privatkonzerts, bei<br />
dem es plötzlich einen Stromausfall gab, der weite Teile Kanadas<br />
und der USA umfasste, weshalb der Nachmittag des 9. November<br />
<strong>19</strong>65 als „The Northeast Blackout Concert“ in die Geschichte einging.<br />
Nach der hier nur einmal dokumentierten und bei keinem der<br />
Konzerte <strong>19</strong>65/66 gespielten, ungemein spannend<br />
dargebotenen frühen Beethoven-Sonate (D-Dur<br />
op. 10/3) und Skrjabins Zehnter Sonate sowie dem<br />
darauf folgenden Applaus endet der Mitschnitt<br />
ganz konventionell. Von der Chopin’schen Polonaise-fantaisie,<br />
die Horowitz laut Zeitungsbericht<br />
bravourös im Dunkeln beendete, aber ist keine<br />
Spur auf den Bändern erhalten, offenbar wurde<br />
das aus technischen Gründen unvermittelt abbrechende<br />
Chopin-Fragment gelöscht. <br />
n<br />
„The Great Comeback. Horowitz at Carnegie Hall. The unreleased<br />
private recitals preceding his return in <strong>19</strong>65“ (Sony)<br />
32 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
OPER<br />
Wiener Staatsoper<br />
Alte und neue Juwelen aus dem Archiv<br />
Eine Jubiläums-Box mit neun teilweise erstmals veröffentlichten Live-Mitschnitten sowie<br />
einer Doppel-CD mit Arien und Szenen: Das ergibt insgesamt knapp 24 Stunden Oper zwischen<br />
Mozart und Schostakowitsch mit illustren Besetzungen und den Wiener Philharmonikern<br />
in ihrem Hauptberuf als Mitglieder des Staatsopernorchesters. Etliches ist Sammlern<br />
zwar vertraut, etwa der Wozzeck (<strong>19</strong>55) sowie, ebenfalls unter Böhm, die im besten Sinne<br />
haarsträubende Elektra (<strong>19</strong>65). Gleichfalls schon offiziell zu haben war ein Karajan-Fidelio<br />
(<strong>19</strong>62) mit dem expressiven Paar Ludwig/Vickers, neu hingegen ist sein Live-Figaro (<strong>19</strong>77),<br />
der im Vergleich zur nahezu identisch besetzten, aber etwas anämischen Studioproduktion<br />
eine quirlige Aufführung aus Fleisch und Blut darstellt. Wahrlich übersprudelnd vor Witz und<br />
Spielfreude ist Abbados Viaggio a Reims mit All-Star-Cast (<strong>19</strong>88). Aus der Ära Meyer ist zu<br />
hören, wie sich in Tristan und Isolde unter Welser-Möst Stemme am Beginn und Seiffert<br />
gegen Ende ihrer jeweils besten Zeit eindrucksvoll treffen oder wie in Eugen Onegin Hvorostovsky<br />
und Netrebko (in einer ihrer besten Partien) tragisch aneinander vorbeilieben (beides<br />
2013). In Thielemanns schwelgerischer Ariadne entzückt inmitten eines starken Ensembles<br />
die jugendlich schimmernde Isokoski in der Titelpartie (2014); neben Stoyanowas Perlmuttsopran<br />
und erneut Hvorostovsky liefert Beczala in Un ballo in maschera eine<br />
weiträumiger phrasierte Alternative zu seinem Rollendebüt in München kurz davor (2016).<br />
Schade, dass das Booklet nur Inhaltsangaben anstatt Würdigungen der<br />
Aufführungen enthält. WW<br />
„150 Years Wiener Staatsoper – The Anniversary Edition“: „Wozzeck“ (Böhm), „Fidelio“<br />
(Karajan), „Elektra“ (Böhm), „Le nozze di Figaro“ (Karajan), „Il viaggio a Reims“ (Abbado),<br />
„Eugen Onegin“ (Nelsons), „Tristan und Isolde“ (Welser-Möst), „Ariadne auf Naxos“<br />
(Thielemann), „Un ballo in maschera“ (López Cobos); „Legendary Voices of the Wiener<br />
Staatsoper“ (Orfeo)<br />
Deutsche Oper Berlin<br />
Zweite Auferstehung<br />
Schon einmal wurde Das Wunder der Heliane wiederentdeckt – und geriet doch wieder in Vergessenheit.<br />
Dabei hielt Erich Wolfgang Korngold die opulente, <strong>19</strong>27 in Hamburg uraufgeführte<br />
Oper mit ihrem rauschhaften Pathos, den schillernden Orchesterfarben und ihrer hochexpressiven<br />
Harmonik für seine beste Komposition. Mit der frenetisch umjubelten Neuproduktion<br />
an der Deutschen Oper Berlin in einer Inszenierung von Christof Loy und unter der musikalischen<br />
Leitung von Marc Albrecht feierte die Oper ihre zweite Auferstehung. Die in der<br />
Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt als Wiederentdeckung des Jahres<br />
2018 ausgezeichnete Produktion ist nun auf DVD und Blu-ray Disc<br />
erschienen. Sara Jakubiak, Brian Jagde und Josef Wagner in den Hauptpartien<br />
garantieren zusammen mit einem kinotauglichen Filmschnitt einen<br />
packenden Opernabend zu Hause. FA<br />
Erich Wolfgang Korngold: „Das Wunder der Heliane“, Deutsche Oper Berlin, Sara Jakubiak,<br />
Brian Jagde, Josef Wagner, Orchester und Chor der Deutschen Oper Berlin, Marc Albrecht,<br />
Christof Loy (Naxos)<br />
HK Gruber<br />
100. Geburtstag von Gottfried von Einem<br />
In der letzten Spielzeit wurde erneut deutlich, welch starke Stücke von Einems Literaturopern<br />
Dantons Tod und Der Besuch der alten Dame sind. Das gilt auch für den konzertanten Mitschnitt<br />
von Der Prozess bei den Salzburger Festspielen 2018 – „neun Bilder in zwei Teilen“, wie sie<br />
<strong>19</strong>53 unter Karl Böhm zur Uraufführung gelangten. Die Hommage dirigierte HK Gruber, der<br />
in seinen eigenen Opern eine vergleichbare kompositorische Wendigkeit zeigt. Man hört in<br />
dieser Kafka-Vertonung deutlich, wie von Einem Kurt Weills Patchwork von Stilen und musikalischen<br />
Mustern sinnfällig weitertreibt. Die meist tonale Partitur macht den Weg des Herrn<br />
K. von der Verhaftung bis zur drohenden Hinrichtung zu einem motorisch<br />
aufheizenden statt düsteren Spiel. Von Einem griff hier Mittel der<br />
Zeitopern vor <strong>19</strong>33 kurzweilig auf. Die Neueinspielung glänzt mit<br />
einem Ensemble auf hohem Niveau. DIP<br />
Gottfried von Einem: „Der Prozess“, Michael Laurenz, Jochen Schmeckenbecher, Matthäus<br />
Schmidlechner u. a., Radio-Symphonieorchester Wien, HK Gruber (Capriccio)<br />
PTC 5186781<br />
PTC 5186 764 PTC 5186737<br />
Felix & Fanny<br />
Mendelssohn<br />
Johannes Moser, Alasdair Beatson<br />
Ebenfalls erschienen:<br />
www.pentatonemusic.com<br />
Neues<br />
Album<br />
Neues<br />
Album<br />
Neues<br />
Album<br />
33<br />
Im Vertrieb von NAXOS Deutschland
H Ö R E N & S E H E N<br />
ALTE<br />
MUSIK<br />
Dominik Wörner<br />
Kontemplativ und verinnerlicht<br />
Bach ist der Größte, das steht für den Kirchenmusiker und Bassbariton<br />
Dominik Wörner außer Frage. Davon zeugt auch sein neues<br />
Album, für das Wörner mit dem Ensemble Zefiro unter Leitung des<br />
Oboisten Alfredo Bernardini verschiedene Bass-Kantaten aufgenommen<br />
hat. Mit Ich habe genug BWV 82, Der Friede sei mit dir BWV<br />
158 und Ich will den Kreuzstab gerne tragen BWV 56 sind drei Meisterwerke<br />
Bachs zu erleben, die von den Musikern gleich musikalischen<br />
Gebeten interpretiert werden. Hoch konzentriert und getragen<br />
im Vortrag, überzeugen die Musiker mit einem innigen, wenngleich<br />
relativ gleichförmigen und sehr direkt aufgenommenen<br />
Zusammenspiel. Demut, menschlicher Schmerz und gläubige Ergriffenheit<br />
stehen im Zentrum der kunstvoll<br />
vertonten Texte, die von Wörner hervorragend<br />
artikuliert dargeboten werden. Ein insgesamt<br />
zurückhaltendes Bach-Album, kontemplativ<br />
und verinnerlicht. DW<br />
GESANG<br />
Johann Sebastian Bach: „Cantatas and Arias for Bass“,<br />
Dominik Wörner, Zefiro, Alfredo Bernardini (Arcana)<br />
Ildar Abdrazakov<br />
Suggestive Gestaltung<br />
Von „des Basses Grundgewalt“ ist bereits in Goethes Faust die Rede und<br />
davon, dass diese das Gewölbe widerschallen lasse. Ein Phänomen, das<br />
auch dem neuen Verdi-Rezital des russischen Bassisten Ildar Abdrazakov<br />
innewohnt. Dieser gehört zu jenen Sängern, die ihre Karriere, stets ein<br />
wenig unter dem massenmedialen Radar fliegend, verfolgten und doch<br />
ohne Hype den Weg an die Weltspitze ihres Stimmfachs gefunden haben.<br />
Warum, das beweist der Sänger in jedem Takt dieser gut 70 Minuten:<br />
eine Bassstimme zum Schwärmen, herrlich dunkel und voll, aber immer<br />
sauber auf Linie gesungen und nie wabernd, individuell und attraktiv im<br />
Timbre und jeden der neun hier präsentierten Charaktere suggestiv<br />
gestaltend; auch wenn für die Hassprediger wie Silva oder Fiesco vielleicht<br />
noch das allerletzte Quäntchen kaltherziger<br />
Härte fehlen mag. Befeuert und getragen wird er<br />
vom Orchestre Métropolitain de Montréal unter<br />
keinem Geringeren als Yannick Nézet-Séguin. FS<br />
Ildar Abdrazakov: „Verdi“, Orchestre Métropolitain de<br />
Montréal, Yannick Nézet-Séguin (DG)<br />
FOTO: ILDAR ABDRAZAKOV<br />
Wiener Symphoniker<br />
Erregte Künstlerseele<br />
Pünktlich zum 150. Geburtstag von Hector Berlioz legen Philippe Jordan<br />
und die Wiener Symphoniker zwei Werke des notorischen Klangexzentrikers<br />
und Orchesterzauberers vor, die zwar innerhalb kurzer Zeit geschrieben<br />
wurden, stilistisch aber kaum unterschiedlicher hätten ausfallen können:<br />
die allseits bekannte Symphonie Fantastique und der nahezu vergessene<br />
Lélio. Die Kombination macht dramaturgisch und inhaltlich Sinn, in beiden<br />
Stücken geht es um die psychisch erregte Seele des Künstlers mit ihren<br />
bizarren Imaginationen und Selbstbespiegelungen, im Falle von Lélio auch<br />
mit einem dezent esoterischen Touch versehen. Als knapp einstündiger<br />
gesprochener Monolog mit einigen Lied- und Choreinschüben konzipiert,<br />
setzt Lélio stilistisch einen klaren Kontrast zu den überbordenden Klangfluten<br />
der Fantastique. Von den Solisten ist vor allem<br />
der Bassbariton Jean-Philippe Lafont in der Rolle<br />
des Erzählers hervorzuheben. FS<br />
Hector Berlioz: „Symphonie fantastique op. 14“, „Lélio ou Le<br />
retour à la vie“, Cyrille Dubois, Florian Sempey, Ingrid Marsoner<br />
u. a., Wiener Symphoniker, Philippe Jordan (Wiener Symphoniker)<br />
Ivo Pogorelich<br />
Kompromisslos eigenwillig<br />
Frische Höreindrücke von Ivo Pogorelich konnte man sich lange Zeit nur im<br />
Konzertsaal verschaffen. Nach mehr als 20 Jahren Pause ist nun wieder eine CD<br />
des Pianisten mit Sonaten von Beethoven und Rachmaninow herausgekommen.<br />
Der kroatische Virtuose gilt als einer der eigenwilligsten Musiker und wird diesem<br />
Ruf auch auf seinem neuen Studioalbum gerecht. Pogorelich nähert sich den<br />
Werken mit unverkennbarer Kompromisslosigkeit. Sein Spiel klingt stellenweise<br />
rau und kantig. Mit teils exzessiven Rubati setzt er Akzente, die manieriert wirken<br />
können. Auffällig langsam, mit Effekt suchenden Verzögerungen beginnt er<br />
beispielsweise das Allegro vivace in Beethovens Sonate Nr. 24 op. 78, die der<br />
ungarischen Gräfin Therese von Brunsvik gewidmet ist. Authentisch wirkt<br />
Pogorelich vor allem dann, wenn er perkussive Passagen angeht und einen kraftvollen,<br />
ausladenden Klang zelebriert. Insofern kann man<br />
Sergei Rachmaninows höchst anspruchsvolle Zweite<br />
Klaviersonate in der überarbeiteten Fassung von <strong>19</strong>31 als<br />
Pogorelichs eigentliches Paradestück auf diesem Album<br />
betrachten. CK<br />
Ludwig van Beethoven, Sergej Rachmaninoff: „Piano Sonatas“,<br />
Ivo Pogorelich (Sony)<br />
Vanessa<br />
Spiegelkabinett der Gefühle<br />
ORCHES-<br />
TER<br />
Mit Samuel Barbers Oper Vanessa hat die Glyndebourne Festival Opera ein<br />
Stück ins Programm genommen, das perfekt in das englische Landgut passt.<br />
Die Protagonistin Vanessa sitzt mit ihrer Nichte und ihrer Mutter in einem<br />
Geisterhaus und wartet seit 20 Jahren auf die Rückkehr ihres Geliebten<br />
Anatol. Als überraschend dessen Sohn gleichen Namens auftaucht, zerfällt<br />
die eingespielte Starrheit der Familie. Leere Liebesschwüre und tiefe Zweifel<br />
entfalten in der graubraunen Kulisse ihre volle beklemmende Wirkung.<br />
In Spiegeln und hinter Schirmen werden die Figuren mit der Vergangenheit<br />
und sich selbst konfrontiert. Emma Bell brilliert in der Titelrolle und verkörpert<br />
die an Wahnsinn grenzende Sehnsucht Vanessas gesanglich und<br />
schauspielerisch intensiv. Auch die Nebenrollen sind hervorragend besetzt<br />
und sorgen für eine dichte, ungebrochene Fiktion. Jakub Hrůša am Pult des<br />
London Philharmonic Orchestra nutzt das Potenzial der<br />
mal hochdramatischen, mal lyrisch verspielten Partitur<br />
und schlägt das Publikum in den Bann dieser psychologischen<br />
Achterbahnfahrt. LXR<br />
SOLO<br />
Samuel Barber: „Vanessa“, Glyndebourne, Emma Bell, Virginie Verrez,<br />
Edgaras Montvidas u. a., The Glyndeborne Chorus, London Philharmonic<br />
Orchestra, Jakub Hrůša, Keith Warner (Opus Arte)<br />
OPER<br />
34 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
IMPRESSUM<br />
ALTE<br />
MUSIK<br />
Maddalena del Gobbo<br />
Nobles für das Baryton<br />
Kubistischer Korpus, sechs Darmsaiten und zupfbare Resonanzsaiten<br />
aus Metall: Das Baryton (Viola di bardone) klingt ein wenig wie eine<br />
Gambe, aber auch obertonreich, als würde eine Glasharmonika mitklingen.<br />
Weil Fürst Nikolaus Esterházy das Instrument liebte, gibt es<br />
123 Trios für Baryton, Bratsche und Cello von seinem Kapellmeister<br />
Joseph Haydn. Maddalena del Gobbo spielt mit Robert Bauerstatter<br />
und David Pennetzdorfer virtuos Nr. 27 und 113, aber auch eine originelle<br />
Suite mit Fuge (Nr. 97), das Dritte Divertimento für die gleiche<br />
Besetzung von An dreas Lidl und ein C-Dur-Trio von Tomasini, beide<br />
Mitglieder der Esterházyschen Hofkapelle. Das jeweils eröffnende<br />
Adagio bringt den eigentümlichen Klang des Instruments besonders<br />
zur Geltung; einen spannenden Vergleich erlaubt Franz Xaver Hammers<br />
musikantische A-Dur-Sonate für Gambe<br />
und Cembalo. Jetzt fehlte eigentlich nur noch<br />
ein Stück für Arpeggione! KLK<br />
„Maddalena and the Prince“, Maddalena del Gobbo, Robert<br />
Bauerstatter, David Pennetzdorfer, Ewald Donhoffer (DG)<br />
Track 6 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Trio für Baryton, Viola und<br />
Cello D-Dur Hob. XI:97. I. Adagio cantabile von Joseph Haydn<br />
Stéphanie de Failly und Brice Sailly<br />
Venezianische Barockmusik<br />
Aus dem überraschend großen Repertoire für vier Violinen wählten<br />
Jérôme Lejeune und das Ensemble Clematis 14 Stücke aus dem venezianischen<br />
Barock. Die Besetzung würdigten Telemann und Vivaldi einige Jahre<br />
später in ihren Konzerten. Doch bis dahin experimentierten die italienischen<br />
Virtuosen in diversen Sammlungen mit den Möglichkeiten. Chorische<br />
Sätze, sprachnahe Spielereien und polyfone Gebilde machen die<br />
Auswahl dieser Aufnahme unterhaltsam und abwechslungsreich. Da gibt<br />
es Salamone Rossis doppelchörige Sonata a quattro Violini e doi Chitarroni<br />
mit ihren Frage-Antwort-Dialogen in Piano und Forte und einem gravitätischen<br />
Finale. Um Echoeffekte ganz unterschiedlicher Art sind Biagio<br />
Marinis lyrisch leichte Sonata in ecco con tre Violini und Dario Castellos introvertierte<br />
Sonata decima settima in ecco gebaut. So vorsichtig und akademisch<br />
wie das umfangreiche Booklet ist auch die Interpretation. Wenig<br />
aufgeregt, dafür mit großer Klarheit und Präzision leiten Stéphanie de<br />
Failly und Brice Sailly das Ensemble durch diese<br />
Bereicherung für jede Barocksammlung. LXR<br />
Gabrieli, Marini, Fontana u. a.: „Quattro Violini a Venezia“,<br />
Clematis, Stéphane de Failly, Brice Sailly (Ricercar)<br />
Track 8 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Sonata in ecco con tre<br />
violini von Biagio Marini<br />
FOTO: NIKOLAJ LUND<br />
VERLAG<br />
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SCHLUSSREDAKTION<br />
Maike Zürcher<br />
KOLUMNISTEN<br />
Axel Brüggemann, Paula Bosch, Ioan Holender,<br />
Daniel Hope, Christoph Schlüren (CS), Stefan Sell (SELL)<br />
MITARBEITER DIESER AUSGABE<br />
Florian Amort (FA), Roland H. Dippel (DIP), Verena Fischer-Zernin,<br />
Ute Hamm (UH), Klaus Kalchschmid (KLK), Sina Kleinedler (SK), Katherina Knees (KK),<br />
Corina Kolbe (CK), Guido Krawinkel (GK), Anna Mareis (AM),<br />
Teresa Pieschacón Raphael (TPR), Angelika Rahm (AR), Alexander Rapp (LXR),<br />
Antoinette Schmelter-Kaiser (ASK), Fabian Stallknecht (FS), Dorothea Walchshäusl (DW),<br />
Walter Weidringer (WW),<br />
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75.034 (lt. IVW-Meldung 1I/20<strong>19</strong>)<br />
ISSN: 1436-5529<br />
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35
H Ö R E N & S E H E N<br />
JAZZ<br />
<strong>19</strong>-jährig begann sie ihre Laufbahn als professionelle Sängerin.<br />
Mit 21 ging ihr Traum mit einem Auftritt in Ronnie Scott’s<br />
legendärem Londoner Jazz Club in Erfüllung. <strong>19</strong>90 bekam sie<br />
einen Vertrag beim Glasgower Label Linn Records. Seither<br />
hat Claire Martin über 20 Alben veröffentlicht, zuletzt<br />
Believin’ it: Zusammen mit Niklas Fernqvist am Bass, Daniel<br />
Fredriksson an den Drums und dem Pianisten Martin Sjöstedt,<br />
der zwölf der 13 Songs arrangiert hat, interpretiert sie<br />
Claire Martin<br />
Einfühlsam<br />
Stücke quer durch die (Jazz-)Musikgeschichte genauso wie<br />
solche befreundeter Musiker. Lässig intoniert Claire Martin<br />
mit einfühlsamer, reifer Stimme P.S. I love You aus den<br />
<strong>19</strong>30er-Jahren oder Eric Stewarts Popsong I’m Not In Love,<br />
der <strong>19</strong>75 entstand. Genauso gut lässt sie aber auch in Timeline<br />
oder Believn’ it lebendig perlen. Unüberhörbar ist der harmonische<br />
Klang des Quartetts, bei dem alle Mitglieder brillieren,<br />
sich aber nie in den Vordergrund spielen. ASK<br />
Claire Martin: „Believin’ it“,<br />
Martin Sjöstedt, Niklas<br />
Fernqvist, Daniel<br />
Fredriksson (LINN)<br />
FOTO: LISA WORMSLEY<br />
Keith Jarrett<br />
Bachs Denkprozess<br />
Als man den berühmten Jazz-Pianisten Keith Jarrett einmal fragte,<br />
ob er sich vorstellen könne, in einem Konzert Jazz und Klassik zu<br />
kombinieren, sagte er: „Nein, ich glaube, das wäre Wahnsinn [...],<br />
praktisch nicht machbar. [...] Dein System baut für beide Richtungen<br />
auf unterschiedliche Schaltkreise.“ Trotzdem spielt der mittlerweile<br />
74-Jährige gerne mit den Genres. Er jazzte auf einer Kirchenorgel<br />
in Ottobeuren und am Clavichord. Für Johann Sebastian<br />
Bachs Goldberg-Variationen und dessen Wohltemperiertes Clavier wiederum<br />
nahm er das dafür vorgesehene Cembalo beziehungsweise<br />
das Klavier. So auch auf dieser Aufnahme von <strong>19</strong>87, ein Live-Konzert-Mitschnitt<br />
aus New York. Jarretts Ehrfurcht vor dem Thomaskantor<br />
ist groß, so groß, dass er kaum<br />
wagt, seiner Interpretation eine eigene<br />
Note zu geben. „Ich höre Bachs Denkprozess“,<br />
sagt Jarrett. TPR<br />
Abdullah Ibrahim<br />
Innig nachspürend<br />
Da ist er wieder, der Dollar-Band-Groove des legendären Titelstücks<br />
African Marketplace vom gleichnamigen Album aus dem Jahre <strong>19</strong>79.<br />
40 Jahre ist das her, und der Meister firmiert längst unter dem Namen<br />
Abdullah Ibrahim. Großartiger Cape Jazz, das ist mehr als Jazz, mehr als<br />
„modern creative“ wie Ibrahims Spielstil genannt wurde. Es ist reinste<br />
Musik aus langlebigen Sphären, die alles gibt in dem „Streben nach Perfektion“,<br />
wie es im Covertext heißt. Damit ist kein Perfektionismus<br />
gemeint, sondern ein „weniger ist mehr“. Sorgsam vorsichtig, innig<br />
nachspürend, intuitiv, schlicht meisterhaft gereift ist Ibrahims Spiel, brillant<br />
seine auserwählten Zutaten, ob im Bandarrangement exzellenter<br />
Mitstreiter oder solo improvisiert, alles so, als wollte der inzwischen<br />
85-jährige Pianist aus Kapstadt in weiser<br />
Gelassenheit die Essenz seines außergewöhnlichen<br />
Lebenswerkes noch einmal verewigen.<br />
Ans Herz empfohlen! SELL<br />
SOLO<br />
Johann Sebastian Bach: „The Well-Tempered Clavier.<br />
Book I“, Keith Jarrett (ECM)<br />
Abdullah Ibrahim: „The Balance“, Aka Dollar Band<br />
(Gearbox Records)<br />
36 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
TANZ<br />
GENIES IM<br />
RAMPENLICHT<br />
The Norwegian National Ballet<br />
Abgründiges Familiendrama<br />
Eine Woche Textstudium vor den ersten Proben im Ballettsaal: So begann die Arbeit an<br />
Ibsens Stück Gespenster. Denn die Regisseurin Marit Moum Aune und die Choreografin<br />
Cina Espejord wollten, dass alle Tänzer ihre Rollen durchdringen und eigene Ideen einbringen.<br />
Resultat dieser Zusammenarbeit: ein Handlungsballett, das Ibsens abgründiges Familiendrama<br />
in intensiven Bildern und Bewegungen auf die Bühne bringt und die klassisch<br />
geschulte Technik mit modernem Tanz-Vokabular kombiniert. Ein Kunstgriff der Produktion<br />
des Norwegian National Ballet ist, dass die Handlung nicht chronologisch<br />
erzählt wird, sondern Vergangenheit und Gegenwart ineinander<br />
verschränkt und Figuren gedoppelt werden. Dank virtuoser Solisten<br />
und einem reduziert-eindringlichen Bühnenbild ist Ibsen’s Ghosts ein<br />
optischer Genuss, den Jazz-Trompeter Nils Petter Molvaer – zum Teil<br />
live – passgenau musikalisch untermalt. ASK<br />
„Ibsen’s Ghosts“, Marit Moum Aune, Cina Espejord, Nils Petter Molvaer,<br />
The Norwegian National Ballet (BelAir)<br />
ALTE<br />
MUSIK<br />
Marin Marais<br />
Wehmütige Schönheit<br />
Wer erinnert sich nicht an jenen wunderbaren Kinofilm Tous les matins du monde von<br />
Alain Corneau aus dem Jahre <strong>19</strong>91, der das einsame Leben des Gambisten Monsieur de<br />
Sainte Colombe darstellte? Gérard Depardieu hatte die Rolle des Komponisten und<br />
Gambisten Marin Marais (1656–1728) übernommen, eines Schülers des Monsieur.<br />
Obwohl Depardieu in Wirklichkeit nur recht laienhaft auf der Gambe zupfen konnte,<br />
machte der Film die Gambenmusik damals populär. Heute braucht es eine Crowdfunding-Kampagne,<br />
um diese Aufnahme mit vier Suiten von Marin Marais zu ermöglichen.<br />
Aus den etwa 600 überlieferten Pièces de Viole, die seit 1685 in mehreren Musikbänden in<br />
der schottischen Nationalbibliothek in Edinburgh aufbewahrt werden, wählte der Gambist<br />
Robert Smith die Suite in fis-Moll aus Marais’ erstem Buch, die<br />
A-Dur-Suite aus dem zweiten Buch, die g-Moll aus dem dritten und<br />
e-Moll aus dem vierten: Klänge von wehmütiger und einmaliger<br />
Schönheit, aus den Händen virtuoser Interpreten. TPR<br />
Marin Marais: „La Gracieuse“, Pièces de Viole, Robert Smith, Israel Golani,<br />
Joshua Cheatham, Olivier Fortin (resonus)<br />
Berliner Barock Solisten<br />
Spielfreude und brillante Technik<br />
Georg Friedrich Händel war ein leidenschaftlicher Musikant und Lebenskünstler und<br />
entsprechend unmittelbar ist auch die Kraft seiner Werke. Die Berliner Barock Solisten,<br />
bestehend aus Solisten der Berliner Philharmoniker, haben sich unter Leitung von<br />
Alte-Musik-Experte Reinhard Goebel mit den Concerti Grossi op. 3 von Händel beschäftigt,<br />
ergänzt durch das Concerto F-Dur, bei dem unklar ist, ob Händel sein Urheber ist.<br />
Die Konzerte sind dabei höchst unterschiedlich, sowohl was die jeweilige Besetzung als<br />
auch den formalen Aufbau betrifft, und entsprechend kurzweilig und bunt ist die Sammlung.<br />
Schlank und ohne unnötige Schlenker, wohltuend undogmatisch, dafür umso präsenter<br />
und mit hörbarer Spielfreude und brillanter Technik legen die Musiker den tänzerischen<br />
Grundcharakter der Stücke offen und setzen diesen, sensibel<br />
eingespielt auf modernen Instrumenten, mit strahlendem<br />
Gesamtklang um. DW<br />
Georg Friedrich Händel: „Concerti Grossi op. 3.“ u. a., Berliner Barock Solisten,<br />
Reinhard Goebel (Hänssler)<br />
Track 7 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />
Concerto Nr. 3 G-Dur HWV 314. I. Largo e staccato – Allegro<br />
Zusammen mit dem Deutschen<br />
Symphonie-Orchester Berlin vollenden Mari<br />
Kodama und ihr Ehemann Kent Nagano die<br />
Einspielung aller Klavierkonzerte<br />
Beethovens. Der krönende Abschluss:<br />
das Klavierkonzert Nr. 0.<br />
Auf ihrem neuen Album wirft Céline Moinet<br />
einen Blick auf Johann Sebastian Bach: Zusammen<br />
mit l’arte del mondo kombiniert sie<br />
in seinen Oboenkonzerten einen historisch<br />
informierten Orchesterklang mit ihrem<br />
modernen Instrument.<br />
Concerto Köln verehrt den fast vergessenen<br />
Komponisten Francesco Geminiani<br />
als einen der ganz Großen und wählt aus<br />
unterschiedlichen Teilen des Œuvres seine<br />
persönlichen Lieblinge aus:<br />
Geminianis Quintessenz.<br />
www.berlin-classics-music.com<br />
37
H Ö R E N & S E H E N<br />
OPER<br />
ALTE<br />
MUSIK<br />
Leo Nucci<br />
Zwischen Pflicht und Liebe<br />
Venezianische Intrigen: Zu seiner sechsten Oper I due Foscari (1844)<br />
ließ sich Giuseppe Verdi von der tragischen Geschichte des letzten<br />
Dogen inspirieren. Das gleichnamige Versdrama des englischen Dichters<br />
Lord Byron über Francesco Foscari und seinen unschuldig wegen<br />
Mordes verurteilten Sohn diente ihm als Vorlage. Für die Opernbühne<br />
sei das Stück jedoch nicht wirkungsvoll genug, fand der junge Komponist.<br />
Gleich im ersten Akt müsse es „krachen“ („un po’ di fracasso“).<br />
Librettist Francesco Maria Piave straffte die Handlung, Verdi setzte<br />
neue musikalische Akzente. Das Münchner Rundfunkorchester unter<br />
seinem Chefdirigenten Ivan Repušić hat die Oper vorzüglich für das<br />
Eigenlabel des Bayerischen Rundfunks eingespielt. Mit starkem Ausdruck<br />
singt der sizilianische Tenor Ivan Magrì die Partie des verzweifelten<br />
Jacopo Foscari, an seiner Seite überzeugt die chinesische Sopranistin<br />
Guanqun Yu als Ehefrau Lucrezia Contarini. Den zwischen Amtspflichten<br />
und der Liebe zur Familie zerrissenen Dogen verkörpert der<br />
