O P U S K L A S S I K „INSTINKT, EINE PARTITUR ZU ORDNEN UND IM RICHTIGEN MOMENT RICHTIG ZU REAGIEREN. EIN ZEICHEN ZU GEBEN, EINE ENERGIE FREIZUSETZEN, DIE DAS ORCHESTER VERSTEHT. DIESER INSTINKT IST VIELLEICHT IM ALTER BESSER AUSGEPRÄGT“ FOTO: PETER MEISEL (BR) 52 w w w . c r e s c e n d o . d e — Verlags-Sonderveröffentlichung zum OPUS KLASSIK 20<strong>19</strong>
O P U S K L A S S I K WÜRDIGUNG DES LEBENSWERKES Meister der Atmosphäre VON AXEL BRÜGGEMANN Mariss Jansons ist kein Mensch, der gern pathetisch wird – nicht einmal dann, wenn er auf sein 76-jähriges Leben zurückblickt. Er glaubt nicht daran, dass ein Mensch sich im Laufe seines Lebens maßgeblich wandelt. „Natürlich hat die Zeit einen Einfluss auf unsere Empfindsamkeit und unsere Art, die Dinge zu sehen“, sagt er, „aber ich bin davon überzeugt, dass ein Mensch seine Meinungen innerhalb eines Lebens nicht grundlegend ändert: Er entwickelt sich, er lernt, er mildert einiges ab, verschärft anderes – aber die äußeren Einflüsse sind nicht so groß, dass sie die innere Welt grundlegend verändern.“ Tatsächlich ist Mariss Jansons sich ein Leben lang treu geblieben: Als Musiker ist er in erster Linie Mensch, und auch seine S u c h e in nerhalb der Musik scheint stets dem gleichen Ziel zu dienen: vorzudringen zum Kern einer Komposition, die Zeitlosigkeit innerhalb der Kunst aufzustöbern, oder wie er es sagt, „hinabzutauchen, immer tiefer in eine Welt, in der unsere reale Welt immer kleiner wird – und das, was uns innerlich ausmacht, größer“. In keiner seiner Interpretationen, egal ob in seinen Mahler-Sinfonien, bei Beethoven oder bei Schostakowitsch, egal mit welchem Orchester, den Osloer Philharmonikern, mit Pittsburgh oder seinem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks – Jansons sucht nie nach musikalischen Moden, sondern stets nach dem wahrhaftigen Sinn, nach dem, was er „die Seele“ nennt. „Diese musikalische Seele funktioniert wie eine Blume oder ein Baum“, erklärt er. „Wenn die Pflanzen jung sind, sind sie betörend schön, strotzen vor Kraft, sind grün und wild – aber spannend werden sie besonders im Herbst oder im Alter, wenn sie knorriger werden, wenn sie eine Geschichte zu erzählen haben.“ Und diese Geschichte erzählt Mariss Jansons jedes Mal neu, wenn er musiziert. Wenn er Klang aus Weisheit und Erfahrung produziert. Das Musizieren ist für ihn in erster Linie der „Instinkt, eine Partitur zu ordnen und im richtigen Moment richtig zu reagieren. Ein Zeichen zu geben, eine Energie freizusetzen, die das Orchester versteht. Dieser Instinkt ist vielleicht im Alter besser ausgeprägt“, gibt der Dirigent zu, „und er ist nötig, um am Ende eine Atmosphäre aus Musik zu schaffen.“ 53