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CRESCENDO 6/19 Oktober-November 2019

CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck.

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Interviews unter anderem mit Lucas Debargue, Gabriela Montero, Baiba Skride und Martina Gedeck.

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D<br />

ie venezolanisch-internationale Pianistin Gabriela<br />

Montero ist auf dem Weg vom Barcelonaer Flughafen<br />

nach Hause, als mein vereinbarter Telefonanruf sie erreicht. Sie parkt<br />

kurzerhand am Straßenrand.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Wir machen das so kurz und schmerzlos wie<br />

möglich, verspreche ich.<br />

Gabriela Montero: Och, Interviews sind eigentlich meist recht<br />

schmerzlos. Nur wenn ich über spezifische politische Aspekte<br />

befragt werde, kann es manchmal etwas schmerzlich werden.<br />

Weil die Situation – vor allem in Ihrem Heimatland – quälend ist?<br />

Ja, leider. Wir denken oft über Politik nach, als wäre es etwas, was<br />

uns nichts angeht und mit<br />

unserer globalen Gesellschaft<br />

gar nichts zu tun hat. Tatsache<br />

ist, dass Politik in alle Aspekte<br />

unseres Seins hineinspielt. Sie<br />

bestimmt, wie die Welt zusam -<br />

mengefügt ist. Und die Situation<br />

ist schmerzlich. Aber wir<br />

können auch nur über Musik reden. Das soll mir auch recht sein.<br />

Das wird gar nicht so leicht – Ihre Kompositionen sind persönlich-politische<br />