legendäre italienische Bariton Leo Nucci. CK<br />
Giuseppe Verdi: „I due Foscari“, Leo Nucci, Guanqun Yu,<br />
Ivan Magrì u. a., Chor des Bayerischen Rundfunks,<br />
Münchner Rundfunkorchester, Ivan Repušić (BR Klassik)<br />
Track 2 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />
Eccomi solo alfine – O vecchio cor, che batti<br />
Leo van Doeselaar und Erwin Wiersinga<br />
Orgelgemäßes Licht auf Bach<br />
Bach-Bearbeitungen gibt es wie Sand am Meer: unzählige. Und scheinbar<br />
gibt es noch nicht genug. Jedenfalls haben sich die niederländischen Organisten<br />
Leo van Doeselaar und Erwin Wiersinga noch mal an die Arbeit<br />
gemacht und das getan, was unzählige Komponisten und auch Bach selbst<br />
schon vor ihnen getan haben: Werke des Thomaskantors für Orgel eingerichtet.<br />
Bach soll hier „aus einem neuen Blickwinkel“ präsentiert werden.<br />
Das funktioniert verblüffend gut. Zum einen weil beide Interpreten die<br />
historischen Instrumente der Groninger Martinikerk wunderbar vielseitig<br />
ausnutzen und mit einer geradezu überwältigenden Spielfreude ans Werk<br />
gehen. Zum anderen werfen auch die eigens angefertigten Bearbeitungen<br />
ein neues, orgelgemäßes Licht auf Bach. So ist es<br />
insgesamt nicht zu viel versprochen, dass man<br />
Bach hier tatsächlich völlig neu hört – und erfrischend<br />
wie am ersten Tag. GK<br />
Johann Sebastian Bach: „A New Angle“, Leo van Doeselaar,<br />
Erwin Wiersinga (MDG)<br />
Ragna Schirmer<br />
Seelenverwandt<br />
Dass Ragna Schirmer sich nicht des großen Jubiläums wegen mit Clara<br />
Schumann auseinandergesetzt hat, ist in jeder Note zu hören. Die tiefe<br />
Verbundenheit zum Leben und Werk dieser außergewöhnlichen Musikerin<br />
pflegt Schirmer seit ihrer Kindheit, und davon zeugt jeder Augenblick ihres<br />
seelenverwandten Spiels. Ragna Schirmer ist die Expertin des Clara Schumann-Jahrs.<br />
Ihre Interpretation pendelt zwischen einfühlsam erhabener<br />
Behutsamkeit und kraftvoll treibender Präsenz, man glaubt, die 16-jährige<br />
Clara säße wie bei der Uraufführung am Klavier und Mendelssohn leite das<br />
Orchester. Bravourös spielt sie die pianistischen Höhenflüge im Dritten<br />
Satz, als seien sie ihr geradezu in die Finger geschrieben. Das folgende Klaviertrio,<br />
Claras einziges Kammermusikwerk, gilt es hier neu zu entdecken,<br />
es ist atemberaubend schön, nicht „weibisch<br />
sentimental”, wie die Komponistin in vorauseilender<br />
Zurücknahme ins Tagebuch<br />
schrieb. SELL<br />
Clara Schumann: „Trio & Concerto“, Ragna<br />
Schirmer, Staatskapelle Halle, Ariane Matiakh<br />
(Berlin Classics)<br />
Nelson Goerner<br />
Eine Offenbarung<br />
VINYL<br />
SOLO<br />
Der argentinische Pianist Nelson Goerner widmet sein Album zwei polnischen<br />
Klavierlegenden: Ignacy Jan Paderewski (1860-<strong>19</strong>41) und Leopold<br />
Godowski (1870-<strong>19</strong>38). Beide waren Virtuosen am Klavier in einer Zeit,<br />
in der es durchaus üblich war, dass Künstler in ihren Konzerten auch<br />
eigene, technisch anspruchsvolle Werke präsentierten. Dementsprechend<br />
schwer sind diese Kompositionen. Paderewski schrieb selbst über seine<br />
Variationen und Fuge über ein Originalthema op. 23: „Ich denke dieses Werk<br />
ist meine beste Klavierkomposition. Es ist extrem schwer und vielleicht<br />
zu lang, aber es enthält einige Dinge die in ihrem Charakter und ihrer<br />
Neuartigkeit beinahe eine Offenbarung sind.“ Zu lang wird dieses Werk,<br />
das das Herzstück der CD darstellt, in Goerners Händen keinesfalls. Er<br />
spielt detailverliebt mit einer Eleganz und Feinheit, die man so nicht oft<br />
hört. Sowohl in Paderewskis Variationen, als auch in Godowskis nicht<br />
weniger komplexen Symphonischen Metamorphosen über Johann Strauß<br />
Künstlerleben. Eine besondere Offenbarung ist<br />
Paderewskis beinahe schmerzhaft schönes<br />
Nocturne in B-Dur. SK<br />
Ignacy Jan Paderewski: „Variations et fugue” und Leopold<br />
Godowski: „Symphonische Metamorphosen”, Nelson Goerner<br />
(Narodowy Institut Fryderyka Chopina)<br />
Thomas Girst<br />
Lob der Langsamkeit<br />
Zunächst habe er für sich allein Halt gesucht. „Halt in einer Welt, in<br />
der sich das Hässliche immer schneller auszubreiten und das Schöne<br />
umso schützenswerter erscheint“, beginnt Thomas Girst sein Buch. Im<br />
wirklichen Leben ist er Leiter des Kulturengagements der BMW Group.<br />
Dafür wurde er 2016 als „Europäischer Kulturmanager des Jahres“ ausgezeichnet.<br />
Nachts findet er Zeit für seine zweite große Leidenschaft:<br />
das Schreiben. In einem Zeitalter, in dem alles schnell und<br />
effizient sein muss, setzt er einen Kontrapunkt<br />
und adelt die Langsamkeit in 28 Geschichten von<br />
Künstlern und Wissenschaftlern mit langem Atem.<br />
Natürlich darf auch das längste Musikstück der<br />
Welt nicht fehlen: John Cages Orgelwerk As Slow<br />
As Possible, das in Halberstadt aufgeführt wird –<br />
und im <strong>September</strong> des Jahres 2639 endet. Girst<br />
hat den Nerv der Zeit getroffen: Inzwischen geht<br />
sein Buch in die dritte Auflage. BS<br />
Thomas Girst: „Alle Zeit der Welt“ (Hanser Verlag)<br />
BUCH<br />
Erika Pluhar<br />
Mut zum Widerspruch<br />
„Die Gelassenheit braucht kein Trotzdem. Aber man braucht viel<br />
Trotzdem, um gelassen zu werden.“ Immer wieder: das Trotzdem. Ein<br />
Wort, das ihr „lebensnotwendig“ geworden ist: „Trotzdem kämpfen<br />
wir. Trotzdem glauben wir. Trotzdem lieben wir ...“ Ja, sie kämpft, sie<br />
glaubt, und sie liebt. Und sagt vielleicht gerade wegen dieses „Trotzdems“,<br />
schön sei immer das, was stimmt. Erika Pluhar,<br />
inzwischen 80-jährig, zeigt in ihren so klugen wie kurzweiligen<br />
und kontroversen Schriften, Reden und Essays, dass<br />
sie sowohl einen Sinn für das „Ja, aber ...“ im Leben hat, als<br />
auch für ein Ja zum Hier und Jetzt. Sie nimmt Stellung zu<br />
Themen wie Frau-Sein, Obdachlosigkeit, Rassismus,<br />
Männerschnupfen, Gier und Zeitgeist; sie ehrt Menschen,<br />
klagt an, verabschiedet sich. Pluhar schaut hin, hält nicht<br />
still. Aber in jedem Gedanken, in jeder Zeile spürt man,<br />
dass sie das Leben liebt. Und die Menschen. Trotzdem ... BS<br />
Erika Pluhar: „Die Stimme erheben. Über Kultur, Politik und Leben“<br />
(erscheint am 24.9. im Residenz Verlag)<br />
38 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
Unerhörtes & neu Entdecktes<br />
von Christoph Schlüren<br />
SOWJETISCHE MEISTER UND<br />
EINE GANZ GROSSE ENTDECKUNG<br />
Historisches von Northern Flowers, Melodiya und Doremi.<br />
Über all der Propaganda von allen Seiten, die Leitsymptom<br />
des neuen Kalten Kriegs ist, wird leicht übersehen,<br />
wie viel freier und demokratischer Russland heute ist<br />
als zu Sowjetzeiten. Zugleich ist, wie überall, leider die<br />
gegenwärtige Gegenläufigkeit zu beobachten, dass mit<br />
zunehmend besserem Leben zunehmende kulturelle Dekadenz einhergeht.<br />
Große Komponisten sind in West und Ost mehr denn je<br />
Mangelware. So verwundert es nicht, wenn die beiden wichtigsten<br />
Labels des heutigen Russland, die in Moskau beheimatete Melodiya<br />
und die in Petersburg ansässigen Northern Flowers, ganz besonders<br />
mit historischen Veröffentlichungen glänzen.<br />
Northern Flowers hat nun erstmals sämtliche 13 Streichquartette<br />
von Nikolai Miaskowsky in einer Fünf-CD-Box veröffentlicht,<br />
die zudem mit sehr informativen Einführungen versehen ist. Das<br />
Taneyev-Quartett spielt die vielseitig herausfordernden Werke technisch<br />
brillant, doch waren insbesondere die akustischen Voraussetzungen<br />
Mitte der <strong>19</strong>80er-Jahre sehr trocken. Miaskowsky ist mit<br />
27 Gattungsbeiträgen weltbekannt als einer der fruchtbarsten Sinfoniker,<br />
wird jedoch fast nie außerhalb Russlands gespielt – was<br />
teils sehr zu bedauern ist, denn einige seiner Sinfonien zählen zum<br />
Wertvollsten im Sowjetbestand. Seine Quartette<br />
bezeugen kein geringeres Niveau und bestechen mit<br />
großartiger kontrapunktischer Verzahnung und<br />
Finesse, kühner Auslotung der traditionellen Tonalität,<br />
rhythmischer Mannigfaltigkeit, Eleganz und<br />
Wucht und untrüglichem Sinn für die große<br />
Form. Einige, wie etwa die Nummern 9 oder 11<br />
bis 13, sind von zeitlosem Karat, und schon mit<br />
den <strong>19</strong>30 als Opus 31 zusammengefassten ersten<br />
drei, die die seelischen Schrecken der Stalin-Ära<br />
seismografisch ausagieren, eroberte Miaskowsky<br />
das Königsgenre der Kammermusik im Sturm.<br />
Herrlich die unendlichen Facetten, die er Walzercharakteren<br />
abgewinnt, tiefe Abgründe tun sich in langsamen<br />
Sätzen auf, auch die klangliche Palette ist<br />
unerschöpflich.<br />
Höchst empfehlenswert ist auch eine Serie<br />
von Northern Flowers, die das sowjetische Petersburg<br />
zelebriert: Leningrad Symphonies, Leningrad<br />
Violin Concertos, Leningrad String Quartets. Jedes<br />
Mal ist hier der noch lebende Sergey Slonimsky dabei, einer der<br />
interessantesten Komponisten unserer Zeit, der in jedem Werk mit<br />
unvorhersehbarer Originalität und absoluter Meisterschaft fesselt,<br />
aber auch der Schostakowitsch-Schüler Venjamin Basner mit seinem<br />
melancholischen Ersten Quartett, der bedeutende Sinfoniker<br />
Orest Yevlakhov (Schüler von Schostakowitsch und Lehrer der<br />
gesamten Leningrader Komponistenprominenz), Yuri Falik am<br />
Scheideweg von Expressionismus und Dodekafonie (Sinfonien und<br />
Quartette), Vladislav Uspensky mit dem fantasiereichen Violindoppelkonzert<br />
Phantasmagoria oder German Okunev mit seinem<br />
hochexpressiven Zweiten Quartett bieten grandiose Einblicke in die<br />
vielschichtige Leningrader Szene, die hierzulande so gut wie unbekannt<br />
ist.<br />
Melodiya hat uns in letzter Zeit mit einem herrlichen Drei-<br />
CD-Album von Mieczysław Weinberg beglückt, dessen 100.<br />
Geburtstag am 8. Dezember ansteht. Schon jetzt kann man sagen,<br />
dass seine Entdeckung seit ungefähr zehn Jahren ein voller Erfolg<br />
ist. Hier ist er selbst als vortrefflicher Pianist mit Alla Vasilieva in<br />
seinen zwei Cellosonaten zu hören, dazu kommen Violin- und<br />
Bratschenwerke auf hohem Niveau, das Trompetenkonzert mit<br />
Timofei Dokschitzer und vor allem das großartige Siebte Quartett<br />
mit dem Borodin-Quartett.<br />
Herausragend unter den russischen Dirigenten<br />
war Alexander Gauk, der Liszts Faust-Sinfonie,<br />
Dukas’ Zauberlehrling und Strauss’ Till Eulenspiegel<br />
mit einer beherrschten Wildheit entstehen lässt, die<br />
kaum ihresgleichen kennt (Melodiya). Er war einer<br />
der ganz Großen, und man müsste viel mehr von<br />
ihm kennen. Doch die größte Überraschung ist<br />
die griechische Pianistin Vasso Devetzi (<strong>19</strong>27–<br />
<strong>19</strong>87), engste Freundin Maria Callas’, die fast nur<br />
in der Sowjetunion auftrat. Sie spielt auf einem<br />
bei Doremi erschienenen Album sämtliche Konzerte<br />
Johann Sebastian Bachs mit dem exzellenten<br />
Moskauer Kammerorchester unter Rudolf Barschai.<br />
Dass sie die meines Erachtens phänomenalste<br />
Bach-Spielerin der ganzen Epoche war, hört man<br />
am deutlichsten in der Chromatischen Fantasie und<br />
Fuge, die ich noch nie so zusammenhängend und<br />
fantasievoll gespielt vernommen habe. n<br />
39
R Ä T S E L<br />
„Ich wurde<br />
unter anderem<br />
von Gamelan-<br />
Musik<br />
beeinflusst“<br />
GEWINNSPIEL<br />
Wer verbirgt sich hinter diesem Text?<br />
„Die Musik ist eine geheimnisvolle Mathematik, deren Elemente<br />
am Unendlichen teilhaben“ – schon in jungen Jahren besuchte ich<br />
das Konservatorium, auch wenn ich in bescheidenen Verhältnissen<br />
aufgewachsen bin und nie eine Schule besucht habe. Ich wurde von<br />
Musikern unterrichtet, die zwar nicht mit meinem jugendlichen<br />
Ungestüm umgehen konnten, mit mir jedoch bald große Erfolge<br />
am Klavier feierten. Als diese aber nicht lange andauerten, wechselte<br />
ich in die Kompositionsklasse und nahm von meinem Virtuosen-Traum<br />
Abstand. In meinem neuen Studium wurde meine<br />
musikalische Begabung auf ganz andere Weise gefordert, als ich<br />
mich nicht so recht an staubige harmonische Gesetze halten wollte<br />
causales_Anzeigen_20<strong>19</strong>.qxp_crescendo_220x144+5mm 15.08.<strong>19</strong> 11:40 Seite 1<br />
und so manche Lehrer behaupteten, dass ich von dem irren Wunsch<br />
FOTO: BY GUNAWAN KARTAPRANATA - CC BY-SA 3.0<br />
besessen sei, etwas Bizarres, Unverständliches und Unaufführbares<br />
zu schaffen. Mein Kompositionsstil stach nämlich durch das Schaffen<br />
einer neuen Tonsprache, die Überwindung traditioneller musikalischer<br />
Formen heraus.<br />
Begeistert von dem Exotismus, den ich auf der Pariser Weltausstellung<br />
erlebte, wurde mein Stil von russischer, arabischer und<br />
Gamelan-Musik beeinflusst. Meine Kompositionen sind voll von<br />
zauberhaften Klangfarben, Ganztonleitern, Pentatonik, sphärischen<br />
Akkordschichtungen und Ostinati. Zuerst konnte ich mich<br />
nur mit kleinen Kompositionen über Wasser halten und genoss<br />
einen launenhaften Lebensstil. Der änderte sich schlagartig, als<br />
meine Partnerin begann, den Haushalt und mein Leben zu organisieren.<br />
Leider endete diese Beziehung tragisch: Als sie einen Liebesbrief<br />
von mir fand, der unglücklicherweise nicht an sie adressiert<br />
war, richtete sie einen Revolver auf sich selbst. Dieses<br />
schmerzliche Szenario wiederholte sich ein paar Jahre später, als<br />
meine zweite Ehefrau eine meiner Affären aufdeckte und verzweifelt<br />
versuchte, sich das Leben zu nehmen. Auch wenn mein Privatleben<br />
nicht immer einfach war, führte ich doch die innigste<br />
Bindung zur Musik und gelte heute als das Bindeglied zwischen<br />
Romantik und Moderne.<br />
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40 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – März 20<strong>19</strong><br />
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Die wichtigsten Termine und Veranstaltungen von <strong>September</strong> bis <strong>Oktober</strong> im Überblick (ab Seite 42)<br />
Erntedank in Tirol: Die Festspiele Erl präsentieren romantische Musik an der Schwelle zur Moderne (Seite 48)<br />
Chefdirigent Christoph Koncz und Isabelle Keulen leiten die neue Saison der Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein (Seite 50)<br />
8. bis 21. <strong>September</strong>, Hellerau<br />
„APPIA STAGE RELOADED“<br />
Hellerau steht als Modell einer Lebensreform zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf<br />
Anregung des Bühnenausstatters Adolphe Appia erhielt das Festspielhaus in der<br />
Gartenstadt keine Guckkastenbühne. Stattdessen wurde ein Raum geschaffen, in<br />
dem Zuschauerbereich und Spielfläche ineinander übergingen. Appia stellte sich,<br />
inspiriert von dem Choreografen Émile Jaques-Dalcroze, einen leeren Raum vor,<br />
in dem die Darsteller durch Haltungen und Bewegungen die ersten Akzente setzen.<br />
Der Bühnenbereich sollte mittels geometrischer Körper für jede Inszenierung<br />
neu gestaltet werden. Die Musik gab den Rhythmus vor, der als einigendes<br />
Band die Maßverhältnisse regelte. Den emotionalen Gehalt der Musik drückte das<br />
Licht aus, dessen Gestaltung der Lichtkünstler Alexander von Salzmann übernahm.<br />
Das Festival Appia Stage Reloaded zeigt Performances, Tanz, Musik sowie<br />
Ausstellungen auf der 2017 rekonstruierten Bühne. Die Choreografen und Darsteller<br />
Cindy Hammer, Joseph Hernandez, Johanna Raggan und Anna Till (Foto)<br />
erkunden die Appia-Bühne als Ort utopischer Träume. Zur Uraufführung kommt<br />
ein Werk der Bildhauerin Ursula Sax, dessen choreografische Umsetzung sich aus<br />
Tanzskulpturen und performativen Objekten entwickelt. Und die Ausstellung<br />
„Raum der Visionäre“ geht anhand von Briefen, Zeichnungen und Fotografien den<br />
Einflüssen nach, die Appia, von Salzmann und Jaques-Dalcroze aufeinander hatten.<br />
Hellerau, Festspielhaus, www.hellerau.org/appia<br />
FOTO: IAN WHALEN<br />
41
E R L E B E N<br />
<strong>September</strong> / <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong><br />
DIE WICHTIGSTEN<br />
VERANSTALTUNGEN AUF<br />
EINEN BLICK<br />
Ihr persönlicher Navigator für Premieren, Konzerte und Festivals<br />
PREMIEREN<br />
7.9. HAMBURG STAATSOPER<br />
Die Nase / Dmitri Schostakowitsch<br />
8.9. BERLIN DEUTSCHE OPER<br />
La forza del destino / Giuseppe Verdi<br />
8.9. ERFURT THEATER<br />
Im weißen Rössl / Ralph Benatzky<br />
8.9. FRANKFURT AM MAIN OPER<br />
Otello / Gioachino Rossini<br />
8.9. WEIMAR STAATSTHEATER<br />
Hoffmanns Erzählungen / J. Offenbach<br />
13.9. PFORZHEIM THEATER<br />
Rigoletto / Giuseppe Verdi<br />
14.9. BERLIN DEUTSCHE OPER<br />
Wolfsschlucht / Malte Giesen<br />
14.9. BRAUNSCHWEIG STAATS<br />
THEATER Ekstase – Ein Fest des Tanzes<br />
14.9. CHEMNITZ THEATER<br />
Zarah 47 / Peter Lund<br />
14.9. GIESSEN STADTTHEATER<br />
Der Barbier von Sevilla / G. Rossini<br />
14.9. HANNOVER STAATSOPER<br />
La Juive / Jacques Halévy<br />
14.9. KAISERSLAUTERN PFALZ<br />
THEATER La traviata / Giuseppe Verdi<br />
14.9. KASSEL STAATSTHEATER<br />
Siegfried / Richard Wagner<br />
14.9. LEIPZIG OPER<br />
Der Liebestrank / Gaetano Donizetti<br />
14.9. MÜNSTER STAATSTHEATER<br />
Un ballo in maschera / Giuseppe Verdi<br />
14.9. REGENSBURG THEATER<br />
Tosca / Giacomo Puccini<br />
14.9. TRIER THEATER<br />
La Bohème / Giacomo Puccini<br />
14.9. WIEN (AT) VOLKSOPER<br />
Das Gespenst von Canterville /<br />
Marius Felix Lange<br />
14.9. WIESBADEN LANDESTHEATER<br />
Carmen / Georges Bizet<br />
15.9. AACHEN THEATER<br />
Hagen – Der Ring / Richard Wagner<br />
15.9. DORTMUND THEATER<br />
Madame Butterfly / Giacomo Puccini<br />
15.9. DÜSSELDORF<br />
DEUTSCHE OPER AM RHEIN<br />
Roméo et Juliette / Charles Gounod<br />
15.9. WUPPERTAL BÜHNEN<br />
Oedipus Rex / Igor Strawinsky<br />
<strong>19</strong>.9. WIEN (AT) THEATER AN DER<br />
WIEN Rusalka / Antonín Dvořák<br />
27. <strong>September</strong> bis 6. <strong>Oktober</strong>, Bad Wörishofen<br />
25 JAHRE<br />
FESTIVAL DER NATIONEN<br />
Lädt mit dem Festivalorchester<br />
zu einer<br />
„Russischen Nacht“:<br />
Nemanja Radulović<br />
Mit einem Reigen großartiger Künstler feiert das Festival der Nationen<br />
sein 25-jähriges Bestehen. Ins Leben gerufen mit der Idee,<br />
eine Veranstaltung für Kinder aller Nationen zu sein, gewann es im<br />
Laufe der Jahre zunehmend an Attraktivität. Zur Eröffnung des<br />
Jubiläumsprogramms stellen die Pianistin Olga Scheps und die<br />
Sopranistin Regula Mühlemann mit dem Kammerorchester Basel<br />
unter Benedetti Michelangeli die elfjährige Junior-Preisträgerin im<br />
Menuhin-Wettbewerb, Chloe Chua, vor. Der Geiger Nemanja<br />
Radulović (Foto), der erstmals mit dem Festivalorchester auftritt,<br />
lädt mit Tschaikowsky zu einer „Russischen Nacht“. Die Sopranistin<br />
Diana Damrau und der Bass Nicolas Testé widmen sich mit<br />
dem Münchner Rundfunkorchester unter Ivan Repušić den Arien<br />
Verdis. Das Orchester begleitet auch den Tenor Klaus Florian Vogt<br />
bei seiner Wagner-Gala. Die Bamberger Symphoniker geben mit<br />
dem Geiger Frank Peter Zimmermann ihr Debüt in Bad Wörishofen<br />
und wirken mit bei der Vorstellung des Projekts „Volkslied Reloaded“<br />
des Ensembles Quadro Nuevo. Der Pianist Nikolai Tokarev,<br />
der 2006 in Bad Wörishofen entdeckt wurde, gastiert mit der<br />
Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Karel Mark<br />
Chichon, die auch in der Abschlussgala zu hören ist, wenn Elīna<br />
Garanča einen Arienabend gibt.<br />
Bad Wörishofen, Kursaal, www.festivaldernationen.de<br />
FOTO: LUKAS ROTTER / DG<br />
20.9. BREMEN THEATER<br />
Der Rosenkavalier / Richard Strauss<br />
20.9. DARMSTADT STAATSTHEATER<br />
Twice through the heart / Mark-Anthony<br />
Turnage, Trouble in Tahiti / L. Bernstein<br />
20.9. HILDESHEIM THEATER<br />
FÜR NIEDERSACHSEN<br />
Im weißen Rössl / Ralph Benatzky<br />
20.9. HOF THEATER<br />
Orpheus und Eurydike / C. W. Gluck<br />
21.9. DARMSTADT STAATSTHEATER<br />
Catch Me If You Can / Marc Shaiman<br />
und Scott Wittman<br />
21.9. HANNOVER STAATSOPER<br />
Beginning / Andonis Foniadakis<br />
21.9. HOF THEATER<br />
In der Strafkolonie / Philip Glass<br />
21.9. KÖLN OPER<br />
Tristan und Isolde / Richard Wagner<br />
21.9. LINZ (AT) LANDESTHEATER<br />
The Rape of Lucretia / Benjamin Britten<br />
21.9. LÜBECK THEATER<br />
La Sylphide / August Bournonville<br />
21.9. LÜNEBURG THEATER<br />
Orpheus und Eurydike / C. W. Gluck<br />
21.9. SALZBURG (AT) LANDES<br />
THEATER Oberon / C. M. von Weber<br />
22.9. MÖNCHENGLADBACH<br />
THEATER Salome / Richard Strauss<br />
22.9. LINZ (AT) LANDESTHEATER<br />
Le prophète / Giacomo Meyerbeer<br />
22.9. ZÜRICH (CH) OPERNHAUS<br />
Die Sache Makropulos / Leoš Janáček<br />
26.9. BONN THEATER<br />
Infinito Nero / Salvatore Sciarrino<br />
26.9. ULM THEATER<br />
Fidelio / Beethoven<br />
28.9. CHEMNITZ THEATER<br />
Die Weise von Liebe und Tod /<br />
Malte Giesen, Fabian Gerhardt<br />
28.9. DRESDEN SEMPEROPER<br />
Il viaggio a Reims / Giacomo Rossini<br />
28.9. FLENSBURG SCHLESWIG-<br />
HOLSTEINISCHES LANDESTHEATER<br />
Rigoletto / Giuseppe Verdi<br />
28.9. FREIBURG THEATER<br />
Falstaff / Giuseppe Verdi<br />
28.9. GELSENKIRCHEN<br />
MUSIK THEATER IM REVIER<br />
Frankenstein / Jan Dvořák<br />
28.9. HALLE OPER<br />
Un ballo in maschera / Giuseppe Verdi<br />
28.9. KAISERSLAUTERN<br />
PFALZTHEATER Cabaret / John Kander<br />
42 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
FOTOS: FLORIAN LIEDEL; MARCO BORGGREVE; RÜDIGER SCHESTAG; MET IM KINO; SIMON PAULY; LAURENT PHILIPPE; WALTER GLÜCK; MARCO BORGGREVE; LUIS ALBERTO RODRIGUEZ; KLANGFORUM WIEN; KIRAN WEST;<br />
JUNGE KAMMERPHILHARMONIE BERLIN; LEONIE TREFFLINGER; JEANLOUIS FERNANDEZ<br />
13. <strong>September</strong><br />
DESSAU VIOLETT<br />
Als junger Student der Volkswirtschaft hörte<br />
Wassily Kandinsky in Moskau Wagners<br />
Lohengrin. „Ich konnte alle meine Farben sehen“,<br />
beschrieb er den Eindruck. „Es wurde mir<br />
bewusst, dass Malerei die gleiche Macht wie<br />
Musik besitzt.“ So war das Theater für ihn die<br />
höchste ästhetische Kunst, die idealerweise die<br />
bildenden Künste, Musik, Tanz und Dichtung vereinte. Zwischen <strong>19</strong>08<br />
und <strong>19</strong>14 schrieb er die Bühnenkompositionen Grüner Klang, Schwarz und<br />
Weiß, Schwarze Figur, Gelber Klang sowie die Farboper Violett, von der<br />
<strong>19</strong>27 ein Abschnitt in der Zeitschrift Bauhaus erschien. Assoziativ verband<br />
er darin Bilderfolgen, wobei er das Wort stellenweise als reinen<br />
Klangwert zum Einsatz brachte. Die Elemente Farbe und Form, Text,<br />
Raum und Klang sowie Bewegung sollten gleichwertig zusammenwirken.<br />
Wie er sich das vorstellte, erläuterte er zehn Jahre später in dem Aufsatz<br />
Über die abstrakte Bühnensynthese. Im Rahmen des Festivals Bühne<br />
TOTAL der Stiftung Bauhaus Dessau setzt die Regisseurin und Choreografin<br />
Arila Siegert das Werk mit Kerstin Schweer und Jörg Thieme szenisch<br />
um. Für die Musik von Ali N. Askin (Foto), die dabei zur Uraufführung<br />
gelangt, steht Sebastian Kennerknecht am Pult.<br />
Dessau, Anhaltisches Theater, 13. (Premiere), 14. und 15.9. sowie <strong>19</strong>., 20. und<br />
21.6.2020, www.anhaltisches-theater.de<br />
Bis <strong>19</strong>. <strong>September</strong><br />
MUSIKFEST BERLIN<br />
„Das ganze Leben des Traums und der ganze<br />
Sinn des Lebens sind bereit, in den empfindlichen<br />
Filmstreifen einzugehen“ – Zitate,<br />
Metaphern und Symbole durchziehen Abel<br />
Gances Stummfilm La Roue aus dem Jahr <strong>19</strong>23.<br />
Gances Bestreben war eine Synthese philosophischer,<br />
literarischer und malerischer Konzeptionen.<br />
Zwei Jahre arbeitete er daran und belichtete 10.000 Meter Zelluloid.<br />
Das Musikfest Berlin zeigt den melodramatischen Streifen in voller<br />
Länge – neun Stunden lang. Dazu spielt das Rundfunk-Sinfonieorchester<br />
Berlin Arthur Honeggers Filmmusik, aus der Honegger später das sinfonische<br />
Gedicht Pacific 231 schuf. Der Film zeichnet sich durch einen<br />
„beschleunigten Schnitt“ aus, für den Gance bekannt wurde. Scheiben,<br />
Signale, Weichen wechseln einander mit Landschaften und Gesichtern<br />
ab. Honegger schuf eine Musik, die „das ruhige Amen der stillstehenden<br />
Maschine“ wiedergibt, „die Anstrengung beim Anfahren, die allmähliche<br />
Steigerung der Geschwindigkeit“ bis „zum Gewaltig-Pathetischen eines<br />
Eisenbahnzuges“, der durch die tiefe Nacht rast.<br />
Berlin, verschiedene Spielorte, www.musikfest-berlin.de<br />
6. bis 29. <strong>September</strong><br />
BONN BEETHOVENFEST<br />
„Den Wein, den man mit Augen trinkt, / Gießt<br />
der Mond in Wogen nieder“ – mit Arnold<br />
Schönbergs Melodram Pierrot Lunaire auf<br />
Gedichte Albert Girauds und dem gesungenen<br />
Ballett Die sieben Todsünden von Bertolt Brecht<br />
und Kurt Weill in der Bearbeitung von HK<br />
Gruber gestaltet das Ensemble Modern seinen<br />
Auftritt beim Beethovenfest. Die Rolle der Anna, die durch sieben<br />
amerikanische Städte getrieben wird, bis sie wieder in Louisiana landet,<br />
„wo die Wasser des Mississippi unterm Monde fließen“, übernimmt die<br />
Sopranistin Sarah Maria Sun (Foto). „Mondschein“ lautet das Motto des<br />
Fests in Anspielung an die romantische 14. Klaviersonate, die nach<br />
Beethovens Tod diesen Titel erhielt. Sie dient dem Programm als<br />
