CRESCENDO 6/19 Oktober-November 2019
CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck.
CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck.
H Ö R E N & S E H E N Daniel Behle Musikalische Charakterstudien GESANG Sie zählen zu den bekanntesten Figuren der Operngeschichte und haben mit ihrem Charme, ihren Gefühlsausbrüchen und Beziehungsturbulenzen schon verschiedenste Bühnen erobert. Ob Tamino oder Don Ottavio, ob Belmonte oder Idomeneo – sie alle verführen in ihren Partien mit Mozarts origineller und melodienreicher Tonsprache. Auf seinem Album „Zero to Hero“ versammelt der Tenor Daniel Behle nun all jene Figuren und überzeugt mit seiner schlanken und lebendigen Interpretation ihrer legendären Arien. Dabei vermag er es, jeden Einzelnen von Mozarts Operncharakteren hintergründig und stimmlich virtuos in Szene zu setzen und die jeweilige Persönlichkeit feinsinnig zu ergründen. Mit dem L’Orfeo Barockorchester steht dem Sänger dabei ein ungemein wendiger und ebenso transparent wie musikantisch aufspielender Klangkörper zur Seite, der ihn bei seinen musikalischen Charakterstudien kongenial begleitet. DW Wolfgang Amadeus Mozart: „Zero to Hero“, Daniel Behle, L’Orfeo Barockorchester, Michi Gaigg (Sony) FOTO: LUCIA HUNZIKER ALTE MUSIK Concerto Köln Demut und Draufgängertum Es zeugt von der überreichen Fülle der Musikliteratur, dass es immer noch neue Schätze und unbekanntere Komponisten zu entdecken gibt. Einer davon ist der Italiener Francesco Geminiani, der zu Lebzeiten in einem Atemzug mit Händel und Corelli genannt wurde. Das Orchester Concerto Köln sorgt mit seinem neuen Album dafür, dass dies auch heute wieder der Fall sein könnte. Die „Quintessenz“ seines Werks haben die Musiker ausgewählt, verschiedene Stücke, allesamt Concerti Grossi, die ihm besonders viel bedeuteten und seine Kunst eindrücklich wiedergeben. Das Ergebnis ist ein ausgesprochen kurzweiliges und tänzerisch anmutendes Porträt des barocken Meisters, wobei Concerto Köln die farbenreiche Musikwelt Geminianis mit großer Spielfreude, Feingespür für die dynamischen Nuancen und einer stimmigen Mischung aus Demut und Draufgängertum erkundet. Ein lohnender Griff in die musikalische Schatzkiste! DW Francesco Geminiani: „Quinta Essentia“, Concerto Köln (Berlin Classics) Track 4 auf der CRESCENDO Abo-CD: Concerto grosso op. 7 Nr. 6 B-Dur. VI. Adagio – Allegro assai – Adagio KAMMER- MUSIK Jóhann Jóhannsson Große Ruhe „12 Conversations with Thilo Heinzmann“ hört man sich am besten auf Vinyl (gibt es!) an, in einem Loft in Berlin. Rauschebart, Hosenträger, dicke Hornbrille, Weste und „Kreissäge“ auf dem Kopf, optional, aber hilfreich. Das letzte Werk des isländischen Film- und Elektronikkomponisten (und Filmemachers) Jóhann Jóhannsson, bevor Kokain ihm 2018 den Lebensfaden abschnitt, war ein Streichquartett in 12 Sätzen eben dieses Namens. Entstanden ist es als eine Art Kollaboration mit dem Künstler des Titels, vor dessen Bild Ohne Titel, 2011 (viel weiß, mit feinen schwarzen Tuschesprenkeln) Jóhannsson lange saß und komponierte. Der postminimalistische Ton von Jóhannsson gibt sich wie der gemeinsame Nenner von Philip Glass, Max Richter und Brian Eno. Das belgische Streichquartett Echo Collective spielt das meditativ wirkende Werk mit großer Ruhe. Die Gespräche zwischen Auftraggeber, Maler und Komponist, die dem Werk ebenfalls – abstrakt – zugrunde liegen, fließen nur so dahin, 40 Minuten lang. JFL Jóhann Jóhannsson: „12 Conversations with Thilo Heinzmann“, Echo Collective (DG) 30 w w w . c r e s c e n d o . d e — Oktober – November 2019
