CRESCENDO 6/19 Oktober-November 2019

CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck. CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck.

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H Ö R E N & S E H E N Otto Klemperer Als dirigiere Beethoven selbst London im Sommer 1970: Vor der Royal Festival Hall kampieren die Menschen, um sich Eintrittskarten für die Generalprobe zu sichern. Doch der Star, auf den sie warten, ist nicht John Lennon oder Paul McCartney, sondern ein 85 Jahre alter knorriger Herr „mit düster brennenden Augen und bleichen Wangen“ (Lotte Lehmann): Otto Klemperer. Die letzte aller Sinfonien Beethovens steht auf dem Programm, und jeder im Publikum ahnt, dass mit dem alten Herrn auf der Bühne, der da unsentimental, präzise, mit durchdringendem Blick dirigiert, nicht nur eine Ära zu Ende geht, sondern ein Zeitzeuge allmählich verschwindet, der noch die Großen seines Jahrhunderts wie Mahler, Zemlinsky, Strawinsky, Hindemith, Schönberg oder Janáček kannte. Und so freut man sich ein halbes Jahrhundert später, dass Klemperer, der TV-live-Aufzeichnungen hasste, sie ausnahmsweise zuließ. „Es ist, als dirigiere uns Beethoven selbst“, brachte es ein Musiker auf den Punkt. TPR ORCHES- TER Ludwig van Beethoven: „Symphonies 1-9“, New Philharmonia Orchestra, Otto Klemperer (Zweitausendeins) Paulin Bündgen Abwechslungsreich So raumfüllend kann Alte Musik sein. Grandios, wie das französische Ensemble Céladon unter der Leitung des Countertenors Paulin Bündgen hier einen vergessenen Meister geistlicher Musik zum Leben erweckt. Natale Monferrato (1603–1685) war seinerzeit Maestro di cappella an der Basilica di San Marco, dem Markusdom in Venedig. Es sind Motetten für Solostimme aus dem Jahre 1666, die zwischen Rezitativ und Arie changieren, aus der Zeit, als die Oper gerade erst zum Leben erwacht war. Hat auch Monferrato ausschließlich geistliche Musik geschrieben, so hört man in den vorgestellten Werken durchaus eine Liebe zur Oper. Gleich zu Beginn klingt das Sic ergo Jesu so abwechslungsreich, als säße man in der Oper, und in allen Teilen so ausgewogen, als wollte die Musik dem Goldenen Schnitt entsprechen. Monferrato nannte sie „meine musikalischen Seufzer“. In dieser Weltersteinspielung füllen sie auch den Raum des Herzens! SELL Natale Monferrato: „Salve Regina“, Paulin Bündgen, Ensemble Céladon (Ricercar) Track 6 auf der CRESCENDO Abo-CD: Sic ergo Jesu de Sacramento ALTE MUSIK Thomas Ravenscroft u. a.: „Air Music. Tales of Flying Creatures and Heavenly Breezes“, Katharina Bäuml, Capella de la Torre (dhm) FOTO: ANDREAS GREINER-NAPP Katharina Bäuml Luftige Musik Luft liegt in der Musik des 15. und 16. Jahrhunderts. Das beweist die 20 Werke umfassende Einspielung der Capella de la Torre unter Katharina Bäuml. Sie ist das dritte Album des Ensembles, das sich nach Wasser und Feuer einem Element widmet. Das allen Stücken gemeinsame „Luftige“ präsentiert sich hier vorwiegend in flüssigen Tempi und beschwingten Charakteren. Dabei wird Luft in höchst unterschiedlichen Dimensionen bespielt und besungen: als Naturphänomen und Lebensraum (Westwind und Vögel), als göttliches und mystisches Element (Atem und Windsbraut) und in ihrer träumerischen und sorglosen Dimension (Luftschlösser und Luftikus). Die versammelten Themen sind oft naheliegend, zum Teil überraschend. Das umgekehrte Verhältnis aber bietet sich musikalisch auf dieser im Übrigen vorzüglich und so wunderbar lustvoll musizierten Aufnahme, die mit großen Komponisten und hübschen Entdeckungen aufwartet. UH ALTE MUSIK Antoine Tamestit und Masato Suzuki Warme Klangfarben Nicht mit der in der Originalausgabe dafür vorgesehenen Viola da Gamba, sondern mit seiner – teils mit Darmsaiten bezogenen – Viola interpretiert Bratscher Antoine Tamestit Bachs Gambensonaten (BWV 1027–1029) und die Arienbearbeitung Ergieße dich reichlich. Sein Instrument, die „Mahler“-Stradivari (1672), ist selbst ganze 13 Jahre älter als Bach. Ob das hörbar ist? In jedem Fall ist es ein spannender Gedanke. Mit großer Eleganz und Verve lassen Tamestit und Alte-Musik-Experte Masato Suzuki am Cembalo die Meisterwerke erklingen. Die warmen Klangfarben, die sie finden, scheinen ideal für diese Musik. Bach war womöglich selbst Bratscher. Sein Sohn Carl Philipp Emanuel schreibt 1774 in einem Brief über seinen Vater: „Als der größte Kenner und Beurtheiler der Harmonie spielte er am liebsten die Bratsche.“ Bach als passionierter Bratscher? Diese Idee gefiel Tamestit und verleitete ihn zu dieser brillanten Aufnahme. SK Johann Sebastian Bach: „Sonatas“, Antoine Tamestit, Masato Suzuki (Harmonia Mundi) Track 2 auf der CRESCENDO Abo-CD: Sonata BWV 1028. III. Andante 32 w w w . c r e s c e n d o . d e — OktoberNovember 2019