Inspiration und durchzieht es in unterschiedlichen Interpretationen.<br />
Zum Auftakt erklingt sie als Sonate für Horn und Klavier. Ronald<br />
Bräutigam spielt sie auf dem Hammerklavier. Und Pierre-Laurent Aimard<br />
widmet sich ihr an seinem Soloabend.<br />
Bonn, verschiedene Kinos, www.beethovenfest.de<br />
Herbstliche Musiktage Bad Urach<br />
STEGREIF.orchester Berlin:<br />
#Beethoven#Eroica#Mozart#Don Giovanni<br />
Elisabeth Kulman Show:<br />
»Der ganz andere Opernabend«<br />
THOMANERCHOR Leipzig:<br />
Festkonzert jubelnder Knabenstimmen<br />
u.v.m.<br />
Internationales Orgelfestival<br />
6. bis 20. <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong><br />
Winfried Bönig, David Cassan, Kristin von der Goltz,<br />
Frank Höndgen, Lena Neudauer, Daniel Zaretzky<br />
und Peter Kofler<br />
www.muenchner-orgelherbst.de<br />
www.facebook.com/muenchner.orgelherbst<br />
Jesuitenkirche St. Michael<br />
Neuhauser Straße 6 | 80331 München<br />
herbstliche-musiktage.de, Telefon 07125 156 571<br />
43
E R L E B E N<br />
26. <strong>September</strong> bis 12. Januar, Frankfurt am Main<br />
HANNAH RYGGEN.<br />
GEWEBTE MANIFESTE<br />
„Das Leben zieht vorüber“, Tapisserie<br />
von Hannah Ryggen aus dem Jahr <strong>19</strong>39<br />
Hannah Ryggens großformatige Tapisserien sind gewebte Geschichten<br />
und Bekenntnisse. Zu Lebzeiten der Künstlerin wurden sie in<br />
internationalen Ausstellungen gezeigt. Ryggen war eine hochgeschätzte<br />
Künstlerin. <strong>19</strong>64 vertrat sie Norwegen auf der Biennale<br />
von Venedig. In Malmö geboren, zog sie <strong>19</strong>24 nach einem akademischen<br />
Malstudium mit ihrem Mann, dem Maler Hans Ryggen, auf<br />
einen kleinen Bauernhof in Ørland an der norwegischen Westküste.<br />
Hier fand sie im Webstuhl ihr malerisches Werkzeug. Aber nicht das<br />
bäuerliche Leben interessierte sie. Vielmehr nahm sie regen Anteil<br />
am politischen Geschehen ihrer Zeit. Wie ihre Biografin, die Kunsthistorikerin<br />
Marit Paasche, betont, verstand Ryggen ihre Tapisserien<br />
als politisches Statement. So gestaltete sie einen Hitlerteppich, auf<br />
dem sie die Gräueltaten des NS-Regimes zeigte sowie die Verstrickung<br />
der Kirche in den Nationalsozialismus, indem sie zwei enthauptete<br />
Figuren vor einem schwebenden Kreuz abbildete. Als<br />
Mussolinis Truppen <strong>19</strong>35 in Abessinien, dem heutigen Äthiopien,<br />
einmarschierten, webte sie aus Protest dagegen eine Arbeit mit<br />
Mussolinis Kopf, durchbohrt von einem Speer. Sie wurde <strong>19</strong>37 in<br />
Paris gemeinsam mit Picassos Guernica gezeigt. Ähnliche erträumte<br />
Angriffe auf Hitler und Franco hängte Ryggen während der deutschen<br />
Besetzung Norwegens <strong>19</strong>40 neben ihrem Haus auf. Nach dem<br />
Krieg wandte sie sich sozialen Fragen, aber auch Themen wie Liebe<br />
und Natur zu. Doch behielt sie das Zeitgeschehen stets kritisch im<br />
Blick. <strong>19</strong>66 protes tierte sie mit dem Teppich Blut im Gras gegen die<br />
amerikanische Einmischung in den Vietnamkrieg. In den Jahrzehnten<br />
nach ihrem Tod <strong>19</strong>70 allerdings sei Ryggens Werk in die Ecke des<br />
Primitiven und Ländlichen geschoben und in seiner künstlerischen<br />
Bedeutung verkannt worden, erläutert Paasche. Die einst berühmte<br />
Künstlerin geriet in Vergessenheit. Die Ausstellung Hannah Ryggen.<br />
Gewebte Manifeste vermittelt mit 25 Tapisserien erstmals in<br />
Deutschland Einblicke in ihr Werk. Begleitend dazu erscheint am<br />
2. <strong>Oktober</strong> im Pres tel Verlag ein gleichnamiger Bildband, herausgegeben<br />
von Marit Paasche und Esther Schlicht.<br />
Frankfurt am Main, Schirn Kunsthalle, www.schirn.de<br />
FOTO: © VG BILD-KUNST, BONN 20<strong>19</strong>, FOTO: JØRN HAGEN<br />
12. <strong>Oktober</strong><br />
MET IM KINO<br />
Franco Zeffirellis prachtvolle Inszenierung von<br />
Puccinis Turandot aus dem Jahr <strong>19</strong>87 gehört zu<br />
den Prunkstücken des Repertoires der New<br />
Yorker Metropolitan Opera. Zeffirelli zeigte<br />
eine in bombastischen Zeremonien erstarrte<br />
Welt der Dekadenz. Der golden funkelnde<br />
Thronsaal, in dem die Rätselszene und das<br />
Finale spielen, schafft mit den ausladenden Kostümen von Anna Anni und<br />
Dada Saligeri eine überbordende Vision des sagenhaften chinesischen<br />
Kaiserreichs. Im Todesjahr Zeffirellis, der am 15. Juni im Alter von 96 Jahren<br />
starb, kommt die Inszenierung wieder auf den Spielplan, und die Veranstaltungsreihe<br />
MET im Kino beginnt damit ihre Saison. In die Rolle der<br />
Prinzessin Turandot schlüpft Christine Goerke. Der unbekannte Prinz<br />
Kalaf ist Roberto Aronica. Und die musikalische Leitung übernimmt der<br />
musikalische Direktor des Hauses Yannick Nézét-Séguin.<br />
Deutschland und Österreich, verschiedene Spielorte, www.metimkino.de<br />
21. <strong>September</strong> bis 12. <strong>Oktober</strong><br />
USEDOMER MUSIKFESTIVAL<br />
Das Seebad Ahlbeck gehört zu den drei Kaiserbädern<br />
der Ostseeinsel Usedom. Mit Volksliedern<br />
aus aller Welt lädt das Calmus Ensemble<br />
(Foto) zu einer „Liedertafel“ in die örtliche<br />
Kirche. Nicht weit entfernt befindet sich das<br />
polnische Seebad Świnoujście. Hier warten die<br />
Sopranistin Dagmara Barna und das Ensemble Il<br />
pomo d’oro des Cembalisten Francesco Corti mit Arien von Händel und<br />
Hasse auf. Zur Eröffnung leitet Kristjan Järvi die vom Festival gegründete<br />
Baltic Sea Philharmonic bei der deutschen Erstaufführung einer Komposition<br />
von Steve Reich und bei Philip Glass’ Drittem Klavierkonzert. Am<br />
Flügel sitzt Simone Dinnerstein.<br />
Usedom, verschiedene Spielorte, www.usedomer-musikfestival.de<br />
6. bis 20. <strong>Oktober</strong><br />
11. MÜNCHNER ORGELHERBST<br />
Mit Bach-Chorälen eröffnet Peter Kofler an der<br />
Rieger-Orgel in der Jesuitenkirche St. Michael<br />
den Orgelherbst. Befasst mit einer Gesamteinspielung<br />
der Orgelkompositionen Johann Sebastian<br />
Bachs, deren erste Teile unter dem Titel<br />
„OpusBach“ bereits vorliegen, ist er innig vertraut<br />
mit dessen Orgelwerk. Bach ist der rote<br />
Faden, der sich durch die Programme zieht. Darüber hinaus gibt es anderes<br />
zu hören. Winfried Bönig gastiert mit Orgelkompositionen von<br />
Louis Vierne. Daniel Zaretzky bringt aus Sankt Petersburg Werke der<br />
russischen Komponisten Georgi Muschel und Christopher Kuschnarew.<br />
Und mit Improvisationskunst lässt David Cassan das Fest ausklingen.<br />
München, Jesuitenkirche St. Michael, www.muenchner-orgelherbst.de<br />
Bis 29. <strong>September</strong><br />
NIEDERSÄCHSISCHE MUSIKTAGE<br />
Mit Musik vom Meer gastiert das Ensemble<br />
Quadriga Consort bei den Niedersächsischen<br />
Musiktagen. Alte Seefahrerweisen und Shanties<br />
aus England, Schottland und Irland hat der<br />
Cembalist Nikolaus Newerkla zur Suite Hart am<br />
Wind zusammengestellt. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern<br />
des Ensembles, zu dem sich<br />
2001 vier Musiker zusammenfanden, um während ihres Studiums frühbarocke<br />
Kammermusik zu interpretieren. Eigene Arrangements erweiterten<br />
das Repertoire im Verlauf der Jahre, ebenso die Zahl der Mitglieder.<br />
Sechs Instrumentalisten und eine Sängerin bringen die alten Weisen,<br />
die von Abenteuerlust und Heimweh erzählen, wieder zum Klingen.<br />
Niedersachsen, verschiedene Spielorte, www.musiktage.de<br />
44 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
FOTOS: FLORIAN LIEDEL; MARCO BORGGREVE; RÜDIGER SCHESTAG; MET IM KINO; SIMON PAULY; LAURENT PHILIPPE; WALTER GLÜCK; MARCO BORGGREVE; LUIS ALBERTO RODRIGUEZ; KLANGFORUM WIEN; KIRAN WEST;<br />
JUNGE KAMMERPHILHARMONIE BERLIN; LEONIE TREFFLINGER; JEANLOUIS FERNANDEZ<br />
28.9. KIEL THEATER<br />
Ein Amerikaner in Paris / G. Gershwin<br />
28.9. MÖNCHENGLADBACH THEA<br />
TER Der goldene Drache / Peter Eötvös<br />
28.9. MAINZ STAATSTHEATER<br />
The Producers / Mel Brooks<br />
28.9. OSNABRÜCK THEATER<br />
Falstaff / Giuseppe Verdi<br />
29.9. GIESSEN STADTTHEATER<br />
Rebellen / Asun Noales u. a.<br />
29.9. NÜRNBERG STAATSTHEATER<br />
Don Carlos / Giuseppe Verdi<br />
2.10. MÜNCHEN GÄRTNERPLATZ<br />
THEATER Die Kluge / Carl Orff<br />
2.10. WIEN (AT) STAATSOPER<br />
A Midsummer Night‘s Dream / B. Britten<br />
3.10. MEININGEN STAATSTHEATER<br />
Your First Memory / Bryan Arias<br />
3.10. BERLIN STAATSOPER Die lustigen<br />
Weiber von Windsor / Otto Nicolai<br />
5.10. ERFURT THEATER<br />
Zaren Saltan / Nikolai Rimski-Korsakow<br />
5.10. LEIPZIG OPER<br />
Tristan und Isolde / Richard Wagner<br />
5.10. ROSTOCK VOLKSTHEATER<br />
La traviata / Giuseppe Verdi<br />
5.10. WIESBADEN HESSISCHES<br />
LANDESTHEATER<br />
Gräfin Mariza / Emmerich Kálmán<br />
6.10. BONN THEATER<br />
Der Rosenkavalier / Richard Strauss<br />
27. <strong>September</strong>, München<br />
6.10. FRANKFURT AM MAIN OPER<br />
Manon Lescaut / Giacomo Puccini<br />
10.10. MÜNCHEN GÄRTNERPLATZ<br />
THEATER Der Messias / G. F. Händel<br />
11.10. MEININGEN STAATSTHEATER<br />
Der Mann von La Mancha / Mitch Leigh<br />
12.10. DORTMUND THEATER<br />
Jekyll & Hyde / Frank Wildhorn<br />
12.10. ESSEN AALTO THEATER<br />
Pique Dame / Peter Tschaikowsky<br />
12.10. KAISERSLAUTERN<br />
PFALZTHEATER<br />
Tell Me on a Sunday / A. L. Webber<br />
12.10. KASSEL KOMISCHE OPER<br />
Cavalleria rusticana / Pietro Mascagni,<br />
Pagliacci / Ruggero Leoncavallo<br />
12.10. KÖLN OPER<br />
Barkouf ou un chien au pouvoir /<br />
Jacques Offenbach<br />
12.10. LEIPZIG OPER<br />
Zorbas / Balkanfeuer / Mirko Mahr<br />
12.10. LÜBECK THEATER<br />
Christoph Colombe / Darius Milhaud<br />
12.10. MÜNSTER STAATSTHEATER<br />
Medea / Thomas Noone<br />
13.10. BERN (CH) STADTTHEATER<br />
Il barbiere di Siviglia / Gioachino Rossini<br />
17.10. WIEN (AT) THEATER AN DER<br />
WIEN La clemenza di Tito / W. A. Mozart<br />
<strong>19</strong>.10. KARLSRUHE BADISCHES<br />
STAATSTHEATER Faust / Ch. Gounod<br />
TEUFLISCHE KLÄNGE<br />
Mikhail Pochekin<br />
Ein Traum inspirierte Giuseppe Tartini zu seiner Sonate Teufelstriller.<br />
Im Bund mit dem Teufel spielte ihm dieser auf der Geige vor, und<br />
zwar so wundervoll, wie Tartini es noch nie zuvor gehört hatte.<br />
Nach dem Erwachen schrieb er die diabolische Musik nieder. Der<br />
Geiger Mikhail Pochekin und der Pianist Dmitry Mayboroda steigern<br />
die innigen Klänge, mit denen das Stück anhebt, bis zu den teuflischen<br />
Trillern im dritten Satz. Pochekin, <strong>19</strong>90 in Madrid als Sohn<br />
einer Musikerfamilie geboren, ist Preisträger mehrerer Wettbewerbe.<br />
Mit Johann Sebastian Bachs Zweiter Partita gibt er eine<br />
Kostprobe seines jüngst erschienenen Debütalbums, auf dem er mit<br />
seinem „klar konturierten Ton“ und seiner „frei von hörbaren<br />
Mühen“ ausformulierten Interpretation der Bach’schen Meisterstücke<br />
beeindruckt. Nach der Zweiten Solo-Etüde, in der Jörg Widmann<br />
„eine Reise von einem dreistimmigen Choral bis zu wild<br />
entfesselter Virtuosität“ unternimmt, widmet sich Pochekin mit<br />
Mayboroda der Ersten Sonate von Robert Schumann. Mayboroda,<br />
<strong>19</strong>93 als Sohn einer Geigerfamilie in Moskau geboren, ist ebenfalls<br />
Preisträger zahlreicher Wettbewerbe. Der Auftritt der beiden<br />
Musiker erfolgt im Rahmen der von Andreas Krause gegründeten<br />
Reihe Winners & Masters. Sie bietet jungen Talenten, die gerade einen<br />
Wettbewerb gewonnen haben, ein Podium.<br />
München, Kleiner Konzertsaal im Gasteig, www.gasteig.de<br />
FOTO: EVGENY EVTYUKHOV<br />
CARMINA BURANA MEETS BEST OF 25<br />
JUBILÄUMSKONZERTE »25 JAHRE BAYERISCHE PHILHARMONIE«<br />
10. Orff-Tage der Bayerischen Philharmonie<br />
3. <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong> | Bamberg, Konzerthalle<br />
4. <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong> | München, Carl-Orff-Saal im Gasteig<br />
5. <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong> | Füssen, Ludwigs Festspielhaus<br />
Robeat, Martin Schmitt, Enkhjargal Dandarvaanchig u.v.m.<br />
Mark Mast Dirigent und Gesamtleitung<br />
www.bayerische-philharmonie.de<br />
Tickets: info@bayerische-philharmonie.de | Bamberg: www.bvd-ticket.de, www.reservix.de<br />
München: www.muenchenticket.de | Füssen: www.muenchenticket.de, www.eventim.de<br />
21. Weidener Max-Reger-Tage<br />
14. <strong>September</strong> bis 6. <strong>Oktober</strong><br />
Kammermusik- und Liederabende,<br />
Chor- und Orgelkonzerte<br />
u.a. mit Tanja Becker-Bender, Minguet<br />
Quartett, Dietrich Henschel, Ensemble<br />
BachWerkVokal und Humboldt Quartett<br />
www.maxregertage.de<br />
Telefon 0961 81-4122<br />
45
E R L E B E N<br />
KÜNSTLER<br />
KIT ARMSTRONG<br />
13.9. Putbus, Marstall<br />
14.9. Ahrensburg, Eduard-Söring-Saal<br />
29.9. Laupheim, Kulturhaus<br />
29.9. Straubing, Herzogschloss<br />
3.10. Trier, Abteikirche St. Maximin<br />
9. und 10.10. Heidelberg, Neue Univ.<br />
13.10. München, Prinzregententheater<br />
CHRISTIAN GERHAHER<br />
9. bis 14.9. Klais-Elmau, Schloss Elmau<br />
20.9. Hohenems, Markus-Sittikus-Saal<br />
23.9. Berlin, Pierre Boulez Saal<br />
25.9. Bonn, Forum der Bundeskunsthalle<br />
27.9. Dortmund, Konzerthaus<br />
2.10. Wien (AT), Konzerthaus<br />
HÉLÈNE GRIMAUD<br />
8.10. München, Philharmonie Gasteig<br />
THOMAS HENGELBROCK<br />
27.9. Hamburg, Laeiszhalle<br />
28.9. Bremen, Die Glocke<br />
29.9. Neumarkt, Reitstadel<br />
DANIEL HOPE<br />
13.9. Berlin, Konzerthaus<br />
14.9. und 5.10. Dresden, Frauenkirche<br />
13.10. Münster, Theater<br />
IGOR LEVIT<br />
18. und <strong>19</strong>.9. Hamburg, Elbphilharmonie<br />
22.9. Osnabrück, Theater am Domhof<br />
7.10. Köln, Philharmonie<br />
9.10. Wien (AT), Musikverein<br />
12.10. München, Prinzregententheater<br />
11. <strong>September</strong><br />
BERLIN NOTTURNO<br />
Die Notturno-Kammerkonzerte feiern ihr<br />
zehntes Jubiläum. Dreimal pro Saison lädt das<br />
Deutsche Symphonie-Orchester Berlin mit der<br />
Stiftung Preußischer Kulturbesitz in die Berliner<br />
Räume der Kunst und des Wissens. Nach einer<br />
nächtlichen Führung durch die Sammlungen gibt<br />
es Musik in unterschiedlichen Besetzungen. Das<br />
Jubiläumskonzert findet auf der Museumsinsel im Neuen Museum statt,<br />
dessen Exponate die Entwicklung frühzeitlicher Kulturen vom Vorderen<br />
Orient bis zum Atlantik und von Nordafrika bis Skandinavien nachzeichnen.<br />
Robin Ticciati (Foto) dirigiert Brett Deans Streicherstück Testament, in<br />
dem dieser, angeregt von Beethovens nie abgeschicktem Brief an seine Brüder,<br />
dessen Hörleiden klanglich darstellt. Der Schauspieler Mark Waschke<br />
liest aus dem Heiligenstädter Testament, in dem Beethoven verzweifelt von<br />
seiner Taubheit und seiner Angst vor dem Tod erzählt.<br />
Berlin, Neues Museum, www.dso-berlin.de<br />
27. <strong>September</strong><br />
KÖLN RICHARD SIEGAL<br />
SHEKU KANNEH-MASON<br />
9.10. Hamburg, Elbphilharmonie<br />
10.10. Köln, Philharmonie<br />
11.10. Baden-Baden, Festspielhaus<br />
DANIEL MÜLLER-SCHOTT<br />
6. und 7.10. Hohenems (AT),<br />
Markus-Sittikus-Saal<br />
9.10. Vevey (CH), Salle del Castillo<br />
13.10. Frankfurt, MuseumsSalon<br />
16.10. Heilbronn, Konzert- und<br />
Kongresszentrum Harmonie<br />
MARLIS PETERSEN<br />
<strong>19</strong>.9. Berlin, Philharmonie<br />
5., 9. und 13.10. München,<br />
Nationaltheater<br />
RAGNA SCHIRMER<br />
13.9. Koblenz, Rhein-Mosel-Halle<br />
14.9. Mainz, Kurfürstliches Schloss<br />
21. und 22.9. Blankenburg,<br />
Kloster Michaelstein<br />
24.9. Heringsdorf, Steigenberger<br />
29.9. Altenburg, Residenzschloss<br />
4.10. Hamburg, Elbphilharmonie<br />
11.10. Oberhausen, CongressCentrum<br />
12.10. Kiel, Schloss<br />
JULIAN STECKEL<br />
8. und 9.9. Halle, Oper<br />
15.9. Schöntal, Kloster<br />
22.9. Vaterstetten, Seniorenwohnpark<br />
29.9. Wiesloch, Palatin<br />
3.10. Großschönau, Kirche<br />
12.10. Icking, Rilke-Gymnasium<br />
EMMANUEL TJEKNAVORIAN<br />
12. und 13. 9. Göttingen, Univ.<br />
14.9. Osterode, Stadthalle<br />
Merce Cunningham war der einflussreichste Choreograf<br />
des 20. Jahrhunderts. Seine Arbeiten veränderten<br />
die Tanzlandschaft und wirken bis heute<br />
fort. Mit seinem Lebenspartner John Cage schuf<br />
er faszinierende Tanzereignisse, die Zeit- und<br />
Raumvorstellungen aufbrachen. Anlässlich der<br />
100. Wiederkehr von Cunninghams Geburtstag<br />
bringt ihm Richard Siegal (Foto) mit seiner Kompanie Ballet of Difference<br />
eine Hommage dar. New Ocean (the natch’l Blues) ist inspiriert von Ocean,<br />
jener Arbeit, die Cage und Cunningham <strong>19</strong>90 in Angriff nahmen und für das<br />
sie eine Struktur konzentrischer Kreise entwarfen. Cunningham konzipierte<br />
128 verschiedene Bewegungsphasen, durch die alle Tänzer in einer<br />
Die Bakchen des Euripides in ein modernes Musikdrama zu verwandeln<br />
und dieses nach dem Aischylos-Fragment aus dem Lykurgos-<br />
Zyklus Bassarai (Fuchsfelljägerinnen) zu nennen – diese Idee sei von<br />
W. H. Auden gekommen, berichtet Hans Werner Henze in seinen<br />
Autobiographischen Mitteilungen. Er sei sofort begeistert gewesen von<br />
der szenischen Situation, die der Librettovorschlag von Auden und<br />
Chester Simon Kallman geboten habe. In seiner Partitur zu The<br />
Bassarids habe er darzustellen versucht, „wie das Tonmaterial des<br />
Gottes Dionysos langsam, lockend, listig und am Ende dann auch äußerst<br />
gewalttätig die mönchisch-keusche Klangwelt des Pentheus<br />
vernichtet“. Den beiden Gegenspielern Pentheus und Dionysos ordnet<br />
Henze jeweils eine Zwölftonreihe zu. Die beiden Bereiche greifen<br />
ineinander, bis das Dionysische die Oberhand gewinnt und das<br />
Klangmaterial des Pentheus zum Verschwinden bringt. Vorangestellt<br />
ist der Partitur ein Zitat Gottfried Benns: „Der Mythos log.“ Habe<br />
das 18. Jahrhundert es als erwiesen erachtet, dass in einem Konflikt<br />
zwischen Vernunft und Unvernunft die Verunft zu siegen habe, so<br />
wisse man heute, dass ganze Gesellschaften vom „Dämon“ befallen<br />
werden könnten. Barrie Kosky, der Intendant des Hauses, setzt das<br />
Werk mit Vladimir Jurowski am Pult in Szene. Dionysos und Pentheus<br />
verkörpern Sean Panikkar und Günter Papendell.<br />
Berlin, Komische Oper, 13. (Premiere), 17. und 20.10., 2., 5. und 10.11. sowie<br />
26.6., www.komische-oper-berlin.de<br />
ständigen Kreisbewegung gehalten wurden. Cage stellte sich ein Orchester<br />
vor, dessen 150 Musiker jeweils eine eigene Partitur spielen sollten. Für<br />
seine Choreografie entwirft Siegal eine elektroakustische Komposition, die<br />
mit Originalaufnahmen von Cages Musik arbeitet.<br />
Köln, Schauspiel, 27. (Premiere), 28. und 29.9., www.schauspiel.koeln<br />
Bis 29. <strong>September</strong><br />
RUHRTRIENNALE<br />
13. <strong>Oktober</strong>, Berlin<br />
„DER MYTHOS LOG“<br />
Vladimir Jurowski<br />
Mit Rosen aus dem Süden beschließt das Klangforum<br />
Wien (Foto) sein dreitägiges Gastspiel<br />
beim Festival Ruhrtriennale. Es erinnert damit<br />
an Arnold Schönbergs Initiative, „Künstlern und<br />
Kunstfreunden eine wirklich genaue Kenntnis<br />
moderner Musik zu schaffen“. Um seinen Fonds<br />
aufzufüllen, lud der Verein für musikalische<br />
Privataufführungen <strong>19</strong>21 zu einem Konzert mit vier Walzern von Johann<br />
Strauß. Außerdem gab es eine „Lizitation“ der Arrangements. Das Klangforum<br />
Wien unter der Leitung von Sylvain Cambreling spielt jene Walzer<br />
in der Schönberg’schen Bearbeitung. Eingebettet in die süßen Melodien<br />
erklingen Ebe und anders, das Pierluigi Billone dem Posaunisten Andreas<br />
Eberle vom Klangforum gewidmet hat, D’après, in dem Clara Iannotta<br />
den Nachhall von Klängen in der Erinnerung erforscht, Archeologia del<br />
telefono, mit dem Salvatore Sciarrino die eigene Gegenwart in anderen<br />
zeitlichen Zusammenhängen betrachtet, sowie die Uraufführung einer<br />
neuen Komposition von Martino Traversa.<br />
Essen u .a., verschiedene Spielorte, www.ruhrtriennale.de<br />
FOTO: DREW KELLEY IMG ARTISTS<br />
FOTOS: FLORIAN LIEDEL; MARCO BORGGREVE; RÜDIGER SCHESTAG; MET IM KINO; SIMON PAULY; LAURENT PHILIPPE; WALTER GLÜCK; MARCO BORGGREVE; LUIS ALBERTO RODRIGUEZ; KLANGFORUM WIEN; KIRAN WEST;<br />
JUNGE KAMMERPHILHARMONIE BERLIN; LEONIE TREFFLINGER; JEANLOUIS FERNANDEZ<br />
46 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
27. bis 29. <strong>September</strong><br />
BADEN-BADEN JOHN NEUMEIER<br />
In John Neumeiers szenischer Interpretation<br />
von Christoph Willibald Glucks Oper Orphée et<br />
Eurydice tritt Orphée als Ballettchef auf. Wenn<br />
der Vorhang sich öffnet, blickt das Publikum in<br />
einen Ballettsaal. Fasziniert von Arnold Böcklins<br />
Toteninsel will Orphée das Gemälde mit seiner<br />
Frau, der Tänzerin Eurydice, choreografieren.<br />
Bereits seit vielen Jahren begleitet Neumeier der mythologische<br />
Stoff. Für seine Hamburger Inszenierung, die im Rahmen der Herbstfestspiele<br />
in Baden-Baden zu sehen ist, entwarf er das Bühnenbild, die<br />
Kostüme und das Lichtkonzept. Am Pult des Freiburger Barockorchesters<br />
und des Vokalensembles Rastatt steht Alessandro De Marchi.<br />
Orphée tanzen alternierend Dmitry Korchak und Maxim Mironov. Arianna<br />
Vendittelli verkörpert Eurydice, und diese muss auch nicht in der<br />
Unterwelt bleiben. Denn am Ende war bei Neumeier alles nur ein Traum.<br />
Baden-Baden, Festspielhaus, www.festspielhaus.de<br />
9. <strong>Oktober</strong><br />
BERLIN DIALOG DES UNTERSCHIEDLICHEN<br />
Das Lied von der Erde brachte die Sängerin Sarah<br />
van der Kemp auf eine musikalische Dialogidee.<br />
Mahler komponierte den sinfonischen Zyklus<br />
nach Gedichten aus Hans Bethges Sammlung<br />
Die chinesische Flöte. Er schuf damit eine Verbindung<br />
zwischen abendländischem Komponieren<br />
und fernöstlicher Klangwelt. Van der Kemp begeisterte<br />
die Junge Kammerphilharmonie Berlin (Foto) dafür, diesen<br />
„Dialog des Unterschiedlichen“ fortzuführen. In dem von ihnen entworfenen<br />
Projekt tritt Mahlers Werk in Dialog mit drei neuen Solokompositionen<br />
von Nathan Currier, Peter Eötvös und Toshio Hosokawa. Das<br />
Projekt begreift sich als offener Prozess, der sich mit verschiedenen Musikern<br />
und Komponisten sowie an verschiedenen Orten fortsetzen soll.<br />
Die einzige Konstante ist Das Lied von der Erde. Zu den Mitwirkenden<br />
des Auftakts gehören die Altistin van der Kemp, der Tenor Yiwei Xu,<br />
die Harfenistin Marie-Pierre Langlamet, die Geigerin Nurit Stark und<br />
der Oboist Dominik Wollenweber. Am Pult steht Aurélien Bello.<br />
Berlin, Philharmonie, 9.10., Wiesbaden, Kurhaus, 12.10., www.jkp.berlin<br />
11. bis 30. <strong>September</strong><br />
DÜSSELDORF FESTIVAL!<br />
Ein plötzlich auftauchendes Fragment des<br />
Gilgamesch-Epos inspirierte Akram Khan zu<br />
seinem Tanzstück Outwitting the Devil (Den<br />
Teufel überlisten). Schmuggler boten 2011 dem<br />
archäologischen Museum von Sulaimaniyya eine<br />
Tontafel an, auf der Wissenschaftler 20 bislang<br />
unbekannte Zeilen jener ältesten festgehaltenen<br />
Dichtung der Menschheit fanden. Khan richtet in seiner Choreografie<br />
den Blick von heute auf den Fund. Er zeigt Menschen, die zwischen<br />
den Scherben ihrer Überlieferung leben, gefallenen Götterbildern<br />
und zerbröckelnden Tontafeln, auf denen die alten Weisheiten nicht<br />
mehr zu entziffern sind. Verzweifelt versuchen sie, die Lücke in ihrem<br />
Gedächtnis zu schließen. Zeitgenössische Tanzformen verbindet Khan<br />
mit dem nordindischen Kathak. Dieser Tanz, der stampfend in den<br />
Boden hineingetanzt wird und sich durch ausgefeilte Fußarbeit auszeichnet,<br />
ist eng mit dem Mythos verbunden. Er entwickelte sich ab dem<br />
13. Jahrhundert in Zusammenhang mit der sogenannten Bhakti-Bewegung,<br />
die Erlösung durch Liebe propagierte und das Ideal der Gewaltlosigkeit<br />
im Hinduismus erneuerte. Khan zeigt sein Stück mit seiner<br />
Compagnie beim düsseldorf festival!, das Künstlern eine Bühne bietet,<br />
die Grenzlinien zwischen den Kunstformen erkunden. Zu den Gästen<br />
gehören auch Mourad Merzouki und seine Compagnie Käfig mit Vertikal<br />
(siehe S. 6).<br />
Düsseldorf, verschiedene Spielorte, www.duesseldorf-festival.de<br />
Ioan-Holender-Kolumne<br />
DAS KÜNSTLERISCHE<br />
GEWISSEN<br />
Fragt man Direktoren der weltberühmtesten Opernhäuser,<br />
wieso der eine oder andere Sänger für eine Rolle<br />
engagiert wurde, bekommt man meistens die Antwort,<br />
weil der Betreffende ein „Ticketseller“ oder „Kartenverkäufer“<br />
sei. Ob gut, ob schlecht, ob für die entsprechende Rolle<br />
geeignet oder nicht, ob das gespielte Werk von Relevanz ist<br />
oder nicht, spielt keine Rolle. Der Engagierte ist beim breiten<br />
Publikum bekannt, und dieses kauft Karten, um ihn zu hören.<br />
Es ist irrelevant, ob es sich um einen – derzeit Baritonpartien<br />
singenden – alten, früheren Tenor handelt oder um eine<br />
kühle, schöne, oft abgebildete Mezzosopranistin oder aber<br />
um eine neuerdings mit einem durchschnittlich singenden<br />
Tenor vermählte hervorragende Sopranistin; diese Sänger<br />
kennt man, daher engagiert „man“ sie.<br />
Dieser alles dominierende Kartenverkaufsrausch, der<br />
natürlich keinerlei künstlerische Qualitätsargumente kennt,<br />
geht in seiner Vernichtung – vor allem was das künstlerische<br />
Gewissen betrifft – aber noch weiter. Die wenigen „Ticketseller“<br />