Chor des Bayerischen Rundfunks Wehmutsvolle Atmosphäre „Wer Dvořáks Stabat mater, die Urfassung von 1876, im Blindtest verkosten müsste, würde auf eine harte Probe gestellt“ – so das Begleitheft zur stimmungsvollen Einspielung dieses GESANG ungewöhnlichen geistlichen Werkes. Wie unbegründet diese Sorge ist, zeigt der Chor des Bayerischen Rundfunks in den knapp 60 Minuten schauervoll-trauriger Klagemusik. Chor und Solisten beschwören von Anfang an eine Atmosphäre tieftrauriger, wehmutsvoller, aber auch hoffnungsvoller Affekte. Besonders hervorzuheben ist die schöne Homogenität des Chorklangs, die vom ersten Moment an überzeugt. Auch die Solistenensembles, wie etwa der Beginn des Quando corpus morietur, sind sehr gut musiziert: Artikulation, Intonation und Ausdruck lassen keine Wünsche offen und bei dieser wehmutsvollen Musik auch kaum ein Auge trocken. Einzig schade: Das distanzierte und dünne Klangbild der Aufnahme schafft eine gewisse emotionale Distanz zwischen Sängern und Text. AF Antonín Dvořák: „Stabat Mater“, Julia Kleiter, Gerhild Romberger u. a., Chor des Bayerischen Rundfunks, Howard Arman (BR Klassik) Track 5 auf der CRESCENDO Abo-CD: Eja, mater, fons amoris Carlos Cipa Ein großer Wurf Zwischen Improvisation und ausgeklügelter Kompositionsund Klangkunst pendelt der Münchner „Neo-Klassik-Pianist“, Multiinstrumentalist und Komponist Carlos Cipa auf seinem neuen Album „Retronyms“. Der Begriff steht für den kulturellen Wandel, durch den Altes einen neuen Namen bekommt. Alle gespielten Tasten-, Saiten- und Blasinstrumente behalten ihre Ursprünglichkeit und klingen doch – einem Vexierspiel gleich – wie in neuem Gewand. Das organische Spiel in geradezu chemischer Verbindung mit den synthetisch-elektronischen Klängen ist schlicht deliziös. Es geht Cipa bei allem Können nicht um vordergründige Virtuosität, sondern um den Ton an sich und sein Verknüpfungspotenzial im Klang. Ein großer Wurf, der die Raffinesse besitzt, sich jenseits aller Genres auf vielfältige Weise der Stille zu nähern. Das erinnert an die legendären Alben „Spirit of Eden“ und „Laughing Stock“ der Post-Avantgarde-Band Talk Talk. SELL Carlos Cipa: „Retronyms“ (Warner) SOLO KAMMER- MUSIK Danish String Quartet Reise über Epochen Wie ein Prisma einen Lichtstrahl aufspaltet, so sprengt Ludwig van Beethoven in seinen fünf späten Streichquartetten die musikalischen Ideen seines Idols Bach auf. Für das Danish String Quartet gab es bei der ersten Begegnung mit dem „späten Beethoven“ keinen intuitiven Zugang. „Es fühlte sich an, als wäre es aus dem Weltraum auf unsere Notenständer gefallen“, schreiben sie im Booklet ihrer CD. Um immer tiefer in diese Musik aus einem scheinbar anderen Universum einzutauchen, haben sie das Projekt „Prism“ ins Leben gerufen. Jedes Album ist eine Reise von einer Bach-Fuge aus dem Wohltemperierten Clavier über das davon geprägte späte Beethoven-Quartett bis hin zu einem modernen Werk, das wiederum von Beethovens Komposition inspiriert ist. Auf „Prism II“ bedeutet das: von Bachs h-Moll-Fuge einen Sprung zu Alfred Schnittkes Drittem Streichquartett vollziehen, um dann zurückzukehren zu Beethovens Streichquartett Nr. 13. Die wilde, spannende Reise mit den perfekt aufeinander – und auf alle Epochen – eingespielten Dänen endet im großen Finale: der Großen Fuge, die Beethovens Streichquartett beschließt. SK Ludwig van Beethoven, Alfred Schnittke, Johann Sebastian Bach: „Prism II“, Danish String Quartet (ECM) FOTO: CAROLINE BITTENCOURT 31
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Chor des Bayerischen Rundfunks<br />
Wehmutsvolle Atmosphäre<br />
„Wer Dvořáks Stabat mater, die Urfassung<br />
von 1876, im Blindtest verkosten<br />
müsste, würde auf eine harte Probe<br />
gestellt“ – so das Begleitheft zur<br />
stimmungsvollen Einspielung dieses<br />
