CRESCENDO 6/19 Oktober-November 2019

CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck. CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck.

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H Ö R E N & S E H E N Unerhörtes & neu Entdecktes von Christoph Schlüren AUTHENTISCHER STENHAMMAR Archivschätze erinnern an einen der bedeutendsten schwedischen Meister zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das schwedische Label Caprice hat eine Vier-CD-Box „The Heritage of Wilhelm Stenhammar“ veröffentlicht, auf der vor allem viel Wirbel um den Dirigenten Tor Mann (1894–1974) gemacht wird, der mit Aufnahmen von 1938 bis 1949 und Proben zur Zweiten Sinfonie von 1959 vertreten ist. Bookletautor Carl-Gunnar Ahlen feiert ihn denn auch (ausschließlich auf Schwedisch) exklusiv. Doch die eigentliche Sensation der Box entgeht ihm: CD vier stellt Aufnahmen der Göteborger Symphoniker unter Sixten Eckerberg (1909–1991) vor, die zwischen 1945 und 1948 gemacht wurden. Es sind diese Dokumente, die nunmehr das Maß bilden für künftige Aufführungen. Wilhelm Stenhammar (1871–1927) war nicht nur einer der großen schwedischen Komponisten – in einer Generation, die mit Alfvén, Rangström und Atterberg mindestens drei weitere international bedeutende Kaliber aufzuweisen hat –, sondern überhaupt einer der bedeutendsten Meister seiner Epoche. Da er aber nicht zu den expliziten Neuerern zählt, sondern in vollendeter Weise die große sinfonische Tradition weiterentwickelte, wird er von den Historikern gerne übersehen. Wie sein großer Dresdner Kollege Paul Büttner war Stenhammar ein phänomenaler Kontrapunktiker, vollendeter Harmoniker, Erfinder herrlicher Melodien, glanzvoller Orchestrator und Beherrscher der großen Form. Stenhammars Streichquartette zählen zum Großartigsten, was die Gattung nach Beethoven hervorbrachte. Als Dirigent wusste er um alle Wirkungen des Orchesters, und man kann in seiner Musik durchaus Spuren von Bach, Beethoven, Bruckner, Brahms oder Sibelius lokalisieren, ohne dass er ein Epigone wäre. Stenhammar war lange Jahre Musikdirektor der Göteborger Symphoniker, und die Aufnahme seiner Zweiten Sinfonie – des prachtvollsten Orchesterwerks aus seiner Feder – unter Eckerberg entstand zehn Jahre nach seinem Tod. Erstmals kann man hier hören, wie die Satzcharaktere und diffizilen Übergänge tatsächlich dem Willen des Komponisten entsprachen. Kein Wunder, denn im Orchester saßen noch viele Musiker, die unter Stenhammars Leitung gespielt hatten! Und Eckerberg, den heute fast niemand mehr kennt, erweist sich als äußerst versierter und feinnerviger Dirigent. Nie habe ich den Übergang zum zweiten Thema im Kopfsatz annähernd so plausibel gehört. Nie hat der – von ferne in der Fugencharakteristik an das Finale aus Beethovens Hammerklaviersonate erinnernde – Schlusssatz eine so entfesselt wilde und zugleich bezwingend zusammenhängende Wirkung entfaltet. Hätte es eines letzten Beweises bedurft, dass diese Sinfonie sich würdig in die Nachfolge von Bruckner und Brahms einreiht und ebenbürtig neben den berühmtesten Zeitgenossen bestehen kann, so ist er hier erbracht. Die weiteren Werke unter Eckerberg sind übrigens nicht weniger fesselnd vorgetragen, vor allem das Zweite Klavierkonzert mit dem unvergesslichen Hans Leygraf, den viele Pianisten noch als legendären Mentor aus Salzburg kennen. Neben diesen sensationellen Archivschätzen seien einige weitere wertvolle historische Einspielungen genannt: Hindemiths Kontrapunktmeisterwerk Ludus tonalis, 1965 von der Edwin- Fischer-Schülerin Käbi Laretei mit überlegenem Strukturverständnis und pianistischer Klasse dargeboten (Decca Eloquence); bei APR ein Querschnitt durch die frühen Aufnahmen des großen australischen Pianisten William Murdoch (1888–1942), der bei Beethoven schlagend beweist, wie fern in den 1920er-Jahren romantische Klischees sein konnten, bei de Falla mit vollendet spanischem Idiom besticht und überall Klavierspiel in höchster Vollendung, geleitet von einem untrüglich natürlichen Zugang zum Wesen der Musik, offenbart; und bei Nimbus eine zweite Folge von Aufnahmen des großen britischen Leschetitzky-Schülers und pazifistischen Helden Frank Merrick (er ging im Ersten Weltkrieg für seine Überzeugung ins Gefängnis), diesmal auf vier CDs mit dem unverkennbaren Geiger Henry Holst in Sonaten von Arnold Bax, Edmund Rubbra, Gunnar de Frumerie, Max Reger, Frederick Delius und Edward Isaacs, mit Bernard Stevens’ zeitloser Fantasia on a Theme of Dowland als innigem Höhepunkt – ein Muss für alle Neugierigen, die substanzielle Entdeckungen jenseits des Mainstreams für möglich halten. n „The Heritage of Wilhelm Stenhammar“ (Caprice); Paul Hindemith: „Ludus Tonalis“, Käbi Laretei (Decca Eloquence); „The complete Columbia solo electrical recordings“, William Murdoch (APR); Arnold Bax: „Legend, Ballad, Violin Sonatas“ u. a., Frank Merrick, Henry Holst (Nimbus) 36 w w w . c r e s c e n d o . d e — OktoberNovember 2019

