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CRESCENDO 6/19 Oktober-November 2019

CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck.

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E R L E B E N<br />

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„Mythos“ ist ein nachdenkliches Album großer musikalischer Schönheit. Mulo Francel an<br />

Saxofonen und Klarinetten und Chris Gall am Klavier widmen sich in einem musikalischen<br />

Dialog den alten Mythen, die von Flucht, Schicksal und Hoffnungen erzählen.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Francel,<br />

Mythen sind Weisheitsquellen.<br />

Bangen Sie um die Welt?<br />

Mulo Francel: Wie viele Menschen,<br />

die mit wachen Augen auf<br />

unsere Welt schauen, bin ich<br />

besorgt. Aber es gibt durchaus auch<br />

Anlass zur Ermutigung. Auf einer<br />

Tournee in Freiburg im Breisgau<br />

gerieten wir zufällig in eine<br />

Fridays-for-Future-Veranstaltung<br />

Hunderter junger Menschen. Dass<br />

eine junge Generation aufsteht und<br />

Veränderungen verlangt, war eine<br />

emotional aufwühlende Erfahrung für uns. Vor diesem Hintergrund<br />

ist das Thema Mythos ein gedanklicher Leitfaden, dem wir mit unserem<br />

musikalischen Konzept folgen.<br />

Mit Palinuro über Aeneas und Dido’s Lament zieht sich auch das<br />

Thema Flucht durch Ihr Album …<br />

Da gibt es eine Parallele zu heute. Man muss nur einen Blick in<br />

Homers Epos Ilias werfen. Aeneas flieht mit anderen Trojanern aus<br />

dem brennenden Troja. Ungünstige Winde treiben sie an die Küste<br />

Nordafrikas. Dort bekommen sie Asyl. Königin Dido verliebt sich<br />

sogar in Aeneas. Wir sehen genau die umgekehrte Situation zu<br />

heute. Dieses uralte Epos erinnert uns daran: Es ist zuallererst ein<br />

Gebot der Menschlichkeit, Asyl zu gewähren.<br />

Ikarus’ Dream nennen Sie als auslösende Inspiration für das Album.<br />

Ikarus wollte seinem Schicksal entfliehen und stürzte ins Meer. Ist<br />

der große Menschheitstraum unerfüllbar?<br />

Das hängt davon ab, ob man an eine Vorbestimmung<br />

glauben will oder an die Freiheit, seinen<br />

Weg selbst zu bestimmen. Ich neige eher zu letzterer<br />

Sichtweise. Ikarus und sein Vater Dädalus<br />

schaffen es, aus dem Labyrinth des Minotaurus<br />

auszubrechen, mit List, aber auch mit Gedankenkraft<br />

und handwerklicher Fähigkeit. Dass die<br />

Flucht dennoch tragisch endet, lag an Ikarus’<br />

Übermut. Der Anblick der sonnenbeschienenen<br />

Ägäis und die Vorstellung dieses Fluges und der<br />

Gedanken Ikarus’ beim Absturz waren für mich<br />

ein inspirierender Augenblick. Die starke Emotion,<br />

die er auslöste, setzte ich in Musik um.<br />

Das Album ist eine Duo-Aufnahme. Sie haben<br />

MULO FRANCEL & CHRIS GALL<br />

22.11. Burghausen, Ankersaal<br />

26.11. München, Allerheiligen-Hofkirche<br />

8.1. Bonn, Harmonie<br />

9.1. Berlin, A-trane<br />

31.3. Rosenheim, Apostelkirche<br />

Weitere Termine und Informationen:<br />

www.mulofrancel.de<br />

Mulo Francel, Chris Gall: „Mythos“ (GLM)<br />

FOTO: MIKE MEYER<br />

schon mehrere Duo-Alben veröffentlicht.<br />

Was ist das Besondere<br />

am Duo?<br />

Das Duo-Spiel ist ein Dialog, in<br />

dem man lebendig aufeinander<br />

eingehen kann. Chris’ hochvirtuoses<br />

Klavierspiel ist so rhythmisch<br />

und feingliedrig, dass man in<br />

kleinste Details gehen kann. Das<br />

entflammt mich. Es regt mich<br />

dazu an, über seine rhythmischen<br />

und harmonischen Strukturen<br />

weite Melodiebögen zu legen.<br />

Chris war häufig Mitglied bei<br />

Quadro Nuevo, wir zogen nächtelang gemeinsam durch Buenos Aires.<br />

Er spielt ein Stück jeden Abend anders und gibt einfallsreiche Impulse.<br />

Für mich als Musiker, der viel auf der Bühne steht, ist es wichtig, mich<br />

jeden Abend musikalisch herauszufordern. Chris ist dabei ein wunderbarer<br />

Partner.<br />

Die 7 Weisen haben Sie gemeinsam komponiert. Wie geht die<br />

Umsetzung einer Idee in Musik vor sich?<br />

Ich hatte eine Reise durch den Iran unternommen, mit Menschen<br />

gesprochen und mit einheimischen Musikern gespielt. Daraus entstand<br />

2018 das Hörbuch Goethes persische Reise. Goethe begeisterte<br />

sich in seinen späten Jahren für die persische Kultur. Während der<br />

Reise durch diese alte Hochkultur und diesen religiös gelenkten Staat<br />

stellte sich mir die Frage, was eine gute Regierungsform auszeichnet.<br />

Die Überlegungen verarbeitete ich in dem Stück Der Weise. Chris<br />

wiederum hatte ein Stück im Siebenviertel-Takt,<br />

das er In 7 nannte. Beide zusammen ergaben Die<br />

7 Weisen. Wir stellen uns vor: Sieben Weise –<br />

ältere Menschen mit viel Lebenserfahrung –,<br />

denen man vertraut, setzen sich zusammen, diskutieren<br />

gesellschaftliche Fragen und stimmen<br />

anschließend ab.<br />

Erwarten Sie vom Publikum, dass es sich auf<br />

die Themen einlässt?<br />

Ich erwarte die Bereitschaft, sich aus dem Alltag<br />

entführen zu lassen in eine Welt von Klängen.<br />

Die inhaltliche Inspiration muss man nicht mitnehmen.<br />

Aber man kann sich den Flug des Ikarus<br />

vorstellen, um sich selbst anders zu verhalten.<br />

Nicht zu tief zu fliegen und nicht zu hoch. ■<br />

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