GESANG<br />
ungewöhnlichen geistlichen Werkes.<br />
Wie unbegründet diese Sorge ist, zeigt<br />
der Chor des Bayerischen Rundfunks<br />
in den knapp 60 Minuten schauervoll-trauriger Klagemusik.<br />
Chor und Solisten beschwören von Anfang an eine<br />
Atmosphäre tieftrauriger, wehmutsvoller, aber auch<br />
hoffnungsvoller Affekte. Besonders hervorzuheben ist die<br />
schöne Homogenität des Chorklangs, die vom ersten Moment<br />
an überzeugt. Auch die Solistenensembles, wie etwa der<br />
Beginn des Quando corpus morietur, sind sehr gut musiziert:<br />
Artikulation, Intonation und Ausdruck lassen keine Wünsche<br />
offen und bei dieser wehmutsvollen Musik auch kaum ein Auge<br />
trocken. Einzig schade: Das distanzierte und dünne Klangbild<br />
der Aufnahme schafft eine gewisse emotionale Distanz zwischen<br />
Sängern und Text. AF<br />
Antonín Dvořák: „Stabat Mater“, Julia Kleiter, Gerhild Romberger u. a.,<br />
Chor des Bayerischen Rundfunks, Howard Arman (BR Klassik)<br />
Track 5 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Eja, mater, fons amoris<br />
Carlos Cipa<br />
Ein großer Wurf<br />
Zwischen Improvisation und ausgeklügelter Kompositionsund<br />
Klangkunst pendelt der Münchner „Neo-Klassik-Pianist“,<br />
Multiinstrumentalist und Komponist Carlos Cipa auf seinem<br />
neuen Album „Retronyms“. Der Begriff steht für den<br />
kulturellen Wandel, durch den Altes einen neuen Namen<br />
bekommt. Alle gespielten Tasten-, Saiten- und Blasinstrumente<br />
behalten ihre Ursprünglichkeit und klingen doch –<br />
einem Vexierspiel gleich – wie in neuem Gewand. Das<br />
organische Spiel in geradezu chemischer Verbindung mit den<br />
synthetisch-elektronischen Klängen ist schlicht deliziös. Es<br />
geht Cipa bei allem Können nicht um vordergründige<br />
Virtuosität, sondern um den Ton an sich und sein Verknüpfungspotenzial<br />
im Klang. Ein großer<br />
Wurf, der die Raffinesse besitzt, sich<br />
jenseits aller Genres auf vielfältige<br />
Weise der Stille zu nähern. Das erinnert<br />
an die legendären Alben „Spirit<br />
of Eden“ und „Laughing Stock“ der<br />
Post-Avantgarde-Band Talk Talk. SELL<br />
Carlos Cipa: „Retronyms“ (Warner)<br />
SOLO<br />
KAMMER-<br />
MUSIK<br />
Danish String Quartet<br />
Reise über<br />
Epochen<br />
Wie ein Prisma einen Lichtstrahl aufspaltet, so sprengt Ludwig van Beethoven in seinen<br />
fünf späten Streichquartetten die musikalischen Ideen seines Idols Bach auf. Für das Danish<br />
String Quartet gab es bei der ersten Begegnung mit dem „späten Beethoven“ keinen intuitiven<br />
Zugang. „Es fühlte sich an, als wäre es aus dem Weltraum auf unsere Notenständer<br />
gefallen“, schreiben sie im Booklet ihrer CD. Um immer tiefer in diese Musik aus einem<br />
scheinbar anderen Universum einzutauchen, haben sie das Projekt „Prism“ ins Leben gerufen.<br />
Jedes Album ist eine Reise von einer Bach-Fuge aus dem Wohltemperierten Clavier über<br />
das davon geprägte späte Beethoven-Quartett bis hin zu einem modernen Werk, das wiederum<br />
von Beethovens Komposition inspiriert ist. Auf „Prism II“ bedeutet das: von Bachs<br />
h-Moll-Fuge einen Sprung zu Alfred Schnittkes Drittem Streichquartett vollziehen, um dann<br />
zurückzukehren zu Beethovens Streichquartett Nr. 13. Die wilde, spannende Reise mit den<br />
perfekt aufeinander – und auf alle Epochen – eingespielten Dänen endet im großen Finale:<br />
der Großen Fuge, die Beethovens Streichquartett beschließt. SK<br />
Ludwig van Beethoven, Alfred Schnittke, Johann Sebastian Bach: „Prism II“, Danish String Quartet (ECM)<br />
FOTO: CAROLINE BITTENCOURT<br />
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