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CRESCENDO 6/19 Oktober-November 2019

CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck.

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Vincent Dumestre<br />

Doppelbödige Kirchenmusik<br />

SAKRALE<br />

MUSIK<br />

Gregorio Allegris Miserere war lange von einem Mysterium umgeben. Um 1630 schrieb er seine A-cappella-Fassung des<br />

Bußpsalms 51, den auch Orlando di Lasso und Giovanni Pierluigi da Palestrina vertonten. Der Vatikan hielt das doppelchörige<br />

Werk, das nur in der Karwoche gesungen wurde, bis ins späte 18. Jahrhundert unter Verschluss. Zum 20. Gründungsjubiläum<br />

beschäftigt sich das französische Alte-Musik-Ensemble Le Poème Harmonique mit Verzierungen und Transpositionen,<br />

die im Lauf der Zeit hinzukamen. Auf dem Album „Anamorfosi“ widmen sich die Musiker unter Leitung von Vincent<br />

Dumestre außerdem Komponisten aus der Renaissance und dem Barock, die weltliche Melodien für die Verwendung in<br />

der Kirche umarbeiteten.<br />

Unter der Maske des Sakralen fanden amouröse Turbulenzen, Schlachtenlärm und theatralische Auseinandersetzungen<br />

Einlass in die Gotteshäuser. Im Pianto della Madonna übertrug Claudio Monteverdi sein Lamento d’Arianna, die Klage<br />

der von Theseus verlassenen Ariadne, auf die Jungfrau Maria. Virgilio Albanese machte aus Monteverdis von Liebesschmerz<br />

erfülltem Madrigal Si dolce è’l tormento ein Loblied auf das Märtyrertum: Si dolce è ’l martire. Auch Luigi Rossi,<br />

Marco Marazzoli und Domenico Mazzocchi schlugen Brücken zwischen der weltlichen und der geistlichen Sphäre. Bei<br />

Anamorphosen in der bildenden Kunst sind perspektivisch verzerrte Details nur mit einem Spiegel oder Prisma zu<br />

erkennen. Den Schlüssel zu den doppelbödigen Kompositionen liefert hier die Stückauswahl auf dem Album.<br />

Le Poème Harmonique hat außerdem eine hörenswerte Doppel-CD mit „Airs de cour“ herausgebracht – Kunstlieder,<br />

die am französischen Königshof bis zu den frühen Jahren Ludwig XIV. gesungen wurden. Eine Box mit 20 CDs, auf der<br />

ältere Aufnahmen zusammengestellt sind (siehe auch Rätsel S. 38), rundet das Jubiläumsangebot ab. CK<br />

„Anamorfosi“ und „Airs<br />

de cour“, Le Poème<br />

Harmonique, Vincent<br />

Dumestre (Alpha)<br />

Track 1 auf der<br />

<strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />

Que feray-je? von<br />

Jean Boyer<br />

(auf „Airs de cour“)<br />

GESANG<br />

Andrè Schuen<br />

Wandlungsreiche Stimme<br />

Musikliebhaber kennen die leidenschaftliche erste Version der drei<br />

Petrarca-Sonette Franz Liszts aus den Jahren 1842 bis 1846. Dass<br />

er knapp 25 Jahre später diese Gedichte des italienischen Poeten<br />

des 14. Jahrhunderts, teils erheblich abweichend, teils auf die frühere<br />

Version zurückgreifend, noch einmal vertonte, ist weniger<br />

bekannt, auch dass dazwischen durchaus eigenständige Klavier-<br />

Fassungen innerhalb der Années de pèlerinage – Italie entstanden<br />

sind. Andrè Schuen und Daniel Heide haben diese drei Werkgruppen<br />

nun erstmals auf einer CD chronologisch vereint. Der<br />

Erkenntnisgewinn ist ebenso groß wie das sinnliche Erleben – dank<br />

der diffizilen, auch an dynamische Grenzen gehenden Gesangskunst<br />

des jungen Baritons mit seiner wandlungsreichen<br />

Stimme, die die Fähigkeit<br />

besitzt, den Text immer wieder neu zu<br />

durchdringen; aber auch, weil der Pianist<br />

den Wendungen präzise folgen kann. KLK<br />

Franz Liszt: „Tre Sonetti del Petrarca 47, 104, 123“,<br />

Andrè Schuen, Daniel Heide (CAvi-music)<br />

Peter Eötvös<br />

Aktueller denn je<br />

OPER<br />

Der Untergang der Fregatte Medusa vor 200 Jahren war ein Skandal.<br />

Inkompetenz und Standesdünkel führten geradewegs in die Katastrophe.<br />

Hans Werner Henze hat die Geschichte in seinem Dokumentar-Oratorium<br />

Das Floß der Medusa verarbeitet. Auch dessen Uraufführung im Dezember<br />

<strong>19</strong>68 war von einem handfesten Skandal überschattet. Revolutionärer<br />

Gestus und konservatives Beharrungsvermögen prallten in einem ohnehin<br />

schon aufgeheizten gesellschaftlichen Klima unversöhnlich aufeinander.<br />

Heutzutage ist das nur noch eine Anekdote. Die Musik und vor allem der<br />

Inhalt des Oratoriums scheinen aber aktueller denn je. Der SWR hat großes<br />

Geschütz aufgefahren: sein hauseigenes Orchester, immerhin drei<br />

Chöre und drei Solisten. Letztere gehen genauso ausgezeichnet und eindringlich<br />

wie alle anderen Beteiligten ans Werk,<br />

allen voran Dirigent Peter Eötvös als alter Hase der<br />

Neuen Musik. Ausgezeichnet! Eindringlich! GK<br />

Hans Werner Henze: „Das Floß der Medusa“, Camilla Nylund,<br />

Peter Schöne, Peter Stein, SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor,<br />

Freiburger Domsingknaben, SWR Symphonieorchester, Peter Eötvös<br />

(SWRClassic)<br />

FOTO: FLORIAN LEGRAND<br />

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