15.05.2020 Aufrufe

CRESCENDO 6/19 Oktober-November 2019

CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck.

CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

O P U S K L A S S I K<br />

Tatsächlich beschreibt das Wort „Atmosphäre“ den<br />

Klang, den ein Dirigent wie Jansons kreiert, vielleicht am<br />

besten. Klang scheint für ihn eines der geeignetsten Mittel<br />

des Ausdrucks zu sein, die höchste Form der Kommunikation<br />

– ein Dialog, der in der Ernsthaftigkeit mit sich selber<br />

beginnt und erst aus dieser Tiefe heraus zum Gegenüber<br />

spricht. Oder wie er selbst formuliert: „Ich glaube, dass die<br />

Musik uns oft gar nicht auffordert, konkrete Antworten zu<br />

finden. Musik funktioniert nicht nach dem Prinzip der<br />

Sprache oder einer Matheaufgabe, an deren Ende ein<br />

unumstößliches Ergebnis steht. Wir kennen doch alle<br />

diese Gefühle, in denen wir meinen, die Welt oder die<br />

Liebe zu verstehen, oder in denen wir an beidem zweifeln.<br />

Aber wir können diesem Gefühl in dem Moment, in dem<br />

wir es spüren, oft keine konkreten Worte geben – was<br />

bleibt, ist eine unaussprechliche Atmosphäre.“<br />

Und diese Atmosphäre entsteht selbst ohne Musik –<br />

in jeder Begegnung mit Mariss Jansons. Seine Orchester<br />

verehren seine stille Autorität – ein Maestro, der auch<br />

andere neben sich zulässt, ja, dessen Lebenswerk auch<br />

darin besteht, Nachfolger aufzubauen wie etwa seinen<br />

Schüler Andris Nelsons. Dabei braucht sein Wesen nicht<br />

viele Worte, er ist ein Mensch der Musik. „Meine Buchstaben<br />

sind die Noten“, sagt er selbst, „sie wachsen zu einem<br />

Motiv – und aus den Motiven entsteht ein Satz. Aber<br />

anders als der Satz in der Sprache ist der Satz in der Musik<br />

nicht unbedingt sofort zu verstehen. Er braucht eine Übersetzung.<br />

Und das ist, wofür wir Interpreten die Energie<br />

und die Intuition brauchen. Unsere Aufgabe ist es, bei<br />

unserer Interpretation des musikalischen Satzes so nahe<br />

am Komponisten wie möglich zu sein und gleichzeitig<br />

„MEINE<br />

BUCHSTABEN<br />

SIND DIE<br />

NOTEN“<br />

müssen wir vom Orchester und vom Publikum verstanden<br />

werden. Es geht also immer darum, durch Energie eine<br />

Brücke vom Komponisten zum Publikum zu schlagen“.<br />

Die Stille, die Ausgewogenheit und die Ruhe, mit der<br />

Mariss Jansons für gewöhnlich kommuniziert, ist ebenfalls<br />

eine Konstante seines Lebens, ein Teil seiner unveränderlichen<br />

DNA. Jansons’ Mutter, eine erfolgreiche Mezzosopranistin,<br />

floh, nachdem ihr Vater und ihr Bruder im Ghetto<br />

von Riga umgekommen waren, in ein Versteck, um im<br />

Januar <strong>19</strong>43 ihren Sohn Mariss zur Welt zu bringen. „Ich<br />

war als Jugendlicher sehr schüchtern, sehr still und fand<br />

einfach nicht die Worte, um meiner inneren Welt Ausdruck<br />

zu verleihen“, sagt der Dirigent, „ich war voller<br />

Komplexe, habe mich für alles geschämt, und es fiel mir<br />

sehr schwer, mein Herz zu öffnen.“ Mit der Musik fand<br />

sein stilles Ich dann eine Möglichkeit des anderen Ausdrucks,<br />

der Expression, die für ihn einen wesentlichen<br />

Bestandteil des Musizierens darstellt. „Es geht immer da -<br />

rum, dem Orchester und dem Publikum die nötige Energie<br />

bereitzustellen. Dafür ist ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein<br />

einfach nötig.“ Und das hätte er sich angelernt,<br />

verrät der Dirigent – um Musik machen zu können.<br />

Als Mariss Jansons 2003 die Nachfolge von Lorin<br />

Maazel als Chef des BR-Symphonieorchesters antrat, ahnte<br />

niemand, was für eine Epoche da mit jenem Dirigenten<br />

anbrechen sollte, der einst am Leningrader Konservatorium<br />

studiert hatte, <strong>19</strong>69 nach Österreich ging, um bei<br />

Hans Swarowsky und Herbert von Karajan in die Lehre zu<br />

gehen. Jansons und das Symphonieorchester des BR sind<br />

inzwischen Seelenverwandte, egal, ob durch den genialischen<br />

Beethoven- oder Mahler-Zyklus, durch die Sinfonien<br />

von Schostakowitsch, die großartige Aufnahme von<br />

Strauss’ Vier letzten Liedern mit Anja Harteros oder die<br />

letzte Rachmaninow-Aufnahme. Jansons entwickelte dieses<br />

Orchester zu einem der wichtigsten und spannendsten<br />

Klangkörper der Welt. Das Concertgebouw in Amsterdam<br />

verließ er 2015 nach elf Jahren wieder – den Münchnern<br />

aber blieb er treu.<br />

Eigentlich braucht jemand wie Jansons keine Preise<br />

mehr. Er hat den Bayerischen Verdienstorden, das Österreichische<br />

Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, den<br />

Ernst von Siemens Musikpreis, den Verdienstorden der<br />

Bundesrepublik, ist Ehrenmitglied der Berliner und der<br />

Wiener Philharmoniker. Vor zwei Jahren kritisierte der<br />

Sohn einer jüdischen Mutter den ECHO KLASSIK scharf,<br />

zeigte sich erschrocken über die antisemitischen Ausfälle.<br />

Dass Mariss Jansons nun den OPUS KLASSIK für sein Le -<br />

bens werk annimmt, ehrt den Preis mehr als den Preisträger.<br />

FOTO: PETER MEISEL (BR)<br />

54 w w w . c r e s c e n d o . d e — Verlags-Sonderveröffentlichung zum OPUS KLASSIK 20<strong>19</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!