bestimmen auch die Werke, in denen sie bereit sind<br />
aufzutreten, und es sollen nach Möglichkeit auch immer und<br />
überall dieselben sein. Wenn ein schöner, romantisch aussehender<br />
Tenor einmal eine dankbare Rolle in einer sogenannten<br />
italienischen Schnulzenoper singen will, setzen<br />
bedeutende Opernhäuser das Werk sofort auf den Spielplan,<br />
und wenn der Bariton gewordene alte Tenor noch eine<br />
entsprechende, ihm zumutbare Gesangspartie findet, wird<br />
das Werk sogar bei den berühmtesten Festspielen weltweit,<br />
natürlich konzertant, aufgeführt.<br />
Konzertant, was man heute halbszenisch nennt, ist<br />
überhaupt die beliebteste Darstellungsform von Bühnenwerken<br />
geworden. Man spart damit viele Kosten, überbeansprucht<br />
das Auditorium nicht mit Inszenierungen, und vor<br />
allem – sehr wichtig – benötigen jene, um derentwillen man<br />
das unwichtige Werk aufführt, keine lange Probenzeit. Während<br />
die wenigen auserkorenen „Ticketseller“ immer höhere<br />
und im Vergleich zu allen anderen und angesichts ihrer eigenen<br />
Leistung unverschämte Honorare aus Steuergeldern<br />
kassieren, die für Theaterbudgets vorgesehen sind, lässt die<br />
gleiche Kulturpolitik, die diese Vorgangsweise akzeptiert, die<br />
kleinen und mittleren Stadttheater, in welchen die zukünftigen<br />
Sängergenerationen entstehen, aushungern.<br />
„kulTOUR mit Holender“ auf<br />
ServusTV Deutschland:<br />
5. und 8.9. Momo oder Was ist Kinderoper?<br />
13. und 15.9. Oman – Im Lande des Musik-Sultans<br />
20. und 22.9. Tiflis – Kulturzentrum am Kaukasus<br />
27. und 29.9. Tokio – Kultur in Fernost<br />
47
E R L E B E N<br />
Die Zugangstreppe ins asymmetrisch geformte Foyer des Festspielhauses,<br />
dessen eigenwillige Geometrie aus der Landschaft entwickelt wurde<br />
FOTOS: TIROLER FESTSPIELE ERL<br />
EINE NEUE GENERATION<br />
BEGNADETER MUSIKER<br />
Mit romantischer Musik an der Schwelle zur Moderne feiern<br />
die Tiroler Festspiele Erl Erntedank.<br />
VON RUTH RENÉE REIF<br />
Auf eine reiche künstlerische Ernte können die Tiroler Festspiele<br />
Erl nach einem Festspielsommer mit anregenden Uraufführungen,<br />
Wiederentdeckungen und Neuinszenierungen zurückblicken. Mit<br />
einem Wochenende voller Musik feiern sie Erntedank. Das einstimmende<br />
Programm des ersten Abends lässt freudige Dankbarkeit<br />
und melancholische Stimmung über das Ende des Sommers<br />
anklingen. Valentin Uryupin steht am Pult des Festspielorchesters.<br />
Der aus Russland stammende Dirigent war zunächst weltweit als<br />
gefeierter Klarinettist zu erleben, ehe er das Dirigentenpult für sich<br />
entdeckte. 2017 gewann er den Dirigentenwettbewerb Sir Georg<br />
Solti, und seither dirigiert er in aller Welt. Nach Erl kommt er mit<br />
Anatoli Ljadows stimmungsvollem Märchenbild Der verzauberte<br />
See und Jean Sibelius’ dunkel schwermütiger Erster Sinfonie. Die<br />
glutvollen Melodien von Sibelius’ Violinkonzert bringt Timothy<br />
Chooi, Preisträger des Joseph Joachim Violinwettbewerbs, aus<br />
Kanada zum Klingen.<br />
Mit vier Konzerten an einem Tag stellen die Festspiele ein<br />
neues Format vor, in dessen Rahmen jährlich ein Komponist porträtiert<br />
wird. In diesem Jahr ist es Frédéric Chopin. „Von Polen in<br />
die Pariser Salons“ beleuchtet einen bedeutsamen Lebensabschnitt<br />
des Komponisten, in dem dieser 20-jährig nach Paris aufbrach, um<br />
seine Kompositionen zu verbreiten, und sich krank vor Heimweh<br />
als Emigrant wiederfand. Chopins Instrument ist das Klavier, und<br />
seine Kompositionen versprechen Sternstunden für jeden Pianisten.<br />
Der Samstag bietet Gelegenheit, eine neue Generation begnadeter<br />
Pianisten kennenzulernen. Mit seinen 12 Etüden op. 25, dem ehrgeizigsten<br />
Werk seiner frühen Pariser Jahre, fand Chopin Eingang<br />
in die Szene der Klavier-Titanen und eroberte die Pariser Salons.<br />
48 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
Mariam Batsashvili<br />
Claire Huangci<br />
Anna Gabler<br />
Valentin Uryupin<br />
FOTOS: MILENA SCHLOESSER; JOSEF FISCHNALLER; EVGENY EVTYUKHOV; GREGOR HOHENBERG<br />
„Ich bin in der besten Gesellschaft eingeführt, sitze zwischen Botschaftern,<br />
Fürsten, Ministern“, schrieb er 1833 an seinen Jugendfreund.<br />
Mariusz Kłubczuk, der an der Frédéric-Chopin-Musikuniversität<br />
in Warschau studierte, als Solorepetitor an der Frankfurter<br />
Oper tätig ist und als Solist, Liedbegleiter und Kammermusikpartner<br />
durch Europa tourt, widmet sich Chopins Etüden-Zyklus.<br />
Chopin brachte es in Paris zu Ruhm und Reichtum. Aber die<br />
Sehnsucht nach der polnischen Heimat und die Tuberkulose vollzogen<br />
ihr schmerzvolles Zerstörungswerk an ihm. Nach der Niederschlagung<br />
des Warschauer Aufstands und der Russifizierung des<br />
sogenannten Kongress-Polens unter Zar Nikolaus I. sah er sich vor<br />
die Entscheidung gestellt, ob er sich als loyaler Untertan des Zaren<br />
erweisen und in der Botschaft des Zaren eine Verlängerung seines<br />
polnischen Passes beantragen solle. Sein Vater beschwor ihn, dies<br />
zu tun. „Versäume das nicht, ich bitte dich“, schrieb er 1834 in einem<br />
Brief. Er wünsche nicht, dass sein Sohn „zu der Zahl der Flüchtlinge“<br />
gerechnet werde. Chopin aber hatte bereits anders entschieden.<br />
Damit erhielt er den Status eines Emigranten, und der Rückweg<br />
in die polnische Heimat war ihm verwehrt. Mariam Batsashvili aus<br />
Georgien, die 2014 den Franz Liszt Klavierwettbewerb in Utrecht<br />
gewann und seit 2017/18 BBC New Generation Artist ist, zeigt ihre<br />
Meisterschaft mit der Grande Polonaise brillante op. 22. Ihre ausgedehnten,<br />
rasenden Läufe und drängenden Tanzrhythmen ließen<br />
diese Polonaise zu den anspruchsvollsten Klavierwerken Chopins<br />
werden. Ebenfalls auf dem Programm hat Batsashvili Sechs polnische<br />
Lieder op. 24, arrangiert von Franz Liszt, die<br />
Chopin, inspiriert von volksliedhaften Motiven,<br />
noch in Warschau komponierte.<br />
1842 trat Chopin in eine neue Schaffensphase<br />
ein, die gekennzeichnet war von einer besonderen<br />
ästhetischen Aura und Ausdruckskraft. Mélodie<br />
ERNTEDANK IN ERL<br />
4. bis 6. <strong>Oktober</strong><br />
Informationen und Kartenservice:<br />
karten@tiroler-festspiele.at<br />
www.tiroler-festspiele.at/erntedank<br />
Zhao aus der Schweiz, die bereits mit 13 Jahren ihr erstes Album<br />
dem Werk Chopins widmete, wendet sich den Kompositionen dieses<br />
stilistischen Übergangs zu. Sie spielt das Scherzo Nr. 2 op. 31 und<br />
die Ballade Nr. 3 op. 47, die eine Vielfalt an glanzvollen Farben und<br />
Gefühlen aufweisen, sowie die Ballade Nr. 4 op. 52 und die Sonate<br />
Nr. 3 op. 58, die gekennzeichnet sind von jener neuen Tiefgründigkeit<br />
und Erhabenheit. Musik zu spielen, an die man sich erinnere,<br />
weil „sie so berührend war“, ist das Anliegen von Claire Huangci.<br />
Die Pianistin aus den USA, die schon als Kind mit außergewöhnlicher<br />
Virtuosität beeindruckte und 2011 als jüngste Teilnehmerin<br />
den zweiten Preis beim ARD-Musikwettbewerb gewann, legte 2017<br />
eine Einspielung mit Chopins Nocturnes vor. Neben den Drei<br />
Nocturnes op. 9 bringt sie nach Erl auch die 24 Préludes op. 28, die<br />
Chopin auf Mallorca komponierte. Verbunden durch ein Grundmotiv,<br />
stellen sie mit ihrem breitgefächerten Spektrum an Gefühlen<br />
und psychischen Zuständen musikalische Erkundungen der<br />
menschlichen Seele dar.<br />
Zum Ausklang des Erntedankfests singt in einer sonntäglichen<br />
Matinee, begleitet vom Festspielorchester unter Lothar Koenigs, die<br />
Sopranistin Anna Gabler Ausschnitte aus Richard Strauss’ letzter<br />
Oper Capriccio. Über die weitgeschwungenen Melodien der Orchesterlieder<br />
von Joseph Marx schlägt das Programm einen Bogen zu<br />
Arnold Schönbergs Pelleas und Melisande. Richard Strauss hatte<br />
Schönberg dazu angeregt, eine sinfonische Dichtung zu komponieren.<br />
Schönberg verwendet das gewaltige Orchester der Spätromantik.<br />
Er steht noch unter dem Einfluss Richard Wagners.<br />
Doch kündigen sich in ihm bereits die<br />
Moderne und der Weg in die Neue Musik des 20.<br />
Jahrhunderts an, und der Kreislauf setzt sich fort.<br />
Auf die Ernte folgt die Saat, die wiederum neue<br />
Frucht hervorbringt.<br />
■
E R L E B E N<br />
INSPIRIERENDE<br />
OFFENHEIT<br />
Chefdirigent Christoph Koncz lenkt gemeinsam mit Isabelle van Keulen als künstlerischer<br />
Leiterin die musikalischen Geschicke der Deutschen Kammerakademie Neuss<br />
am Rhein. Orchestermanager Martin Jakubeit verspricht eine ereignisreiche Saison.<br />
VON RUTH RENÉE REIF<br />
Christoph Koncz<br />
Deutsche Kammerakademie Neuss<br />
Isabelle van Keulen<br />
Mit einer besonderen Uraufführung eröffnet die Deutsche Kammerakademie<br />
Neuss am Rhein ihre neue Saison. Der mehrfach preisgekrönte<br />
Komponist Bernd Franke schreibt ARKA, drei Rituale für<br />
Pipa, Oboe, Streicher, Pauke und Schlagzeug. Seit den <strong>19</strong>90er-Jahren<br />
unternimmt Franke ausgedehnte Reisen durch Südostasien und sammelt<br />
Eindrücke alternativer Musizierstrukturen, die er in seinen<br />
Werken zur Anwendung bringt. Die eigentümliche Klangfarbe der<br />
chinesischen Laute Pipa, die über einen kräftigen, mitunter scharfen<br />
Ton verfügt, vermittelt in Verbindung mit den Streichern ein außergewöhnliches<br />
Klangerlebnis. Für solche sorgt desgleichen die Geigerin<br />
Isabelle van Keulen, die vor zwei Jahren als Artist in Residence<br />
die künstlerische Leitung der Kammerakademie übernahm und nach<br />
der Bestätigung in ihrem Amt auch während der nächsten drei Jahre<br />
zumeist die Streicherkonzerte leiten und jenen wunderbar transparenten<br />
Streicherklang pflegen wird, dem das Orchester sein hervorragendes<br />
Renommee verdankt und der es zu einer der führenden<br />
Kammermusikformationen werden ließ. Umrahmt wird van Keulens<br />
Eröffnungsabend vom Einleitungssextett zur Oper Capriccio und der<br />
Streicherstudie Metamorphosen von Richard Strauss.<br />
Durch die Deutsche Kammerakademie fördert die Stadt Neuss<br />
junge hochbegabte Musiker, die kurz vor dem Abschluss ihres<br />
Musikstudiums stehen. Sie musizieren gemeinsam mit erfahrenen<br />
Kollegen, und dieses Zusammenwirken mit immer neu hinzukommenden<br />
jungen Musikern bringt Anregungen, schafft inspirierende<br />
Offenheit und Freimut sowie die Bereitschaft,<br />
sich mit Begeisterung neuen Kompositionen<br />
zuzuwenden. Im Laufe ihres über 40-jährigen<br />
Bestehens hat die Kammerakademie eine Reihe<br />
von vergessenen Werken wieder zum Klingen<br />
gebracht sowie zahlreiche neue Kompositionen<br />
DEUTSCHE KAMMERAKADEMIE<br />
NEUSS AM RHEIN<br />
Saison 20<strong>19</strong>/2020<br />
Informationen und Kartenservice:<br />
www.deutsche-kammerkadademie.de<br />
uraufgeführt. Das breitgefächerte Repertoire erstreckt sich auf den<br />
Podien der Welt und im Tonstudio vom Barock bis zur Avantgarde.<br />
Ab dieser Saison hat das Orchester nun auch einen neuen Chefdirigenten.<br />
Christoph Koncz, der Stimmführer der zweiten Geigen<br />
bei den Wiener Philharmonikern, wurde mit diesen Aufgaben<br />
betraut. Er übernimmt die großen sinfonischen Projekte, da runter<br />
die sommerliche Klassiknacht im Rosengarten und das Neujahrskonzert,<br />
das den Neusser Auftakt zum 250. Geburtstag von Ludwig<br />
van Beethoven bildet.<br />
Darüber hinaus sorgen international tätige Dirigenten für<br />
musikalische Abwechslung. So kehrt Lavard Skou Larsen, der langjährige<br />
Chefdirigent des Orchesters, an seine einstige Wirkungsstätte<br />
zurück. Im Gepäck hat er Werke von Mozart, Chopin, Guillaume<br />
Lekeu sowie den Zyklus Die Torten von Hukváldy, Diego<br />
Contis Hommage an den Geburtsort von Leoš Janáček. Der Cellist<br />
Marc Coppey leitet ein klassisch-romantisches Gipfeltreffen mit<br />
Étienne-Nicolas Méhuls Ouvertüre zu seiner Oper Die Amazonen<br />
oder die Gründung Thebens sowie Werken von Beethoven und Schumann.<br />
Isabelle van Keulen huldigt mit der Pianistin Ulrike Payer,<br />
dem Bandoneonspieler Christian Gerber und dem Kontrabassisten<br />
Rüdiger Ludwig der Tango-Leidenschaft. Und zum Abschluss der<br />
Saison gibt der Geiger, Dirigent und Komponist Henning Kraggerud<br />
mit Musik aus dem Norden ein Gastspiel. Auf seinem Programm<br />
stehen Werke von Kurt Atterberg, Johan Halvorsen und Edvard<br />
Grieg sowie eine eigene Komposition. Mit ihr<br />
erinnert er an den Dichter Zacharias Topelius<br />
und setzt sich mit Ragnarök auseinander, jener<br />
Sage aus der nordischen Mythologie, die vom<br />
Untergang der alten Welt erzählt und vom Auferstehen<br />
einer neuen kündet.<br />
■<br />
FOTO: DEUTSCHE KAMMERKAKADEMIE NEUSS; NIKOLAJ LUND; BENJAMIN MORRISON<br />
50 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
SCHWERPUNKT<br />
KLAVIER!<br />
Nicht nur eine Frage des Geschmacks: die Giganten Steinway, Bösendorfer und Bechstein (Seite 54)<br />
Martha Argerich und Sophie Pacini sind mehr als nur Kolleginnen (Seite 60)<br />
Jazzpianist Ralf Schmid und sein ungewöhnliches Projekt zwischen zwei Flügeln: „Pyanook“ (Seite 66)<br />
Die 88-Tasten-Tabelle<br />
VON STEFAN SELL<br />
Rohe Kräfte Rekordverdächtig Kurios<br />
Klavier<br />
Zerhacken, verbrennen, in Milch<br />
tränken, „es gibt viele verschiedene<br />
Arten ein Klavier zu<br />
zerstören“, sagt die Künstlerin<br />
Andrea Büttner mit ihrer Videoinstallation<br />
Piano Destructions<br />
und hinterfragt Geschlechterrollen.<br />
Man sieht simultan Männer,<br />
die Klaviere kaputt machen, und<br />
Frauen, die Klaviere spielen.<br />
Der Sphinx-Flügel<br />
aus dem<br />
Hause Bechstein<br />
gilt mit einem<br />
derzeitigen Kaufpreis<br />
von einer<br />
Million Euro als der wohl teuerste<br />
Flügel der Welt. Sphinxleuchter<br />
aus 24-karätigem Gold<br />
flankieren die Tasten des teuren<br />
Klangkastens aus europäischem<br />
Tonholz im Mahagonikleid.<br />
Der „Quattrochord-Super-<br />
Flügel“ aus der Werkstatt<br />
des Klavierbauers August<br />
Förster hat die Besonderheit,<br />
mit einer Taste statt drei, vier<br />
Saiten anschlagen zu können.<br />
Kurios, dass die Nazis in ihrem<br />
Größenwahn dachten, mit<br />
diesem 700 Kilogramm schweren<br />
Instrument Steinway ausstechen<br />
zu können.<br />
Klavierspiel<br />
Clara Wieck erlebte in Wien 1838<br />
Liszt im Konzert. Drei Flügel<br />
hat der Virtuose verschlissen:<br />
„Alle drei zerschlagen. Aber alles<br />
genial.“ Heine: „... daß Franz Liszt<br />
kein stiller Klavierspieler für<br />
ruhige Staatsbürger und gemüthliche<br />
Schlafmützen seyn kann,<br />
das versteht sich von selbst.“<br />
Ist der Ungar Peter Bence mit<br />
765 Anschlägen pro Minute<br />
der schnellste? Oder der Kroate<br />
Maksim Mrvica mit 16 Tönen pro<br />
Sekunde, also 960 Anschlägen pro<br />
Minute? Oder der ukrainische<br />
Jazzpianist Lubomir Melnik, der<br />
<strong>19</strong>,5 Töne pro Sekunde spielt? Das<br />
wären, wenn er nicht schummelt<br />
1.150 Anschläge pro Minute.<br />
Extravagant und<br />
luxuriös – der schrillste<br />
Klavierspieler war<br />
Liberace aka „GlitterMan“.<br />
Die Hände<br />
voller Ringe und unter<br />
Chinchilla-Pelz diamantglitzernd<br />
gekleidet, tobte er in Las<br />
Vegas über die Tasten. Seine<br />
Geschichte kam 2013 unter dem<br />
deutschen Titel „Zu viel des Guten<br />
ist wundervoll“ in die Kinos.<br />
Klavierbau<br />
Was waren das für Kräfte, als am<br />
30. Dezember 2010 im polnischen<br />
Szymbark ein Flügel auf die<br />
Bühne gewuchtet wurde, der fast<br />
zwei Tonnen wog. Der polnische<br />
Klavierbauer Daniel Czapiewski<br />
hat mit dem Stolëmowi Klawér<br />
das schwerste Klavier der Welt<br />
gebaut. Ob ihm noch Kraft blieb,<br />
als es fertig war?<br />
Die größten Klaviere der Welt<br />
baut David Klavins. War sein<br />
Modell 370 mit 3,70 Meter schon<br />
hoch, hat er das mit seinem<br />
Modell 450i nochmals um 2,30<br />
Meter in die Höhe getrieben.<br />
Zu hören und sehen ist es in<br />
Lettland, im Konzerthaus<br />
von Ventspils. Um es spielen<br />
zu können, muss man auf<br />
eine Treppe steigen.<br />
Kurios ist, wenn ein Flügel aus Eis<br />
gebaut ist. Wie spielt man den? Mit<br />
Handschuhen wie Glenn Gould?<br />
Was macht man, wenn er unter<br />
schmachtenden Klängen einfach<br />
so dahinschmilzt? In der chinesischen<br />
Stadt Harbin in<br />
der Provinz Heilongjiang<br />
war er bei -40<br />
Grad 2004 auf dem<br />
Eisskulpturenfestival<br />
zu sehen.<br />
FOTOS: ALLAN WARREN; BECHSTEIN; AGENTUR<br />
51
K L A V I E R<br />
52 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
MIT 15 PIANOS STARTETE<br />
„PLAY ME, I’M YOURS“<br />
2007 IN BIRMINGHAM.<br />
BIS HEUTE SIND ES SCHON<br />
1.900 STRASSENKLAVIERE<br />
IN 40 LÄNDERN.<br />
53<br />
FOTO: LUKE JERRAM
K L A V I E R<br />
Besinnung auf<br />
Individualität<br />
B<br />
Klavierhersteller bieten wieder breitere Klangvielfalt.<br />
Steinway gilt nicht mehr als alleiniger Maßstab.<br />
C. Bechstein und Bösendorfer arbeiten<br />
an der Umsetzung eines eigenen Klangbildes.<br />
etritt man den neuen Showroom von<br />
Steinway & Sons am Maximiliansplatz in<br />
München, sticht einem sofort ein roter Flügel ins Auge. Legen die<br />
Klaviere allmählich das Ehrfurcht gebietende Schwarz ab, das seit<br />
den <strong>19</strong>60er-Jahren ihr Aussehen bestimmt? Keineswegs, es handelt<br />
sich um einen Ferrari-Flügel. Er trägt das Rot des italienischen<br />
Sportwagenherstellers.<br />
Steinway verstand es von Anfang an, ein offensives Marketing<br />
zu betreiben, der Marke ein luxuriöses, fortschrittliches Image zu<br />
verleihen und sie zu einem Mythos werden zu lassen. William Steinway,<br />
der Sohn des Firmengründers, legte den Grundstein dafür.<br />
1872 finanzierte er eine Konzertreise<br />
des russischen Pianisten Anton<br />
Rubinstein und zahlte ihm für 215<br />
Auftritte 80.000 Dollar. Die Tournee<br />
erregte ungeheures Aufsehen, und<br />
Steinway wurde dabei im gleichen<br />
Atemzug wie Anton Rubinstein<br />
genannt.<br />
Heute ist Lang Lang, dem sogar<br />
ein Flügel gewidmet ist, der große Steinway-Künstler, gefolgt von<br />
Yuja Wang. Und dank des digitalen Systems Spirio kann man Lang<br />
Lang nicht nur im Konzertsaal erleben, sondern auch ins häusliche<br />
Wohnzimmer holen. Man sieht ihn zwar nicht auf der Klavierbank<br />
sitzen. Aber man kann beobachten, wie die Tasten von seinen<br />
unsichtbaren Händen angeschlagen werden, und man hört und<br />
fühlt sein großartiges Spiel.<br />
Spirio sei die Innovation seit 70 Jahren, unterstreicht man in<br />
der Marketingabteilung von Steinway in Hamburg. Fünf Jahre habe<br />
ein technisches Team in New York an der Entwicklung des Systems<br />
gearbeitet. Die Markteinführung sei sodann in den USA, Singapur<br />
und Großbritannien getestet worden. 2016 kam es in Deutschland<br />
auf den Markt. Vom Erfolg sei man überwältigt gewesen. Jeder vierte<br />
VON RUTH RENÉE REIF<br />
DER KLARE, BRILLANTE KLANG<br />
MIT DEM GLOCKIGEN DISKANT<br />
WURDE ZUM MASSSTAB<br />
verkaufte Flügel sei bereits ein Spirio, und die Pianisten stünden<br />
Schlange, um sich aufnehmen zu lassen. Über 3.500 Titel umfasse<br />
die Bibliothek bereits, darunter auch historische Aufnahmen. Selbst<br />
Vladimir Horowitz könne man sich ins Wohnzimmer holen. Im<br />
Kaufpreis eines Spirio-Flügels inbegriffen ist ein monatliches Update<br />
auf dem mitgelieferten Apple iPad, von dem aus das System mittels<br />
einer App gesteuert wird, über die gesamte Lebensdauer des Instruments<br />
hinweg. Mittlerweile steht die nächste Generation vor der<br />
Markteinführung. Spirio | r soll im Herbst 2020 auf den deutschen<br />
Markt kommen. Damit wird es möglich, auch das eigene Spiel aufzunehmen,<br />
zu bearbeiten und wiederzugeben.<br />
Steinway & Sons war nicht der<br />
erste Klavierhersteller, der einen Flügel<br />
mit Selbstspielmechanik herausbrachte.<br />
Aber es gelang dem Unternehmen,<br />
damit den Markt zu öffnen<br />
und neue Käuferschichten zu gewinnen.<br />
Im Blick hatte es vor allem<br />
China, dessen Oberschicht sich gerne<br />
mit westlichen Prestigeobjekten<br />
umgibt. Zu spüren aber war der Schub auch auf dem heimischen<br />
Markt, und er kam den Mitbewerbern ebenfalls zugute.<br />
Der Markt für Klaviere schrumpft. Davon wissen alle Händler<br />
zu berichten. In den <strong>19</strong>60er-Jahren hätte man mehr Klaviere verkaufen<br />
können, als es gegeben habe. Ende der <strong>19</strong>80er-Jahre erfolgte<br />
der Einbruch. Nicht wenige Hersteller blieben auf der Strecke, manche<br />
hielten sich mit Notverkäufen über Wasser oder wurden selbst<br />
verkauft. Auch Steinway & Sons ging durch mehrere Hände. Aber<br />
es behauptete seine nach dem Zweiten Weltkrieg eroberte Marktführerschaft<br />
im Premiumbereich und seine Dominanz auf den<br />
Podien. Der klare, brillante Klang mit dem glockigen Diskant, der<br />
einen Steinway-Flügel auszeichnet, wurde als zeitgemäß empfunden<br />
und zum Maßstab.<br />
54 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
Seit der Wende zum 21. Jahrhundert<br />
taucht jedoch wieder mehr<br />
Vielfalt auf. Die Zeiten, da alle so<br />
klingen wollten wie ein Steinway,<br />
scheinen vorüber. Die Marken haben<br />
sich emanzipiert und besinnen sich<br />
auf ihre Individualität und jenes<br />
Klangbild, auf dem ihr Ansehen<br />
gründet. C. Bechstein und Bösendorfer,<br />
die mit Steinway einst die großen<br />
Drei bildeten, streben danach, diese<br />
Stellung zurückzuerobern.<br />
Gearbeitet wird am Klang, seinen<br />
Farben und seinem Volumen.<br />
Die Probleme, mit denen sich Sänger<br />
herumschlagen, weil die Orchester<br />
immer lauter und brillanter klingen<br />
wollen, treffen auch die Pianisten.<br />
Insbesondere beim romantischen<br />
Repertoire, das die Programme mehr<br />
denn je dominiert, brauchen sie<br />
einen Flügel, dessen Klang sich<br />
gegenüber dem Orchester behaupten<br />
und von den übrigen Instrumenten<br />
abheben kann. Einiges tut sich daher<br />
im Klavierbau. Die Fertigungstiefe<br />
wird gesteigert. Produktionsteile, die<br />
bisher zugekauft wurden, stellt man<br />
wieder selbst her. C. Bechstein fertigt seit 2015 eigene Hammerköpfe,<br />
um seine Vorstellung eines transparenten Klangs mit großem Farbenreichtum<br />
vom feinsten Pianissimo bis zum stärksten Fortissimo<br />
verwirklichen zu können.<br />
Auf die Frage, wer einen Bechstein kaufe, kommt bei Piano<br />
Fischer, dem C. Bechstein Centrum München, eine eindeutige Antwort:<br />
wertkonservative Familien, die das europäische Klangbild<br />
schätzten. Musikliebhaber, die selbst spielen, wissen den warmen,<br />
obertonreichen, singenden Klang und die leicht gängige Klaviatur<br />
zu würdigen. Sie sind die Zielgruppe des Unternehmens, das 1853<br />
zur Zeit der Industrialisierung und des aufstrebenden Bürgertums<br />
in Berlin gegründet wurde und der größte europäische Klavierhersteller<br />
ist. „Unsere Kunden spielen selbst“, betont man nicht ohne<br />
Stolz. Gleichzeitig habe sich der Verkauf von Instrumenten an Hochschulen<br />
und Konzerthäuser gesteigert, wie der Pressevertreter des<br />
Unternehmens hervorhebt. Im Mozarteum, dem Royal College of<br />
Music London, dem Brucknerhaus in Linz, dem Konzerthaus Berlin<br />
und vielen anderen wichtigen Institutionen stünden heute wieder<br />
Bechstein-Flügel. Auch Pianisten wie Kit Armstrong, Saleem Ashkar<br />
oder Abdel Rahman El Bacha konzertierten regelmäßig auf<br />
C.-Bechstein-Konzertflügeln.<br />
Die allmählich einziehende Abwechslung an Marken in Musikhochschulen<br />
begrüßt man auch bei Klavier Hirsch, dem Fachgeschäft<br />
für Bösendorfer in München. Es sei wichtig für die Zukunft,<br />
den Studierenden unterschiedliche Klangerfahrungen zu vermitteln.<br />
Für den Sprung auf die internationalen Podien konstruierte Bösendorfer<br />
sogar einen neuen Konzertflügel. Gewiss werde das Flaggschiff<br />
der Marke, der legendäre Imperial mit seiner Klaviatur von<br />
acht vollen Oktaven, weiterhin gebaut. Doch Bösendorfer musste<br />
SELBST VLADIMIR HOROWITZ<br />
KÖNNTE MAN SICH<br />
INS WOHNZIMMER HOLEN<br />
sich ebenfalls der Forderung nach<br />
größerem Volumen stellen.<br />
Nachdem der 1828 gegründete<br />
und damit am längsten bestehende<br />
Klavierhersteller im Verlauf der zweiten<br />
Hälfte des 20. Jahrhunderts in<br />
wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten<br />
und mehrmals verkauft worden<br />
war, hatte ihn 2007 der japanische<br />
Instrumentenhersteller Yamaha<br />
übernommen. 2015, als Bösendorfer<br />
im niederösterreichischen Wiener<br />
Neustadt erstmals wieder Gewinne<br />
vermelden konnte, stellte er den Konzertflügel<br />
280VC vor. Die Buchstaben<br />
„VC“ stehen für „Vienna Concert“<br />
und verweisen auf den warmen, weichen<br />
Bösendorfer-Klang, der sich an<br />
den Streichern der Wiener Philharmoniker<br />
orientiert und dem der Flügel,<br />
ungeachtet seiner technischen<br />
Neuerungen und der zusätzlichen<br />
klanglichen Brillanz, treu bleiben<br />
sollte.<br />
Der Flügel VC ist das Ergebnis<br />
einer Symbiose alter Handwerkskunst<br />
und computergestützter Konstruktions-<br />
und Fertigungstechnik.<br />
Weiterentwickelt wurde die komplette akustische Anlage, wozu bei<br />
Bösendorfer auch das Gehäuse gehört. Die gesamte Kastenwand<br />