Vincent Dumestre Doppelbödige Kirchenmusik SAKRALE MUSIK Gregorio Allegris Miserere war lange von einem Mysterium umgeben. Um 1630 schrieb er seine A-cappella-Fassung des Bußpsalms 51, den auch Orlando di Lasso und Giovanni Pierluigi da Palestrina vertonten. Der Vatikan hielt das doppelchörige Werk, das nur in der Karwoche gesungen wurde, bis ins späte 18. Jahrhundert unter Verschluss. Zum 20. Gründungsjubiläum beschäftigt sich das französische Alte-Musik-Ensemble Le Poème Harmonique mit Verzierungen und Transpositionen, die im Lauf der Zeit hinzukamen. Auf dem Album „Anamorfosi“ widmen sich die Musiker unter Leitung von Vincent Dumestre außerdem Komponisten aus der Renaissance und dem Barock, die weltliche Melodien für die Verwendung in der Kirche umarbeiteten. Unter der Maske des Sakralen fanden amouröse Turbulenzen, Schlachtenlärm und theatralische Auseinandersetzungen Einlass in die Gotteshäuser. Im Pianto della Madonna übertrug Claudio Monteverdi sein Lamento d’Arianna, die Klage der von Theseus verlassenen Ariadne, auf die Jungfrau Maria. Virgilio Albanese machte aus Monteverdis von Liebesschmerz erfülltem Madrigal Si dolce è’l tormento ein Loblied auf das Märtyrertum: Si dolce è ’l martire. Auch Luigi Rossi, Marco Marazzoli und Domenico Mazzocchi schlugen Brücken zwischen der weltlichen und der geistlichen Sphäre. Bei Anamorphosen in der bildenden Kunst sind perspektivisch verzerrte Details nur mit einem Spiegel oder Prisma zu erkennen. Den Schlüssel zu den doppelbödigen Kompositionen liefert hier die Stückauswahl auf dem Album. Le Poème Harmonique hat außerdem eine hörenswerte Doppel-CD mit „Airs de cour“ herausgebracht – Kunstlieder, die am französischen Königshof bis zu den frühen Jahren Ludwig XIV. gesungen wurden. Eine Box mit 20 CDs, auf der ältere Aufnahmen zusammengestellt sind (siehe auch Rätsel S. 38), rundet das Jubiläumsangebot ab. CK „Anamorfosi“ und „Airs de cour“, Le Poème Harmonique, Vincent Dumestre (Alpha) Track 1 auf der CRESCENDO Abo-CD: Que feray-je? von Jean Boyer (auf „Airs de cour“) GESANG Andrè Schuen Wandlungsreiche Stimme Musikliebhaber kennen die leidenschaftliche erste Version der drei Petrarca-Sonette Franz Liszts aus den Jahren 1842 bis 1846. Dass er knapp 25 Jahre später diese Gedichte des italienischen Poeten des 14. Jahrhunderts, teils erheblich abweichend, teils auf die frühere Version zurückgreifend, noch einmal vertonte, ist weniger bekannt, auch dass dazwischen durchaus eigenständige Klavier- Fassungen innerhalb der Années de pèlerinage – Italie entstanden sind. Andrè Schuen und Daniel Heide haben diese drei Werkgruppen nun erstmals auf einer CD chronologisch vereint. Der Erkenntnisgewinn ist ebenso groß wie das sinnliche Erleben – dank der diffizilen, auch an dynamische Grenzen gehenden Gesangskunst des jungen Baritons mit seiner wandlungsreichen Stimme, die die Fähigkeit besitzt, den Text immer wieder neu zu durchdringen; aber auch, weil der Pianist den Wendungen präzise folgen kann. KLK Franz Liszt: „Tre Sonetti del Petrarca 47, 104, 123“, Andrè Schuen, Daniel Heide (CAvi-music) Peter Eötvös Aktueller denn je OPER Der Untergang der Fregatte Medusa vor 200 Jahren war ein Skandal. Inkompetenz und Standesdünkel führten geradewegs in die Katastrophe. Hans Werner Henze hat die Geschichte in seinem Dokumentar-Oratorium Das Floß der Medusa verarbeitet. Auch dessen Uraufführung im Dezember 1968 war von einem handfesten Skandal überschattet. Revolutionärer Gestus und konservatives Beharrungsvermögen prallten in einem ohnehin schon aufgeheizten gesellschaftlichen Klima unversöhnlich aufeinander. Heutzutage ist das nur noch eine Anekdote. Die Musik und vor allem der Inhalt des Oratoriums scheinen aber aktueller denn je. Der SWR hat großes Geschütz aufgefahren: sein hauseigenes Orchester, immerhin drei Chöre und drei Solisten. Letztere gehen genauso ausgezeichnet und eindringlich wie alle anderen Beteiligten ans Werk, allen voran Dirigent Peter Eötvös als alter Hase der Neuen Musik. Ausgezeichnet! Eindringlich! GK Hans Werner Henze: „Das Floß der Medusa“, Camilla Nylund, Peter Schöne, Peter Stein, SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor, Freiburger Domsingknaben, SWR Symphonieorchester, Peter Eötvös (SWRClassic) FOTO: FLORIAN LEGRAND 37