GESANG Edith Mathis Silberglänzende Stimme Als lyrischer Sopran war Edith Mathis jahrzehntelang an bedeutenden Opernhäusern gefragt. In ihrer Geburtsstadt Luzern debütierte sie 1957 als Zweiter Knabe in Mozarts Zauberflöte. Es folgten Engagements in Köln, Berlin, Hamburg, London, München, New York und Wien. Auch als Liedsängerin feierte sie große Erfolge. In der Reihe historischer Aufnahmen vom Lucerne Festival hat Audite einen Live-Mitschnitt ihres ersten Liederabends bei den Internationalen Musikfestwochen Luzern 1975 veröffentlicht. Begleitet von dem Pianisten Karl Engel, interpretiert sie mit silbriger Zartheit Werke von Mozart bis Strauss und Bartók. Der Musikkritiker Jürgen Kesting bescheinigt ihr in seinem Buch „Große Stimmen“ ein „Höchstmaß an Natürlichkeit und Eloquenz“. Ungekünstelt, farbenreich und ausdrucksvoll interpretiert sie hier folkloristische Dorfszenen von Bartók, Deutsche Volkslieder von Brahms, Schumanns als Hochzeitsgeschenk für seine Frau Clara geschriebene Myrthen-Lieder oder Strauss-Lieder wie Die Nacht aus dem frühen Opus 10. CK Wolfgang Amadé Mozart, Béla Bartók u. a.: „Selected Lieder“, Edith Mathis, Karl Engel (Audite) AKTUELLE HIGHLIGHTS GIUSEPPE VERDI: Rigoletto 1 Blu-ray: 751704 1 DVD: 751608 Stephen Costello Vladimir Stoyanov Melissa Petit Miklos Sebestyen, Katrin Wundsam Prague Philharmonic Choir Wiener Symphoniker Enrique Mazzola Bregenzer Festspiele 2019 Diese Neuproduktion von Verdis Rigoletto eröffnete die Bregenzer Festspiele 2019. Der Regisseur und Bühnenbildner Philipp Stölzl erschuf ein Opernspektakel der ganz besonderen Art. Jetzt erhältlich auf DVD und Blu-ray. ALTE MUSIK Claude Starck Erhabene Eleganz „Vivaldi? Bei dem klingt doch immer alles gleich!“ Wer so denkt, wird sich auch für diese Doppel-CD nicht erwärmen. Es handelt sich um Aufnahmen von neun Cellosonaten des Komponisten, die der Schweizer Cellist Claude Starck bereits 1975 eingespielt hat. Drei davon hatte Starck damals neu entdeckt. Liebhaber der erhabenen Eleganz von Vivaldis Musik dürfen sich über das Album freuen: Starck spielt die Sonaten ausgezeichnet, legt besonders viel Ausdruck in die langsamen Sätze und spart nicht am Vibrato. Seine Kollegen Isolde Ahlgrimm (Cembalo) und Mischa Frey (Cello) begleiten ihn mit der gebührenden vornehmen Zurückhaltung. Das Klangbild der Aufnahmen ist zwar aufgrund ihres Alters nicht 100-prozentig klar, aber immer noch von erstaunlich hoher Qualität. Etwas lieblos im Hinblick auf die inhaltliche Gestaltung zeigt sich das Booklet. Für Vivaldi-Fans trotzdem sehr zu empfehlen! JH Antonio Vivaldi: „9 Cello Sonatas“, Claude Starck, Isolde Ahlgrimm, Mischa Frey (Tudor) Jürgen Bruns Eine Entdeckung ORCHES- TER Diese CD ist fast ein Muss, denn Hanns Eislers Filmmusiken und sinfonische Derivate daraus schlagen Brücken zwischen konträren Politsystemen, kulturellen Strömungen und musikalischen Klangsprachen des 20. Jahrhunderts. Am Beginn steht Eislers als Fragment hinterlassene, später von Tilo Medek vollendete und in dieser Gestalt am 8. Oktober 1998 im Gewandhaus uraufgeführte Leipziger Sinfonie. Eislers Musik schärfte sich an Arbeiten für den amerikanischen und den französischen Film nicht minder als im von ihm entscheidend beeinflussten Musikleben der DDR, mit der ihn eine an Widersprüchen reiche und spannungsgeladene Beziehung verband. Beide Klangkörper wollten das nicht nur brillant überflügeln: Unter Jürgen Bruns klingt Eisler so schroff und Prokofieff-nah wie selten. Anscheinend klar deutbare Klangpartikel umhüllen andere Sinnebenen wie ein Panzer. Eine durch strukturierte Wildheit beeindruckende Entdeckung. DIPP Salzburger Festspiele 2018 GIOACHINO ROSSINI: Ricciardo e Zoraide 1 Blu-ray: 752704 2 DVDs: 752608 Pretty Yende Juan Diego Flórez Sergey Romanovsky Victoria Yarovaya Nicola Ulivieri Coro del Teatro Ventidio Basso Orch. Sinf. Nazionale della RAI Giacomo Sagripanti GIOACHINO ROSSINI: L'Italiana in Algeri 1 Blu-ray: 801904 2 DVDs: 801808 Cecilia Bartoli Ildar Abdrazakov Edgardo Rocha Alessandro Corbelli Jose Coca Loza Rebeca Olvera Philharmonia Chor Wien Ensemble Matheus Jean-Christophe Spinosi Cecilia Bartolis sängerisch und schauspielerisch mitreißender Auftritt als Isabella in Rossinis L'Italiana in Algeri bei den Salzburger Festspielen 2018 war ohne jeden Zweifel eine regelrechte Sternstunde des Rossini-Jahres 2018. Anlässlich des 200. Jahrestages der Premiere der Rossini-Rarität inszenierte das Rossini-Opernfestival in Pesaro Ricciardo e Zoraide mit einer nie dagewesenen All- Star-Besetzung: Juan Diego Flórez gibt sein Debüt als der Kreuzritter Ricciardo. Hanns Eisler: „Leipzig Symphony“ u. a., MDR-Sinfonieorchester Leipzig, Kammersymphonie Berlin, Jürgen Bruns (Capriccio) 33 Im Vertrieb der NAXOS DEUTSCHLAND GmbH www.naxos.de · info@naxos.de · www.naxosdirekt.de