sowie die sogenannte Raste, die unten im Flügelgehäuse als Auflage<br />
für den Resonanzboden und den Gussrahmen dient, wird bei Bösendorfer<br />
aus Klangholz, das heißt Fichte, gefertigt. Die Seitenwände<br />
können daher nicht in scharfer Rundung gebogen werden, sondern<br />
weisen nach alter Bauart eine Ecke auf. Das Hauptaugenmerk des<br />
Konstrukteurs lag auf dem Resonanzboden, seinen Rippen und vor<br />
allem seiner Krone, jener kleinen Kuppel an der Oberseite, die sich<br />
sanft in Richtung der Seiten wölbt.<br />
András Schiff präsentierte den Flügel 280VC am 3. Juni 2018<br />
im Wiener Konzerthaus. Er bekam eine Sonderanfertigung in Pyramidenmahagoni.<br />
Sein Wunsch war eine eigene Konzeption, die an<br />
einen alten Hammerflügel des 18. Jahrhunderts erinnert, mit deutlich<br />
unterschiedenen Registern: Bass, Mitte und Diskant. So habe<br />
die Wiener Klassik geklungen, erläutert er in einem Video. Haydn,<br />
Mozart und Beethoven hätten in diesem Sinne komponiert.<br />
Auf dem Flügel VC kann man sich zu Hause sogar ein Konzert<br />
von Rachmaninow oder Rubinstein geben lassen. Denn der Flügel<br />
ist mit der Reproduktionstechnik Disklavier Enspire ausgestattet.<br />
Bösendorfer begann bereits in den <strong>19</strong>80er-Jahren, mit Sensortechnikern<br />
zu experimentieren, um das Spiel anschlagsgetreu aufnehmen<br />
und wiedergeben zu können. 2005 stellte er das System CEUS<br />
vor. Nach der Übernahme durch Yamaha erhielt er Zugang zu dessen<br />
Reproduktionssystem Disklavier Enspire und damit einer ausgereiften<br />
Technik. 2017 kam die erste Bösendorfer Disklavier Enspire<br />
Edition heraus. Sie ermöglicht auch die Aufnahme und Wiedergabe<br />
des eigenen Spiels. Damit werde „Ihr Spiel so unsterblich wie die<br />
Kompositionen großer Meister“, verspricht Bösendorfer. n<br />
55
K L A V I E R<br />
AUFWENDIG UND<br />
MASSGEFLÜGELT<br />
Geht nicht, gibt’s nicht: ungewöhnliche Kundenwünsche und<br />
Sondereditionen im Hause Steinway<br />
VON SINA KLEINEDLER<br />
Ganz rockig ist der „Sunburst“,<br />
in derselben Lackierung der<br />
Gitarren von Jimi Hendrix<br />
oder Bob Dylan<br />
Steinway & Sons ist<br />
ein Unternehmen<br />
mit über 160<br />
Jahren Tradition.<br />
1853 gründete<br />
Henry E. Steinway mit<br />
seinen Söhnen die<br />
erste Manufaktur in<br />
New York. Ihr Grundsatz? „To<br />
build the best piano possible.“<br />
Über 120 Patente meldete Steinway<br />
nach und nach an und revolutionierte<br />
so den modernen<br />
Klavierbau.<br />
Heute finden sich Flügel<br />
von Steinway & Sons auf fast<br />
allen bedeutenden Bühnen der<br />
Welt. Mit einem zweiten Blick kann<br />
man sogar die Herkunft des Flügels erkennen: Sind die Backenklötze<br />
(die Seitenteile der Klaviatur) eckig, so kommt er aus New<br />
York, sind sie abgerundet, ist es ein Hamburger Steinway. Aber<br />
was macht einen „klassischen“ Steinway eigentlich aus? Sabine<br />
Höpermann, Leiterin der PR-Abteilung, fasst es so zusammen:<br />
„Von der Konstruktion her war der Steinway schon in den <strong>19</strong>30ern<br />
perfekt. Uns ist wichtig, Traditionen und Werte zu pflegen. Wir<br />
legen zum Beispiel hohen Wert auf den Einsatz qualitativ hochwertiger<br />
Materialien und setzen auf die Leidenschaft und Erfahrung<br />
unserer Fachleute.“<br />
Leidenschaft und Erfahrung sind auch gefragt, wenn Kunden<br />
kommen, für die es nicht der klassische lackschwarze Konzertflügel<br />
sein soll. Manche haben spezielle Farb- oder Holzwünsche,<br />
manche wollen aufwendige Intarsienarbeiten. Solche Flügel<br />
werden, wenn sie den Ansprüchen der Manufaktur gerecht werden,<br />
extra produziert. Laut Sabine Höpermann kommt das gar<br />
nicht mal so selten vor: „Ungewöhnliche Kundenwünsche gibt es<br />
immer wieder. Wir können alles umsetzen, wenn es die Konstruktion<br />
des Instrumentes nicht verändert. Von einem verschnörkelten<br />
Flügel in Pink mit goldenen Intarsien über Flügel in den<br />
Farben des Lieblings-Fußballclubs<br />
oder einen weißen<br />
Flügel mit rosa Deckel,<br />
rosafarbenen statt schwarzen<br />
Tasten und Schmetterlingsintarsien<br />
in Perlmutt<br />
war schon Einiges dabei …“<br />
Manche Kundenwünsche waren<br />
so aufwendig, dass das Endergebnis<br />
einem Kunstwerk glich. Aber nicht<br />
nur die Kunden haben ungewöhnliche<br />
Ideen. Steinway selbst bringt<br />
immer wieder Sondereditionen heraus.<br />
Zum Beispiel den „Elbphilharmonie“-Flügel<br />
mit berühmten Paten<br />
wie Igor Levit, Mitsuko Uchida und<br />
Daniil Trifonov. Ganz neu: der „Black<br />
Diamond“, in Kooperation mit Starpianist Lang<br />
Lang und (Möbel-)Designer Dakota Jackson, der schon häufiger<br />
an den Spezialdesigns mitgewirkt hat. Dabei wurden Diamantstrukturen<br />
und Akzente aus Metall ins Design eingearbeitet und<br />
passend zur Zahl der Klaviertasten nur 88 Stück produziert.<br />
Zum 150. Geburtstag der Firma entwarf Karl Lagerfeld einen<br />
exzentrischen Flügel, den „THE S.L.ED“ im Schlittendesign mit<br />
rotem Japanlack. Zum 165. Jubiläum wurde dann der „ONE SIX<br />
FIVE“ entwickelt, in einem ganz klassischen Design mit Mahagoni.<br />
Ganz rockig ist der „Sunburst“, in derselben Lackierung<br />
der Gitarren von Jimi Hendrix oder Bob Dylan. Passend zum<br />
Woodstock-Jahr gibt es von diesem spektakulär lackierten Flügel<br />
weltweit nur 69 Stück. Das sind nur wenige Beispiele.<br />
Wenn man Sabine Höpermann nach ihrem liebsten Design<br />
fragt, kommt die Antwort prompt: „Der ,Imagine‘-Flügel, den<br />
wir zu Ehren des 70. Geburtstags von John Lennon im Jahre 2010<br />
aufgelegt haben. Der hat mich emotional sehr berührt.“ Der weiße<br />
Flügel trägt eine kleine John-Lennon-Zeichnung auf dem Notenpult<br />
und die ersten Takte des Songs Imagine auf der Gussplatte.<br />
Und wie könnte der Steinway der Zukunft aussehen? Für Höpermann:<br />
„Nicht anders als der heutige.“<br />
n<br />
56 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
LETZTE<br />
GRENZE<br />
ZEIT<br />
Wie die Elektrizität ins<br />
Klavier einzog<br />
und eine neue<br />
Klangwelt eröffnete.<br />
VON RUTH RENÉE REIF<br />
Drei Streicher, drei Bläser, Marimba<br />
und Elektropiano – das war die<br />
originale Besetzung von Terry<br />
Rileys In C. Uraufgeführt <strong>19</strong>64 in<br />
San Francisco, wurde das Werk zur Initialzündung<br />
des musikalischen Minimalismus.<br />
Musiker wie Jon Gibson, Pauline Oliveros,<br />
Morton Subotnick und Steve Reich wirkten<br />
an der Aufführung mit. Riley hatte 53<br />
Klangmodule in C-Dur komponiert, die von<br />
den Musikern nacheinander gespielt werden<br />
sollten. Der Zeitpunkt, wann ein Spieler von<br />
einem zum nächsten Modul wechselte, blieb<br />
freigestellt. Eine immer wieder angeschlagene<br />
Klaviertaste zog sich als Puls durch die<br />
gesamte Aufführung und diente den Spielern<br />
als metrische Orientierung. Riley schuf<br />
damit ein neues meditatives Musikverständnis.<br />
Und E-Piano, Keyboard und Synthesizer<br />
gaben der musikalischen Strömung<br />
ihre Farbe.<br />
Was wäre Koyaanisqatsi ohne die der<br />
Orgel nachempfundenen, obertonreichen,<br />
stetig vorwärtstreibenden Keyboard-<br />
Klänge? Philip Glass komponierte <strong>19</strong>82 den<br />
Soundtrack zu Godfrey Reggios großartigem<br />
Filmkunstwerk und spielte ihn mit seinem<br />
Ensemble ein. Zum Instrumentarium<br />
der <strong>19</strong>68 ins Leben gerufenen Formation<br />
gehörten von Anfang an mehrere Keyboards,<br />
gespielt u.a. von Michael Riesman,<br />
dem Leiter des Ensembles, und Philip Glass.<br />
Die entscheidende Inspiration für seine<br />
musikalische Entwicklung hatte Glass<br />
Anfang der <strong>19</strong>60er-Jahre durch die Begegnung<br />
mit dem Sitar-Spieler Ravi Shankar in<br />
Paris erhalten. Aus der Beschäftigung mit<br />
der klassischen indischen Musik lernte er,<br />
musikalische Strukturen aus rhythmischen<br />
Zyklen zu gewinnen und erfuhr die meditative<br />
Versenkung in den Klang. Mit Two<br />
Pages for Keyboards erprobte er <strong>19</strong>68 einen<br />
Ablauf mit der Wiederholung einzelner<br />
Tonfolgen, denen Töne hinzugefügt oder<br />
abgezogen wurden. Im Jahr darauf entstand<br />
Music in Contrary Motion, bestehend aus<br />
zwei fließenden Gegenbewegungen und<br />
geschrieben für das mit Keyboards besetzte<br />
Philip Glass Ensemble. Wie Glass in einem<br />
Interview betonte, sei es ihm beim Einsatz<br />
von Keyboards und später auch Synthesizern<br />
nicht darum gegangen, das akustische<br />
Klavier zu ersetzen, sondern um die Schaffung<br />
eines besonderen Klangs. So wie das<br />
Klavier nicht das Cembalo ersetzt habe, so<br />
ersetze auch der Synthesizer nicht das Klavier.<br />
Es seien einfach verschiedene Instrumente,<br />
die die Wahlmöglichkeiten der<br />
Komponisten erweiterten.<br />
Eine Besonderheit an sich stellt der<br />
Komponist Conlon Nancarrow dar. In seinem<br />
mexikanischen Exil, in das ihn der<br />
McCarthyismus getrieben hatte, komponierte<br />
er 40 Jahre lang ausschließlich für<br />
Elektrisches Klavier. Er war überzeugt, dass<br />
die Zeit die letzte Grenze der Musik sei und<br />
dass er seine Vorstellungen von schnellen<br />
Tempi, vielschichtigen Metren, Tonhäufungen,<br />
Trillern, weiten Sprüngen und Glissandi<br />
durch einen menschlichen Spieler<br />
nicht verwirklichen könne. Also stanzte er<br />
Papierrollen. Mit seiner neuartigen Polyphonie<br />
verschiedener simultaner Tempi<br />
gelang es ihm, in seinen rund 50 Studies for<br />
Player Piano das Tempo als strukturbildendes<br />
Element einzusetzen. John Cage entdeckte<br />
<strong>19</strong>60 seine Musik. György Ligeti<br />
pries ihn <strong>19</strong>81 als „die größte Entdeckung<br />
seit Webern und Ives“. <strong>19</strong>97, im Jahr seines<br />
Todes, erfolgte im Rahmen der MusikTriennale<br />
Köln erstmals die Aufführung seines<br />
Gesamtwerks für Player Piano.<br />
Langfristig etablieren konnte sich<br />
allerdings erst der Synthesizer. Tristan<br />
Murail etwa, dessen Ziel es war, die elektronischen<br />
und die instrumentalen Klänge<br />
miteinander zu verflechten, experimentierte<br />
neben den Ondes Martenot, jenem<br />
elektronischen Tasteninstrument, das<br />
bereits sein Lehrer Olivier Messiaen verwendet<br />
hatte, auch mit Keyboards. Ende<br />
der <strong>19</strong>70er-Jahre aber konzentrierte er sich<br />
auf den Yamaha DX7-Synthesizer. So verschwanden<br />
E-Piano und Keyboard aus dem<br />
klassischen Konzertbetrieb. Nur vereinzelt<br />
tauchen sie auf, wenn es darum geht, einen<br />
überraschenden Klang zu kreieren. Moritz<br />
Eggert zum Beispiel, der von seinem Lehrer<br />
Wilhelm Killmayer eine Vorliebe für das<br />
Bizarre übernahm, bringt das Keyboard in<br />
seinen Kompositionen zum Einsatz. So findet<br />
es sich in seinem Fußballoratorium Die<br />
Tiefe des Raumes und ebenso in seinem<br />
Vokalwerk Mein Traum ist länger als die<br />
Nacht. <br />
n<br />
57
K L A V I E R<br />
Mit Charles Aznavour in<br />
der Hauptrolle: der<br />
französische Filmklassiker<br />
der Nouvelle Vague aus<br />
dem Jahre <strong>19</strong>60<br />
SCHIESSEN SIE<br />
AUF DEN PIANISTEN!<br />
Das Klavier in Film, Literatur und Comic. VON STEFAN SELL<br />
Das Klavier! Die Vielfalt des magischen Tastenkastens hat<br />
alle Künste inspiriert. Als Metapher, Symbol und Ausdrucksform.<br />
Im Film werden Pianisten ermahnt, sie sollen<br />
sich nicht in kriminelle Machenschaften hineinziehen<br />
lassen, denn ehe sie sich versehen, geraten sie in die Schusslinie ihrer<br />
Kontrahenten. Charles Aznavour macht das in Truffauts Klassiker<br />
Schießen Sie auf den Pianisten! augenfällig.<br />
In Ein Tag beim Rennen dient Harpo Marx das Klavier auf<br />
offener Bühne als Schutzwall, müssen doch seine Verfolger verzweifelt<br />
hinter dem Bühnenvorhang zusehen, wie er „Wreckmaninoff“<br />
spielend Taste für Taste, Bauteil für Bauteil durch die Luft wirbelt<br />
und den ganzen Konzertflügel in Grund und Boden spielt, nur um<br />
am Ende im entstandenen Chaos erneut die Flucht anzutreten. Das<br />
Klavier als Zuflucht. Doch Vorsicht! Schießen Sie nicht auf den Pianisten,<br />
denn er könnte zurückschießen. Die Musik George Antheils<br />
war im Paris der 20er-Jahre so unerhört, dass sein öffentliches Klavierspielen<br />
stets von Tumulten, Aufruhr und Skandalen begleitet<br />
war. Antheil soll stets eine Pistole bei sich getragen haben, um sich<br />
zur Not den Fluchtweg freizuschießen. Auch von Franz Liszt erzählt<br />
man, dass er mithilfe einer Pistole das scharenweise aufgeregte Publikum<br />
in Schach hielt, um sich Gehör zu verschaffen.<br />
Stan und Ollie transportieren im Oscar-prämierten Kurzfilm<br />
The Music Box als Umzugsfirma Laurel & Hardy Transfer Co. ein<br />
elektrisches Klavier. Als Geburtstagsgeschenk gedacht, überlebt das<br />
Klavier wie ein Wunder den Transport über endlose Stufen, tausenderlei<br />
Stürze und Brunnenbäder, nur, um endlich angekommen,<br />
vom vermeintlich Beschenkten mit einer Axt kurz und klein geschlagen<br />
zu werden.<br />
Das Piano der neuseeländischen Regisseurin Jane Campion<br />
erzählt die Geschichte eines Klaviers, das sich mit einem tragischen<br />
Frauenschicksal verbindet. Ada, eine junge, verstummte Frau (Holly<br />
Hunter), legt ihren ganzen Ausdruck ins Klavierspiel. Von Schottland<br />
aus wird sie nach Neuseeland zwangsverheiratet. Das Klavier<br />
begleitet sie bis zur Ankunft, strandet von Wellen gekost und bleibt<br />
im Sande stehen. Ihr Zukünftiger sieht dafür keine Verwendung.<br />
Durch einen Gegenspieler kommt das Klavier zunächst in ihre<br />
Hände, doch letztlich wird es als Metapher für ein selbstbestimmtes<br />
Leben und die Schönheit eines eigenständigen Ausdrucks qualvoll,<br />
aber malerisch inszeniert auf den Meeresgrund sinken. Im männlich<br />
dominierter Liebesbalz löst Ada zwischen Verweigerung und<br />
Hingabe eine Klaviertaste aus und verwandelt sie in einen<br />
Liebesbrief.<br />
Ein jüdischer Musiker überlebt den Holocaust. In Erinnerung<br />
an die eigene Kindheit erzählt Roman Polanski eine wahre<br />
Geschichte: Der Pianist. „Musiker eignen sich einfach nicht zum<br />
Verschwörer. Sie sind zu musikalisch“, scherzt ein Freund des Pianisten.<br />
Tatsächlich besitzt Władysław Szpilman (Adrien Brody)<br />
weder das Talent zum Widerstandskämpfer noch zum Mitläufer.<br />
58 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
Das Piano der neuseeländischen Regisseurin Jane Campion<br />
erzählt die Geschichte eines Klaviers, das sich mit einem<br />
tragischen Frauenschicksal verbindet (links). Der Pianist (oben)<br />
kann nur Klavier spielen – und das rettet ihm das Leben<br />
„Das Leben ist wie das<br />
Klavier eines Menschen,<br />
der in den neunten Stock<br />
umzieht – schwer, aber<br />
tragbar“ – das Klavier in<br />
der Literatur<br />
FOTO: 2002 STUDIOCANAL - HERITAGE FILMS - STUDIO BABELSBERG - RUNTEAM LTD; PRIVAT<br />
Er kann nur Klavier spielen, und das rettet<br />
ihm das Leben.<br />
In der Literatur erfahren wir vom<br />
29-jährigen Autor Beka Adamaschwili aus<br />
Georgien: „Das Leben ist wie das Klavier eines<br />
Menschen, der in den neunten Stock umzieht<br />
– schwer, aber tragbar.“ Das meint zumindest<br />
seine Figur Pierre, ein erfolgloser Schriftsteller,<br />
in dem Roman Bestseller.<br />
Das Klavier selbst ist Protagonist im<br />
autobiografischen Roman von Avner und Hannah<br />
Carmi, Das unsterbliche Klavier. Wie der<br />
Untertitel verrät, ist es „die abenteuerliche und wahrhaftige<br />
Geschichte von dem verschollenen und wiedergefundenen Siena-<br />
Klavier“, das „manchmal wie eine Harfe und manchmal wie ein<br />
Spinett und dann wie ein ganzes Orchester klingt“. Avner Carmi<br />
war über seinen Großvater zum Klavierbau gekommen und entwickelte<br />
später als Klavierstimmer eine eigene Art und Weise, die<br />
Saiten in Stimmung zu bringen. Das Siena-Piano wurde aufgrund<br />
seines einzigartigen Klangs die „Harfe Davids“ genannt und soll<br />
aus den Holzsäulen eines Tempels von König Salomon gebaut worden<br />
sein. Es hat eine so zauberhaft barocke Auskleidung, dass man<br />
es fast für eine Skulptur halten könnte. 1867 spielte darauf Camille<br />
Saint-Säens im italienischen Pavillon der Weltausstellung in Paris,<br />
und ein Jahr später in Rom ließ Liszt, vielleicht wieder bewaffnet,<br />
auf dem Siena-Klavier seine Campanella erklingen.<br />
In Tolstois Erzählung Kreutzersonate wird das Klavier zum<br />
Objekt der Eifersucht. Vermeintlicher Held der Geschichte ist Posdnyschew,<br />
der in rasender Eifersucht seine Frau ermordet. „Sie<br />
beschäftigte sich wieder angeregt mit dem Klavier, das sie vorher<br />
völlig gelassen hatte. Und damit fing alles an.“ Als sie den Geiger<br />
Truchatschewski kennenlernt, mit ihm regelmäßig musizierend<br />
gemeinsam Beethovens Kreutzersonate spielt, ist das Grund genug<br />
für Posdnyschew, zum Mörder zu werden.<br />
Lotte Kinskofer berichtet in zwei wundervollen Kinderbüchern<br />
von einem Klavierling. Ein kleines Wesen namens Crescendo lebt<br />
als Klavierling in einem Klavier. Crescendo isst ausschließlich<br />
Töne und kann falsche Töne aussortieren.<br />
Je mehr auf einem Klavier gespielt wird, desto besser<br />
geht’s dem Klavierling.<br />
Am 7. Februar fand sich Mein blaues Klavier<br />
von Else Lasker-Schüler in der „Neuen Zürcher Zeitung“,<br />
die ersten vier Zeilen lauten: Ich habe zu<br />
Hause ein blaues Klavier / Und kenne doch<br />
keine Note. / Es steht im Dunkel der Kellertür,<br />
/ Seitdem die Welt verrohte. Else Lasker-<br />
Schüler lebte in Zürich im Exil. Sie hatte<br />
Deutschland als Jüdin verlassen, weil die Nationalsozialisten<br />
dabei waren, die Welt zu verrohen. Das Klavier als<br />
Bild ihres Leids. Aus einem Tagebucheintrag geht hervor, dass sie<br />
als Kind ein blaues Klavier hatte: „Ich besitze alle meine Spielsachen<br />
von früher noch, auch mein blaues Puppenklavier.“<br />
Wilhelm Busch war dagegen der Meinung, das Klavier selbst<br />
habe viel zu leiden: „Ein gutes Tier / Ist das Klavier, / Still, friedlich<br />
und bescheiden, / Und muß dabei / Doch vielerlei / Erdulden und<br />
erleiden.“<br />
Zu den bekanntesten amerikanischen Comics zählen die Peanuts.<br />
Unter ihnen gibt es einen einzigartigen Pianisten, der nichts<br />
mehr liebt als Beethoven. Auch wenn er nur ein Kinderklavier mit<br />
aufgemalten schwarzen Tasten hat – Schroeder gibt alles, und vor<br />
lauter Hingabe bekommt er vom ständigen Liebeswerben Lucys gar<br />
nichts mit. Es vergeht kein Jahr, an dem er nicht den 16. Dezember<br />
würdigt, Beethovens Geburtstag. Als er ihn dann doch einmal vergisst,<br />
ist er am Ende.<br />
Eine wundervolle Klaviergeschichte vermählt Orient und<br />
Okzident. Zeichnend erzählt wird sie von der aus Beirut stammenden<br />
Künstlerin Zeina Abirached in ihrer Graphic Novel Piano Oriental.<br />
Sie setzt darin ihrem Urgroßvater ein Denkmal. Abdallah<br />
Kamanja erfand ein zweisprachiges Klavier, das mittels eines Pedals<br />
auch Vierteltöne spielt und so in sich zweierlei Kulturen vereinigt.<br />
Bei all der Schießerei zu Beginn ist dies vielleicht die schönste<br />
Zukunftsvision, die ein Klavier auslösen kann.<br />
n<br />
59
K L A V I E R<br />
MUT ZUM<br />
VOLLEN RISIKO<br />
Martha Argerich und Sophie Pacini: Die beiden Pianistinnen<br />
verbindet mehr als nur eine Freundschaft.<br />
VON KLAUS HÄRTEL<br />
Sophie Pacini und<br />
Martha Argerich<br />
FOTO: SEBASTIAN HATTOP<br />
„ALLEIN AUF DER BÜHNE<br />
FÜHLE ICH MICH<br />
WIE EIN INSEKT UNTER<br />
EINEM BRENNGLAS“<br />
MARTHA ARGERICH<br />
Clara Schumann ist nicht begeistert.<br />
Gelinde ausgedrückt. „Die<br />
Sachen sind schaurig! Brahms<br />
spielte sie mir, ich wurde aber<br />
ganz elend. (...) Das ist nur noch blinder<br />
Lärm – kein gesunder Gedanke mehr, alles<br />
verwirrt, eine klare Harmoniefolge ist da<br />
nicht mehr herauszufinden“, schreibt sie<br />
1854 voller Verzweiflung in ihr Tagebuch.<br />
„Es ist wirklich schrecklich.“ Die Rede ist<br />
von Franz Liszts h-Moll Sonate.<br />
Die gewaltigen Ausbrüche und harmonischen Härten mögen<br />
für Pianisten und Hörer in der Mitte des <strong>19</strong>. Jahrhunderts schwer<br />
hinnehmbar gewesen sein – heute wird das Werk als einer der<br />
Gipfelpunkte der Klaviermusik betrachtet. Die Klaviersonate h-Moll<br />
gilt als eines der bedeutendsten, technisch anspruchsvollsten Klavierwerke<br />
der Romantik und durchaus auch als einer der Höhepunkte<br />
im Œuvre des Komponisten.<br />
Dabei nahmen und nehmen Pianisten die technische und<br />
gestalterische Herausforderung unterschiedlich an. Vladimir Horowitz’<br />
Interpretation muss dem Publikum<br />
durch die derart nervöse Beweglichkeit,<br />
stahlharte Kraft und teilweise atemberaubende<br />
Geschwindigkeit damals als etwas<br />
Ungeheures erschienen sein. Der Pole Krystian<br />
Zimerman besticht durch die scheinbare<br />
Mühelosigkeit in der Zusammenführung<br />
von brachialer Gewalt und sanfter<br />
Lyrik, während eine Interpretation der<br />
h-Moll Sonate selten so improvisiert klingt<br />
wie die des Kroaten Ivo Pogorelich: zerbrechlich<br />
und ins Sphärische entrückt auf der einen Seite, bedrohlich,<br />
skurril und naturkatastrophenhaft auf der anderen.<br />
Bei der Grande Dame des Klaviers Martha Argerich überschlägt<br />
man sich beinahe mit Adjektiven. Martha Argerichs Interpretation<br />
wirkt gequält, wütend, leidenschaftlich, verrückt, aber<br />
auch dantesk, göttlich, mystisch. Die Argerich wirkt wie ein freigelassenes<br />
wildes Tier, voller Feuer, Leidenschaft und: Poesie. Sie ist<br />
bereit, Risiken einzugehen – und das zahlt sich aus.<br />
Franz Liszts h-Moll Sonate ist all das. Aber sie ist auch starkes<br />
60 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
Bindeglied der Freundschaft zwischen Martha Argerich und der<br />
jungen deutsch-italienischen Pianistin Sophie Pacini. Die nämlich<br />
legt bisweilen auch einen eigenen Zugang zur Musik an den Tag,<br />
der „jenseits einer Spieltradition liegt“, wie sie selbst formuliert.<br />
Eine ihrer ersten starken pianistischen Prägungen sei von Martha<br />
Argerich ausgegangen, die sie im Radio gehört habe – mit eben<br />
jener h-Moll Sonate von Franz Liszt. „Ich hatte die Sonate vorher<br />
schon einmal gehört und fand sie total unansprechend und, ehrlich<br />
gesagt, auch ein bisschen langweilig. Ich habe mich nicht zurechtgefunden<br />
in dem Stück. Mir war klar: Ein Stück, das ich nicht spielen<br />
will, ist die h-Moll Sonate von Franz Liszt.“ In Argerichs Radioversion<br />
jedoch habe sie das Werk nicht wiedererkannt. „Es war<br />
phänomenal, passend, und es hat mir eine Geschichte erzählt.“<br />
„Es gab Traditionen, wie man Werke zu spielen hat“, erzählt<br />
die 27-jährige Pacini. Bereits mit zehn Jahren war sie durch die harte<br />
„Handwerksschule“ Karl-Heinz Kämmerlings<br />
gegangen und hatte bereits da hinterfragt,<br />
warum was wie gespielt wird. „Warum<br />
darf man das nicht anders interpretieren?<br />
Ich muss doch dahinterstehen und das zu<br />
Gehör bringen, was mein innerster Herzenswunsch<br />
ist.“ Viel gelernt hat sie dann<br />
auch von Pavel Gililov, zu dem sie quasi als<br />
rebellierender Teenager gewechselt war.<br />
„Das erste Werk, bei dem ich wirklich<br />
gespürt habe, dass es von Tradition überlagert<br />
wird, war wieder: die h-Moll Sonate<br />
von Franz Liszt. Mir fehlte der intermusikalische<br />
Austausch ...“<br />
Es muss um Weihnachten herum<br />
gewesen sein, Sophie Pacini war gerade 17 geworden und übte wie<br />
wild für einen Wettbewerb in Gstaad. „Mir fehlte etwas. Es gab da<br />
eine Stelle, die noch viel diabolischer klingen musste. Ich habe angefangen,<br />
Dinge drastischer zu zeichnen.“ Sie traute sich, das Werk<br />
anders zu interpretieren, als es die traditionelle Interpretationsschule<br />
vorgab. „Ich liebe Liszt! Das Virtuose, aber auch dieses Diabolische,<br />
diese dramatische Komponente und das Spielen mit der Grenze.“<br />
Sie wollte es eben genau so, wie das Martha Argerich auch anging.<br />
Ihr Lehrer indes war wenig begeistert. „Viel zu emotional!“,<br />
habe der gesagt. Man müsse eine gewisse Distanz wahren zum Werk.<br />
„Er sagte zu mir: ‚Du weißt doch gar nicht, wie die Wahrheit ist!‘<br />
Das hat mich überrascht, und ich habe zurückgefragt, ob er das<br />
denn wisse.“ Erstmals habe sie ihren Lehrer infrage gestellt. „Sophie,<br />
in Gstaad wirst du so nicht gewinnen ...“, lautete die lapidare Aussage<br />
damals. Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass Sophie Pacini<br />
dann genau das tat. Dmitri Baschkirow, der in der Jury saß, war<br />
jedenfalls beeindruckt. Pacini habe das Werk anders gespielt, als er<br />
es kenne. „Mutig, persönlich, aber überzeugend.“<br />
Die enge, innige Freundschaft zwischen Martha Argerich und<br />
Sophie Pacini basiert also sozusagen auf Liszts h-Moll Sonate – und<br />
einer ersten persönlichen Begegnung in der Toskana. Im gleichen<br />
Ort nämlich, in dem Sophie Pacini mit ihren Eltern Urlaub machte,<br />
eröffnete Martha Argerich ein Festival. Die Grande Dame des Pianos<br />
wollte zunächst nichts von dem kleinen klavierspielenden Mädchen<br />
wissen. Sophie aber blieb hartnäckig und wartete. Die Argerich<br />
kam zurück, sagte: „Nun, dir ist ja offenbar nicht zu helfen. Dann<br />
spiel.“ Und weiter: „Was für eine Persönlichkeit! Du erinnerst mich<br />