H Ö R E N & S E H E N<br />

Unerhörtes & neu Entdecktes<br />

von Christoph Schlüren<br />

AUTHENTISCHER<br />

STENHAMMAR<br />

Archivschätze erinnern an einen der bedeutendsten schwedischen Meister<br />

zu Beginn des 20. Jahrhunderts.<br />

Das schwedische Label Caprice hat eine Vier-CD-Box<br />

„The Heritage of Wilhelm Stenhammar“ veröffentlicht,<br />

auf der vor allem viel Wirbel um den Dirigenten<br />

Tor Mann (1894–<strong>19</strong>74) gemacht wird, der mit Aufnahmen<br />

von <strong>19</strong>38 bis <strong>19</strong>49 und Proben zur Zweiten<br />

Sinfonie von <strong>19</strong>59 vertreten ist. Bookletautor Carl-Gunnar Ahlen<br />

feiert ihn denn auch (ausschließlich auf Schwedisch) exklusiv. Doch<br />

die eigentliche Sensation der Box entgeht ihm: CD vier stellt<br />

Aufnahmen der Göteborger Symphoniker unter Sixten Eckerberg<br />

(<strong>19</strong>09–<strong>19</strong>91) vor, die zwischen <strong>19</strong>45 und <strong>19</strong>48 gemacht wurden. Es<br />