Bekenntnisse. Kommen wir doch gleich zu<br />

Ihrem Latin Concerto. Es ist gerade mit dem Ravel-Konzert<br />

herausgekommen und ist Ihr erstes Klavierkonzert, will man<br />

Ihr Opus 1, ExPatria, als etwas wie eine Rhapsodie für Klavier<br />

und Orchester betrachten.<br />

Ich würde ExPatria als Tondichtung bezeichnen … Ein gänzlich<br />

politisches Statement in musikalischer Form. Als ich über Jahre<br />

konzertierend um die Welt reiste, so viele verschiedene Zuhörer<br />

kennenlernte und gleichzeitig bemerkte, wie viel Unwissen über<br />

Venezuela existiert, wurde mir bewusst, dass ich einen Weg<br />

finden muss, um zu kommunizieren, was in Venezuela wirklich<br />

vor sich geht. Mit dem emotionalen Medium Musik konnte ich<br />

die intellektuelle Diskussion über Politik umgehen und direkt<br />

von dem menschlichen Aspekt und Leid sprechen.<br />

Wenn Sie komponieren, was überwiegt? Die Komponistin, die<br />

eine Aussage treffen will? Oder die Pianistin, die das komponiert,<br />

was sie später gerne selbst auf der Bühne spielt?<br />

In erster Linie sehe ich mich als Interpretin, weil ich Kommunikatorin<br />

bin. Und kommuniziert habe ich schon immer über<br />

meine vielen Improvisationen, aber auch über mein Spiel von<br />

Repertoirestücken. Wenn ich komponiere, dann immer, weil ich<br />

eine Geschichte erzählen möchte: Wer bin ich – als Frau, als<br />

Musikerin, als Venezolanerin –, und was denke ich über die<br />

aktuellen Ereignisse, die sich so sehr auf mein Leben und mein<br />

Land auswirken? Es geht mir dann also nicht so sehr um den<br />

Aspekt der Darbietung, sondern eher darum, Botschafterin zu<br />

sein und ein Dokument zu hinterlassen. Darüber, was die<br />

Venezolaner schon alles haben durchmachen und durchleiden<br />

müssen. Könnte ich Worte benutzen, die genauso wirksam sind,<br />

ich würde Worte wählen. Aber Musik ist so wirkungsvoll in der<br />

Kommunikation, weil sie direkt zum Herzen geht.<br />

So weit ExPatria. Was ich hingegen mit dem Latin Concerto<br />

kommunizieren will, ist das: Ja, Südamerika ist ein Kontinent, der<br />

bekannt ist für seine Rhythmen, seine Buntheit, seinen Geist. Für<br />

seinen Humor, die Sinnlichkeit seiner Länder und Leute. Auch für<br />

eine Einstellung, die es irgendwie immer schafft, allen Schwierigkeiten<br />

und Extremen zu trotzen. Das Konzert ist eine Reflexion<br />

über die Tatsache, dass das zwar alles irgendwie zutrifft, aber dass<br />

Land und Kontinent noch so viel mehr sind. Insbesondere auch,<br />

„ICH KOMPONIERE, WEIL ICH<br />

EINE GESCHICHTE ERZÄHLEN MÖCHTE“<br />

dass es da eine ganz beachtliche dunkle Seite gibt. Klar kann man<br />

davon die Rhythmen und Melodien, die Spritzigkeit und Leuchtkraft<br />

mitnehmen. Aber es gibt zuhauf Schatten, die unsere<br />

Entwicklung und unser Wohlergehen gefährden. Diese Botschaften<br />

über die dunkleren Seiten unserer Natur sind mit eingebettet.<br />

Es gibt in der klassischen Musik einen Topos des „lateinamerikanischen<br />

Klangs“ – bei dem südamerikanische Lebendigkeit<br />

schnell kippt und man meint, Speedy Gonzalez höchstpersönlich<br />

wäre mit den Maracas davongelaufen. Das passiert in Ihrem<br />

Konzert nicht – weil Sie auch die dunkleren Seiten ansprechen?<br />

Ja, die Tendenz zu einer Karikatur des Lateinamerikanischen gibt<br />

es leider. Diese Idee, dass sich<br />

in Lateinamerika alles um<br />

Spaß, Sonne, Strand, Musik<br />

und Mojitos dreht … So ist es<br />

nicht. Die Realität ist weitaus<br />

komplexer und grausamer als<br />

das, worüber die Leute wirklich<br />

reden wollen. Mein Ziel ist es,<br />

unter die Oberfläche zu kommen, um wirklich herauszufinden,<br />

was in diesen Ländern los ist. Und natürlich hat Musik ihre<br />

Grenzen – sie kann sehr abstrakt sein. Deshalb halte ich den<br />

Begleittext zum Konzert für wichtig. Man mag den Pajarillo (ein<br />

typisch venzuelanischer Tanz, dem Joropo ähnlich) im dritten<br />

Satz hören und denken: „Oh, das ist wunderbar tanzbare Musik.“<br />

Aber das ist sie nicht wirklich. Es ist vielmehr ein Versuch, ein<br />

Porträt meiner Kultur zu malen, mit allen Ecken und Kanten. Es<br />

ist wie ein vorgehaltener Spiegel, durch den ein langer Sprung<br />

geht. Man hört zwar den Mambo, aber man ahnt unterschwellig<br />

die Belastungen … Und das sogar ziemlich brutal.<br />

Denken Sie schon an den Moment, in dem Ihr Konzert von<br />

jemand anderem aufgeführt werden wird?<br />

Bisher habe nur ich meine Stücke gespielt. Aber es wird interessant<br />

werden, sollte es dazu kommen. Weil es doch irgendwie wie<br />

bei einem eigenen Kind ist: Man muss lernen loszulassen. Ich<br />

vermute, das wird am Anfang schwierig sein … Es ist ja auch ein<br />

bisschen so, wie ich das Leben sehe: Ich erschaffe etwas, ich<br />

entwerfe etwas – und dann gehe ich weiter. Ich suche keine<br />

Unsterblichkeit, ich habe kein Interesse daran, der Komponist mit<br />

dem größten Portfolio zu werden, ich habe kein Interesse daran,<br />

der größte Name in irgendetwas zu werden. Es geht mir darum,<br />

Fingerabdrücke zu hinterlassen: Wie ich gelebt habe, was ich<br />

gesehen habe, was ich für wichtig halte – und darüber zu sprechen.<br />

Gespräche anzustoßen, ja, zu provozieren. Und dann<br />

blättere ich um und mache weiter.<br />

Sie wohnen in Barcelona …<br />

Na ja, eher mehr „überall“. Aber meine Garderobe – zumindest<br />

ein Teil davon – ist in Barcelona, ja. (lacht)<br />

… und davor haben Sie in Kalifornien gelebt: Ist es wichtig,<br />

dass es, wo immer Sie leben, großartigen Wein gibt?<br />

Um ehrlich zu sein, habe ich darüber nie wirklich nachgedacht.<br />

Ich glaube, es sagt mir eigentlich mehr über Sie. (lacht) Aber ich<br />

mag Wasser – ich lebe auf jeden Fall gerne in der Nähe von<br />

Gewässern. Und guten Flughäfen. Und natürlich guten Freunden,<br />

das ist das Wichtigste!<br />

n<br />

Ravel: „Klavierkonzert G-Dur“; Montero: Klavierkonzert Nr. 1 „Latin<br />

Concerto“, Gabriela Montero (Orchid Classics)<br />

Track 7 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />

Klavierkonzert G-Dur. II. Adagio assai von Maurice Ravel

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