„ES IST SEHR SCHWER, SICH<br />
SELBST TREU ZU BLEIBEN<br />
IN EINER ZEIT, IN DER MAN<br />
VON SEHR VIELEN LEUTEN<br />
ALLE MÖGLICHEN<br />
RATSCHLÄGE BEKOMMT“<br />
SOPHIE PACINI<br />
an mich selbst. Ich merke, dass du einen eigenen Kopf hast.“<br />
Seit dieser Zeit kreuzen sich die Wege der beiden Pianistinnen<br />
regelmäßig. Auch bei der Einspielung von Solowerken Chopins, die<br />
mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet wurde, vertraute Pacini auf<br />
die Expertise Martha Argerichs. Ihr nämlich spielte sie die „eigene“<br />
Version von Chopins Fantaisie-Impromptu mit weniger akzentuiertem<br />
Daumenanschlag vor. Die Antwort Argerichs: „Ja, das hört sich<br />
logischer an.“<br />
Es bliebt dabei: Die „Ikone“ Martha Argerich und die „Newcomerin“<br />
Sophie Pacini reden viel miteinander. Über die Karriereplanung,<br />
über Alltägliches, über den Gossip der Szene. „Über Musikalisches<br />
reden wir spielenderweise ...“<br />
Zum Beispiel über die Frage: War früher alles besser? Die Antwort<br />
wird nie ja oder nein sein können. Martha Argerich aber findet:<br />
„Wenn ich heute Karriere machen müsste, würde mir das sehr<br />
schwerfallen.“ Heute werden Musiker bisweilen<br />
nicht präsentiert, wenn sie nicht<br />
gewillt sind, dem schreienden Marketing<br />
stattzugeben. Die Disbalance sei heute stärker<br />
geworden als früher. Eine Karriere sei<br />
viel schwieriger. Und Sophie Pacini weiß,<br />
dass es natürlich heute – nach einer „goldenen<br />
Generation“ von Pianisten – kein<br />
Selbstläufer ist, sich zu positionieren.<br />
„Letztlich gibt es ja alles schon“, seufzt sie.<br />
„Es gibt viele Einspielungen großer Werke<br />
und großer Pianisten.“ Man braucht daher<br />
das Selbstbewusstsein und den Mut, den<br />
eigenen Weg zu verfolgen. Martha Argerich<br />
gab der jungen Pianistin mit auf den Weg:<br />
„Sei du selbst! Bleib authentisch und so, wie du bist! Lass dich nicht<br />
verbiegen!“ Damals habe sie schlicht „Ja, klar!“ gesagt, doch heute:<br />
„Spüre ich immer deutlicher, was sie damit meinte. Es ist sehr<br />
schwer, sich selbst treu zu bleiben in einer Zeit, in der man von sehr<br />
vielen Leuten alle möglichen Ratschläge bekommt.“<br />
Alles, was man heute tut, bekommt eine Gewichtung. Je sichtbarer<br />
man als Künstler wird, umso mehr. Es gibt heute einen Starkult,<br />
den es früher nicht gab. In der Hinsicht hat sich das Marketing<br />
geändert. „Das Bild eines klassischen Musikers hat sich verändert“,<br />
findet Sophie Pacini. Der Klassiker erscheine immer häufiger in<br />
einem „Popgewand“. Dabei brauche Klassik eigentlich die innere<br />
Ruhe, was in der heutigen schnelllebigen Zeit nicht leicht sei.<br />
Kürzlich fand in Hamburg das Martha Argerich Festival statt.<br />
Motto: Musizieren unter Freunden. An nur einem Abend waren<br />
mehrere unterschiedliche Instrumentenkombinationen zu erleben.<br />
Schließlich standen gar vier Flügel auf der Bühne. Mit von der Partie<br />
war Sophie Pacini. Es war auch hier nicht zu übersehen, dass Martha<br />
Argerich das Zusammenspiel mit alten Freunden und neuen jungen<br />
Talenten, auf die sie aufmerksam geworden ist, mag, vielleicht sogar<br />
genießt. Martha Argerich „wirkt nach außen hin extrem entschlossen<br />
und selbstsicher“, erklärt Pacini. Privat sei das nicht immer so.<br />
Seit Jahrzehnten hat die Argentinierin Lampenfieber, seit <strong>19</strong>81 tritt<br />
sie nicht mehr solo auf. Allein auf der Bühne fühle sie sich wie „ein<br />
Insekt unter einem Brennglas“, hat sie einmal gesagt. Mit Partnern<br />
liegt der Fokus nicht allein auf ihr, das entlastet. Jüngst lud die<br />
„Grande Dame“ – ein Titel übrigens, auf den sie keinen Wert legt<br />
– die junge Kollegin ein, mit ihr Beethoven im Duo zu spielen. n<br />
61
K L A V I E R<br />
ZWISCHEN FREIHEIT<br />
UND TRADITION<br />
Ist der Pianist ein Einzelgänger? War früher tatsächlich alles besser?<br />
Wie hat sich das Klavierspiel verändert? Was unternimmt der<br />
Pianist eigentlich, um sich von den zahlreichen Konkurrenten und Kollegen<br />
abzuheben? Wir haben uns umgehört ...<br />
D e j a nL a z i ć<br />
Dass früher alles besser war, hat viel mit Nostalgie zu<br />
tun. Das haben meine Eltern und auch meine Großeltern<br />
schon gesagt. Aber: Früher hatte man mehr Zeit<br />
zu träumen! Der Sprung von der analogen zur digitalen<br />
Welt war schon riesengroß. Natürlich gibt es mit den<br />
modernen Medien wie YouTube die Möglichkeit, ein<br />
Werk kennenzulernen. Allerdings beeinflusst uns das ja<br />
auch, sodass wir am Ende klingen wie „jemand“. Ich<br />
brauche Zeit, um „etwas“ zu erreichen. In meiner Vorstellung<br />
spiele ich jedes Werk – auch wenn ich es schon<br />
kenne – immer zum ersten Mal.<br />
Cédric Tiberghien<br />
Wenn ich mir legendäre Aufnahmen anhöre, finde ich sie absolut zeitgemäß.<br />
Jede Technik ist persönlich. Natürlich hat sich der stilistische<br />
Ansatz weiterentwickelt, aber das bedeutet nicht, dass er besser oder<br />
schlechter ist. Einfach anders! Ich verbringe weniger Zeit damit, zu entscheiden,<br />
was ich tun soll, und gebe spontanen Ideen mehr Raum.<br />
62 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
William Youn<br />
Die Pianisten heute achten mehr auf die<br />
Sicherheit, auf die Zuverlässigkeit der<br />
Technik. Wenn man Aufnahmen von<br />
Cortot oder Sofronitsky hört, dann<br />
merkt man, mit wie viel mehr Risiko und<br />
Freiheit sie spielten. Dass dann einige<br />
Töne danebengegangen sind, war für sie<br />
nicht wichtig. Auch hat sich das Instrument<br />
verändert. Die Mechanik wird<br />
schwerer, die Tasten sind breiter und<br />
tiefer, damit sie einen größeren Klang<br />
für die heutigen Säle erzeugen können.<br />
FOTOS: IRÈNE ZANDEL; T. MARDO; FELIX BROEDE; BOURIGES; LUCA D‘AGOSTINO / ECM RECORDS; HANS BUTTERMILCH; C. TIBERGHIEN;<br />
Igor Levit<br />
Sicherlich hat sich das Klavierspiel verändert<br />
– aber alles hat sich verändert.<br />
Die Welt hat sich innerhalb der letzten<br />
15 Jahre komplett verändert. Ob sich<br />
dadurch auch meine Herangehensweise<br />
an das Repertoire geändert hat? Das<br />
weiß ich nicht. Meine Haupttriebfeder<br />
war schon immer meine Neugierde,<br />
und das wird auch so bleiben. Ein Pianist<br />
sollte sehr, sehr viel Humor haben.<br />
Denn Liebe und Humor sind eh die zwei<br />
schönsten Momente im Leben, oder?<br />
Amir Katz<br />
Joseph Moog<br />
Für mich als Notensammler<br />
war die Repertoirewahl<br />
immer ein kreativer Prozess<br />
und daher mit persönlicher<br />
Freiheit verbunden, weshalb<br />
ich schon zu Studienzeiten<br />
gerne eigene Wege ging. Das<br />
führte immer wieder zu<br />
Konflikten mit meinen<br />
Lehrern. Ich habe auch nie<br />
daran gedacht, mich abheben<br />
zu müssen, sondern bin<br />
meinen Instinkten und Ausdrucksbedürfnissen<br />
gefolgt.<br />
Ich habe enormen Respekt für die gute alte musikalische Tradition und<br />
habe mich sehr intensiv damit beschäftigt. Die Welt ändert sich ständig<br />
und wir uns mit ihr. Optimal wäre es, zwischen Alt und Neu zu kombinieren.<br />
Musikalische Interpretation ist für mich eine Lebenssuche nach<br />
einer Wahrheit, die immer unerreichbar bleibt.<br />
Anna Gourari<br />
Manchmal fühle ich mich wirklich ziemlich<br />
allein. Der einzige Mit- und manchmal auch<br />
der Gegenstreiter ist dann das Instrument.<br />
Dennoch möchte ich nicht sagen, dass Einsamkeit<br />
nicht auch schön sein kann!<br />
63
K L A V I E R<br />
Der Axel-Brüggemann-Kommentar<br />
WIE KLANG<br />
GESCHICHTE SCHREIBT<br />
Der Pianist András Schiff hat sich mit der Schubertiade verkracht.<br />
Anlass war die Marke eines Flügels – tatsächlich aber geht es um viel mehr.<br />
DER ANLASS FÜR SCHIFFS WUT: DIE<br />
ANDEREN KÜNSTLER SPIELTEN AUF<br />
STEINWAY-FLÜGELN UND LOBTEN<br />
AUCH NOCH DESSEN KLANG<br />
Für viele war der Streit, der in den letzten Wochen auf ausgesuchten<br />
Seiten des deutschen Feuilletons tobte, so etwas wie eine Freakshow<br />
der Klassik oder „ein abgefahrenes Paralleluniversum“, wie ein Leser<br />
der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die Debatten in einem Kommentar<br />
beschrieb. Es ging um Folgendes: Der Pianist András Schiff<br />
hatte sich mit den Machern der<br />
Schubertiade in Vorarlberg überworfen:<br />
mit ihrem Intendanten<br />
Gerd Nachbauer, zahlreichen<br />
Musikerkollegen und nicht zuletzt<br />
mit dem Publikum. Schiff holte<br />
zu einem wütenden Rundumschlag<br />
aus, der Intendant Nachbauer<br />
wiederum veranlasste, Stellung<br />
zu beziehen: Der Pianist<br />
hätte „die Beurteilungskompetenz des Schubertiade-Publikums<br />
infrage“ gestellt, erklärte Nachbauer, und „sich abschließend noch<br />
sehr negativ über eine ganze Gruppe von bei uns regelmäßig auftretenden<br />
Künstlern“ geäußert. Der Anlass für Schiffs Wut: Die<br />
anderen Künstler spielten auf Steinway-Flügeln und lobten auch<br />
noch dessen Klang. Schiff hingegen führt seit Jahren einen erbitterten<br />
Feldzug gegen Steinway und wirbt offensiv für die Konkurrenz:<br />
das Haus Bösendorfer in Wien. Nur bei Bösendorfer sei seiner Meinung<br />
nach der wahre Geist der Wiener Hammerflügel aus der Zeit<br />
Beethovens und Schuberts zu hören. Andere Meinungen lässt er<br />
nicht zu. Basta.<br />
Nun mag es Außenstehenden merkwürdig vorkommen, dass<br />
über derartige Details ein handfester Streit eskaliert, an dessen Ende<br />
eine jahrelange, sehr fruchtbare<br />
musikalische Zusammenarbeit<br />
zerbricht. Tatsächlich aber geht es<br />
bei diesem „Flügel-Streit“ um viel<br />
mehr, wie „FAZ“-Kritiker Jan<br />
Brachmann neulich in einem<br />
Kommentar darlegte, in dem er<br />
Schiff kurzerhand zum Schuldigen<br />
erklärte. „Immer deutlicher<br />
wird nun“, schrieb der Feuilletonist,<br />
„dass András Schiff sich mit alternativen Fakten in einen Wahn<br />
von der Reinheit der österreichisch-ungarischen Kultur des Klavierspiels<br />
hineinsteigert, der nichts mit der geschichtlichen Wirklichkeit<br />
zu tun hat. Auch seine Behauptungen über den Klavierbau werden<br />
durch großartige Pianisten täglich widerlegt. Die Schubertiade tut<br />
gut daran, einem derart ressentimentbesessenen Künstler keine<br />
Träne nachzuweinen.“<br />
Vielleicht ist es sinnvoll, an dieser Stelle zunächst einmal fest-<br />
ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />
64 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
DER FLÜGEL-KRACH<br />
IST IN WAHRHEIT<br />
EINE DEBATTE<br />
ÜBER WELTBILDER<br />
zustellen, dass ich András Schiff mag – als Musiker und als Mensch.<br />
Ich schätze seinen Humor und seine Ernsthaftigkeit, vor allen Dingen<br />
aber seine unglaubliche Unerschrockenheit und Offenheit, die<br />
von seinen Kritikern zuweilen mit Arroganz verwechselt wird. Schiff<br />
sagt, was er denkt – ohne Rücksicht auf Verluste. Er hat kein Problem<br />
damit, zu erklären, dass er Martin Stadtfeld für einen fürchterlichen<br />
Pianisten und Evgeny Kissin auf keinen Fall für ein Genie<br />
hält („Wie würden Sie denn dann Mozart nennen?“). Und es lohnt<br />
auch sonst, die aktuelle Debatte ein wenig aufzudröseln, um zu<br />
erkennen, dass der Flügel-Krach in Wahrheit eine Debatte über<br />
Weltbilder ist, die sich hier lediglich in einem Streit um eine Klavierfirma<br />
manifestieren.<br />
Tatsächlich hatte Schiff bereits in einem Interview 2007 erklärt,<br />
die „ursprüngliche Kultur Ungarns“ wurzele in der „Wiener Tradition“<br />
und komme aus der Habsburger-Welt, die russische Schule<br />
dagegen spiele seiner Meinung nach so gut wie gar keine Rolle im<br />
alten Ungarn. So sei hier kein Ton Rachmaninow gespielt worden.<br />
Das ist so sicherlich nicht richtig, denn die russische Schule hatte<br />
– wie auch Jan Brachmann zeigt – durchaus Protagonisten<br />
in Schiffs Heimat. Das aber hielt Schiff<br />
nicht davon ab, sein Steinway-Bashing zu wiederholen,<br />
wie er es auch im Booklet zu seinen Diabelli-Variationen<br />
betrieb, in denen er die Theorie<br />
des typisch österreichischen Klangideals, das<br />
allein Bösendorfer abbilde, bereits episch<br />
ausbreitete.<br />
Doch man muss Schiffs Argumentation vielleicht<br />
auch aus anderen Perspektiven heraus verstehen.<br />
Dazu ist ein Verständnis seiner Biografie<br />
nicht ganz unwesentlich. Schiff wurde <strong>19</strong>53 in<br />
Budapest als Sohn eines musikbegeisterten jüdischen<br />
Gynäkologen geboren und begann sein<br />
Musikstudium bereits mit 14 Jahren an der Franz-Liszt-Musikakademie<br />
in Budapest. Er erlebte die politischen Repressionen Russlands,<br />
fühlte sich später besonders in England zu Hause und erhielt<br />
2001 schließlich die österreichische Staatsbürgerschaft – 2014 wurde<br />
er sogar in den englischen Ritterstand erhoben. Immer wieder<br />
äußerte Schiff politischen Protest, unter anderem, als er der Schubertiade<br />
im Jahre 2000 schon einmal den Rücken gekehrt hatte, um<br />
gegen die Politik der regierenden Rechtspartei FPÖ unter ihrem<br />
damaligen Chef Jörg Haider zu protestieren. Auch verzichtete Schiff<br />
auf Auftritte in Ungarn, um seinem Protest gegen die Politik Viktor<br />
Orbáns Ausdruck zu verleihen.<br />
„Natürlich bin ich als jüdischer Musiker in diesem Punkt ganz<br />
besonders sensibel und nicht objektiv“, erklärte Schiff bereits im<br />
Jahre 2007 der österreichischen Zeitschrift „profil“. Es sei ihm wichtig,<br />
dass Musiker die gespenstische Haltung Wilhelm Furtwänglers<br />
gegenüber den Nazis kennen und diskutieren. „Furtwängler hat<br />
viele Leben gerettet, aber sein affirmatives Verhalten gegenüber den<br />
Nationalsozialisten war nicht richtig“, sagte Schiff. Ihn hätte schon<br />
in der ersten Rechts-rechts-Regierung in Österreich verwundert,<br />
dass damals aus der Pop- und Theaterszene sehr mutige Stimmen<br />
gegen Jörg Haider zu hören waren, dass sogar Arnold Schwarzenegger<br />
gegen ihn protestiert hätte. Und er hätte sich damals gefragt:<br />
„Wenn der das kann: warum nicht auch klassische Musiker?“ Schiff<br />
erklärte das Schweigen im politischen Klassik-Wald damit, dass<br />
„viele glauben, die Klassik würde einem gewissen Teil der Gesellschaft<br />
gehören, die man nicht unnötig provozieren möchte. Aber<br />
Musik gehört nicht nur dem Bürgertum. Ich betrachte mich ja auch<br />
als Linken.“<br />
Was das alles nun mit der aktuellen Flügel-Debatte der Schubertiade<br />
zu tun hat? Natürlich ist Schiffs Kampf gegen Steinway<br />
verbohrt (was übrigens nicht immer so war, denn ausgewählte Beethoven-Sonaten<br />
spielte er einst durchaus an einem Flügel dieser<br />
Firma). Aber sein Plädoyer für Bösendorfer hat unterschiedliche,<br />
emotional nachvollziehbare Gründe: Zum einen will Schiff dem<br />
Mainstream Paroli bieten. Er selber besitzt zehn oder zwölf Flügel<br />
aus der Beethoven-Zeit in Wien. „Es gab damals allein in Wien über<br />
100 Baumeister“, erklärt Schiff gern, „deren Instrumente sehr unterschiedlich<br />
waren. Die Einförmigkeit war damals noch keine Tugend.“<br />
Dann stellt er seine Standardfrage: „Warum müssen heute alle Instrumente<br />
schwarz sein und aussehen wie Särge?“ In der alten Zeit<br />
seien die Klaviere doch auch aus wunderschönem Rosenholz gefertigt<br />
gewesen. Es geht Schiff also um eine Stimme der Vielfalt gegen<br />
das, was er musikalische Globalisierung nennt.<br />
Noch wesentlicher aber scheint ihm die Verteidigung<br />
einer historischen Hoffnung seiner Heimat<br />
Ungarn zu sein, die sich für ihn ausgerechnet<br />
im differenzierten, eigenwilligen und individuellen<br />
Klang der Bösendorfer-Instrumente widerspiegelt.<br />
Es geht um sein – ja, wohl etwas verklärtes<br />
– Weltbild der aufgeklärten Wiener Gesellschaft<br />
zur Zeit der k. u. k Monarchie, der sowohl<br />
der Freigeist Mozart als auch der Querkopf Beethoven<br />
entsprungen war. Aus diesem Kosmos heraus<br />
würde Schiff so gern die eigentliche Kultur<br />
Ungarns ableiten, die „ursprüngliche“ Kultur seiner<br />
Heimat, wie er es selber formuliert, die sich<br />
einst aus eben dieser „Wiener Tradition“ speiste.<br />
Das ist gerade in Zeiten des wachsenden Orbán-Nationalismus und<br />
mit Blick auf die einstige russische Besetzung Ungarns ein verständlicher<br />
Wunsch – gerade, was auch die Abgrenzung von der russischen<br />
Schule betrifft. Schiffs Geschichtsbild ist nach den kommunistischen<br />
Repressionen und unter der neuen nationalistischen<br />
Rechtsregierung mit ihrem latenten Antisemitismus allzu verständlich.<br />
Er sehnt sich danach, den von Viktor Orbán besetzten Mythos<br />
der Nation zu einem Mythos der Menschlichkeit und Vielfalt umzuschreiben.<br />
Der Klang seines Flügels ist dabei die akustische Flagge,<br />
mit der er in den Kampf ziehen will. Man mag, so wie Jan Brachmann,<br />
András Schiff „Ressentimentbesessenheit“ vorwerfen – dann<br />
wäre es aber nur fair zu sagen, dass seine Ressentiments ihre Wurzeln<br />
in der Kultur des Humanismus suchen.<br />
Dass Schiffs zutiefst persönlicher und emotionaler Blick auf<br />
die Geschichte sich mit einem radikalen, ja, meinetwegen auch verbohrten<br />
Blick auf einen Instrumentenhersteller verbindet, ist problematisch.<br />
Wirklich spannend an dieser Debatte aber ist, dass der<br />
Klang in ihr mehr darstellt als lediglich einen akustischen Ausdruck.<br />
Der Klang, den Schiff beschreibt, ist ein Klang, der für ihn die Ordnung<br />
der Dinge – vor allen Dingen aber die Umschreibung der<br />
Geschichte – beinhaltet. Der Streit über den Klang – das ist, was wir<br />
hier lernen – bedeutet immer auch, das Ohr auf die Tradition zu<br />
legen und ihr ein Bewusstsein über die Definition des Vergangenen<br />
abzulauschen. Allein für diese Bewusstwerdung lohnt sich die<br />
Flügel- Debatte um András Schiff. <br />
■<br />
65
K L A V I E R<br />
AUF DER SUCHE<br />
NACH NEUEN<br />
KLÄNGEN<br />
Ralf Schmid komponiert seine Musik an der Schnittstelle<br />
von klassischem und elektronisch gestaltetem<br />
Klavierklang. Mit seinem Projekt PYANOOK führt er das<br />
Klavier ins 21. Jahrhundert.<br />
VON RUTH RENÉE REIF<br />
66 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
67<br />
FOTO: NEUMEISTER
K L A V I E R<br />
Ralf Schmid arbeitet<br />
mit Datenhandschuhen<br />
FOTO: NEUMEISTER<br />
<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Professor<br />
Schmid, was fasziniert Sie<br />
am Klavier?<br />
Ralf Schmid: Das Klavier ist<br />
seit Kindertagen mein<br />
Instrument. Ich habe mit fünf Jahren<br />
angefangen, es zu spielen, und seither hat<br />
es mich durch mein Leben begleitet. Ihm<br />
gilt meine Faszination. Es ist ein besonderes<br />
Instrument vieler musikalischer<br />
Sphären. Auch wenn ich als Komponist,<br />
Dirigent, Arrangeur oder Produzent tätig<br />
bin, bleibt meine Basis bei allem immer<br />
das Klavier.<br />
Das 20. Jahrhundert arbeitete sich am<br />
pianistischen Erbe ab. Piano Activities von Philip Corner wurde<br />
<strong>19</strong>62 in Form der mehrtägigen Zerlegung eines Flügels aufgeführt,<br />
dessen Teile an das Publikum versteigert wurden.<br />
Brachten solche Aktionen wie diese Fluxus-Performance die<br />
erhoffte Befreiung?<br />
Eine Befreiung erfolgte nur in bestimmten Szenen, im Mainstream<br />
ist sie kaum zu spüren. An Musikhochschulen konzentriert sich die<br />
pianistische Ausbildung nach wie vor auf ein Spektum von Bach<br />
bis Bartók, mit Fokus auf dem <strong>19</strong>. Jahrhundert. Und wir bilden hier<br />
die nächste Generation von Musikern aus, die demnächst ins<br />
Konzertleben tritt oder wieder unterrichtet.<br />
Empfinden Sie das pianistische Erbe als Bürde oder als<br />
Herausforderung?<br />
Eine Bürde ist es, wenn man die Epoche nicht verlässt. Das <strong>19</strong>. Jahrhundert<br />
war eine Blüte für das Klavier, für die Komponisten, die<br />
dafür schrieben, und für die Interpreten, die virtuos darauf<br />
spielten. Liszt, Chopin und all die Koryphäen von damals komponierten<br />
und improvisierten mit den Mitteln ihrer Zeit großartige<br />
Musik. Wir können so viel von ihnen lernen. Gegenwärtig aber<br />
findet die Pflege ihrer Werke oft verkürzt statt. Wir interpretieren<br />
diese gut 100 Jahre alten Kompositionen – ließe man sich darüber<br />
hinaus auf den freien improvisatorischen Geist dieser Meister ein,<br />
könnte das Erbe eine weitaus größere Inspiration sein.<br />
Ein Komponist, der sich immer wieder mit dem Erbe<br />
herumschlug und sich intensiv mit dem Klavier auseinandersetzte,<br />
war John Cage …<br />
Cage ist eine der größten Inspirationsquellen für mein Projekt<br />
PYANOOK. Seine Schriften las ich bereits Jahre davor, und mit<br />
seiner Musik begann ich meine Klangreise. Ich suchte im Flügel<br />
nach neuen Klangfarben, und diese Suche setzte damit ein, dass ich<br />
Cage kopierte und ausprobierte – wie es klingt, wenn man<br />
Nylonschrauben und Gummis an die Saiten heftet. Allerdings ging<br />
ich in der Folge zu zeitgenössischen elektronischen Techniken über<br />
und jagte die John-Cage-Klänge durch Effektschleifen.<br />
Karlheinz Stockhausen betrachtete den Synthesizer als Weiterführung<br />
des Klaviers. Wie beurteilen Sie seine Einschätzung?<br />
In vielen Bereichen der Musik gab es diese Anfangsbegeisterung<br />
für den Synthesizer sowie elektronische und später auch digitale<br />
Varianten von Klavier. Ich möchte das Klavier erhalten. Mit seiner<br />
Aura empfinde ich es als ideale Basis für ein elektronisches Projekt<br />
wie PYANOOK, das die Gegenwart aufnimmt und zugleich in die<br />
Zukunft denkt. Ich liebe das Holz und die Klangästhetik, die mit<br />
elektronischen Mitteln nicht nachzuahmen ist. Die Elektronik hat<br />
andere Stärken.<br />
Sie arbeiten mit den Datenhandschuhen, die die Londoner<br />
Gruppe mi.mu. entwickelte, um den Klang des Flügels zu<br />
verändern. Ist das für Sie der Weg, die<br />
Pianistik ins 21. Jahrhundert zu bringen?<br />
Es ist ein Weg – mein Weg, im 21. Jahrhundert<br />
neue Klänge zu finden, neue<br />
Strukturen zu generieren und neue Musik<br />
zu komponieren, zu improvisieren und mit<br />
Einbeziehung der elektronischen Ebene<br />
eine Art digitale Poesie zu kreieren.<br />
Entgrenzung ist für mich ein wichtiges<br />
Thema. Ich überwinde Grenzen und suche<br />
nach Schnittstellen zwischen der analogen<br />
und digitalen Performance, zwischen der<br />
analogen und digitalen Klangwelt und<br />
zwischen stilistischen Sphären.<br />
Wie bringen Sie diese Datenhandschuhe<br />
in PYANOOK zum Einsatz?<br />
Ich spiele auf zwei Flügeln, die ich mikrofoniere. Den Klang des<br />
einen belasse ich unverändert. Die Saiten des anderen präpariere ich<br />
à la Cage oder verändere dessen Klänge elektronisch. Die Handschuhe<br />
ermöglichen es mir, die Klänge in Echtzeit mit Effekten<br />
auszustatten. Das können Hallräume sein, Echos, Modulationen<br />
oder digitale Filter, mit denen sich Höhen oder Bässe dazusetzen<br />
lassen. Während ich spiele, vermag ich durch Arm- oder Fingerbewegungen<br />
die Klänge meines Flügels durch Effektschleifen zu<br />
schicken und diese live zu steuern. Ich kann mit meinem Flügelklang<br />
Kathedralen öffnen und wieder schließen oder durch das<br />
Ballen einer Faust den Klang in eine Verzerrung schicken.<br />
Durch die Armbewegungen beziehen Sie auch den Raum in Ihre<br />
Musik ein. Der Komponist Marco Stroppa nannte den Raum das<br />
größte Rätsel der Musik …<br />
Die Hände im Raum zu bewegen und damit einen Klang zu<br />
formen, ist unglaublich faszinierend. Es eröffnet eine andere<br />
Dimension und lässt etwas mitschwingen. Für mich war es ein<br />
logischer Schritt, von der Klavierbank aufzustehen. Wenn sich<br />
mein Klang in einem langen Kathedralenhall befindet, kann<br />
ich den im Raum stehenden Klavierakkord formen. Damit ergibt<br />
sich eine neue Ästhetik.<br />
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Lichtkünstler Pietro<br />
Cardarelli?<br />
Als der Raum in meine Musik einbezogen war, wollte ich ihn auch<br />
künstlerisch gestalten und die Szenerie nicht dem Zufall überlassen.<br />
Pietro Cardarelli ist in vielen Bereichen der digitalen Kunst<br />
und der Videokunst tätig und arbeitet als Bühnenbildner am<br />
Theater. Er entwarf für die Aufführungen von PYANOOK eine<br />
Szenerie und eine visuelle Umsetzung. Derzeit arbeiten wir daran,<br />
dass meine Bewegungen, mit denen ich die Klänge verändere, auch<br />
seine visuellen Projektionen verändern.<br />
Der meditative Charakter Ihres Projekts lässt erneut an John<br />
Cage denken. Ist Ihnen das Meditative ein Anliegen?<br />
Das Meditative und das Versenken in den Klang sind für mich ein<br />
wichtiger Aspekt. Ich möchte mit meiner Musik Menschen<br />
erreichen und ihnen etwas mitgeben. Wir leben in einer immer<br />
schneller werdenden Welt. Die Musik kann diese rasende Zeit<br />
aufheben und in meditative Momente überführen.<br />
Am 8. November erscheint auch ein Album von PYANOOK …<br />
Das Label Neue Meister trat an mich heran und schlug die<br />
Produktion eines Albums vor. Die Aufnahmen erfolgten im<br />
restaurierten Operntheater der italienischen Stadt Ascoli Piceno.<br />
Cardarelli stammt daher, und er organisierte, dass wir in diesem<br />
traumhaften Setting eine Woche lang aufnehmen und konzertieren<br />
konnten.<br />
■<br />
68 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
DER<br />
KLAVIERVERSTEHER<br />
„Wer ausschließlich mit dem Gerät stimmt, verlässt sich auf seine Augen, nicht auf seine<br />