sind diese Dokumente, die nunmehr das Maß bilden für künftige<br />

Aufführungen.<br />

Wilhelm Stenhammar (1871–<strong>19</strong>27) war nicht nur einer der<br />

großen schwedischen Komponisten – in einer Generation, die mit<br />

Alfvén, Rangström und Atterberg mindestens drei weitere international<br />

bedeutende Kaliber aufzuweisen hat –, sondern überhaupt<br />

einer der bedeutendsten Meister seiner Epoche. Da er aber nicht zu<br />

den expliziten Neuerern zählt, sondern in vollendeter Weise die<br />

große sinfonische Tradition weiterentwickelte, wird er von den<br />

Historikern gerne übersehen. Wie sein großer Dresdner Kollege<br />

Paul Büttner war Stenhammar ein phänomenaler Kontrapunktiker,<br />

vollendeter Harmoniker, Erfinder herrlicher Melodien, glanzvoller<br />

Orchestrator und Beherrscher der großen Form. Stenhammars<br />

Streichquartette zählen zum Großartigsten, was die Gattung nach<br />

Beethoven hervorbrachte. Als Dirigent wusste er um alle Wirkungen<br />

des Orchesters, und man kann in seiner Musik durchaus Spuren<br />

von Bach, Beethoven, Bruckner, Brahms oder Sibelius lokalisieren,<br />

ohne dass er ein Epigone wäre.<br />

Stenhammar war lange Jahre Musikdirektor<br />

der Göteborger Symphoniker, und die Aufnahme<br />

seiner Zweiten Sinfonie – des prachtvollsten Orchesterwerks<br />

aus seiner Feder – unter Eckerberg entstand<br />

zehn Jahre nach seinem Tod. Erstmals<br />

kann man hier hören, wie die Satzcharaktere<br />

und diffizilen Übergänge tatsächlich dem Willen<br />

des Komponisten entsprachen. Kein Wunder,<br />

denn im Orchester saßen noch viele Musiker,<br />

die unter Stenhammars Leitung gespielt<br />

hatten! Und Eckerberg, den heute fast niemand<br />

mehr kennt, erweist sich als äußerst versierter und feinnerviger<br />

Dirigent. Nie habe ich den Übergang zum zweiten Thema im Kopfsatz<br />

annähernd so plausibel gehört. Nie hat der – von ferne in der<br />

Fugencharakteristik an das Finale aus Beethovens Hammerklaviersonate<br />

erinnernde – Schlusssatz eine so entfesselt wilde und zugleich<br />

bezwingend zusammenhängende Wirkung entfaltet. Hätte es eines<br />

letzten Beweises bedurft, dass diese Sinfonie sich würdig in die<br />

Nachfolge von Bruckner und Brahms einreiht und ebenbürtig neben<br />

den berühmtesten Zeitgenossen bestehen kann, so ist er hier<br />

erbracht. Die weiteren Werke unter Eckerberg sind übrigens nicht<br />

weniger fesselnd vorgetragen, vor allem das Zweite Klavierkonzert<br />

mit dem unvergesslichen Hans Leygraf, den viele Pianisten noch<br />

als legendären Mentor aus Salzburg kennen.<br />

Neben diesen sensationellen Archivschätzen seien einige weitere<br />

wertvolle historische Einspielungen genannt: Hindemiths<br />

Kontrapunktmeisterwerk Ludus tonalis, <strong>19</strong>65 von der Edwin-<br />

Fischer-Schülerin Käbi Laretei mit überlegenem Strukturverständnis<br />

und pianistischer Klasse dargeboten (Decca Eloquence); bei APR<br />

ein Querschnitt durch die frühen Aufnahmen des großen australischen<br />

Pianisten William Murdoch (1888–<strong>19</strong>42), der bei Beethoven<br />

schlagend beweist, wie fern in den <strong>19</strong>20er-Jahren romantische<br />

Klischees sein konnten, bei de Falla mit vollendet spanischem Idiom<br />

besticht und überall Klavierspiel in höchster Vollendung, geleitet<br />

von einem untrüglich natürlichen Zugang zum Wesen der Musik,<br />

offenbart; und bei Nimbus eine zweite Folge von Aufnahmen des<br />

großen britischen Leschetitzky-Schülers und pazifistischen Helden<br />

Frank Merrick (er ging im Ersten Weltkrieg für seine Überzeugung<br />

ins Gefängnis), diesmal auf vier CDs mit dem unverkennbaren<br />

Geiger Henry Holst in Sonaten von Arnold Bax,<br />

Edmund Rubbra, Gunnar de Frumerie, Max Reger,<br />

Frederick Delius und Edward Isaacs, mit Bernard<br />

Stevens’ zeitloser Fantasia on a Theme of Dowland<br />

als innigem Höhepunkt – ein Muss für alle Neugierigen,<br />

die substanzielle Entdeckungen jenseits des<br />

Mainstreams für möglich halten.<br />

n<br />

„The Heritage of Wilhelm Stenhammar“ (Caprice); Paul Hindemith:<br />

„Ludus Tonalis“, Käbi Laretei (Decca Eloquence); „The complete Columbia<br />

solo electrical recordings“, William Murdoch (APR); Arnold Bax: „Legend,<br />

Ballad, Violin Sonatas“ u. a., Frank Merrick, Henry Holst (Nimbus)<br />

36 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Oktober</strong> – <strong>November</strong> 20<strong>19</strong>

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