H Ö R E N & S E H E N<br />

Otto Klemperer<br />

Als dirigiere Beethoven selbst<br />

London im Sommer <strong>19</strong>70: Vor der Royal Festival Hall kampieren die<br />

Menschen, um sich Eintrittskarten für die Generalprobe zu sichern.<br />

Doch der Star, auf den sie warten, ist nicht John Lennon oder Paul<br />

McCartney, sondern ein 85 Jahre alter knorriger Herr „mit düster<br />

brennenden Augen und bleichen Wangen“ (Lotte Lehmann): Otto<br />

Klemperer. Die letzte aller Sinfonien Beethovens steht auf dem Programm,<br />

und jeder im Publikum ahnt, dass mit dem alten Herrn auf der<br />

Bühne, der da unsentimental, präzise, mit durchdringendem Blick dirigiert,<br />

nicht nur eine Ära zu Ende geht, sondern ein Zeitzeuge allmählich<br />

verschwindet, der noch die Großen seines Jahrhunderts wie Mahler,<br />

Zemlinsky, Strawinsky, Hindemith, Schönberg oder Janáček<br />

kannte. Und so freut man sich ein halbes Jahrhundert später, dass<br />

Klemperer, der TV-live-Aufzeichnungen hasste,<br />

sie ausnahmsweise zuließ. „Es ist, als dirigiere<br />

uns Beethoven selbst“, brachte es ein Musiker<br />

auf den Punkt. TPR<br />

ORCHES-<br />

TER<br />

Ludwig van Beethoven: „Symphonies 1-9“, New Philharmonia<br />

Orchestra, Otto Klemperer (Zweitausendeins)<br />

Paulin Bündgen<br />

Abwechslungsreich<br />

So raumfüllend kann Alte Musik sein. Grandios, wie das französische<br />

Ensemble Céladon unter der Leitung des Countertenors Paulin Bündgen<br />

hier einen vergessenen Meister geistlicher Musik zum Leben<br />

erweckt. Natale Monferrato (1603–1685) war seinerzeit Maestro di<br />

cappella an der Basilica di San Marco, dem Markusdom in Venedig. Es<br />

sind Motetten für Solostimme aus dem Jahre 1666, die zwischen Rezitativ<br />

und Arie changieren, aus der Zeit, als die Oper gerade erst zum Leben<br />

erwacht war. Hat auch Monferrato ausschließlich geistliche Musik<br />

geschrieben, so hört man in den vorgestellten Werken durchaus eine<br />

Liebe zur Oper. Gleich zu Beginn klingt das Sic ergo Jesu so abwechslungsreich,<br />

als säße man in der Oper, und in allen Teilen so ausgewogen,<br />

als wollte die Musik dem Goldenen Schnitt entsprechen. Monferrato<br />

nannte sie „meine musikalischen Seufzer“. In<br />

dieser Weltersteinspielung füllen sie auch den<br />

Raum des Herzens! SELL<br />

Natale Monferrato: „Salve Regina“, Paulin Bündgen,<br />

Ensemble Céladon (Ricercar)<br />

Track 6 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />

Sic ergo Jesu de Sacramento<br />

ALTE<br />

MUSIK<br />

Thomas Ravenscroft u. a.: „Air Music. Tales of Flying Creatures and<br />