Ohren“, sagt Klavierstimmer Stefan Knüpfer. Als solcher hat er einiges erlebt.<br />
VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL<br />
Sänger, vorwiegend Primadonnen, haben seit jeher die Schriftsteller<br />
zu Romanen inspiriert. Aber ein Klavierstimmer? In<br />
Pascal Merciers Der Klavierstimmer jedenfalls erschießt ein<br />
stadtbekannter Klavierstimmer und Meister seines Fachs,<br />
der bereits in Karajans Diensten stand, einen berühmten italienischen<br />
Tenor. Als Stefan Knüpfer die Story hört, lacht er laut und<br />
kontert: „Eigentlich müsste es doch heißen, wann bringe ich mich<br />
um?!“ Schließlich habe er als<br />
Cheftechniker von Steinway<br />
in Wien einiges erlebt im<br />
Umgang mit weltberühmten<br />
Klienten. Etwa wenn der von<br />
Lampenfieber und Versagensängsten<br />
gepeinigte Konzertpianist<br />
kurz vor dem Auftritt<br />
meint, dass der Ton „nicht<br />
atme“, obwohl Knüpfer tagelang<br />
am Instrument getüftelt,<br />
gewerkelt und alle Schrauben<br />
und Keile justiert hatte.<br />
Da gilt es, Nerven und<br />
Ruhe zu behalten. Denn nur<br />
zufriedene Pianisten seien<br />
eben auch gute Pianisten,<br />
weiß Knüpfer. „Was ist physikalisch<br />
das Problem, und wie<br />
kann man es physikalisch<br />
lösen?“ Das sind die Fragen,<br />
die er sich dann stellt, um, wie<br />
ein Techniker der Formel 1,<br />
das oft auch nur vermeintliche<br />
Problem anzugehen. Dabei<br />
scheut er nicht vor unkonventionellen<br />
Methoden zurück,<br />
wie die Geschichte mit einem<br />
Tennisball zeigt. „Wir hatten<br />
da ein Instrument, das war<br />
lange nicht gespielt worden.<br />
Das stand da wie ein Oldtimer,<br />
der lange nicht gefahren worden<br />
war. Hätte man da einen<br />
Rennfahrer hineingesetzt,<br />
wäre das Auto dahingewesen.<br />
So kam ich auf die Idee, mithilfe eines Tennisballs den Flügel schön<br />
weich zu klopfen. Und: Er klang wieder!“<br />
Zu Knüpfers Klientel zählt die erste Garde der Konzertpianisten.<br />
Und dennoch könnten nur wenige ihre Klangvorstellung<br />
beschreiben, sagt er. „Es geht ja nicht um die ganz einfachen dynamischen<br />
Kategorien wie laut und leise, hart oder weich. Es geht um<br />
das Dazwischen, um Emotionen. Einige sagen mir: ‚Der Ton soll<br />
reich sein.‘ Aber was bedeutet denn ein reicher Ton? Ein Ton hat<br />
Hand angelegt: Stefan Knüpfer bei der Arbeit<br />
FOTO: STEFAN OLAH<br />
doch kein Konto.“ Alfred Brendel etwa wollte einen in allen Lagen<br />
ebenmäßigen Ton, Pierre-Laurent Aimard wiederum wünschte sich<br />
für jede Bach-Fuge die ganze Klangpalette, aufgefächert wie ein<br />
Regenbogen. Pflegeleicht hingegen war Lang Lang, der einen „Instinkt<br />
für Töne“ hatte, egal auf welchem Instrument. „Der brauchte<br />
eher einen stabilen Stuhl, der seinem Temperament standhält.“<br />
Knüpfer könnte es sich leichter machen und mit einem Stroboskop<br />
oder anderen Geräten die<br />
Tonfrequenzen messen, um<br />
quasi auf Knopfdruck den<br />
richtigen Ton zu erreichen. Er<br />
lehnt das ab. Er begreift den<br />
Ton wie eine Farbe, innerhalb<br />
derer allerlei Schattierungen<br />
und Abstufungen und Nuancen<br />
möglich sind. „Wer ausschließlich<br />
mit dem Gerät<br />
stimmt, verlässt sich auf seine<br />
Augen, nicht auf seine Ohren“,<br />
sagt er. Einen Großteil seiner<br />
Arbeit habe er deshalb unterhalb<br />
des Instruments verbracht<br />
und den Pianisten unter<br />
die Finger geschaut: um zu<br />
sehen „mit welchem Impuls,<br />
mit welcher Geschwindigkeit,<br />
welchem Gewicht er auf die<br />
Tasten drückt“.<br />
Eine zwar nicht devote,<br />
aber doch demütige Haltung<br />
für einen Mann, der einst<br />
selbst Pianist werden wollte.<br />
<strong>19</strong>67 in Hamburg geboren,<br />
weiß er heute selbst nicht<br />
mehr so genau, wie er auf die<br />
Idee kam, Klavierstimmer zu<br />
werden. Nur: Er war 15 Jahre<br />
alt, und es war an einem<br />
Samstag. „Ich hatte mal wieder<br />
eine Matheklausur verpatzt.<br />
Da dachte ich mir: Jetzt<br />
habe ich genug. Ich werde Klavierstimmer.<br />
Dann habe ich<br />
mich bei Steinway beworben.“ Das Handwerk wollte er in jedem<br />
Fall dort erlernen. „Immer, wenn ich im Schaufenster die Instrumente<br />
sah, war das für mich wie pure Magie. Allein schon die Klappe<br />
mit dem Emblem darauf. Diese Welt übte einen unglaublichen Sog<br />
auf mich aus. Bis heute.“<br />
Ein Roman wurde noch nicht über ihn geschrieben, dafür aber<br />
mit Pianomania (2009) von Robert Cibis und Lilian Frank ein wunderbarer<br />
Film gedreht.<br />
■<br />
69
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BILD CREDIT 5PT<br />
Abb.: Portmedia Verlag; Strezhnev Pavel / fotolia.com<br />
70 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
KINDER FÜR DAS<br />
KLAVIERSPIELEN<br />
BEGEISTERN<br />
Gregor Willmes, seit 2017 Vorstandsmitglied der Carl Bechstein Stiftung,<br />
wirkte bereits als Projektmanager an ihrem Aufbau mit.<br />
Im Gespräch erläutert er die Förderprojekte und Ziele der Stiftung.<br />
VON RUTH RENÉE REIF<br />
FOTO: CARL BECHSTEIN STIFTUNG<br />
<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Willmes, 2012<br />
wurde die Carl Bechstein Stiftung ins<br />
Leben gerufen, benannt nach dem<br />
Gründer der Berliner Pianoforte-Fabrik.<br />
Was war der Anlass der Gründung?<br />
Gregor Willmes: Wir trugen uns schon<br />
länger mit Überlegungen, wie wir das<br />
Klavierspielen fördern könnten. Dabei<br />
dachten wir vor allem an Kinder und Jugendliche. Wir fühlen uns<br />
der Tradition des Klavierspielens seit Franz Liszt verbunden, und<br />
unser Wunsch ist es, auch künftige Generationen dafür zu<br />
gewinnen. Auf diese Weise kam ein Prozess in Gang, der<br />
schließlich zur Gründung dieser Stiftung führte.<br />
Warum wendet sich die Stiftung an Schulen und nicht etwa an<br />
Freizeiteinrichtungen?<br />
Wir haben das Projekt „Klavier für Grundschulen“ initiiert, weil<br />
wir vor allem Kinder für das Klavierspielen begeistern wollen.<br />
Untersuchungen belegen die positiven Auswirkungen des<br />
Musizierens und insbesondere des Klavierspielens auf die<br />
Entwicklung junger Menschen. Es ist gut, wenn Kinder möglichst<br />
früh mit dem Spielen anfangen. Das ideale Einstiegsalter liegt bei<br />
fünf bis sechs Jahren. Kinder dieses Alters erreichen wir am<br />
besten über die Grundschulen. Es gibt immer mehr Ganztagsschulen,<br />
wodurch die Kinder keine Gelegenheit mehr haben,<br />
nachmittags eine Musikschule zu besuchen. Da hatten wir die<br />
Idee, den Klavierunterricht in die Schulen zu verlegen.<br />
Das Klavierspielen und die Marke C. Bechstein sind ja eng<br />
verbunden mit dem Image einer traditionellen bürgerlichen<br />
Erziehung. Ist das auch das Ideal, dem sich die Stiftung<br />
verpflichtet fühlt?<br />
Das klingt wie „von gestern“. Wir wollen die jungen Menschen<br />
heute erreichen. Klavierspielen macht Spaß. Und diesen Spaß<br />
wollen wir möglichst vielen Kindern und Jugendlichen<br />
ermöglichen. Wir möchten nicht nur Kinder aus Bildungsbürgertumfamilien<br />
ansprechen, sondern gerade auch Kindern<br />
einen Zugang zum Spielen eröffnen, die nicht mit diesen<br />
traditionellen Musikkulturen aufwachsen.<br />
Wie sieht die praktische Durchführung eines Förderprojekts<br />
aus? Gehen Sie zuvor in die Schulen<br />
und sprechen mit den Kindern, ob sie<br />
Lust auf Klavierspielen haben?<br />
Unser Projekt hat sich mittlerweile so<br />
weit herumgesprochen, dass die Schulen<br />
sich bei uns bewerben. Da sie von der<br />
öffentlichen Hand nicht mehr genügend<br />
Geld bekommen, um sich selbst ein<br />
Klavier zu kaufen, wenden sie sich an uns. Wir besuchen dann die<br />
Schulen, sprechen mit den Lehrern, schauen, ob sie engagierte<br />
Musikpädagogen haben, und erkunden die Möglichkeiten eines<br />
Klavierunterrichts. Die Instrumente, die wir zur Verfügung<br />
stellen, können im Regelunterricht zum Einsatz kommen, sollen<br />
aber auch zum Klavierunterricht genutzt werden. Daher sind<br />
gerade Ganztagsschulen an unserer Stiftung interessiert.<br />
Die Stiftung fördert auch besonders begabte Kinder, die eine<br />
pianistische Laufbahn anstreben. Welche Initiativen gibt es da?<br />
Zum einen veranstalten wir einmal im Jahr in Berlin den<br />
Carl Bechstein Wettbewerb, zu dessen Teilnahme wir Jugendliche<br />
bis zur Vollendung des 17. Lebensjahres einladen. Zum anderen<br />
kooperieren wir mit dem Bundesjugendwettbewerb „Jugend<br />
musiziert“. Wir vergeben alle drei Jahre vier Stipendien an<br />
höchstplatzierte Pianisten in der Altersgruppe von 13 bis 14<br />
Jahren. Diese erhalten von uns drei Jahre lang eine Förderung in<br />
Form finanzieller Unterstützung, der Einladung zu Konzerten<br />
und – wenn nötig – sogar der Vermittlung von Lehrern. Darüber<br />
hinaus vergibt die Stiftung zahlreiche Sonderpreise bei Wettbewerben.<br />
So sind wir seit Jahren beim Internationalen<br />
Klavier wettbewerb Jugend in Essen tätig. In diesem Jahr haben<br />
wir uns erstmals beim neuen Internationalen Carl Maria von<br />
Weber Wettbewerb für junge Pianisten des Sächsischen<br />
Landes gymnasiums für Musik in Dresden engagiert. Und<br />
beim Deutschen Musikwettbewerb vergaben wir einen großen<br />
Sonderpreis.<br />
Und welche Planungen gibt es für die Zukunft?<br />
Unser Wunsch ist es, ein Haus in Berlin zu haben. In dem wir<br />
Workshops, Meisterkurse, Wettbewerbe und Konzerte mit jungen<br />
Pianisten veranstalten können. www.carl-bechstein-stiftung.de<br />
71
K L A V I E R<br />
WOHER KOMMT<br />
EIGENTLICH …<br />
… das Klavier ?<br />
VON STEFAN SELL<br />
Bartolomeo<br />
Cristofori: Porträt<br />
eines unbekannten<br />
Malers<br />
Ein ovaler Rokokosaal in den Farben<br />
Weiß und Gold, überall runde Stehtische<br />
mit weißen Hussen, von eleganten<br />
Herren mit Sektflöten und<br />
Lachshäppchen umkreist. 120 Gäste haben<br />
sich eingefunden, die die Vorsitzende der<br />
Internationalen Slagharpa Liga, Frau Prof.<br />
Dr. Tastenspiel, mit erhobenem Sektglas<br />
begrüßt:<br />
„Meine sehr verehrten Herren, wir<br />
widmen uns heute der Frage: Woher kommt<br />
eigentlich das Klavier? Wer hat es erfunden?<br />
(Unruhe kommt auf) ... ich weiß, ich weiß,<br />
Sie alle ... Lassen Sie uns anstoßen auf die,<br />
die uns mit ihrer Ausdauer, ihrer Erfindungsfreude, ihrem unermüdlichen<br />
Pioniergeist ermöglicht haben, Klavier zu spielen. Skål!<br />
Ein Hoch auf leise und laute Töne. Sie alle hier hatten es sich zur<br />
Aufgabe gemacht, ein Klavier zu bauen, das sowohl Piano als auch<br />
Forte spielen kann. Sie werden sich erinnern, einst wurden die Saiten<br />
mit einem Federkiel angerissen, bis 1694 Signore Cristofori die<br />
Idee mit dem Hammer kam. Ich darf einen Zeitzeugen zitieren: ‚Es<br />
ist jedem Kenner bewußt, dass in der Musik das Schwache und das<br />
Starke gleich wie Licht und Schatten in der Mahlerey, die vornehmste<br />
Quelle sei, woraus die Kunsterfahrenen das Geheimnis gezogen,<br />
ihre Zuhörer ganz besonders zu ergötzen. So ist in Florenz von Herrn<br />
Bartolomeo Cristofori, einem bey dem Großherzog in Diensten stehenden<br />
Clavir-Macher, aus Padua gebürtig, diese so kühne Erfindung<br />
nicht weniger glücklich ausgedacht als mit Ruhm ins Werk<br />
gesetzt worden.’ 1697 haben Sie das erste Hammerklavier gebaut,<br />
ein Prototyp der heutigen Klaviere. Herzlich willkommen, Signore<br />
Cristofori!“ (Applaus). Ein kleiner zierlicher Mann, von bleichem<br />
Teint erhebt sein Glas freundlich nickend in die Runde und führt<br />
es an seine schmalen Lippen.<br />
„Dann kamen Sie ins Spiel, Herr Gottfried Silbermann“, fährt<br />
die Vorsitzende fort, „ohne Sie wäre wohl die Erfindung Cristoforis<br />
in Vergessenheit geraten.“ Cristofori verzieht die dünnen Lippen<br />
und wiegt zweifelnd den Kopf. „Herr Silbermann, Sie sind uns<br />
bekannt als jemand, der alle Register ziehen kann, Sie waren es, der<br />
die Mechanik verbessert hat.“ Der Sachse Silbermann reagiert<br />
prompt: „Ja, Cristoforis Idee war einfach der Hammer!“ (Der zierliche<br />
Cristofori blüht wieder auf.) „Der Hammer machte den<br />
Anschlag lauter. Ich habe allerdings die Spielfähigkeit alltagstauglich<br />
gemacht, der alte Bach war ganz verrückt danach.“<br />
Da meldet sich der aus Stuttgart angereiste<br />
Dichter und Musiker Christian Daniel<br />
Schubart: „Stein in Augsburg hat dem Fortepiano<br />
eine Stärke, Schönheit und Wirkung<br />
gegeben.“ „Habt ihr vergessen, als der<br />
Saitenzug zunahm, baute ich aus einem<br />
Guss den Rahmen!“, ruft aufgebracht<br />
Alpheus Babcock aus Boston dazwischen.<br />
„Ohne unsere Repetitionsmechanik hätte<br />
aber niemand so schnell hintereinander<br />
anschlagen können“, wetteifert der Klavierbauer<br />
Sébastien Érard aus Paris. „Und die<br />
läuft nur wegen meiner ‚Herzfeder‘ so glatt“,<br />
drängt sich Henri Herz nach vorn.<br />
„Moment, ich habe aus den Lederkappen, die den Hammerkopf<br />
polsterten, Filzhüte gemacht“, wettert Henri Pape los.<br />
„Aber meine Herren“, beruhigt die Vorsitzende, „Sie alle haben<br />
Ihren Beitrag geleistet“, (Broadwood, Pleyel, Bösendorfer und Steinway<br />
schütteln verächtlich den Kopf), „auch viele, die heute Abend<br />
gar nicht anwesend sind. Ihnen allen herzlichen Dank! Aber Sie<br />
haben nicht nur Freude damit bereitet – lassen wir den Musikpapst<br />
Eduard Hanslick zu Wort kommen“: „Sie wünschen meine Ansicht<br />
über jene unbarmherzige moderne Stadtplage zu hören, die es heute<br />
glücklich bis zu der ehrenvollen Bezeichnung ‚Clavierseuche‘<br />
gebracht hat. Ich glaube allen Ernstes, daß unter den hunderterlei<br />
Geräuschen und Mißklängen, welche tagüber das Ohr des Großstädters<br />
zermartern und vorzeitig abstumpfen, diese musikalische<br />
Folter die aufreibendste ist.“<br />
Da platzt Heine in den Saal: „Diese ewige Klavierspielerei ist<br />
nicht mehr zu ertragen! Diese grellen Klimpertöne ohne natürliches<br />
Verhallen, diese herzlosen Schwirrklänge, dieses erzprosaische<br />
Schollern und Pickern, dieses Fortepiano tötet all unser Denken<br />
und Fühlen, und wir werden dumm, abgestumpft, blödsinnig.“<br />
(Rundherum Schweigen)<br />
„Meine Herren, sorgen Sie sich nicht, all Ihre haarsträubenden<br />
Argumente sind im Laufe der Zeit hinfällig geworden. Überzeugen<br />
Sie sich selbst, ich präsentiere Ihnen das Silent Piano, das über ein<br />
Pedal stummgeschaltet wird, der Hammerkopf wird gestoppt, bevor<br />
er die Saite auch nur berühren kann, ob Piano oder Forte, jeder<br />
Klang, jeder Ton kommt jetzt digital heraus. Wer spielt, kann seine<br />
Musik über Kopfhörer hören, aber niemand muss mehr mithören,<br />
geschweige denn zuhören. Ich bedanke mich bei Ihnen und beende<br />
hiermit unseren Festakt in aller Stille.“<br />
n<br />
72 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
LEBENSART<br />
Kartoffelpuffer oder Rösti? Die Berlinerin Katharina Thalbach und das Feininger Trio aus der Schweiz am Herd (Seite 74)<br />
Paula Bosch war in Österreich. Und hat wunderbare Weine mitgebracht (Seite 76)<br />
Und überall ist Liszt: Die Pianistin Mariam Batsashvili zeigt uns ihre Stadt der Liebe: Budapest (Seite 78)<br />
präsentiert<br />
am 17. <strong>Oktober</strong><br />
WASSERSPIEGELUNGEN<br />
Rafael Schölermann stammt aus der kanadischen Künstlerfamilie<br />
de Grandmaison, sein Großvater Nicholas war ein bekannter<br />
Porträtmaler. Schölermann studierte zunächst Musik<br />
und arbeitete als freischaffender Musiker und Komponist.<br />
In seiner Serie Waterworks zeigt Rafael Schölermann Fotografien,<br />
bei denen die Realität der Auslöser für die Bildfindung ist. Indem er<br />
mit der traditionellen Erwartung an Fotografie, der Abbildtreue,<br />
bricht, öffnen sich Freiräume für eine malerische Auffassung. Weder<br />
arrangiert noch überarbeitet Rafael Schölermann seine Fotografien,<br />
frei nach der Devise „die Natur erschafft das beste Bild<br />
selbst“. Durch Ausschneiden und Fokussieren wird die Realität<br />
verfremdet, ohne dass er sie manipulieren müsste. So schafft er<br />
abstrakte impressionistische Kompositionen mit großer Wirkung.<br />
Die Fülle von Farbtönen und -nuancen entsteht durch Spiegelungen<br />
von Wolken, Häusern, Bäumen, Schiffsmasten etc. auf der<br />
Wasseroberfläche. Rafael Schölermanns Fotos, die zu verschiedenen<br />
Tageszeiten und bei unterschiedlichstem Wetter entstehen,<br />
sind nicht dokumentarisch, sie sind ein Schatten der uns umgebenden<br />
Welt und strahlen Ruhe und große Schönheit aus.<br />
www.waterworks.photos<br />
Vernissage in den Redaktionsräumen (Rindermarkt 6, München) am<br />
17. <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong> – Eintritt frei. Anmelden unter crescendo.de/vernissage<br />
FOTO: RAFAEL SCHÖLERMANN<br />
73
L E B E N S A R T<br />
Lieblingsessen!<br />
HIER VERRATEN DIE STARS IHRE BESTEN REZEPTE.<br />
UND KLEINE GESCHICHTEN, DIE DAZUGEHÖREN ...<br />
FOTO: BEATRICE VOHLER, WWW.VOHLER.COM<br />
„KANN MAN TEILEN.<br />
MUSS MAN ABER NICHT!“<br />
KATHARINA THALBACH<br />
74 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
KATHARINA THALBACH<br />
SCHAUSPIELERIN<br />
Mein Lieblingsessen? Kartoffelpuffer! Seit ich klein bin. Früher hat sie mir meine Mama immer gemacht. Heute mach<br />
ich sie mir selbst. Und meist wandern sie direkt aus der Pfanne in den Mund. Klar könnte man teilen, muss man aber<br />
nicht. Fünf große reichen knapp. Pur, ohne alles. Kein Mensch braucht Apfelmus dazu.<br />
FEININGER TRIO<br />
Unsere Zusammenarbeit mit Katharina für „… sink hernieder, Nacht der Liebe“ begann mit einer kleinen Katastrophe:<br />
Die Sprecherin sagte kurz vor der Veranstaltung ab. Wir fragten mutig DIE Ikone unserer Vorstellung, einer Absage gewärtig:<br />
Katharina Thalbach, die mit ihrer Stimme für diese Aufgabe geradezu prädestiniert ist. Und sie sagte einfach zu,<br />
ohne Wenn und Aber. Dass wir als Schweizer Trio mit Katharina unverhofft eine vierte Eidgenossin in unserem Kreis<br />
hatten – ihr Vater ist der Schweizer Regisseur Benno Besson –, fühlte sich besonders an. Allerdings würden wir Kathis<br />
Lieblingsgericht sehr gerne unsere Rösti gegenüberstellen, denn wir finden: Rösti macht immer eine gute Falle!<br />
Als hätten sie sich<br />
schon ewig gekannt:<br />
Katharina Thalbach mit<br />
dem Feininger Trio<br />
FOTO: IRÈNE ZANDEL<br />
•<br />
KARTOFFELPUFFER À LA THALBACH<br />
5 faustgroße festkochende Kartoffeln, 1 große Zwiebel, 2 Eier, 50 g Mehl, Salz, Pfeffer, Muskat, Rapsöl<br />
Kartoffeln und Zwiebel schälen, waschen und fein reiben. Eier, Mehl, 1 TL Salz und Pfeffer unter die Kartoffelmischung<br />
rühren. In einer großen Pfanne ausreichend Öl erhitzen, pro Kartoffelpuffer etwa 2 EL Kartoffelmasse hineingeben, flach<br />
streichen. Sobald die Puffer nach etwa 4 Min. an den Rändern braun werden, wenden und in etwa 4 Min. fertig braten.<br />
•<br />
BIRNEN-SPECK-RÖSTI À LA FEININGER TRIO<br />
Für die Rösti Gschwellti (Pellkartoffeln) schälen und an der Röstiraffel in eine Schüssel raffeln. Birnen und Speck fein<br />
würfeln, zugeben, würzen. Alles sorgfältig mischen.<br />
Bratbutter (Butterschmalz) in einer beschichteten Bratpfanne erhitzen. Kartoffel-Birnen-Speck-Mischung zugeben.<br />
Bei mittlerer Hitze 10 bis 15 Min. braten, ab und zu wenden. Gehackte Dörrbirnen daruntermischen. Kartoffel mischung<br />
auf Pfannengröße flach streichen, 5 bis 10 Min. weiterbraten, bis sich eine braune Kruste gebildet hat. Rösti auf eine<br />
flache Platte oder einen Teller stürzen und in die Pfanne zurückgleiten lassen. Zweite Seite fertig braten.<br />
Rösti auf der vorgewärmten Platte oder dem Teller anrichten.<br />
Passt gut zu Käseplatte, Soßenfleisch, Wildgerichten oder Gemüse.<br />
Schubert: „… o sink hernieder, Nacht der Liebe“,<br />
Katharina Thalbach, Feininger Trio (Cavi)<br />
75
L E B E N S A R T<br />
Die Paula-Bosch-Kolumne<br />
FELIX AUSTRIA 2.0<br />
Glückliches Österreich, diesen Ruf hatte sich das Land im Hinblick auf seine Weine<br />
einst gründlich verspielt. Doch hat es seine Krise hinter sich gelassen.<br />
Dank einer Generation, die nach dem Glykol-Skandal mit globaler Offenheit die<br />
regionalen Weine in die Spitzengastronomie führt.<br />
Nein, die österreichischen Weine sind in den letzten<br />
drei Jahrzehnten nicht Jahr für Jahr besser geworden,<br />
weil der Weinskandal des Jahres <strong>19</strong>85, jene<br />
Verfälschung der Weine mit Diethylenglykol, die<br />
Winzer zum Handeln gezwungen hätte. Die Weinqualitäten<br />
sind in erster Linie besser und besser geworden, weil –<br />
wie in vielen anderen europäischen Weinregionen in dieser Zeit –<br />
eine neue, bestens ausgebildete, teils durch die ganze Welt gejettete,<br />
junge Winzergeneration herangewachsen<br />
ist, die einfach Mut zum Risiko, die<br />
nötige Energie, den Willen und auch das<br />
Zeug zu einem Neustart in sich trug.<br />
In dieser Zeit, <strong>19</strong>86, wurde auch<br />
die ÖWM (Österreich Wein Marketing<br />
GmbH) zur Image- und Absatzförderung<br />
gegründet. Sie hat an der positiven Entwicklung<br />
des Weinmarktes einen großen Anteil, nicht zuletzt wegen<br />
der weltweiten Engagements und Einladungen mit österreichischen<br />
Premiumwinzern und deren Weinen.<br />
In diesem Jahr war ich nun in Österreich zum Weingipfel-Treffen<br />
eingeladen, das unter dem Motto „Weingeschichte mit Terroir-<br />
Schnittstellen im Herzen Europas“ stand. Die Reise führte in die<br />
Weinanbaugebiete zu den angrenzenden Ländern Tschechien, Slowakei,<br />
Ungarn, Slowenien und Südsteiermark.<br />
Klimatisch betrachtet befinden sich Österreichs bedeutendste<br />
Weinregionen vorwiegend im Osten. Flächenmäßig ist Niederösterreich<br />
mit 50 Prozent das größte und auch bedeutendste Anbaugebiet.<br />
Es grenzt an die Tschechien und Slowakei, während das Burgenland<br />
in ganzer Länge an Ungarn, die Steiermark und ganz im<br />
Süden an Slowenien stößt.<br />
Neben viel Geschichte und Weinhistorie, die uns dort präsentiert<br />
wurden, konnten wir wunderbare Weine probieren, viele von<br />
Weingütern, die mir schon vor Jahren aufgefallen sind und deren<br />
Weine immer noch besser werden.<br />
DER WEIN MUSS SCHMECKEN UND<br />
KLAR WIE EIN GEBIRGSBACH<br />
DURCH DIE KEHLE RINNEN<br />
2018 WIENER GEMISCHTER SATZ, Wieninger, Wien.<br />
Was wäre Wien ohne seine Sehenswürdigkeiten wie das Riesenrad,<br />
Schloss Schönbrunn oder die Hofburg? Nicht auszudenken! Das gilt<br />
auch für den „Wiener Gemischten Satz“.<br />
Das ist ein Wein aus verschiedenen weißen Rebsorten, die früher<br />
in einem Weinberg zusammengepflanzt wurden, um so größere<br />
Ernteausfälle auszugleichen. Heute ist es die Spezialität der Stadt,<br />
wie das Wiener Schnitzel selbst. Ein facettenreiches Aroma von Birnen-,<br />
Mango,- Honigmelonen- und<br />
Mirabellennoten. Ganz zarte Säurestruktur,<br />
wohlproportionierter Körper,<br />
sehr frisch, leicht, fetzig im Gaumen.<br />
Feiner Trinkfluss, reizvoller Abgang.<br />
Macht Lust auf ein zweites Glas. Ein idealer<br />
Alleskönner zu Vorspeisen mit Salaten<br />
oder Gemüse, Fisch oder Frischkäse<br />
oder auch zum Wiener Schnitzel mit Erdäpfelsalat.<br />
2018 GRÜNER VELTLINER 30 JAHRE „FASS 4“, Bernhard<br />
Ott, Wagram, Niederösterreich. Mit den Weinen des neuen<br />
Jahrgangs 2018 feiert das Weingut Bernhard Ott den 30. Jahrgang<br />
seines legendären Grünen Veltliner FASS 4, der sich längst als „die<br />
Marke“ unter den Veltlinern etabliert hat. Quasi von Anfang an mit<br />
dabei, habe ich die Entwicklung des Ott’schen Universums unter der<br />
Führung von Junior Bernhard mitverfolgt. Seine letzte und wichtigste<br />
Veränderung war die totale Umstellung auf Biodynamie, die<br />
er aus Respekt vor der Natur mit dem letzten Jahrgang abschließen<br />
konnte. Die Einzellagenweine, Spiegel, Stein und Rosenberg, sind<br />
letztlich die Krönung der Kollektion. Doch das FASS 4 – es ist kein<br />
Grand Cru, kein Premier Cru, keine Reserve und keine Einzellage<br />
– aber im Ott’schen Sinn, von Anfang an, ein Prototyp unter den<br />
Grünen Veltlinern und für mich die Nummer eins. Ott steht auf<br />
Klarheit, Brillanz, Feinheit, Frische, Finesse, eindeutige Aromatik<br />
und feinen Charakter. Der Wein muss schmecken und klar wie ein<br />
Gebirgsbach durch die Kehle rinnen.<br />
FOTOS: OESTERREICH-WERBUNG / MARTIN STEINTHALER TINE FOTO; PRIVAT<br />
76 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
Feinste Lagen in Niederösterreich:<br />
Blick auf Weißenkirchen in der Wachau<br />
2016 BELA REX, ALBERT GESSELLMANN, Mittelburgenland.<br />
In jeder der vier Regionen des Burgenlands herrscht ein<br />
eigenes Mikroklima, gibt es völlig andere Böden. Allein der Neusiedlersee<br />
hat mehr als 60 Winzer. Beispiele auf Weltklasseniveau,<br />
ob Bella Rex oder der „G“ von Albert Gesellmann sind immer dabei.<br />
Zweifelsohne wird das Weingut insbesondere mit seinen Rotweinen<br />
seit Jahren als die Premiumklasse des Landes gehandelt. Bela Rex<br />
hat für mich immer wieder die Rasse, den Esprit und Körper eines<br />
ganz edlen Geschöpfes, vorausgesetzt man gibt ihm die nötige Zeit<br />
zur Reife. In der Jugend, wie sich 2016 derzeit präsentiert, strotzt er<br />
vor feinsten Zedernholznoten, saftiger roter Frucht und Blaubeeren,<br />
geröstete Haselnuss und feinster Gerbstoff im Rückaroma.<br />
2015 BLAUFRÄNKISCH EISENBERG „ALTE REBEN“,<br />
Wachter-Wiesler, Neusiedlersee, Burgenland. Im Burgenland, der<br />
Rotweinecke Österreichs, findet man allerbeste Qualitäten. Allein<br />
die Sorte Blaufränkisch stieg wie Phönix aus der Asche auf. Bei<br />
Wachter-Wiesler hat Christoph Wachter die Zügel fest im Griff.<br />
Seine Philosophien wirken auf die Qualitäten durchschlagend. Der<br />
„Eisenberg“ wird aus den besten Lagen der Region cuvéetiert, was<br />
zur Folge hat, dass die spezifischen Terroirnoten ex trem ausgeprägt<br />
sind. Mein spontaner Eindruck in der Nase war Syrah Côte Rotie<br />
mit klassischer Würze wie Wacholder, grüner Pfeffer, Lorbeer, kalter<br />
Kaminrauch. Frische Provencekräuter, Kirschsaft. Das jugendliche<br />
Tannin steppt im Gaumen, fordert zum Tanz.<br />
2017 CHARDONNAY „GLORIA“, Kollwentz, Leithaberg,<br />
Burgenland. Das Weingut Kollwentz ist ohne Zweifel eines der Top-<br />
Five-Weingüter in Österreich. In mehrfacher Hinsicht gilt Anton<br />
Kollwentz als Pionier im Qualitätsweinbau des Landes. Er war es,<br />
der den Ausbau trockener Weißweine in der Region vorantrieb, und<br />
das jahrelang allein auf weiter Flur. Heute zählen die im neuen<br />
Holzfass ausgebauten Chardonnays zur Welt spitze – à la Burgund.<br />
Dafür sorgt Junior Andi ebenso selbstverständlich wie für die großartigen<br />
Roten. Und das seit 30 Jahren. Die Weingärten sind gepflegt<br />
wie die Parkanlagen von Schönbrunn. Der 2017 Chardonnay „Gloria“<br />
aus der höchsten Lage am Leithaberg mit Kalkgestein, benötigt<br />
noch ein bis zwei Jahre Geduld, will man ihn zum besten Zeitpunkt<br />
trinken, naschen ist erlaubt; fruchtige Exotik pur, Kokosnuss, saftige<br />
frische Säure im reichen Gaumen, die garantiert, dass auch ein Jahrzehnt<br />
mehr nicht schaden kann.<br />
2017 SAUVIGNON BLANC „KLAUSEN“, Neumeister<br />
Vulkanland, Steiermark. Sauvignon Blanc in all seinen unterschiedlichen<br />
Ausbauarten zählt zu meinen bevorzugten Weinen, ich kann<br />
von diesem Duftspektrum gar nicht genug bekommen, verstehe<br />
aber auch, dass nicht jeder mit den opulenten, vegetalen oder fruchtigen<br />
Noten glücklich ist. In der Steiermark, an der Loire und in<br />
Neuseeland ist die Rebsorte am stärksten vertreten. Auch bei Neumeisters<br />
ist die nächste Generation sehr erfolgreich unterwegs. Mir<br />
gefällt die frische Stilistik mit ausgeprägter Finesse, Mineralität und<br />
doch zurückhaltender Frucht besonders gut. „Noblesse oblige“ ist<br />
bei dieser Sorte nicht einfach. Der dezente Hauch von Exotik<br />
beginnt bei Ananas und endet mit Zitrone. Was sich dazwischen<br />
abspielt, müssen Sie probieren. So viel sei gesagt: Der Wein ist köstlich.<br />
n<br />
Bezug: Furore RotWeissRot, München; www.weinfurore.de<br />
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L E B E N S A R T<br />
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1) Ein Wahrzeichen: Statue der kleinen Prinzessin von László Marton 2) Die größte Kirche Budapests, die St.-Stephans-Basilika in Pest<br />
3) Straßenbahn 4) Budapest bei Nacht mit Kettenbrücke und ungarischem Parlament 5) Kuppel der St.-Stephans-Basilika 6) Statue von Franz Liszt<br />
am gleichnamigen Flughafen 7) Bar 8) Die berühmte Dobos-Torte, Biskuit mit Schoko und Karamell 9) Morgennebel auf der Kettenbrücke<br />
FOTOS: PIXABAY<br />
78 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
ZUGEGEBEN: DER BLICK AUF UNGARN SOLLTE<br />
DERZEIT KRITISCH SEIN. DOCH IRGENDWIE WIRKT<br />
SEINE HAUPTSTADT WIE DAS BERÜHMTE KLEINE<br />
GALLISCHE DORF – EINFACH ANDERS …<br />
Budapest<br />
Was Paris kann, kann Budapest schon lange: die Liebe. Ihretwegen lebt die Pianistin Mariam<br />
Batsashvili in Budapest. Eine zweifache Liebe: die zu ihrem Freund, aber auch die zu dem<br />
Komponisten Franz Liszt, der ihr die Stadt an der Donau zur zweiten Heimat gemacht hat.<br />
VON ANTOINETTE SCHMELTER-KAISER<br />
FOTO: ANTOINETTE SCHMELTER-KAISER<br />
Mariam Batsashvili auf der<br />
Terrasse des Aria Hotels<br />
Es gibt viele Gründe, Budapest zu besuchen.<br />
Eigentlich aber ist es nur einer:<br />
Budapest ist ganz großes Kino! Und<br />
zwar in jeglicher Hinsicht: Kunst, Kultur,<br />
Architektur. Die Bäder, die Parks,<br />
die Traditionen. Essen, Trinken und ein Hauch von<br />
Piazza-Flair. Für die georgische Pianistin Mariam<br />
Batsashvili gibt es noch einen: die Liebe. Hier wohnt<br />
und arbeitet ihr ungarischer Freund, den sie an der<br />
Hochschule für Musik in Weimar kennengelernt hat. Doch auch die<br />
Tatsache, dass die Hauptstadt Ungarns eine wichtige Lebensstation<br />
des Komponisten Franz Liszt war, machte ihr die Entscheidung<br />
dazubleiben leicht. Denn ihn verehrt diese junge, lebhafte Frau wie<br />
keinen anderen. Womit sie nicht allein ist: Der Flughafen, von dem<br />
aus die 26-Jährige viele ihrer Konzertreisen antritt, ist ebenso nach<br />
ihm benannt wie die Musikakademie und der parkähnliche Platz<br />
davor zwischen Villen aus der Habsburger Zeit, lebendig, jung, fast<br />
mediterran und deshalb: gern überfüllt. Statuen und Büsten mit seinem<br />
Konterfei finden sich überall in der Donau-Metropole – überall<br />
Zeugnisse wahrer Lisztomania, die Stationen unseres Spaziergangs<br />
auf seinen Spuren sind.<br />
Und so hängt auch im historischen Künstlercafé Müvész Kavéház<br />
an der Prachtstraße Andrássy út ein Porträt von ihm an der mit<br />
gelbem Stoff bespannten Wand. An einem Marmortischchen direkt<br />
darunter verrät mir Mariam Batsashvili bei Espresso und einer Portion<br />
pikanter Bundás Kenyér (Armer Ritter), was sie an Liszt fasziniert.<br />
„Er hat so viele verschiedene Facetten, vereinte<br />
Technik und Emotion“, schwärmt sie. Aus diesem<br />
Grund hat sie fünf seiner Stücke für ihr neues<br />
Album ausgewählt und sie mit drei Etüden von<br />
Frédéric Chopin kombiniert – beide Künstler waren<br />
zeitweilig eng miteinander befreundet; nach Chopins<br />
Tod veröffentliche Liszt zu dessen Gedenken seine<br />
Consolations, die Mariam Batsashvili auf ihrem<br />
Album interpretiert. Technisch brilliert sie dabei<br />
auf höchstem Niveau. Wichtiger sind ihr aber gefühlvoller Tiefgang<br />
und intensives Eintauchen in eine andere musikalische Welt.<br />
Im Liszt Ferenc Memorial Museum, einen kurzen Spaziergang<br />
entfernt, ist ihr das auf besondere Weise möglich: Drei hohe Altbauzimmer<br />
erinnern mit Möbeln, Instrumenten, Noten, Büchern und<br />
Gegenständen aus dem Besitz des Komponisten an die Jahre, die er<br />
von 1881 bis 1886 hier verbrachte. Fast ehrfürchtig führt Mariam<br />
Batsashvili vorbei an Vitrinen mit Devotionalien, von der Reisetasche<br />
bis zu einer weißen Haarsträhne, nostalgischen Chickering-<br />
Klavieren und einem Komponier-Schreibtisch mit ausziehbarer<br />
Klaviatur. Überhaupt hat sie ein Faible für Ambiente von anno<br />
dazumal: „In New York könnte ich nicht leben. Hier in Budapest<br />
spricht die Architektur zu mir – so wie in Weimar, wo ich seit 2011<br />
bei Grigory Gruzman studiere und jetzt meinen Master mache“,<br />
erklärt sie draußen auf dem Andrássy út, an dem auch ihre Wohnung<br />
liegt. Mit opulenten Jahrhundertwendebauten, in deren Erdgeschoss<br />
sich schicke Geschäfte und Lokale eingemietet haben, gehört<br />
79
L E B E N S A R T<br />
der 2,5 Kilometer lange Boulevard zum<br />
UNESCO-Weltkulturerbe. Am monumentalsten<br />
wirken die achteckige Kreuzung<br />
Oktogon und der weite Heldenplatz,<br />
den Kunsthalle, Museum der Bildenden<br />
Künste und Kolonnaden flankieren.<br />
Hinter ihnen führt eine Brücke<br />
über einen künstlichen See in die von<br />
zahlreichen Wegen durchzogene Parkanlage<br />
Városliget. „Ich mag das Märchenschloss<br />
Vajdahunyad mit seinem Stil -<br />
mix von Mittelalter bis Barock“, erzählt<br />
Mariam Batsashvili. Doch weil es tagsüber<br />
– wie die meisten Sehenswürdigkeiten in Budapest –Touristen<br />
en masse anzieht, komme sie gerne abends. Und das samt Teleskop:<br />
für einen Blick in den Nachthimmel, das netterweise ihr Freund<br />
trägt. Lieblingsorte wie diese steuert Mariam Batsashvili gezielt an,<br />
anstatt sich in der Stadt treiben zu lassen. „Oft ist es mir da zu voll<br />
und zu laut. Außerdem reise ich viel, habe wenig Zeit und genieße<br />
als Kontrastprogramm unser Zuhause im VI. Bezirk“, erklärt sie.<br />
Rund sechs Stunden täglich übt sie dort auf ihrem GC1-Flügel von<br />
Yamaha. Zweimal pro Woche unterstützt sie dabei via Skype bis<br />
heute ihre Lehrerin Natalia Natsvlishvili, bei der sie in ihrer Heimatstadt<br />
Tiflis im Alter zwischen fünf und 18 ihr Klavierspiel perfektionierte.<br />
Außerdem kocht sie gerne selbst und liest viel, bevorzugt<br />
zum Thema Psychologie, das sie sehr „neugierig“ macht.<br />
„Ich könnte mir auch vorstellen, als Therapeutin zu arbeiten“,<br />
erstaunt mich Mariam Batsashvili auf der Fahrt Richtung Zentrum<br />
mit der Linie 1. Seit 1896 verkehrt die Millenniumi Földalatti Vasút<br />
knapp unter der Andrássy út als liebevoll gepflegtes U-Bahn-Relikt.<br />
Weiter geht es mit der modernen Tram. In der St.-Stephans-Basilika<br />
sorgt Mariam Batsashvili für eine weitere Überraschung. „Bei meinem<br />
ersten Besuch war ich allein hier und habe deutlich gespürt,<br />
dass ich wiederkommen werde“, erinnert sie sich unter der 96 Meter<br />
hohen Kuppel, die ein Mosaik mit himmlischen Motiven schmückt.<br />
An der schönen blauen Donau:<br />
Blick auf das ungarische Parlament<br />
„8.500 Menschen haben hier Platz. Trotz<br />
der Größe fühle ich mich zu Hause.“ Die<br />
größte Kirche Budapests wirkt selbst mit<br />
Abstand noch imposant: Von der High<br />
Note Sky Bar auf dem Dach des Fünf-<br />
Sterne-Hotels Aria fällt bei einem Cocktail<br />
der Blick auf ihre geschwungenen<br />
Dächer und spitzen Türme. In der entgegengesetzten<br />
Richtung ragt das Parlament<br />
am Ufer der Donau empor.<br />
Rund um das riesige Regierungsgebäude<br />
wirkt Budapest besonders aufpoliert,<br />
während weiter entfernt vom Zentrum<br />
das sozialistische Erbe vor sich hin verwittert. Zwei Gardesoldaten<br />
paradieren im Kreis auf dem Platz vor dem Wahrzeichen<br />
der Stadt, dessen Vorbild der Londoner Palace of Westminster war.<br />
Vor der neogotischen Fassade zum Fluss hin ankern Ausflugsschiffe.<br />
Oberhalb von ihnen führt die berühmte Kettenbrücke hinüber zum<br />
hügeligeren Stadtteil Buda. „Wenn man am Hang unterhalb der<br />
Burg spazieren geht, hat man einen tollen Blick auf Pest“, weiß<br />
Mariam Batsashvili. Doch dafür bleibt heute keine Zeit mehr, sie<br />
muss weiter. Auf dem Weg zurück zum zentralen Platz Deák Ferenc<br />
tér schauen wir kurz in ihrem Lieblingsladen vorbei. Er verkauft<br />
Vintage-Mode, die Mariam Batsashvili für ihre kleine, zarte Figur<br />
selbst umschneidert.<br />
Dann hat sie es eilig, wieder an ihr Instrument zu kommen.<br />
Denn auf Konzerte bereitet sie sich akribisch vor; bis Januar steht<br />
die nächste Serie an, die von England über Belgien und Österreich<br />
bis nach Deutschland führt. Angebote bekommt sie seit ihrem ersten<br />
Platz bei Liszt-Wettbewerben in Weimar und Utrecht mehr als<br />
genug. Für ihre Auftritte wählt Mariam Batsashvili bewusst strenge<br />
Anzüge, spielt hochkonzentriert und ohne große Geste. „Ich bin<br />
nicht wichtig. Was zählt, ist die Musik“, macht sie bar jeder Eitelkeit<br />
klar. „Als Pianistin habe ich das Gefühl, Medium zu sein für eine<br />
Energie, die aus anderen Quellen kommt.“<br />
■<br />
Tipps, Infos & Adressen<br />
Reiseinformationen rund um Ihren Besuch in Budapest.<br />
Musik & Kunst<br />
Derzeit wird die Staatsoper an der Andrássy<br />
út renoviert. Daher gibt es nur verkürzte<br />
Touren durch das prachtvolle Gebäude, Aufführungen<br />
finden andernorts statt. Kostproben<br />
junger Könner in historischen Sälen gibt<br />
es an der Liszt Academy. Kulturzentrum für<br />
alle Genres von Ballett bis Musik ist seit 2005<br />
das Müpa im IX. Bezirk. Wegen der Thermalwasservorkommen<br />
hat Heilbaden in Budapest<br />
Tradition. Mariam Batsashvili entspannt<br />
am liebsten im eleganten Széchenyi Fürdö.<br />
Essen & Trinken<br />
Stilvolle Lokale mit dem Flair vergangener Epochen:<br />
Müvész Kavéház und Café Parisi, beide<br />
auf der Andrássy út mit köstlichen Kuchen und<br />
Torten. Wie ein Pariser Bistro: das Két Szerecsen<br />
nahe der Oper. Morgens Frühstück, mittags<br />
und abends moderne Multikulti-Küche. Mariam<br />
Batsashvili bestellt gerne Tapas. Experimentierfreudig<br />
mit lokalen Produkten kocht Ákos<br />
Sárközi, der auch Küchenchef des Sterne-<br />
Restaurants Borkonyha gegenüber ist, im<br />
Textúra in der Nähe der St.-Stephans-Basilika.<br />
Übernachten<br />
Das luxuriöse Aria Hotel neben der<br />
St.-Stephans-Basilika. Vier Gebäudeteile<br />
sind je einer Richtung gewidmet: Klassik,<br />
Oper, Moderne, Jazz – Nachmittagskonzerte<br />
auf einem futuristischen Flügel. Vis-àvis<br />
vom Parlament: das Four Seasons<br />
Gresham Palace – ein aufwendig restauriertes<br />
Jugendstil-Juwel. Vintage-Fans fühlen<br />
sich im Brody House wohl: einer<br />
privaten Villa von 1896, 2009 verwandelt<br />
in ein Boutiquehotel mit elf Zimmern.<br />
FOTOS: ANTOINETTE SCHMELTER-KAISER, SZÉCHENYI FÜRDÖ<br />
80 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
Termine<br />
Tanzgeschichten<br />
FÜR GLOBETROTTER<br />
Der Indian Summer lockt an die Ostküste Nordamerikas.<br />
Vier Uraufführungen stehen auf dem Programm<br />
des Fall for Dance Festivals. Myste Copeland stellt<br />
eine neue Choreografie von Kyle Abraham vor.<br />
Kim Brandstrup, der, angeregt von seinen filmischen<br />
Erfahrungen, mit seinen Choreografien<br />
emotional berührende Geschichten erzählt, bringt<br />
eine neue Tanzgeschichte. Sonya Tayeh zeigt mit<br />
dem Sänger Moses Sumney Unveiling. Und Caleb<br />
Teicher setzt sein Projekt Bzzz fort und erkundet<br />
mit seiner Kompanie das Zusammenspiel von<br />
Aufbau und Zerstörung von Mustern.<br />
Zur Eröffnung zeigt die Kompanie Hubbard<br />
Street Dance Chicago die Choreografie A Picture<br />
of You Falling von Crystal Pite, eine getanzte Erzählung<br />
über Liebe und Verlust. Darüber hinaus<br />
gibt es Künstler aus Argentinien, Kanada, Südafrika,<br />
Russland und Europa zu sehen. Den Abschluss<br />
bildet die Martha Graham Dance Company mit<br />
der Choreografie Chronicle. Martha Graham, die<br />
Ikone des Modern Dance, reagierte damit <strong>19</strong>36 auf<br />
den Faschismus in Europa.<br />
New York City Center, 1. bis 13.10.,<br />
www.nycitycenter.org<br />
Heimatsuche<br />
Die Heimat verlassen. Vom Außenstehenden zum<br />
Mitglied einer Gesellschaft werden. Der umgekehrte<br />
Prozess in Bezug auf die ursprüngliche Heimat.<br />
Komponist Jorge Sosa und Librettistin Cerise<br />
Lim Jacobs stellen sich dem Thema in ihrer neuen<br />
Oper I Am A Dreamer Who No Longer Dreams.<br />
Beide sind selbst in die USA immigriert, Sosa aus<br />
Mexiko, Jacobs aus Singapur.<br />
Der Titel ihrer Oper bezieht sich auf Trumps<br />
Beendigung von DACA (Deferred Action for Childhood<br />
Arrivals). Die von Obama erlassene Regelung<br />
schützte die sogenannten Dreamer, illegale<br />
Einwanderer, die bereits als Kinder in die USA<br />
gekommen waren, vor Abschiebung. Elena Araoz<br />
ins zeniert. Protagonistin Rosa, die das mexikanische<br />
Erbe und die neue Kultur in sich trägt, verkörpert<br />
die Mezzosopranistin Carla López-Speziale.<br />
Sosas traumhafte und mitunter auch alptraumhafte<br />
Musik dirigiert Maria Sensi Sellner.<br />
Boston, Robert J. Orchard Stage im<br />
Emerson Paramount Center, 20. bis 22.9.,<br />
emersontheatres.org<br />
Empfindungslosigkeit<br />
Das Festival O<strong>19</strong> eröffnet mit der neuen Kammeroper<br />
Denis & Katya, die auf einer realen Begebenheit<br />
basiert. 2016 schossen zwei 15-Jährige im westrussischen<br />
Pskow aus einer Datscha auf Polizisten<br />
und übertrugen dies live in den sozialen Medien.<br />
Die Polizei fand später die Leichen der beiden<br />
Jugendlichen – vermutlich Selbstmord. Der Fall<br />
regte Philip Venables und Ted Huffman zu den<br />
Überlegungen an, wie empfindungslos man durch<br />
das Ansehen eines solchen in Echtzeit ablaufenden<br />
Dramas werde. Man sehe einfach zu, anstatt<br />
zu helfen. In ihrer Oper verweben sie originale<br />
Textpassagen und Videospuren mit Botschaften<br />
aus den sozialen Medien und stellen die Frage, was<br />
diese über uns aussagen. Die beiden Protagonisten<br />
verkörpern der Bariton Theo Hoffman und die<br />
Mezzosopranistin Siena Licht Miller. Regie führt<br />
Ksenia Ravvina, und die musikalische Leitung<br />
übernimmt Emily Senturia<br />
Philadelphia, Opera, 18. bis 29.9.,<br />
www.operaphila.org<br />
FOTO: XIN YING<br />
VIEL SCHICKER ALS „NACHTS IM MUSEUM“ IST „ÜBERNACHTEN IN DER GALERIE“<br />
Blaue Gans in Salzburg<br />
FOTO: PRIVAT<br />
Seit über 660 Jahren speisen die<br />
Salzburger und ihre Gäste in<br />
der „Blauen Gans“ – ganz zentral<br />
in der Getreidegasse in der Salzburger<br />
Altstadt, nur ein paar Schritte<br />
vom Festspielhaus entfernt. Dabei<br />
sollte das Haus ursprünglich eigentlich<br />
„Zum Fasan“ heißen – ein<br />
damals sehr exotisches Tier, das die<br />
meisten Menschen noch nie zuvor<br />
gesehen hatten. Anscheinend noch<br />
nicht einmal der Kunsthandwerker<br />
selbst, der das berühmte Nasenschild<br />
gestaltet hat: Sein Fasan sieht jedenfalls<br />
tatsächlich aus wie eine blaue<br />
Gans. Schnell hatte das Haus seinen<br />
neuen Spitznamen – bis heute.<br />
Seit über 100 Jahren ist das älteste Gasthaus der Stadt nun im<br />
Besitz der Familie Gfrerer. Der heutige Eigentümer, Andreas Gfrerer,<br />
hat das Haus behutsam, aber aufwendig renoviert. Was er noch mehr<br />
liebt, als Hotelier zu sein, ist die Kunst: An den Wänden hängen ausschließlich<br />
Originale – sozusagen eine „Galerie mit Übernachtungsmöglichkeit“.<br />
Viele renommierte Künstler kennt er persönlich und<br />
hat zu jedem Werk in seinem Haus eine Geschichte auf Lager. Darum<br />
nennt er sein Haus auch treffend „arthotel“. Das historische Gebäude,<br />
in dem es keine rechten Winkel und geraden Mauern gibt, birgt<br />
modern und edel eingerichtete<br />
Zimmer. Absolutes Highlight sind<br />
die zwei neuen 80 Quadratmeter<br />
großen City Flats: Mit wertvollen<br />
barocken Türen, Stuckdecken und<br />
Holz- und Marmorböden vermitteln<br />
beide Appartements ein einzigartiges<br />
Wohngefühl. In der voll eingerichteten<br />
Küche kann man sogar<br />
selbst den Kochlöffel schwingen –<br />
der Salzburger Grünmarkt mit heimischem<br />
Obst und Gemüse befindet<br />
sich nur wenige Schritte entfernt.<br />
Im historischen Restaurantgewölbe<br />
oder im lauschigen Gastgarten<br />
lässt es sich ganztägig gut speisen:<br />
Küchenchef Martin Bauernfeind verwöhnt unter anderem mit<br />
viel Selbstgemachtem aus der hauseigenen Speisenmanufaktur wie<br />
Nudeln und Tascherl. Heimische Fische finden sich ebenso auf der<br />
Karte wie Küchenklassiker, so zum Beispiel Wiener Schnitzel, Backhendl,<br />
Beef Tatar, Apfelstrudel oder hausgemachtes Eis.<br />
■<br />
TIPP: Natürlich ist Salzburg immer eine Reise wert, Anlässe gibt es genug.<br />
Wer einen sucht, der noch nicht in aller Munde ist: Vom 16. bis 20. <strong>Oktober</strong><br />
findet in der Altstadt das Festival Jazz&TheCity statt: 5 Tage. 30 Bühnen. 70<br />
Konzerte. Freier Eintritt! Preis pro Person im DZ: ab 71 EUR; arthotel Blaue<br />
Gans, Getreidegasse 41-43, 5020 Salzburg, Tel: +43-(0)662-84 24 91<br />
81
HTOI PT E LTZREIIFLFET<br />
Daniel-Hope-Kolumne<br />
„DIE MÖGLICHKEITEN SIND ENDLOS“<br />
Die französische Pianistin Lise de la Salle wirft mit Daniel Hope einen Blick auf die Zukunft<br />
des Klaviers. Und freut sich auf die Herausforderung eines Perspektivenwechsels.<br />
Daniel Hope: Lise, wolltest du eigentlich<br />
schon immer Pianistin werden?<br />
Lise de la Salle: Ich hatte keine Wahl. Wir<br />
hatten ein Klavier zu Hause. Meine<br />
Mutter war Sängerin, keine professionelle<br />
zwar, aber sie liebte es zu singen. Und<br />
meine Großmutter war Klavierlehrerin!<br />
Ich wuchs also in einer sehr musikalischen<br />
Umgebung auf. Mein erstes Erlebnis<br />
mit dem Instrument hatte ich mit drei<br />
oder vier Jahren. Und seitdem habe ich nie<br />
wieder aufgehört zu spielen. Ich kann<br />
mich nicht an ein Leben ohne Klavier<br />
erinnern – es war einfach immer da.<br />
Was ist denn eigentlich so faszinierend<br />
am Klavier? Vor allem auf Kinder<br />
wirken die Tasten einladend.<br />
Einerseits ist das Klavier ein sehr kraftvolles<br />
Instrument. Es ist schön, es ist nobel,<br />
es ist elegant, es ist groß. Vor allem auf<br />
Kinder wirkt es wirklich riesig! Auch ich<br />
war als Kind sehr beeindruckt vom<br />
Klavier. Andererseits ist es – im Vergleich<br />
zur Geige etwa – relativ einfach zu spielen.<br />
Wenn man sich ans Klavier setzt, muss<br />
man nicht einmal wissen, wie es geht.<br />
Man kann etwas produzieren – und dabei<br />
etwas fühlen. Es ist reizvoll, weil man<br />
schnell etwas zustande bringt, was<br />
halbwegs anständig klingt.<br />
Später ist man dann fasziniert, was man<br />
alles mit einem Klavier anstellen kann. Es<br />
klingt sehr einfach, was ich sage: Wir<br />
haben zehn Finger. Und allein mit diesen<br />
zehn Fingern erzeugt man Klänge. Und<br />
manchmal sieht das so irreal aus, wenn<br />
man einen Pianisten beobachtet. Auch ich<br />
staune immer noch Bauklötze, wenn ich<br />
meine Kollegen spielen sehe, und denke<br />
„wow!“. Das ist unglaublich, denn man<br />
kann wirklich sehen, was passiert. Das ist<br />
anders als bei anderen Instrumenten ...<br />
Lise de la Salle mit Daniel Hope<br />
Du spielst überall auf der Welt und bist<br />
bekannt für dein großes Repertoire.<br />
Und du machst Dinge, die ziemlich<br />
außergewöhnlich sind, spielst etwa alle<br />
Rachmaninow-Konzerte in einem<br />
Zyklus. Das ist phänomenal. Du benutzt<br />
das Klavier, um dich selbst in neue<br />
Sphären zu pushen. An Bach arbeitest<br />
du zum Beispiel mit einem Jazzpianisten<br />
zusammen. Wie siehst du die Flexibilität<br />
des Klaviers in der Zukunft? Meinst du,<br />
dass das Instrument die Möglichkeit hat,<br />
verschiedene Felder zu beackern?<br />
Ja! Absolut! Gerade heutzutage brauchen<br />
wir Projekte, die andere Dinge zutage<br />
fördern und dem Publikum mehr bieten.<br />
Ich liebe es, mich neuen Herausforderungen<br />
zu stellen. Manchmal spielt man<br />
wunderbare Programme, hat aber nur<br />
zehn Zuhörer. Du wirst keine Säle nur mit<br />
Beethoven-Sonaten füllen! Ich wünschte,<br />
es wäre so – aber die Realität sieht anders<br />
aus! Wir sind gezwungen, über einen<br />
anderen Filter zu denken! Das verändert<br />
die Perspektive! Wir müssen darüber<br />
nachdenken, welche neuen Geschichten<br />
wir mit unserem Publikum teilen wollen.<br />
Das ist faszinierend. Und ja, es macht die<br />
Sache auch schwerer, denn es zwingt uns,<br />
über den Tellerrand hinauszuschauen. Es<br />
ist eine große Herausforderung – doch mit<br />
dem Klavier kann man so viele Klänge<br />
produzieren und hat so viele Möglichkeiten<br />
der Zusammenarbeit! Grundsätzlich<br />
ist man zwar allein – doch jenseits dieser<br />
Tatsache sind die Möglichkeiten endlos.<br />
Das reicht vom Duo bis hin zu einer<br />
Zusammenarbeit mit 70 Leuten! Am<br />
wichtigsten ist, dass ich meine Geschichte<br />
mit dem Publikum teilen möchte, dass ich<br />
Gefühle preisgebe.<br />
Als Pianist kann man sein Klavier nicht<br />
mitnehmen – da haben wir Geiger es<br />
schon leichter. Du bist dem ausgeliefert,<br />
was für ein Instrument in einem Saal<br />
steht. Ist das eine Sache, die bei der<br />
Vorbereitung eine Rolle spielt?<br />
Früher habe ich das gehasst! Heute habe<br />
ich gelernt, auch diesen Teil zu genießen.<br />
Ich bin natürlich heute in der glücklichen<br />
Lage, in Sälen zu spielen, in denen<br />
meistens sehr gute Instrumente stehen.<br />
Die Frage „Welche Entdeckung werde ich<br />
machen?“ finde ich sehr spannend!<br />
Manchmal hast du eine sofortige Verbindung<br />
zum Instrument. Es läuft, es ist<br />
schön, es ist perfekt. Und manchmal spielt<br />
man auf Instrumenten, bei denen die<br />
Verbindung nicht ganz so einfach ist.<br />
Dann musst du versuchen zu verstehen,<br />
wie dieses spezielle Klavier tickt und<br />
welche Verbindung du schaffen musst.<br />
Wie viel Energie muss ich hineinstecken,<br />
um meinen spezifischen Klang zu<br />
erreichen? Einige Klaviere erfordern dies<br />
und andere verlangen etwas völlig<br />
anderes. Es ist niemals der gleiche Weg.<br />
Eine Herausforderung, ja, aber es bringt<br />
meist viel Freude – weil manchmal die<br />
Chemie einfach perfekt stimmt. n<br />
ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />
FOTO: FRANK STEWART<br />
82<br />
w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>19</strong>
Spüren Sie die grandiose Kraft von 80 Spitzenmusikern<br />
Herr der Ringe | Gladiator | Ziemlich beste Freunde | Star Wars | Titanic<br />
König der Löwen | Jurassic World | The Da Vinci Code | Game of Thrones | uvm.<br />
01.11.<strong>19</strong><br />
München<br />
02.11.<strong>19</strong><br />
Stuttgart<br />
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06.11.<strong>19</strong><br />
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29.11.<strong>19</strong><br />
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ERSCHEINT AM 27.09.20<strong>19</strong><br />
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