Heavenly Breezes“, Katharina Bäuml, Capella de la Torre (dhm)<br />

FOTO: ANDREAS GREINER-NAPP<br />

Katharina Bäuml<br />

Luftige Musik<br />

Luft liegt in der Musik des 15. und 16. Jahrhunderts.<br />

Das beweist die 20 Werke umfassende Einspielung der<br />

Capella de la Torre unter Katharina Bäuml. Sie ist das<br />

dritte Album des Ensembles, das sich nach Wasser und<br />

Feuer einem Element widmet. Das allen Stücken<br />

gemeinsame „Luftige“ präsentiert sich hier vorwiegend<br />

in flüssigen Tempi und beschwingten Charakteren.<br />

Dabei wird Luft in höchst unterschiedlichen Dimensionen<br />

bespielt und besungen: als Naturphänomen und<br />

Lebensraum (Westwind und Vögel), als göttliches und<br />

mystisches Element (Atem und Windsbraut) und in ihrer<br />

träumerischen und sorglosen Dimension (Luftschlösser<br />

und Luftikus). Die versammelten Themen sind oft naheliegend,<br />

zum Teil überraschend. Das umgekehrte Verhältnis<br />

aber bietet sich musikalisch auf dieser im Übrigen<br />

vorzüglich und so wunderbar lustvoll musizierten<br />

Aufnahme, die mit großen Komponisten und hübschen<br />

Entdeckungen aufwartet. UH<br />

ALTE<br />

MUSIK<br />

Antoine Tamestit und Masato Suzuki<br />

Warme Klangfarben<br />

Nicht mit der in der Originalausgabe dafür vorgesehenen Viola da Gamba,<br />

sondern mit seiner – teils mit Darmsaiten bezogenen – Viola interpretiert<br />

Bratscher Antoine Tamestit Bachs Gambensonaten (BWV 1027–1029) und<br />

die Arienbearbeitung Ergieße dich reichlich. Sein Instrument, die<br />

„Mahler“-Stradivari (1672), ist selbst ganze 13 Jahre älter als Bach. Ob das<br />

hörbar ist? In jedem Fall ist es ein spannender Gedanke. Mit großer Eleganz<br />

und Verve lassen Tamestit und Alte-Musik-Experte Masato Suzuki am<br />

Cembalo die Meisterwerke erklingen. Die warmen Klangfarben, die sie finden,<br />

scheinen ideal für diese Musik. Bach war womöglich selbst Bratscher.<br />

Sein Sohn Carl Philipp Emanuel schreibt 1774 in einem Brief über seinen<br />

Vater: „Als der größte Kenner und Beurtheiler der<br />

Harmonie spielte er am liebsten die Bratsche.“ Bach<br />

als passionierter Bratscher? Diese Idee gefiel<br />

Tamestit und verleitete ihn zu dieser brillanten<br />

Aufnahme. SK<br />

Johann Sebastian Bach: „Sonatas“, Antoine Tamestit, Masato Suzuki<br />

(Harmonia Mundi)<br />

Track 2 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Sonata BWV 1028. III. Andante<br />

32 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Oktober</strong> – <strong>November</strong> 20<strong>19</strong>

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